Schlagwort: Zusammenleben

  • Von Nostalgie zur Realität – Über Bollywood & Filmindustrien

    Warum lösen Bollywood-Filme für Menschen aus der südasiatischen Diaspora so viel Nostalgie und Heimatsgefühle aus? Und warum haben wir ein ambivalentes Verhältnis zur Filmindustrie?
    Wir haben in die Community gefragt, welche Gefühle von Zugehörigkeit bei ihnen durch Klassiker wie „Kabhi Khushi Kabhi Gham“ ausgelöst werden und wie sie heute auf die Filmproduktionen blicken. In einem Spezial von unserer Mama hört ihr, wie sie Shah Rukh Khan höchstpersönlich getroffen hat und ehemalige Gästinnen Ayesha Khan und Yasmin Taheri erzählen uns über Sprachnachricht von ihren Gedanken.

    Doch neben Romantik und Drama ist die Bollywood-Industrie auch bekannt dafür, von Colorismus und Nepotismus geprägt zu sein. Wie trägt das dazu bei, eine homogene Darstellung von Schönheit und Talent zu fördern? Was stört uns an den romantischen Heldengeschichten? Und hat Bollywood überhaupt etwas mit unserer Realität zu tun?

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    Musik und Einspieler: ⁠⁠Christian Petzold

  • Als Ukrainerin in Deutschland: 10 Selbstverständlichkeiten

    1. Höflichkeit!

    Man sagt „Hallo“ zu seinem Nachbar und lächelt dabei, ein Lächeln ist die Norm, auch wenn man seinen ersten Kaffe und sein Brötchen beim Bäcker bestellt. Danach wünscht sich jeder „einen guten Tag“, „einen schönen Nachmittag“ und „ein schönes Wochenende“.

    Gleiches gilt für Textnachrichten. Es gibt Redewendungen für den Anfang und das Ende der Nachricht, und wenn man dies nicht tut oder vergisst, dann folgt direkt ein Kommentar, denn im Deutschen gilt: Höflichkeit muss sein!

    2. Beide Elternteile erziehen das Kind

    In der Ukraine ist vieles im Wandel, was dieses Thema betrifft, doch in Deutschland ist es schon alltäglich zu beobachten. Wenn ich meine Tochter zur Schule bringe, sehe ich, wie Väter in die Klassenräume stürmen und wie sie ihre Kinder liebevoll mit einem Kuss am Schultor verabschieden.

    An Spielplätzen sehe ich, wie sie mit ihren Kindern im Sandkasten spielen während die Mutter gemütlich auf der Bank sitzt, doch besonders hat mich beeindruckt wie ein junger Vater seiner Tochter ein rosa Kleid kaufte.

     

    3. Ältere Leute draußen

    Als ich mit meiner Tochter einkaufen gewesen bin, sahen wir einen älteren Herrn, (oder wie ich sagen würde Großvater), der sein Eis genoss. Wir dachten, „Oh, in der Nähe muss eine Eisdiele sein.“, und so war es auch. In Solchen Cafés sehe ich häufig ältere Menschen, die am Wochenende zusammen sitzen und bei einem lockeren Gespräch ein Glas Wein trinken, ohne Enkelkinder! Viele Ehepaare in diesem Alter gehen im Park spazieren, besuchen Ausstellungen und halten sich romantisch dabei ihre Hände.

     

    4. Familientreffen und Geburtstage nach Termin

    Wundern Sie sich nicht, wenn Sie eine Einladung bekommen, (die höchstwahrscheinlich per Post zugesendet wird), Beginn und Ende der Party angegeben wird. Oder Sie werden eine Woche im Voraus, wenn nicht sogar zwei Monate, zu einem Abendessen eingeladen.

    Bei Geburtstagsfeiern sitzen alle Gäste nicht bis spät in die Nacht an einem Tisch, auch wenn es die engsten Freunde sind.

     

    5. Post

    Das ist etwas ganz außergewöhnliches für diejenigen, die neu in Deutschland sind. Ich beschreibe es wie bei Harry Potter, wo die Briefe von Hogwarts ohne Ende ins Haus strömen.

    Seit etwas über 6 Monate lebe ich in Deutschland und habe mittlerweile zwei Ordner gefüllt mit Dokumenten und überlege mir einen dritten zu kaufen. Etwas Romantisches habe ich doch bei der ganzen Post gefunden: spezielles Papier und Umschläge. Jetzt schreibe ich handschriftliche Briefe und Postkarten an meine Verwanden. 

    Die Deutschen lieben es Briefe zu schreiben, sie haben sogar ein eigenes Buch mit Vorlagen für alle Gelegenheiten, dieses Buch hat 958 Seiten!

     

    6. Essen

    Mir ist aufgefallen, dass die Deutschen selten Mittag essen, bei uns ist es üblich, das wir zum Mittagessen eine Vorspeise (in der Regel Suppe), Hauptspeise und danach Kompott (ein Erfrischungsgetränk aus gekochten Früchten) essen. Die Deutschen hingegen nehmen gern ihr essen mit.  Zum Frühstück Müsli mit Jogurt oder Milch (aber immer kalt). Sonntag wird stets ausgiebig Gefrühstückt, meist mit frischen Brötchen vom Bäcker. In Geschäften gibt es viele ungewöhnliche Produkte; rohes Hackfleisch, das direkt auf das Brot gestrichen wird, Fleisch das kompakt im Glas kommt, doch was ich mir direkt gekauft habe waren viele leckere Frikadellen, doch für das leckere Borsch habe ich noch nichts gefunden.

     

    7. Schule

    Meine Tochter ist 8 Jahre alt, sie geht in die Grundschule. Hier gibt es überhaupt keine Schuluniform. Jeder Schüler und jeder Lehrer trägt, was er will. Es gibt keine Aufgaben für Wochenenden und Urlaube. Die Kinder gehen viel an der frischen Luft spazieren, das ist obligatorisch, in der Pause können sie nicht im Klassenzimmer sitzen, sie müssen nach draußen gehen. Die Kinder sind sehr glücklich darüber, sie kommen oft sehr schmutzig, aber glücklich nach Hause. Es gibt viele verschiedene Ausflüge und Aktivitäten, nicht so viel Lernen. Als wir ankamen, war es für meine Tochter etwas einfacher, weil sie bereits wusste, was gelehrt wurde.  

     

    8. Cafés und Restaurants

    In Deutschland gibt es viele Bäckereien, für jeden Geschmack mit einer riesigen Auswahl an Brot und Brötchen. Cafés und Restaurants sind komplizierter. Sie sind etwas teurer, öffnen oft abends und schließen in ein paar Stunden oder arbeiten nicht am Wochenende. Ein bisschen ungewöhnlich nach unserem. Viele Menschen essen Pommes mit verschiedenen Soßen und Würstchen mit Currysauce. Und im Norden Deutschlands sind Fischbrötchen sehr lecker, also ein Fischbrötchen. Ich vermisse so gemütliche und vielfältige Cafés wie in der Ukraine.

     

    9. Ökologie und Wirtschaft

    Wasser aus dem Wasserhahn kann man trinken, das war eine Überraschung für mich, außerdem wird die Qualität des Wassers täglich kontrolliert, so dass es sicherer ist, Wasser aus dem Wasserhahn zu trinken als aus einer Flasche. Das ist der erste Ort, an dem ich angefangen habe, Müll zu sortieren, und jetzt kann ich mir nicht einmal mehr vorstellen, wie ich alles in eine Kiste werfen soll.

    Besonders beeindruckt war ich von dem Container für alte Kleidung und Schuhe. Kleidung, die noch in gutem Zustand ist, wird zum Roten Kreuz gebracht, so dass Sie alles, was Sie brauchen, mitnehmen können. Hier werden Dinge repariert, solange sie funktionieren, und erst wenn sie ihre Funktion nicht mehr erfüllen, werden neue gekauft.

     

    10. Geschenke und Musik

    Die Deutschen lieben Geschenke, die mit ihren eigenen Händen gemacht wurden. Ein Kuchen, eine Zeichnung, eine Collage oder eine Stickerei sind viel wertvoller und angenehmer als etwas, das man in einem Geschäft gekauft hat. Auch ein musikalisches Geschenk ist ein besonderes Geschenk. Fast alle Deutschen spielen ein oder manchmal auch mehrere Instrumente, und zwar nicht beruflich, sondern als Hobby.

    10 bis 15 Euro für Kollegen und Freunde, etwas mehr für Freunde, sind keine teuren Geschenke. Wenn sie ein teures Geschenk machen wollen, wird der Betrag auf mehrere Personen aufgeteilt. Einige Unternehmen haben sogar eine Grenze für die Höhe des Geschenks, das heißt, Sie können nicht mehr als 15 Euro geben.

     

     

    Dieser Beitrag ist im Schreibtandem entstanden.

  • Kultur der Liebe #5: Offene Grenzen, freie Liebe

    Dating und Liebe – das kann sehr schön, aber auch sehr anstrengend sein. Schön, weil man auf eine Person treffen kann, die einen inspiriert, mit der man Nähe und Intimität austauschen kann. Anstrengend, weil wir in einer Gesellschaft leben, die immer schnelllebiger wird, mit sexistischen und rassistischen Stereotypen und Normen. Welche Erfahrungen machen Menschen mit Migrations- und Fluchterfahrung in Deutschland beim Daten und in der Liebe? 

    Zwei Menschen treffen aufeinander und damit auch zwei (kulturelle) Identitäten mit unterschiedlichen Erwartungen, Sozialisierungen und Erfahrungen. Unterschiedliche Wünsche, Freiheiten und manchmal auch Sprachen. Dabei kann es zu Missverständnissen, Vorurteilen, neuen Einblicken und Gemeinsamkeiten kommen.

    Salah ist 25 Jahre alt. Er ist in Hamburg geboren und aufgewachsen. Seine Eltern kommen aus dem Libanon. In Hamburg ist Salah zur Schule gegangen und hat sein Abitur gemacht. Seine Kindheit beschreibt er als sehr arabisch und muslimisch geprägt. Aus seiner Perspektive hat die Religion vieles eingeschränkt in Bezug auf erste sexuelle und romantische Erfahrungen, da diese durch die Religion meistens schon vorgegeben sind. Mittlerweile ist er sehr offen und selbstbewusst im Dating-Leben aktiv. Dabei hat er Erfahrungen in Deutschland, im Libanon und in anderen Ländern gemacht.

    Von meinen Eltern habe ich nicht viel über Liebe und Sex gelernt, das war eher ein Tabuthema

    Ich bin in einem schwierigen Verhältnis in Bezug auf die Themen Liebe, Romantik und Wertschätzung aufgewachsen. Ein Grund dafür ist die Religion, würde ich sagen. Ich bin in einem religiösen Haushalt aufgewachsen und war als Kind auch selbst noch religiös, das war irgendwie ein Muss. Ich hatte gar keine andere Wahl. Von meinen Eltern habe ich nicht viel über Liebe und Sex gelernt, das war eher ein Tabuthema. Und dadurch bin ich in einem Zwielicht aufgewachsen.

    Einerseits gab es da das Interesse an Befriedigung und den Wunsch, das zu tun, worauf ich Lust habe, und andererseits Restriktionen und Disziplin, das, was von mir erwartet wurde. Das war für mich ein persönlicher Konflikt, aber ich habe mich dafür entschieden, nach dem Leben und der Freiheit zu streben und meinen Gefühlen und Wünschen nachzugehen. Die Themen und Erfahrungen musste ich mir erstmal selber aneignen. Durch das Aufwachsen in Deutschland konnte ich aber schon früh Ideen und Erfahrungen sammeln, die darüber hinausgingen, was mir durch meine Eltern vorgegeben wurde. Vieles ist durch das Internet gekommen, einiges durch die Zeit in der Schule und den Austausch mit anderen Kindern und Teenager*innen.

    Sich in einem Land, in wirtschaftlichen geschwächten Umständen zu daten, ist eine ziemlich andere Erfahrung

    Obwohl ich zu Hause in dieser arabischen Kultur aufgewachsen und mit dieser Denkweise groß geworden bin, muss ich sagen, dass ich sehr frühreif in meinem freien Willen und Denken war. Ich war früh daran interessiert, neue Menschen kennenzulernen und Beziehungen aufzubauen. Zu Beginn habe ich heimlich gedatet, das war mal ein kritisches Thema in meiner Familie. Es war ein Prozess für mich, darüber kommunizieren zu können und dazu zu stehen.

    Entscheidungen waren mit Rücksicht verbunden, denn Offenheit führte eher zu unterschiedlichen Ansichtsweisen, die unter dem religiösen Aspekt eh nicht wirklich zu diskutieren waren. Deshalb nahm ich Rücksicht auf die Lebensweise meiner Familie und erlaubte mir erst später, meine Art der Offenheit zu erforschen.

    Das ist alles sehr viel einfacher geworden als ich nicht mehr zu Hause gelebt habe. Und da habe ich dann schon gemerkt, dass die Leute, mit denen ich intim geworden bin, unter ganz anderen Umständen aufgewachsen sind, was den Umgang mit und das Reden über Sexualität und Liebe, aber auch was Erfahrungen angeht. Aber ich habe alles nachgeholt, so schnell es geht.

    Das eigenständige Leben, was ich als eine Art von Unabhängigkeit empfand, öffnete viele Türen, um andere Denkweisen und Perspektiven kennenzulernen. Es erleichterte mir im Nachhinein meinen eigenen Umgang über die Aussprache meiner Sexualität, aber auch die Erfahrungen, die ich damit verknüpfe, nach außen zu teilen.

    Undercover-Dates

    In der Zeit, wo ich im Libanon gelebt habe, habe ich gemerkt, dass es dort eine ganz andere Art und Weise des Datens gibt. In Beirut war es zwar schon fast ein europäischer Style, und da konnte ich auch Frauen daten. Aber in der Gegend, wo ich herkomme, wohnen viele junge Menschen noch bei ihren Familien und das Leben ist sehr muslimisch geprägt. Da gibt es wenig Frauen, die daten. Dort habe ich mich eher mit Männern getroffen und das waren dann wirklich Undercover-Secret-Dates. Das ist eine ganz andere Welt von Dating in der schwulen, lesbischen und bisexuellen Szene.

    Ich bin eigentlich ziemlich humorvoll und locker damit umgegangen, weil ich gar nicht gewusst hätte, dass das ein strukturelles Problem ist

    Eigentlich bin ich der Meinung, keine rassistischen Erfahrungen beim Dating gemacht zu haben. Mit gewissen Vorurteilen bin ich ziemlich humorvoll und locker umgegangen. Das liegt bestimmt auch daran, dass ich in einer multikulturellen Großstadt aufgewachsen bin. In dörflichen Gegenden hätte das wahrscheinlich anders ausgesehen. Aber dazu muss ich auch sagen, dass ich mich bis vor ein paar Jahren gar nicht mit Rassismus als strukturelles Problem auseinandergesetzt habe.

    Heute habe ich einen anderen Blick auf diese Dinge als damals. Aber ich hatte nie das Gefühl, dass die Personen, die ich gedatet habe, mich falsch behandelt haben. Ich bin irgendwie mehr zu Menschen hingezogen, die mich wirklich mögen für die Person, die ich bin. Das einzige, was in der Richtung dann vielleicht passiert ist, war wegen meiner Körperbehaarung. Aber da denke ich dann auch wieder, dass es einfach Geschmackssache ist, manche mögen es und manche nicht.

    Wie lernt man jemanden kennen?

    Die meisten Menschen lerne ich über Dating-Apps kennen. Das ist zwar nicht meine allerliebste Art Menschen kennenzulernen, aber es ist ein einfacher Weg heutzutage. Es ist wie ein Katalog, wo du dir etwas raussuchst und dann swipest, wenn es dir gefällt. Wenn es nach mir geht, dann würde ich lieber Menschen auf ganz spontanen, zufälligen Wegen kennenlernen. So wie man auch Freund*innenschaften schließt. Und ich denke auch, das sind die wertvollsten und längsten Beziehungen, weil es sich einfach so fühlt, als wäre es Schicksal gewesen, anstatt die Menschen über eine Online-Dating-App zu stalken.

    Salah’s Wunsch ist es, dass alle Menschen offener im Dating werden und solidarischer im Allgemeinen. Dazu gehört auch, dass Menschen die Möglichkeit haben, zu reisen, neue Menschen kennenzulernen und dadurch Neues zu erfahren. Denn das kann dazu führen, dass Vorurteile abgebaut werden und die Dating-Welt sich verändert. Dafür müssen sowohl Grenzen geöffnet und Visa-Strukturen abgebaut werden als auch wirtschaftliche und bildungstechnische Möglichkeiten geschaffen werden, damit nicht mehr so viele Menschen in ihren Ländern wie in Gefängnissen wohnen müssen.

  • Feig, faul & frauenfeindlich – eine Rezension

    Wie hat „der Westen“ erstaunt den Arabischen Frühling bejubelt, die wehrhaften Reaktionen repressiver Regimes, mit denen er übrigens einträgliche Verbindungen unterhielten, nicht mit einkalkulierend. Eine Folge war der Flüchtlingsstrom mit seinen Tragödien und Verwicklungen.

    Davon berichtet der Autor Omar Khir Alanam in seinem Buch „Feig, faul & frauenfeindlich – was an euren Vorurteilen stimmt und was nicht“, aus ganz subjektiver, auf Österreich bezogener Sicht. Auch eine Leser*innenschaft in Deutschland kann daraus viel mitnehmen.

    Alanam ist selbst Damaszener, der sein Heimatland Syrien verließ, um nicht zu töten und nicht getötet zu werden. Er fand in Österreich eine neue Heimat, eine Frau und einen Sohn und schlug eine Laufbahn als Dichter und Schriftsteller ein. Nun versucht er in klaren und deutlichen Worten, diese zwei Welten miteinander zu verbinden und der Leser*innenschaft die orientalischen Hintergründe und die orientalische Seelenlandschaft nahe zu bringen.

    Es heißt Gratwanderung:

    Alanam behandelt Themen wie Freiheit und Liebe, Familie und Tradition, Selbstfindung und Verpflichtung, Mut und Feigheit, Scheinheiligkeit und Ehre, Sexismus, Integration und Religion, Arbeit und Geld, Geschichte und Politik.

    Er nimmt Aspekte des muslimischen Glaubens ins Visier, die eng mit Traditionen verknüpft sind und betont die tiefen familiären Verbindungen. Diese machen es den Kindern oft unmöglich, ihren eigenen Weg in der sich ändernden Welt zu finden und mutig zu gehen. Sie werden gebunden durch Regeln und Pflichten und dem vielfältigen Begriff von Ehre.

    Doch schon Khalil Gibran, ein libanesischer Schriftsteller und Philosoph wusste:

    „Eure Kinder sind nicht eure Kinder. Sie sind die Söhne und die Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selber. Sie kommen durch euch, aber nicht von euch. Und obwohl sie mit euch sind, gehören sie euch doch nicht.“

    Integration als Hürdenlauf

    Omar Khir Alanam betont immer wieder, dass das neue Leben der Flüchtlinge in der „Schönen Neuen Welt“ wie ein Hürdenlauf sei. Man brauche Mut zur Veränderung, dürfe es sich nicht in der gebotenen sozialen Hängematte bequem machen und müsse Herausforderungen erkennen und annehmen. Nur so könne ein neues Leben, ein „integriertes Leben“ gelingen. Aber die sogenannte Integration wird oft nicht nur durch die Flüchtlinge selbst verhindert. Auch die staatlichen Stellen scheinen oft kein wirkliches Interesse daran zu haben: SIe kürzen oder streichen beispielsweise Deutschkurse. Dabei ist doch die Sprache das wichtigste Instrument für ein Miteinander. Für das Verständnis der Anderen, die in vielen Facetten so anders gar nicht sind. Denn auch sie sind nur Menschen, mit Stärken und mit Schwächen. Außerdem prangert Alanam an, dass viele Flüchtlinge jahrelang im Ungewissen leben müssen, nicht arbeiten dürfen, sich im bürokratischen Dschungel verlaufen.

    Europäischer Islam und reflektierte Geschichtsvermittlung

    Er poblematisiert auch die allgemeine Ablehnung des Islam. Seiner Ansicht nach müssten Initiativen entstehen, um die wachsende Politisierung des Islam zu stoppen. Alanam bricht eine Lanze für einen europäischen Islam, der Demokratie, Freiheit und Gleichheit beinhaltet. Er wundert sich, dass beispielsweise in Deutschland die Imame der größten sunnitisch-islamische Organisation (DITIB) aus der Türkei gesandte Beamte seien. Und bemängelt dunkle Hinterhof-Moscheen. Dort fänden radikale Kräfte eine ideale Brutstätte, die durch die wahabitische Glaubensauslegung der Saudis gefördert werden.

    Er fordert zudem eine kritische und reflektierte Geschichtsvermittlung für Flüchtlinge. Themen wie Rassismus, Antisemitismus, Sexismus und Homophobie sollen miteingeschlossen werden – ohne erhobenen Gutmenschenzeigefinger. Auch der Einfluss des Westens auf die Entstehung nahöstlicher Konflikte sein ein wichtiges Thema. Das Sykes-Picot-Abkommen zwischen Frankreich und England beispielsweise teilte Teile der zuvor osmanischen Gebiete nach dem Ersten Weltkrieg ohne Rücksicht auf Religionen und Ethnien unter den beiden Staaten auf. Und auch die Rolle, die Waffenlieferungen aktuell spielen, dürfe nicht vergessen werden.

    Das Verbindende und das Trennende

    Feig, faul & frauenfeindlich von Omar Khir Alanam ist eine komplexe Lektüre, und doch fast beschwingt geschrieben, die für Viele gewiss neuen Eck- und Wissenspunkte bietet. Die nicht nur die einen als Opfer und die anderen als Täter sieht. Die das Verbindende betont, aber auch das Trennende.

  • Warum ich auf Solidarität in der Corona-Zeit hoffe

    Corona hat die meisten von uns Menschen überrascht und in den letzten eineinhalb Jahren manche verunsichert. Viele leben mit neuer Angst, Sorge, Krankheit oder auch Armut. Angst und Sorgen kreisen um uns selbst, aber auch um unsere Familien, unsere Freund:innen und um die ganze Gesellschaft. 

    Ich habe in meinem Artikel „Einen Fuß in der Tür“ für die taz nord einige besonderen Erlebnisse von geflüchteten Menschen während der langen Coronazeit beschrieben. Hier kommen nun weitere Eindrücke hinzu. Vielleicht haben das schon mehrere Menschen so oder ähnlich erlebt. Es geht (leider) mal wieder um die Corona-Pandemie, um Menschen, die sich nicht impfen lassen wollen und um Angst. 

    Wer die aktuellen Nachrichten liest, der:die weiß, dass viele Informationen über das Virus SARS-COV2 veröffentlicht wurden, und der:die weiß auch, wie viele Menschen jetzt gerade auf einer Intensivstation behandelt werden müssen. Was wir nicht genau wissen können ist, wie viele Menschen mit Langzeitfolgen leben müssen. Andere Sachen lassen sich nicht so leicht in eine Statistik übersetzten, zum Beispiel wie viele Ärzte, Ärztinnen, Pfleger:innen und Gesundheitsschaffende gekämpft haben, um jede Seele vor einer schweren Krankheit zu retten. 

    Überzeugungsgespräche zu Corona sind selten erfolgreich

    Was sich auch nicht leicht in Zahlen sagen lässt, ist wie Menschen in unserem Umfeld und Bekanntenkreisen mit diesen Informationen über das Virus umgehen. Was macht Angst vor einer bisher unbekannten Krankheit mit einem Menschen? Wer wird unsicher, wer aggressiv, wer demütig? 

    Ich kenne einige Menschen, die sagen: Das ist alles nicht so schlimm. Ich kann nicht genau sagen, woher diese Meinung kommt. Manchmal sprechen sie über die Pharmaunternehmen, die mit Medikamenten sehr viel Geld verdienen. Oder sie sprechen über die Kraft der Natur und von „natürlichen“ Abwehrkräften der Menschen. Oder die Menschen haben einfach noch niemanden in ihrem engen Kreis, der:die unter Corona leiden musste und kann deswegen keine Gefahr erkennen. Es gibt viele weitere Gründe. Alle, die schon mal versucht haben, eine Person von den Coronaproblemen zu überzeugen, kennen diese und andere Argumente vermutlich.

    Nach meiner Erfahrung war noch kein Überzeugungsgespräch erfolgreich. Jedenfalls ist das mein Gefühl nach solchen Gesprächen. Es ist möglich, dass sich einige von uns nach so einem Gespräch sagen: „Ich hoffe, dass mein:e Freund:in kein Corona bekommt, damit er oder sie nicht selbst sehen muss, wie schlimm eine Infektion sein kann!“ 

    Hoffentlich muss er oder sie die Krankheit nicht erst selbst erleben – oder vielleicht doch?

    Ich finde es falsch, so zu denken. Denn wer sollte jemandem eine Krankheit wünschen? Und gleichzeitig finde ich es interessant, die Gründe dahinter anzugucken. Versuche ich, die andere Person zu meiner Überzeugung zu zwingen, weil ich besser informiert bin? Oder denken wir, die überzeugen wollen, dass die andere Person uns braucht?  

    Und was wäre wenn, diese:r Freund:in, der wir vielleicht heimlich eine Infektion gewünscht haben, dann einen vergleichbar leichten Verlauf hat, mit nur ein bisschen Kopfschmerzen? Ärgern wir uns dann auch darüber, weil das Schicksal ihre:seine Falschinformation bestätigt hat? 

    Obwohl wir als Gesellschaft seit Februar 2020 lernen mussten, wie wir uns als Menschen vor dem Covid-19 schützen können, können wir diese Fragen nur schwer beantworten. Denn am Ende des Tages wollen wir uns ja alle schützen, nur auf unterschiedlichen Wege.

    Barmherzigkeit meint Mitgefühl füreinander

    Ich habe mir selber viele von diesen Fragen gestellt, auch wenn ich mit anderen Syrer:innen spreche. Ich versuche dann, die verschiedenen Statistiken zu sehen, die auch viele Genesene aufzeigen. Diese Menschen haben Covid-19 überlebt und müssen (hoffentlich) nicht mehr leiden. Aber trotzdem denke ich, dass die Menschen, die daran glauben dass, sie zu dieser Gruppe gehören werden, zu egoistisch denken. Was ist mit den 92.000 Menschen, die mit Covid-19 gestorben sind? Haben sie und ihre Angehörigen nicht mehr Solidarität verdient? 

    Als gläubiger Mann kann ich mich neben den Zahlen auch an meine Religion wenden. Der islamische Prophet Mohammed (Gott segne ihn und schenke ihm Heil) soll gesagt haben: „Die Gläubigen sind in ihrer Zuneigung, Barmherzigkeit und ihrem Mitleid zueinander einem Körper gleich: Wenn ein Teil davon leidet, reagiert der ganze Körper mit Schlaflosigkeit und Fieber!“ Mit diesem Bild im Kopf versuche ich auf unsere Gesellschaft zu gucken und auf ein Ende der Corona-Pandemie zu hoffen. 

     

  • Von Fremden und Freunden – Familiengeschichte zwischen zwei Kulturen

    Was sind die Kriterien zur Beurteilung von Menschen ‒ Menschen, die dunklere Hautpigmente haben, dunklere Augen, dunklere Haare? Die anders sind als wir, die Mehrheitsgesellschaft, die sich trotz (oder gerade wegen?) der gepriesenen Globalisierung immer mehr abkapselt? Klar ist, dass es Fremdenhass und farbig kodierten Rassismus nicht nur bei uns in Deutschland gibt. Es sind Begriffe, die bis in die aristotelische Antike reichen. Schwarz war schon immer eine „bösartige“ Farbe. Ein wenig verwundert mich, was Junis Sultan in seinem Buch „Glaubenskriege“, einer Familiengeschichte zwischen zwei Kulturen, über seinen Aufenthalt in Kalifornien schreibt: Die USA seien ein Einwanderungsland (richtig). Dort habe man Respekt. Hautfarbe und Name spielten keine Rolle.

    Das scheint mir trotz der dunklen Augen des Autors eine blauäugige Sicht der Dinge zu sein. Mag sein, dass es gerade während seines Aufenthalts und in seinem universitären kalifornischen Umfeld tolerant, offen und respektvoll zuging. Aber so, wie er für Deutschland die sozio-ökonomischen Verhältnisse von Immigranten ins Spiel bringt, so ist es in den Vereinigten Staaten nicht anders.

    Das Buch ist ein „Sesam öffne dich“

    Sein Buch, das er zur eigenen Heilung seiner Zerrissenheit, seiner Depressionen, seiner gefühlten Minderwertigkeit und Hilflosigkeit geschrieben hat, ist ein „Sesam öffne dich“ für andere, damit diese sich in die Welt der „Fremden“ einfühlen können, damit sie nachvollziehen können, was in in den Seelen angerichtet wird. Das beschreibt er ausufernd und für meinen Geschmack zu sehr im „Opfermodus“. Denn für mich sind seine Zerrissenheit, seine Ungeborgenheit, seine Einsamkeit primär ein familiäres Produkt. Wobei die äußeren Faktoren des deutschen Umfeldes und der deutschen Gesellschaft entsprechende Multiplikatoren sind.

    Von England in den Irak und nach Deutschland

    Eine Familiengeschichte zwischen zwei Kulturen: Der Vater ist ein Iraker, der in England Maschinenbau studiert hat. Er lernte eine junge Deutsche, die sich dort als Au-pair aufhielt, kennen und lieben. Sie heirateten schnell ‒ nachdem er in den Irak zurückgekehrt war und sie nach Deutschland ‒, sozusagen „Hals über Kopf“ gegen den Willen der Eltern der jungen Frau.

    Der Vater machte Karriere als Unternehmer in mehreren Fabriken. Er war umworben vom Regime und von Saddam Hussein persönlich sowie auch von ausländischen Investoren. Doch nie vergaß er seine bescheidene Herkunft: Immer war er bemüht, auch seine Mitarbeitenden an seinem Erfolg teilhaben zu lassen. Er kümmerte sich um Weiterbildung und Krankenversicherung, baute Wohnungen und Schulen. Die Familie lebte ein großbürgerliches Leben mit Bediensteten und in wohlhabender Sicherheit.

    All das änderte sich 1991, drei Jahre nach dem Waffenstillstand des ersten Golfkriegs (zwischen Irak und Iran). Saddams Einmarsch in Kuwait und die strafende „Operation Wüstensturm“ der Amerikaner und ihrer Verbündeten beendete das gute Leben: Es gab nur die Option „fliehen oder sterben“. Die Mutter konnte mit ihren vier kleinen Kindern nach Deutschland ausreisen (die beiden großen Töchter waren schon verheiratet). Der Vater blieb im Irak, um die Geschäfte zu regeln und dem Baath-Regime keinen Grund für Repressionen zu liefern.

    Ablehnung und Feindseligkeit in der Kleinstadt

    Mutter und Kinder kamen bei Großmutter Erika, einer ehemaligen Lehrerin, in einem kleinen niedersächsischen Dorf unter. Die Großmutter war eine emotionale Stütze angesichts der Gereiztheiten der Mutter, die sich von diesem neuen Leben mit den Kindern überfordert fühlte. Der Umzug in eine kleine Stadt mit ca. 10.000 Einwohnern ‒ weiße Mittelschicht und 130 Asylbewerber ‒ brachte der Mutter zwar drei Jobs gleichzeitig.

    Die Kinder aber spürten sofort die offene oder versteckte Ablehnung und Feindseligkeit in der Kleinstadt. Die Mutter wurde immer gehetzter und gereizter, wütender und verzweifelter. Sie schlug die Kinder, besonders Junis. Für ihren Frust gab sie dem Vater die Schuld: Iraker hätten keine Manieren, keine Kultur, keine Religion. Welche Manieren hatte sie, welche Kultur? Sie selbst war katholisch.

    Der Vater, inzwischen im Ruhestand, kam endlich zu ihnen. Doch die Eltern stritten, beschimpften sich, umhüllten sich mit Feindseligkeit und Enttäuschung. Beide waren narzisstische Persönlichkeiten: Wer dachte an die Kinder und den seelischen Ballast, den ihnen dieses Elternhaus auflud? Im Irak sollen sie eine gute Ehe geführt haben. Mag sein, da stimmte zumindest das ökonomische Niveau. Ich finde es nur befremdlich, dass laut Aussage des Autors seine Mutter, als sie in den Irak kam und dort heiratete ‒ ziemlich jung noch und lebensunerfahren ‒ nichts wusste vom Irak, seinen Menschen, der mesopotamischen Kultur und natürlich auch nichts vom Islam. Der wurde nun einer der Streitpunkte: Er sei eine böse Religion.

    Später, zum 48. Hochzeitstag, zog die Mutter aus: Sie sei immer unterdrückt worden, sie sei missbraucht worden und alle würden dafür beim Jüngsten Gericht bestraft werden. Alice Schwarzers Buch über den Islam lieferte schlagkräftige Munition: Unsere Toleranz dem Islam gegenüber entspringe dem schlechten Gewissen aufgrund der eigenen Geschichte, dem Islam fehle jede Menschlichkeit.

    Zäsur 9/11

    Nach der Zäsur des 11. September 2001 begann Junis Sultan Tagebuch zu schreiben. Er wandte sich dem Koran zu, lernte Arabisch, fand Zuflucht und Orientierung in der Religion seines Vaters. Immer wieder unterbrochen von den verbalen Ausrastern seiner Mutter: Sie wolle ein deutsches Baby adoptieren, wolle jemanden haben, der so sei wie sie. Ihre Kinder seien doch nur halb ihre Kinder.

    Immer wieder driftete Junis ab in Selbstverleugnung und Selbstzerstörung, in Schmerz und Leere. Sein demonstratives Selbstbewusstsein war nur oberflächlich, abhängig von äußerer Anerkennung, von Zuneigung, vom Kampf (er boxte) und den schulischen Noten. Er sah sich als Versager in der deutschen Gesellschaft: wertlos, ungewollt, ungeliebt. Nach der Aufdeckung des NSU stand er kurz vor dem Suizid.

    Schreiben als Therapie

    Die Idee, ein Buch zu schreiben, um sich selbst zu retten und um anderen mit seiner Familiengeschichte zwischen zwei Kulturen zu helfen und sie zu ermutigen, war der Ausweg für ihn. Seine Entscheidung, Lehrer zu werden, da Kinder Hoffnung und Zukunft seien, bescherte ihm zwei Stipendien, darunter eines von Fulbright für einen neunmonatigen Aufenthalt in den USA.

    Nach seiner Rückkehr begann er ein zweijähriges Refendariat und gab Boxunterricht für Kinder. Bildung, ein integratives mehrsprachiges Schulsystem, ist für ihn der Schlüssel zu Integration. Denn Integration ist keine Einbahnstraße, das wissen die Politiker. Ansätze werden lautstark propagiert, aber wirklich geändert hat sich nichts. Dies ist gerade jetzt in den pandemischen Corona-Zeiten auffällig: Kinder aus den schwächeren sozio-ökonomischen Schichten (deutsche wie ausländische) sind die Verlierer.

    Aufrüttelnde Lektüre

    Junis Sultans Familiengeschichte zwischen zwei Kulturen ist eine aufrüttelnde Lektüre, besonders für jene, die sich noch nicht intensiv mit den angesprochenen Problemen beschäftigt haben. Alle unsere Mitmenschen sind betroffen: die, die keinen vaterländisch-muttersprachlichen Namen tragen, deren Haut eine dunklere Pigmentierung hat, die einen anderen Glauben als den christlichen haben. Eine aufrüttelnde Lektüre auch für all jene, die vergessen, dass auch sie jederzeit zu „Fremden“ werden könnten: ein Kinderspiel in diesen Zeiten, sei es durch das Klima, sei es durch übereifrige Kriegstreiberei …

    Ich denke an die so wunderbare Hymne aus Beethovens 9. Symphonie: Alle Menschen werden Brüder. Oder an das wunderbare biblische Gebot: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. (Wobei sich die Frage ergibt: Liebst du dich?). Oder auch an den Kant’schen Kategorischen Imperativ: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Und der Universalist Goethe schrieb: „Wer sich selbst und andere kennt, wird auch hier erkennen: Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen.“

    Maximen für ein menschlicheres Miteinander

    Das könnten lehrreiche Maximen sein für ein anderes, ein besseres, ein menschlicheres Miteinander. Hoffen wir, dass Junis Sultans Buch viele aufmerksame und nachdenkliche Leser und Leserinnen finden wird. Damit sein Einsatz gewürdigt wird, seine intimsten Seelenqualen offengelegt zu haben. Und hoffen wir, dass Leser und Leserinnen dieser Familiengeschichte zwischen zwei Kulturen erkennen, dass Migration eine zivilisatorische Unentbehrlichkeit ist (Fernand Braudel). Denn wir lernen doch durch Austausch: menschlichen, kulturellen, wirtschaftlichen Austausch. Wer will schon stehen bleiben in seiner eigenen Entwicklung? Die ewig Gestrigen. Aber wir leben heute, im Hier und Jetzt und fast schon ein bisschen im Morgen.

    Junis Sultan: Glaubenskriege. Von Fremden und Freunden. Aus dem Englischen übersetzt von Miriam Neidhardt. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2021. ISBN: 978-3-8260-7081-5. 24,80 Euro.

  • „why not“ in Ottensen: Kaffee, Kuchen und Kultur

    Kalt ist es an diesem verregneten Samstagvormittag: kalt, stürmisch und ungemütlich. Das hell beleuchtete Café „why not“ in der Daimlerstraße 38 in Hamburg-Ottensen lädt zum Verweilen ein. Doch noch dürfen Glen Ganz und sein Team die Türen für Gäste aufgrund von Corona nicht öffnen. Einzig auf der kleinen Terrasse vor ihrem Café ist es möglich, Menschen zu bewirten.

    Vor zwei Jahren, im Sommer 2019, hat Glen gemeinsam mit seiner Frau Natalie die Räumlichkeiten  angemietet. Ihr Ziel: Im lebendigen Ottensen einen Begegnungsort für Menschen aus aller Welt zu schaffen. Denn das „why not“ ist gleichzeitig eine NGO, die sich für ganzheitliche Integration und das Zusammenleben unterschiedlicher Menschen stark macht. Vor allem Geflüchtete und Menschen mit Migrationshintergrund werden an dieser Stelle angesprochen.

    Ein Wohnzimmer für die Nachbarschaft

    Mit vielen helfenden Händen wurde aus den kahlen Zimmern ein gemütliches Café. Es erinnert an ein Wohnzimmer: Hinten rechts in der Ecke steht ein braunes Ledersofa, davor ein kleiner Tisch. Es gibt viele Grünpflanzen auf den Fensterbänken, ein Regal mit alten Vinylplatten. Im vorderen Bereich befindet sich die Bar, ausgestattet mit einer Siebträgermaschine, rundherum viele Tassen, Gläser und Teller. Es riecht nach Kaffee: nach gutem, frisch aufgebrühtem Kaffee, vermischt mit dem süßlichen Duft von aufgeschäumter Milch.

    „Willkommen im ‚why not‘-Café Ottensen“, beginnt Glen das Gespräch mit unserem Magazin. Er rückt seine Brille zurecht und nippt an seinem Cappuccino. Dann fängt er an zu erzählen, mit einer angenehm ruhigen Stimme, der sein Gegenüber gerne zuhört: „2019 haben wir uns entschieden, den Mietvertrag für dieses Café zu unterschreiben. Es ist für mich und meine Frau Natalie ein Herzensprojekt. Intention war von Anfang an, ein Nachbarschaftsprojekt daraus zu machen. Was ist unserer Nachbarschaft also wichtig? In Ottensen wird viel Wert auf gesunde, frische und hochwertige Küche gelegt. Also kochen wir in Bio-Qualität, bieten vegane und vegetarische Gerichte an.“

    Leckerer Kaffee in familiärer Atmosphäre

    Die Tür geht auf, zwei Frauen und ein kleines Kind treten herein. Sie fragen, ob es schon erlaubt ist, wieder drinnen zu sitzen. Glen verneint dies, bittet die Frauen, draußen auf der Terrasse Platz zu nehmen, und gibt ihnen noch drei Kissen für die Stühle mit.

    Matthias hilft seinem Vater im why not CaféWenige Minuten später nimmt Glens Sohn Matthias die Bestellung der neuen Gäste auf: zwei Becher Kaffee und ein Croissant für das Kind. Matthias arbeitet viermal die Woche in dem Café seines Vaters, sowohl hinten in der Küche als auch im Service.

    „Ich arbeite sehr gerne hier, unterstütze meinen Vater und genieße die familiäre Atmosphäre“, berichtet er. „Und es ist gut, eine Aufgabe zu haben. Das Geld, das ich hier verdiene, spare ich für Italien. Denn dort werde ich ab Anfang September meinen Freiwilligendienst absolvieren.“ Inzwischen ist der Kaffee fertig und Matthias bringt das Tablett mit zwei dampfenden Tassen nach draußen. Danach verschwindet er wieder in der Küche.

    Bio und Fairtrade

    Der Kaffee, den das Café „why not“ verkauft, stammt aus der Kaffeerösterei Torrefaktum, die ebenfalls in Ottensen ansässig ist. 2018 wurde sie zu einer der besten Kaffeeröstereien Deutschlands gekürt. Die Bohnen werden dort von Hand geröstet; alles ist bio und fair gehandelt, die Verpackungen sind umweltfreundlich und recycelbar.

    Das „why not“ ist montags bis sonntags von 10 bis 18 Uhr geöffnet. Neben den klassischen Kaffeespezialitäten gibt es auch diverse Latte-Getränke wie den hausgemachten Kurkuma-Latte oder den Rote-Beete-Latte. Außerdem ist eine große Auswahl an Tee verfügbar – ebenfalls in bester Bio-Qualität. Ergänzt wird das Angebot durch selbstgemachte Limonade und Eistee in ausgefallenen Sorten wie Holunderblüte-Lemon oder Heidelbeer-Lavendel. Und es wird gekocht: Morgens und vormittags können die Gäste ausgiebig brunchen. Es gibt diverse Snacks und Kleinigkeiten, aber auch einen wechselnden Mittagstisch mit Gerichten aus aller Welt.

    Frieden geht durch den Magen

    Ein Highlight ist das Friedensmenü. „Das Friedensmenü ist dadurch entstanden, dass der Pastor der Gemeinde, Mauricio Cavallo, leidenschaftlich gerne kocht“, erzählt Glen. „Eines Tages fragte er mich, ob er in unserer Küche etwas für die Nachbarschaft zubereiten dürfe. Natürlich habe ich ja gesagt, und der Pastor hat nicht nur gekocht, sondern sich auch gleich ein Thema ausgedacht. Er nannte das Ganze dann das Friedensmenü.“

    Die Idee dahinter ist einfach, aber genial: Es werden Rezepte aus zwei verfeindeten Ländern genommen, also zum Beispiel aus Israel und Palästina, und daraus entsteht dann ein gemeinsames Gericht. Glen ergänzt: „So kann also Frieden schmecken – das ist das Motto unseres Pastors. Er steht einmal pro Woche bei uns in der Küche und kocht. Das ist wirklich toll!“

    Bildungsprogramm zu Integration, Diversität und Partizipation

    Und das ist noch längst nicht alles. Als Begegnungsort macht das „why not“ auch Beratungs- und Bildungsangebote. Es gibt verschiedene Seminare und Workshops – alles rund um die Themen Integration, Diversität und politische Partizipation. Glen erklärt dazu: „Wir sind institutionell, politisch und religiös unabhängig. Bei uns arbeiten ganz unterschiedliche Menschen mit verschiedenen religiösen und ethnischen Hintergründen. Wir sind also offen für Menschen aus aller Welt.“

    Eine davon ist Johanna. Seit Mitte Mai absolviert sie ein Praktikum im „why not“. Zuvor studierte die sympathische junge Frau Religionswissenschaften in Würzburg. Bei einem christlichen Festival im Sauerland lernte sie Glen und Natalie kennen.

    Johanna absolviert ein Praktikum im why not Café„Ich bin hier im Café für die Bereiche Kultur und Bildung zuständig. Darüber hinaus betreue ich unsere App; sie trägt den Namen ‚why not community‘. Und ich arbeite natürlich auch im Café mit, ich koordiniere Veranstaltungen“, erzählt Johanna. Dabei hat sie ein Lächeln im Gesicht, ihre Augen leuchten und ihre Begeisterung für die Arbeit ist deutlich zu spüren. „Ich kann mich sehr mit den Werten, die hier gelebt werden, identifizieren“, ergänzt sie. „Die Atmosphäre gefällt mir, sie ist sehr familiär und trägt dazu bei, dass ich mich einfach wohlfühle.“

    Und genau das ist der Ansatz des „why not“ in Ottensen: einen Ort schaffen, an dem humanitäre Werte gelebt werden, an dem Menschen aus aller Welt gerne zusammenkommen und sich bei einer Tasse Kaffee austauschen können.

    Auch Seminare für die Bundeswehr

    In den Bildungsveranstaltungen im „why not“ werden Informationen und Hintergründe zu aktuellen Themen vermittelt und Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens diskutiert. So bietet Glen beispielsweise Seminare für die Bundeswehr an. „Unser Schwerpunkt hierbei ist der zivil-militärische Dialog“, erklärt er. „Als Grundlage dient ein Theorieteil mit und von Experten. Themen sind unter anderem Migration und Integration, Religion und Interkulturalität, aber auch Extremismus und Demokratieverständnis. Es kommen verschiedene Experten zusammen, wobei ich Haupt-Seminarleiter bin.“

    Zum Teil finanziert sich das „why not“ durch diese Seminare. Ein anderer Teil der Finanzierung beruht auf Spenden sowie privaten und staatlichen Fördermitteln. Glen ergänzt: „Wir sind eine Non-Profit-Organisation und die Gewinne, die wir mit unserem Café erzielen, fließen in unsere sozialen Projekte. Dies sind beispielsweise länderspezifische Kochabende, Filmabende, Live-Musik, Lesungen oder Diskussionsabende.“ So sammeln Glen und sein Team auch ihr Trinkgeld, um dies in soziale Projekte zu investieren. Im vergangenen Jahr wurde dadurch zehn Kindern in Kamerun der Besuch einer Schule ermöglicht.

    Mit Erfahrung und Leidenschaft

    Das Telefon klingelt. Glen geht ran und nimmt eine Reservierung für den Nachmittag entgegen. „Das ist typisch für das ‚why not‘: Gäste fragen, ob sie kommen können. Und es ist nicht irgendein Gast, nein, es ist unser Briefträger“, erzählt Glen. „Er hat letztes Jahr den Geburtstag seiner Frau hier bei uns gefeiert. Beide kommen aus dem Kosovo und sind immer gerne im Café gesehen.“ Während er spricht, ist seine Begeisterung, die Leidenschaft für seine Arbeit an diesem Begegnungsort, deutlich zu spüren.

    Und: Glen bringt sehr viel Erfahrung mit. Er studierte und arbeitete in den USA, in Ecuador und Deutschland in interkulturellen Teams, mit Ehrenamtlichen und Migrant*innen. In der Vergangenheit engagierte er sich in diversen kirchlichen und sozialen Projekten. Über seine Arbeit hat er ein Buch geschrieben: Es beschreibt anschaulich – mal ernst, mal humorvoll –, wie man ein Integrations-Start-up gründet. Es ist ein Werk über Menschen und Begegnungen, aber auch Marketing, Finanzierung und juristische Aspekte werden behandelt.

    Der Regen ist immer noch nicht weniger geworden; draußen hält das ungemütliche, kalte Wetter an. Doch die Atmosphäre im Inneren des Cafés in Ottensen ist herzerwärmend und hinterlässt ein angenehmes, heimeliges Gefühl. Daran kann auch der Regen nichts ändern, so stark und ergiebig er auch sein mag.

     

    Weitere Artikel zu spannenden Projekten findet ihr hier.

  • Migration: Wenn der Hintergrund in den Vordergrund rückt

    Der Begriff Migrationshintergrund

    Ein Viertel aller deutschen Bürger*innen hat einen Migrationshintergrund. Diese Bezeichnung wirkt, als hätten sie ihre Migrationsgeschichte selbst erlebt. Bereits 2013 wurde in einem Workshop der Neuen deutschen Medienmacher*innen mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge über den Begriff des „Migrationshintergrundes“ diskutiert. Bis heute stellt sich die Frage, ob der Ausdruck Mensch mit Migrationshintergrund eine identitätsstiftende Bezeichnung ist oder vorrangig ausgrenzt.

    Vor 45 Jahren kamen meine Großeltern aus Krios, einem winzig kleinen Dorf im Norden Griechenlands, als Gastarbeitende nach Deutschland und sind bis heute geblieben. Sie kamen an, ohne die Sprache zu sprechen, ohne Kontakte, aber voller Hoffnung. Mama war damals fünf oder sechs. Für meine Großeltern und meine Mutter war es anfangs sicher nicht leicht, in einem fremden Land von vorne zu beginnen. Aber ich liebe diesen Teil in der Geschichte meiner Familie, obwohl ich etwa bei Gesprächen nur die Hälfte verstehe und meine Mama häufig übersetzen muss.  

    Als Migration wird laut der Bundeszentrale für politische Bildung „die längerfristige Verlegung des Lebensmittelpunkts über eine größere Entfernung und administrative Grenze hinweg“ bezeichnet. Die UN unterscheiden zwischen temporärer Migration mit einer Dauer von mehr als drei Monaten und dauerhafter Migration ab einem Jahr Aufenthalt im Zielland. Nicht nur die Zeitspanne definiert Migration, es ist auch die Motivation, aus der Migrant*innen handeln. Eine erste Unterteilung wird etwa in „Arbeits-, Familien- oder Bildungsmigration, Flucht- oder Gewaltmigration oder Lifestyle Migration“ (bpb) vorgenommen. Sogenannte Push- und Pull-Faktoren differenzieren die Gründe für Migration. Das können Faktoren im Herkunftsland (Push-Faktoren; etwa Gefährdung des eigenen Lebens durch Kriege oder politische Verfolgung) und Umstände im Zielland (Pull-Faktoren; Aussicht auf eine Anstellung) sein.

    Verallgemeinerung einer diversen Gruppe kann dazu führen, dass rassistische Diskriminierung unsichtbar wird

    Die Bezeichnung des Migrationshintergrunds wurde 2005 vom Statistischen Bundesamt etabliert, um eine bestimmte Gruppe an Menschen in Deutschland zu kategorisieren. Dabei geht es um Menschen, die „selbst oder [bei denen] mindestens ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren wurde“. Unter diesen 21,2 Millionen (Stand 2019) besitzt mehr als die Hälfte die deutsche Staatsangehörigkeit – überwiegend seit ihrer Geburt, also ohne eine eigene Migrationsgeschichte erlebt zu haben. Es handelt sich um eine so große und heterogene Personengruppe, dass man keine allgemeingültigen Aussagen über sie treffen kann. So viele Menschen unter einem Begriff zusammenzufassen birgt auch Gefahren. Eine Folge sei laut Journalistin Azadê Peşmen, dass rassistische Diskriminierungen schnell unsichtbar werden können.
    Auch die kroatisch-deutsche Schriftstellerin, Dramatikerin und Kolumnistin Jagoda Marinić ordnet die Zuschreibung „Mensch mit Migrationshintergrund“ kritisch ein. „Besonders klebrig haftet dieser Migrationshintergrund an jener Generation, die nie eingewandert ist […] Der Gast, der Geduldete, der Ausländer, Eingebürgerte, der Eingewanderte, der Deutsche mit Migrationshintergrund. Es ist, als wollte die Kette nicht enden, nur um nicht sagen zu müssen: Aus dem Gast wurde ein Deutscher. Seine Kinder sind Deutsche“. Menschen, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, werden durch diese Benennung von anderen als „nicht zugehörig“ oder „anders“ gesehen. Bis zu dem Punkt, an dem ihnen ihre Identität, zu der gegebenenfalls das „Deutschsein“ gehört, abgesprochen wird.

    Herkunft ist mehr

    Ich wurde schon häufig belächelt, wenn ich erzählt habe, dass ich Halbgriechin bin. Daher hatte ich oft das Gefühl, dass ich als Mensch mit Migrationshintergrund bestimmte Erwartungen oder Kriterien erfüllen muss. Ich spreche beispielsweise kaum Griechisch und es ist eher eine Mischung aus beiden Sprachen, in der ich mich mit meinen Großeltern unterhalte. Pappous (παππούς, gr. für Opa) nickt immer stolz, wenn ich griechische Worte benutze. Außerdem sieht man mir meine griechische Herkunft nicht unbedingt an. Ich habe zwar dunkle Haare und Augen, entspreche aber nicht dem äußerlichen Klischee einer Südländerin. Für mich bedeutet meine Herkunft aber mehr. Es ist das Lebensgefühl, der Familiensinn, die Bräuche und Traditionen, die ich schon als Kind kennenlernen durfte und die ich für immer in mir tragen werde. 

    Alternative Begrifflichkeiten

    Kritik an der Bezeichnung Mensch mit Migrationshintergrund wurde 2018 auch von Kadir Özdemir formuliert. Der Journalist und Autor migrierte im Alter von zwölf Jahren nach Deutschland und erlebte dadurch, wie identitätsstiftend – aber auch exkludierend – Sprache sein kann. In einem Plädoyer fordert er, fortan den Ausdruck Migrationserbe zu nutzen. „Ähnlich wie Gender ist ‚Migrationshintergrund‘ ein machtvolles gesellschaftliches Konstrukt“, argumentiert Özdemir und weiter, dass „[d]ieser Begriff längst zu einem Ausdruck des Ausschlusses, des (häufig negativen) Sonderfalls geworden [ist].“ Ein weiterer Vorschlag für eine alternative Begrifflichkeit wurde Ende Januar von der Fachkommission Integrationsfähigkeit an die Bundeskanzlerin Angela Merkel übergeben. Die Kommission um SPD-Politikerin Derya Çağlar empfiehlt die Bezeichnung „Eingewanderte und ihre Nachkommen“.

    Diese Menschen haben in ihrem Leben eine mutige Entscheidung getroffen

    Aufgrund ihrer Migrationsgeschichte habe ich auch meine Mutter gefragt, wie sie die Begriffe nutzt: „Ich bezeichne mich als Mensch mit Migrationshintergrund, weil ich damals alles direkt miterlebt habe. Aber ich sehe auch, dass der Begriff in der Öffentlichkeit negativ konnotiert ist. Das ist schade und übersieht, dass diese Menschen mehrere Kulturen in sich tragen und in ihrem Leben eine mutige Entscheidung getroffen haben. Wir brauchen eine positiven Begriff, der zeigt, was man erreicht hat. Ich habe zwar nur einen griechischen Pass, hätte aber am liebsten beide, weil ich mich mit beiden Ländern identifiziere. Meine Eltern dagegen sehe ich immer noch als griechische Gastarbeitende, weil das eben ihre Intention war. Ich bin sehr stolz auf sie, dass sie sich in Deutschland so gut zurechtfinden und diese Entscheidung zum Wohle einer besseren Zukunft auch für ihre Kinder getroffen haben.
    Meine Kinder sind für mich durch ihren Geburtsort, ihren Lebensmittelpunkt und ihren deutschen Vater eher Deutsche. Mein Mann hat sich sehr für meine Herkunft interessiert, die Sprache und die traditionellen Tänze gelernt und das hat geholfen, das auch meinen Kindern weiterzugeben. Es war immer selbstverständlich, auf die griechischen Tanzfeste zu gehen und beide Osterfeste zu feiern. Ihnen wurde die Familiengeschichte vererbt. Es ist wie eine Abstufung der Begriffe von Generation zu Generation.“

    Unsere Sprache reduziert Menschen auf Kategorien

    „Die jüdische Frau. Der Schwarze Mann. Die Frau mit Behinderung. Der Mann mit Migrationshintergrund. Die muslimische Frau. Der Geflüchtete. Die Homosexuelle. Die Transfrau. Der Gastarbeiter.“ Auch Kübra Gümüşay, Journalistin und Aktivistin aus Hamburg, stellt in ihrem Buch „Sprache und Sein“ fest, dass unsere Sprache Menschen auf Kategorien reduziert. Doch eine Person ist deutlich mehr als die Bezeichnung, die ihr von anderen gegeben wird. Kommunikation muss auf Augenhöhe stattfinden, da Sprache unsere Realität prägt. Die Abschaffung der Bezeichnung Mensch mit Migrationshintergrund wäre ein erster Schritt. Der nächste wird sein, darüber zu diskutieren, ob wir dann überhaupt eine Alternative finden müssen.

  • Die Angst im hier zu sterben

    Eine Winternacht

    In einer Winternacht im Jahr 2018 hat meine Verlobte mich nach einem gemeinsam verbrachten Tag allein gelassen, um mit ihrer Familie Essen zu gehen. Damals habe ich noch mit meinem Bruder zusammen gelebt und auch er war an diesem Abend nicht zu Hause. In diesen Stunden habe ich mich einsam gefühlt und ich fürchte mich vor der Einsamkeit.

    Ich habe meine Facebook-App geöffnet, weil mir langweilig war und las einen Post über einen syrischen Mann, der hier im Exil gestorben ist. Das hat mir unheimlich Angst eingejagt. Ich verstand damals nicht warum sein Tod mir eine solche Angst machte, schließlich war ich noch jung. Es stimmt, dass wenn meine Eltern, die in Syrien leben, sterben sollten, ich sie nicht sehen kann, aber auch sie sind gesund.  

    Wenn uns der Himmel in Syrien Regen schickt

    Vor ein paar Tagen sprach ich mit einem Bekannten, der hier in Deutschland lebt und einen deutschen Pass hat. Aber er fühlt sich nicht als Deutscher oder hat das Gefühl zu Deutschland zu gehören. Wenn uns der Himmel in Syrien Regen schickt, dann sagen wir „Gott sendet Gutes“ und wir erbitten mehr Regen, weil der Regen für Erde und Bäume wichtig ist. Aber hier in Deutschland beschweren sich viele Leute wegen dieses Wetters, obwohl sie auch für die Umwelt kämpfen. Egal. Mein Bekannter hat mir gesagt, wenn er den Regen hier siehst, kann er nicht sagen:  „Gott sendet Gutes“, weil der Regen ihm nicht gehören kann. Die Bäume auf der Straße gehören nicht ihm, deswegen kann er sich auch keinen Regen für sie wünschen. 

    Er lebt alleine und arbeitet auch von zu Hause aus. Er hat sich gefragt, was passiert, wenn er eine deutsche Frau kennenlernen möchte? Was würden wir essen? Nur syrisches Essen? Ja, das könnte sein, weil die Deutschen mögen auch Hummus und Falafel. Welche Filme oder Serien würden wir gucken? Arabische oder Deutsche? Worüber würden wir sprechen? Nur über das Leben in Syrien? Hat sie überhaupt Lust darüber zu sprechen? 

    Integration bedeutet keine Angst mehr zu haben hier zu sterben

    Ich erzähle euch diese Geschichte, weil er mir am Ende gesagt hat, Integration bedeute für ihn, keine Angst mehr zu haben hier zu sterben. Deswegen könnte er sich hier nicht integrieren, weil er sich davor fürchtet. 

    Dieser starke Satz hat mich an diesen Winterabend erinnert. Und plötzlich wusste ich was mir an diesem Abend so Angst gemacht hatte. Es war die Angst hier zu sterben, obwohl ich mich auch davor fürchte in meinem Heimatland zu sterben. 

    Mir und meinem Bekannten geht es ähnlich wie vielen Syrern und Geflüchteten, die vor dem Krieg geflohen sind. Wir suchen einen sicheren Ort, aber wir leben innerlich noch dort, unsere Gedanken, Gefühle, Erinnerungen und unser Zugehörigkeitsgefühl sind noch da, und sind nicht mit uns geflohen. Wir haben einfach Heimweh, oder Kulturweh, oder sehnen uns danach, dazuzugehören.

    Ein Leben in den Sozialen Medien

    Sie leben nur in den sozialen Medien, wo sie auf Arabisch schreiben, lesen und schauen können. Viele syrische Serien werden inzwischen auch in den sozialen Medien veröffentlicht, weil fast alle im Exil lebenden syrischen Geflüchteten diese Serien sehen möchten. Mit diesen Serien können sie die Straßen von Damaskus erleben, den syrischen Akzent hören und sich an die syrischen Tomaten, das Gemüse und Obst erinnern. Viele Syrer sagen, dass die Früchte und das Fleisch hier anders schmecken, als in Syrien, auch wenn sie fast gleich sind. Aber das Essen hier wird mit Erinnerungen und Heimweh gegessen, daher ist auch der Geschmack ein anderer.

    Sie haben sich ihre eigene Gesellschaft auf Social Media aufgebaut. Viele der Syrer, die in Deutschland, in Frankreich, der Türkei oder in Kanada leben oder diejenigen, die noch in Syrien sind, haben miteinander auf Social Media Kontakt. Sie haben Freundschaften geschlossen, um eine Zugehörigkeit zu finden. Es gibt noch unterschiedliche syrische Gruppen: eine für die Regierung, eine dagegen, eine für die kurdische Unabhängigkeit, eine dagegen, eine für das islamische Land und eine für den Säkularismus. Diese Gruppen diskutieren und streiten miteinander. 

    Ich will meine neue Heimat, meine Liebe

    Vielleicht habe ich, als Hussam, eine andere Geschichte entwickelt, als mein Bekannter. Ich will meine neue Heimat, meine Liebe, meine Verlobte, und meine deutschen Freunde haben. Mein Deutsch ist gut genaug, um deutsche Medien zu lesen und um zu wissen, worüber hier in Deutschland diskutiert wird. Ich arbeite auch in den deutschen Medien: kohero ist ein deutsches Medium, obwohl es von einem Syrer gegründet wurde, wurde es in Deutschland und auf deutsch gegründet. Es gibt mir die Möglichkeit über meine Meinung schreiben. Ich bin auch in der deutschen Gesellschaft aktiv, obwohl ich nicht zu ihr gehören kann und darf.

    Aber ich versuche in diesen zwei Welten zu  leben: Die Welt meiner Heimat, meiner Erinnerungen und meiner Familie, und auch in der meines neuen zu Hause in der es meine neue Familie und meine Arbeit gibt. Aber viele können diese Balance nicht finden, weil sie noch in ihrer Heimat leben, obwohl sie im Exil wohnen. Ihre Seele ist noch da, aber ihre Körper sind hier. 

    Der Verlust der Selbstbestimmung

    Viele Syrer wissen, dass sie hier ein besseres Leben und mehr Möglichkeiten haben, aber die Entscheidung, ob sie hier bleiben oder nach Syrien zurück gehen möchten sie selbst treffen. Und im Moment kann niemand nach Syrien zurück gehen, wegen des Krieges und des Diktators, der dort noch regiert. Vielleicht, wenn Syrer allein entscheiden dürften, ob sie hier bleiben oder nach Syrien zurückkehren, würden sich viele dazu entscheiden hier zu bleiben. Aber das Gefühl, dass sie hier bleiben sollen, obwohl sie nach Syrien zurück möchten, und keine Kontrolle oder Selbstbestimmung über ihr Leben zu haben, übt einen sehr großen Druck aus.

    Einsamkeit im Lockdown

    Und auch in der Coronazeit wird es spürbar schwieriger für viele Geflüchtete, die noch alleine leben. Viele bekommen schnell das Gefühl von Einsamkeit, weil sie nicht gewohnt sind alleine zu leben. Hinzu kommt die Angst um ihre Familie in Syrien, die Wirtschaftskrise und darüber, ob sie ihren Job verlieren und wieder von vorne anfangen müssen. 

    Vielleicht sind diese Gedanken “orientalisch übertrieben” (danke an Isabel Schayani für diesen Begriff), aber dieses Gefühle bleibt bei vielen Syrern, die alleine im Exil leben und Angnst davor haben hier zu sterben. 

    Dieser Artikel wurde auch auf Englisch veröffentlicht.

    https://kohero-magazin.com/the-fear-of-dying-in-here-thoughts-of-a-syrian/

  • „Hakaya“ – mit Geschichten Brücken bauen

    Ich grüße Sie, Joudi Ayash. Mit Ihrem Projekt „Hakaya“ möchten Sie Hörbücher für Kinder in arabischer Sprache zu deutschen Geschichten anbieten. Wie sind Sie auf diese Idee gekommen?

    J.A.: Als Flüchtlingsmutter mit arabischen Wurzeln habe ich immer versucht, meinem Kind Geschichten aus beiden Sprachen (Arabisch und Deutsch) in unserer neuen Heimat vorzulesen, um neue Kommunikationskanäle in unser Muttersprache zwischen meinem Kind und uns zu erstellen und neue Perspektiven in seiner Fantasie zu erschaffen. Ich hatte Schwierigkeiten, arabische Geschichten zu finden, die sich mit den Bedürfnissen der Kinder befassen und gleichzeitig den Zugang zu meiner Muttersprache erleichtern könnten.

    Zudem habe ich mit vielen arabischen Müttern gesprochen. Sie teilen die gleiche Meinung, dass die Kinder durch Kindergarten, Schule und Freunde die deutsche Sprache lernen und überwiegend sprechen, jedoch den Zugang zu der arabischen Sprache, die nur zuhause gesprochen wird, verlernen. Die Eltern lernen zwar auch Deutsch. Aber zu Hause sprechen sie Arabisch. Die Familie hat keine gemeinsame Sprache mehr. Dies führt zu Missverständnissen und Problemen.

    Durch das Lesen habe ich die Unterschiede zwischen den verschiedenen Kulturen bemerkt. Aber auch die gemeinsamen menschlichen Werte, die uns alle verbinden. Die genannten Erfahrungen habe mich auf meine Idee und mein Traumprojekt gebracht, das ich „Hakaya“ benannt habe: Es werden Kindergeschichten aus dem Deutschen ins Arabische zu übersetzt und als Hörbuch aufgenommen. „Hakaya“ stammt aus dem Arabischen und bedeutet: Geschichten.

    Besonders wichtig ist mir: einen neuen Kommunikationskanal in arabischer Sprache ermöglichen zu können, nämlich den zwischen den Eltern und den Kindern und der Wahrnehmung zu ihrer ursprünglichen Umgebung und ihrer neuen Heimat.

    Im Ursprung sind es deutsche Geschichten, die für die Hörbücher ins Arabische übersetzt werden. Wie finden Sie Geschichten, die sich dafür eigenen?

    J.A: Zunächst sollten sich die Geschichten an Kinder im Vor- und Grundschulalter richten. Zudem wünsche ich mir neutrale Geschichten, die ohne religiösen oder politischen Hintergrund sind und sich mit den Bedürfnissen der Kinder befassen. Sie sollen Erziehungsstile fördern, die auf ein dialogisches Miteinander und dem Selbstausdruck der Kinder beruhen. Und sie sollen sich mit dem Alltag des Kindes beschäftigen und den nach Deutschland zugezogenen Kindern helfen sich in ihrer neuen Umgebung besser zurecht zu finden. Die gesellschaftlichen Werte wie Gemeinsinn, Mitgefühl und soziale Intelligenz sollen gestärkt werden.

    „Hakaya“ ist ein Online-Angebot. Was muss man tun, um die Geschichten zu hören? Und wie erfahren Familien von diesem Angebot?

    J.A.: Hakaya ist seit November 2020 online gestellt. Zur Vermarktung wurde dafür mit mehreren Kampagne auf Facebook geworben. Hakaya befindet sich momentan in der Probezeit und zwei Geschichten sind nun kostenlos für die Besucher verfügbar.
    Die eingesprochenen Bücher sind unter www.hakaya.de zu finden. Zudem sind wir auf unterschiedlichen Social-Media Kanälen zu finden, wie Spotify oder iTunes.
    Nach Ablauf der Testphase planen wir für die runter geladenen Geschichten kleine Preise zu verlangen, da die Geschichten mit Produktions- und Urheberrechtskosten verbunden sind.

    Mal in die Zukunft geschaut: Noch steht Ihr Projekt ganz am Anfang. Welche Schritte haben Sie sich für die nächste Zeit vorgenommen?

    J.A.: Mein Kopf ist immer voller Ideen. Es ist vielmehr eine Frage der Zeit und der finanziellen Unterstützung. Für die Zukunft hoffe ich, dass wir noch viel mehr Geschichten unterschiedlicher Genre auf die Website stellen können. Geplant sind anfänglich drei Bücher pro Monat, je nach urheberrechtlichen Vereinbarungen ist eine Ausweitung geplant.

    Wir möchten den Kontakt mit den Eltern fördern und die Meinungen der Kinder über die Geschichten hören. Auch sind wir offen für neue Ideen zur noch besseren Umsetzung. Zusätzlich planen wir auch zu den Geschichten eigene Kinderlieder auf  der Website zu veröffentlichen, beispielsweise von jungen Bands oder auch von Kindern, die selbst gerne Musik machen. Am liebsten in unterschiedlichen
    Musikrichtungen und über verschiedene Themen.

    Gibt es etwas, was Interessierte noch über Hakaya wissen sollten? Und haben Sie noch einen Wunsch, bei dem andere Menschen helfen können, damit er vielleicht in Erfüllung geht?

    J.A.: Bei meinem Projekt Hakaya werden deutsche Kindergeschichten als Hörbücher ins Arabische übersetzt und eingesprochen. Aber es ist vielmehr auch der Versuch, die verschiedenen Kulturen einander näher zu bringen und die Barrieren zwischen den unterschiedlichen Mentalitäten zu verringern. Die Kinder sollen mit den gemeinsamen menschlichen Werten aufwachsen und schon im Kindesalter ein solidarisches Miteinander lernen.

    Wichtig, besonders für arabischsprachige Kinder, sind Geschichten aus denen die Kinder etwas über ihren Körper, ihre Gefühle und ihr Selbstbewusstsein lernen können. Hakaya braucht momentan viele Geschichten und Autoren, die von der Idee
    begeistert sind und mich in der ersten Phase unterstützen möchten. Ich bin sehr an Kinderbüchern interessiert, die von Freundschaft, Liebe oder Sachgeschichten/ Erziehungsgeschichten handeln.

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