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  • Diskriminierung vor dem Wahllokal

    Mohamed lebt in Rostock und kommt ursprünglich aus Syrien. Vor knapp sechs Jahren flüchtete er von Syrien über Nordmazedonien nach Deutschland. Er engagierte sich hier ehrenamtlich und lernte so Deutsch, um später ein Medizinstudium zu beginnen. Inzwischen ist Mohamed 25 und durfte 2021 zum ersten Mal in Deutschland wählen – etwas ganz besonderes für ihn. Doch als er am 26. September vor dem Wahllokal in der Schlange steht, ist er rassistischen und diskriminierenden Kommentaren ausgesetzt. Mit einem Facebook-Post wendet Mohamed sich an die Öffentlichkeit. Wir sind auf das Posting aufmerksam geworden und sprechen mit Mohamed über den Vorfall, über die Bedeutung der Meinungsfreiheit und über gesellschaftliche Probleme, die Diskriminierung zur Folge haben.

     

    Bevor Du an den Bundestagswahlen 2021 teilnehmen durftest, hast Du kurz zuvor die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten. Was bedeutete dieser Schritt für Dich?

    Mohamed: Die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen, bedeutet für mich in erster Linie Meinungsfreiheit und Frieden. Ich darf meine Meinung zur deutschen Regierung, zu Europa und zur Umwelt frei äußern – selbst als Flüchtling. Leider hatte ich bisher nie das Gefühl, hier in Mecklenburg-Vorpommern angenommen und als deutscher Bürger respektiert zu werden. Die Einbürgerung war somit für mich sehr emotional.

    Wenn ich sehe, dass viele junge Menschen, die hier in Deutschland geboren wurden, die Demokratie und die Sicherheit Deutschlands nicht zu schätzen wissen, bin ich verletzt. Das sind Privilegien, die nicht selbstverständlich sind. In Deutschland erhalte ich Chancen, die ich in Syrien nicht bekomme: Leistung und Mühe führen in Deutschland – in der Regel – zu Ergebnissen. In Syrien kann man jedoch sein Bestes geben, viel Zeit in Bildung oder persönliche Entwicklung investieren, ohne jemals ans Ziel zu kommen – ohne bessere Lebensbedingungen schaffen zu können.

    Du schreibst in Deinem Post, dass Du direkt nach Erhalt der deutschen Staatsbürgerschaft dafür gekämpft hast, noch an den darauffolgenden Bundestagswahlen teilnehmen zu dürfen. Erst kurz vor den Wahlen hast Du dann die Wahlunterlagen erhalten. Mit welchen Gedanken und Gefühlen hast Du ursprünglich auf den 26. September geblickt?

    Ich war an dem Wahlsonntag sehr aufgeregt. Schon als ich die Wahlbenachrichtigung erhielt, war ich absolut begeistert. Ich bin in Syrien aufgewachsen und mir war es sehr wichtig, wählen zu können. Und zwar frei und geheim. Daher war es ein tolles Gefühl. Aber mir ging es nicht um die positiven Gefühle, sondern darum, die Partei zu wählen, die meiner Meinung nach Deutschland – und nicht mir persönlich – am besten tut. Dies war meine erste freie und geheime Wahl. Ich hatte eine tiefe Sehnsucht nach dem Gefühl, in eine Wahlkabine gehen zu können und dort völlig geheim meine Stimme abzugeben.

    Da ich generell politisch sehr interessiert bin, informiere ich mich ständig und höre Nachrichten. Das hilft beim Deutsch lernen, aber ich finde es auch grundsätzlich wichtig zu wissen, was tagtäglich in der Welt – und in dem Land, in dem man lebt – passiert. Ich merke jedoch, dass sich viele junge Menschen nicht für Politik interessieren und die Wahlen für sinnlos halten. Das finde ich sehr schade. Es wäre wichtig, diese Personen zu motivieren, damit sie politisch aktiv werden und ihre Chance auf Mitbestimmung nutzen. Denn eine ungenutzte Chance ist in meinen Augen eine vergebene Chance und diese verlorenen Stimmen kommen vielleicht extremeren Parteien zugute.

     

    „So wie ich hier in Deutschland die Wahl erlebe, an ihr teilnehmen und sie beeinflussen kann, werde ich es in einem arabischen Land nie können.“

    Auf Facebook beschreibst Du Deinen Frust und Deine Enttäuschung über das, was Du am Tag der Wahlen erlebt hast. Würdest Du noch einmal zusammenfassend erzählen, was Dir widerfahren ist?

    Als ich an der Volkshochschule ankam, in der sich das Wahllokal befand, stellte ich mich in die Schlange. Ich spürte verwirrte Blicke um mich herum. Auf mich wirkte es, als würden sich die Menschen um mich herum fragen, ob ich mich geirrt hätte – als ob ich nicht dort stehen dürfte, weil ich durch meine Herkunft nicht dazugehören würde. Kurze Zeit später stellte sich ein Paar hinter mir an der Schlange an. Die Frau sagte mehrmals „armes Deutschland“, wobei ich dies erst gar nicht auf mich bezog. Als wir schließlich das Wahllokal betraten, machte sie noch weitere herabwürdigende Aussagen, die signalisierten, dass bestimmte Menschen – Menschen wie ich – ihrer Meinung nach nicht an den Wahlen teilnehmen sollten. In dem Moment verstand ich, dass es wirklich um mich ging. Sie verglich mich mit Hunden und machte rechtsextreme Gesten.

    Doch obwohl ich sehr wütend war, entschied ich mich dazu, nicht darauf einzugehen. Wenn ich mich auf einen Streit eingelassen hätte, fürchtete ich, dass man mir die Schuld für den Streit geben würde. Zu viele negative Erlebnisse, die ich in Rostock machen musste, haben mir gezeigt, dass Konfrontation und Auseinandersetzung in diesen Momenten zwecklos sind. Und obwohl ich es sprachlich mit beiden hätte aufnehmen können, entschloss ich mich aufgrund meiner Erfahrungen dazu, das Paar zu ignorieren. Ich war aber insgesamt über den Vorfall tief entsetzt.

    Deine Geschichte macht absolut sprachlos! Warum war Dir die Wahl am 26. September gerade nach diesem Vorfall so wichtig?

    Das Wahllokal befand sich in der Schule, in der ich damals Deutsch lernte. Als ich es betrat, sah ich zufälligerweise als allererstes meine ehemalige Schulleiterin. Sie erkannte mich sofort und freute sich offenbar darüber, dass ich an den Wahlen teilnehmen wollte. Das hat mir ein gutes Gefühl gegeben.

    Wenn ich nach dem Vorfall nicht mehr gewählt hätte, hätte dies bedeutet, dass ich weitere vier Jahre darauf warten müsste, um von meinem Wahlrecht Gebrauch machen zu können. Mir war sehr bewusst, dass ich mit meiner Stimme die Zukunft, zumindest zu einem sehr kleinen Teil, mitbestimmen und -gestalten kann. Zudem war mein Sonntag sowieso gelaufen. Ich habe vorher sehr viel Zeit investiert, um mich auf die Wahlen vorzubereiten. Deshalb konnte mich nur die Tatsache, dass ich das erste Mal an freien, demokratischen Wahlen teilnehmen durfte, aufheitern.

    Es ist sehr wichtig – und vor allem mutig, dass Du den Vorfall teilst. Doch obwohl Deine Geschichte fassungslos macht, scheint Dein Erlebnis keine Ausnahme zu sein: Auch auf Twitter und im Focus wird über rassistische Vorfälle in Wahllokalen berichtet. Welche Reaktionen erhieltst Du auf Deinen Facebook-Post?

    Viele haben mir geraten, aus Rostock wegzuziehen. Einige meiner (syrischen) Freunde haben mich schon vor den Wahlen gewarnt und mir geraten nicht wählen zu gehen, zum Beispiel auch, weil sie der Meinung sind, dass ich politisch nichts bewegen könne.

    In Deinem Facebook-Post hast Du geschrieben, dass Du nach dem Erlebnis eigentlich nicht mehr bereit bist, in Rostock wählen zu gehen. Nun ist etwas Zeit vergangen. Wie stehst Du inzwischen dazu?

    In dem Moment, in dem ich den Beitrag verfasst habe, hatte ich die Nase voll. Aber mit etwas Abstand betrachtet, finde ich es sinnvoll dennoch wählen zu gehen. Vielleicht melde ich mich auch als Wahlhelfer.

    Unabhängig davon möchte ich aber auf jeden Fall weiterhin an politischen Entscheidungen teilhaben und kann mir auch gut vorstellen, eines Tages selbst in die Politik zu gehen. Obwohl bereits immer mehr Menschen mit ausländischen Wurzeln im Bundestag vertreten sind – und darunter auch immer mehr Menschen mit syrischen Wurzeln, wie bspw. Lamya Kaddor – sind viele von ihnen dennoch bereits in Deutschland geboren. Bisher ist mir nur der in Nordsyrien geborene Jian Omar bekannt, der die ersten zwanzig Jahr seines Lebens in Syrien verbracht hat und erst als Erwachsener nach Deutschland kam. Meines Erachtens ist er somit als einziger Zugewanderter in der deutschen Politik tätig ist. Das motiviert mich. Zwar ist mein Ziel nicht der Bundestag, aber ich möchte meine Chance, politisch mitwirken zu können, nutzen und aktiv werden, um etwas zu verändern.

    Aktuell lebst Du in Rostock, im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern. Ein Blick auf die Wahlergebnisse zeigt, dass in vielen Teilen Mecklenburg-Vorpommerns, nach der SPD, die AfD einen hohen Anteil der Erststimmen (im Landkreis Rostock bspw. 21.6% und im Wahlbereich Mecklenburgische Seenplatte I – Vorpommern-Greifswald II 24.3%) erhielt. Das Wahlprogramm der AfD findet vorrangig keinen Platz für Zugewanderte und Integration. Begegnen Dir Rassismus und Diskriminierung somit auch unabhängig von den Bundestagswahlen im Alltag?

    Ja, leider gab es bereits sehr viele Vorfälle in Rostock. Zum Beispiel bei dem Verkauf meines Autos. Da fragte mich der Käufer, wo ich das Auto geklaut hätte. Ein anderes Mal fuhr ich mit dem Nachtbus und wurde, weil ich auf Arabisch telefonierte, aufgefordert, mitten auf der Straße auszusteigen. Sowas ist für mich nur schwer zu realisieren.

     „Ich möchte viel mehr Sichtbarkeit schaffen und mich damit gegen alle Arten von Diskriminierung stark machen“

    Jedes Mal möchte ich auf solche Ereignisse aufmerksam machen und sie öffentlich teilen, aber ich fürchte häufig, dass dies missverstanden werden würde. So ging es mir auch mit meinem Post zu den Bundestagswahlen. Ich möchte nämlich kein Mitleid. Ich möchte nicht, dass jemand traurig wird, wegen der Ereignisse, die mir passiert sind. Stattdessen möchte ich Sichtbarkeit schaffen und mich damit gegen Rassismus, gegen Antisemitismus, gegen Islam-Feindlichkeit und gegen alle Arten von Diskriminierung stark machen.

    Doch es ist nicht allein meine Aufgabe, die Menschen in Mecklenburg-Vorpommern zu verändern. Das schaffe ich nicht. Und es ist auch nicht Deine Aufgabe. Und es ist auch nicht die Aufgabe unserer Mitmenschen. Klar, kann man dazu beitragen, dass sich etwas verändert, aber wir allein können nicht genug bewegen. Stattdessen ist es die Aufgabe des Staats und der Medien. Um Rassismus und anderen Arten von Diskriminierung entgegenzuwirken, muss meines Erachtens bereits in den Grundschulen damit begonnen werden. Wenn Kinder in Deutschland hauptsächlich privilegierte, weiße Menschen in ihren Lehrbüchern sehen, dann ist es unwahrscheinlicher, dass sie Menschen mit anderen Hautfarben akzeptieren oder respektieren werden. Wir benötigen Kampagnen, Initiativen und Projekte, die fördern, dass Rassismus, Antisemitismus oder Islam-Feindlichkeit keine Chance haben.

    Gesellschaftlich, politisch und auch in anderen Bereichen ist offensichtlich noch viel zu tun, um gegen Antisemitismus, Rassismus und Diskriminierung anzukämpfen. Was muss sich Deiner Meinung nach in Deutschland ändern, damit solche Vorfälle verhindert werden?

    Konfrontation, Auseinandersetzungen oder Geldstrafen sind meiner Ansicht nach zwecklos. Durch Verbote löst man keine Probleme. Jemand, der mich beleidigt, sich daraufhin entschuldigt und später jemand anderes diskriminiert, trägt nicht zu einer nachhaltigen Veränderung bei. Ich habe zu oft in Rostock negative Erlebnisse machen müssen, die mir gezeigt haben, dass das Problem ein politisches ist. Kinder müssen früh an andere Kulturen herangebracht und über bestimmte Themen aufgeklärt werden, um gegen Rassismus, Antisemitismus, Islam-Feindlichkeit oder andere Weisen der Diskriminierung vorzugehen. Das Patenschaftsprojekt, an dem ich arbeite, hat mir gezeigt, dass solche Programme sehr wirksam sind und die Menschen näher- und zusammenbringen.

    Und auch der Staat und die Medien sehe ich in der Verantwortung, etwas zu verändern. Auch hier sind Ausländer total unterrepräsentiert- oder werden in einem schlechten Licht dargestellt.

    „Es gibt sichtbaren und unsichtbaren Rassismus“

    Die beschriebenen Erlebnisse, wie der Verkauf des Autos oder die Fahrt mit dem Nachtbus, nenne ich „sichtbaren“ Rassismus. Was jedoch unsichtbar ist, ist subtiler Rassismus, der von Menschen ausgeht, die behaupten, sie seien aufgeschlossen und tolerant. Allerdings schließen sie mich und andere arabischstämmige Menschen aus, benachteiligen oder meiden uns und diskriminieren uns somit auch „unsichtbar“.
    Viele Kommilitonen, die hier geboren und aufgewachsen sind, bevorzugen es zum Beispiel, ihre Zeit mit Freunden aus gleichen Kulturkreisen zu verbringen. Das führt zwangsläufig dazu, dass auch arabischsprachige Kommilitonen unter sich bleiben.

    Eine funktionierende Integration habe ich bisher noch nicht spüren können. Dazu leben wir viel zu sehr in diesen beiden Parallelgesellschaften. Ich habe häufig das Gefühl, wegen meiner Herkunft verurteilt zu werden. Manchmal wirkt es auf mich, als würde ich mich für meine Kultur rechtfertigen müssen. Und häufig begegnet man mir einfach nicht auf Augenhöhe. Das nenne ich „unsichtbaren Rassismus“ – ein unbewusstes Verhalten, das mit sichtbarem Rassismus nicht vergleichbar ist.

    „Ich möchte kein Mitleid – ich möchte, dass sich etwas ändert“

    Ob sichtbar oder unsichtbar: Rassismus bleibt Rassismus und ist offensichtlich ein riesiges Problem in unserer Gesellschaft. Welche Bereiche siehst Du als besonders kritisch oder ausbaufähig, um Rassismus und Diskriminierung zu verringern?

    Ich finde die Stadt Rostock eigentlich sehr schön. Ich lebe gerne hier. Aber gesellschaftlich gibt es noch viel zu tun. Diskriminierung gibt es überall. Bei mir an der Uni. Bei den Wahlen. Im alltäglichen Leben. Diejenigen, die das mitbekommen, haben dann häufig Mitleid mit mir. Aber, wie gesagt, Mitleid möchte ich nicht. Ich möchte, dass sich etwas ändert. Bei dem Vorfall vor dem Wahllokal war mir klar, dass niemand eingreifen würde. Hier in Deutschland ist Zivilcourage ein großes Problem. Niemand greift ein.

    Zudem fehlt es vielen, die hier in Deutschland geboren oder aufgewachsen sind, an Wertschätzung für Dinge, die wohl selbstverständlich erscheinen. Es ist eben nicht selbstverständlich, dass man in Sicherheit lebt und menschenwürdig behandelt wird. Es ist auch nicht selbstverständlich, dass man nah an seiner Familie lebt. Insbesondere während der Pandemie habe ich erlebt, was Isolation und Stress bewirken können. Ich habe meine Familie seit sechs Jahren nicht mehr gesehen und musste mit vielem alleine zurechtkommen.

    Meine Lebensumstände haben mich geprägt und viele, die in meinem Alter sind, können nur einen Bruchteil davon nachvollziehen. Ich habe andere Werte und eine andere Lebenseinstellung im Vergleich zu anderen Fünfundzwanzigjährigen.

  • Bundestagswahl: Was sagen die Ergebnisse über Deutschland?

    Für mich war neben den Ergebnissen auch die Wahlbeteiligung 2021 sehr wichtig, die bei 76,6 % in ganz Deutschland lag. Diese Zahl zeigt mir, dass die Teilhabe an der Demokratie tief in der Gesellschaft verwurzelt ist. Sie ist im europäischen Vergleich zwar nicht die höchste, auch nicht die schlechteste – aber ich finde, es ist ein wichtiges Zeichen für das Vertrauen in die Demokratie vieler Millionen Menschen. 

     

    Zu den vorläufigen Ergebnissen habe ich einige Gedanken und Fragen. Einerseits sehe ich, dass es keine Volksparteien mehr gibt – jedenfalls nicht gemessen an den Wähler:innenstimmen. Oder sind 25% bis 26% genug, um diesen Titel zu behalten? Ich frage mich immer was es bedeutet, eine Volkspartei in einer vielfältigen, demokratischen Gesellschaft zu sein? Auch wenn diese Partei in einem Wahljahr viele Stimmen bekommt, irgendwann kann sie diese wieder verlieren. Denn auch “das Volk” verändert sich. Und das ist genau, was mit CDU und SDU passiert ist. Aber auch die Grünen, mit dem wichtigen Thema Umweltschutz und dem Kampf gegen den Klimawandel, werden nicht zur neuen Volkspartei. Vielleicht braucht die deutsche Gesellschaft keine Volksparteien mehr? 

     

    Gleichzeitig ist eine Mehrheit der Wähler:innen noch an der Mitte des politischen Spektrums interessiert. Extreme Kandidat:innen wie z.B. der ehemalige Chef des Verfassungsschutzes ​​Hans-Georg Maaßen bekamen weniger Zuspruch als 2017. Der Versuch der Thüringer CDU, gleichzeitig in der Mitte und am rechten Rand zu stehen, ist gescheitert.

    Das Wahlergebnis ist eine klare Nachricht der Wähler:innen an die CDU/CSU: Die deutsche Gesellschaft hat sich verändert.

     

    Eine große Frage ist, ob Armin Laschet die Verantwortung für den historischen Verlust der CDU/CSU trägt? Es wird schon viel diskutiert. Ich persönlich glaube, dass die CDU/CSU im Jahr 2021 nicht mehr wie die ‘Mutter’ oder der ‘Vater’ von allen Wähler:innen auftreten kann, besonders nicht ohne Angela Merkel. Was Deutschland nach 16 Jahren von Merkels Stabilität braucht, sind neue Ideen und neue Gesichter. Ich glaube, dass auch deswegen viele der GroKo-CDU-Kandidat:innen (z.B. Peter Altmeier, Julia Klöckner oder AKK) ihre Direktmandate verloren haben.

    Die Zeit ist gekommen, dass die CDU/CSU in die Opposition geht. Dadurch bekommt sie die Chance, sich neu zu organisieren, sich neu zu orientieren und auch viele Fehler der letzten Jahre (Stichworte: Maskenaffäre oder Maut) reflektiert. Gleichzeitig ist das Wahlergebnis eine klare Nachricht der Wähler:innen an die CDU/CSU: Die deutsche Gesellschaft hat sich verändert, viele sind zu anderen Parteien gewechselt, weil sie neue Antworten suchen.

    Die Grünen haben die Veränderungen in der Gesellschaft schon länger gesehen. Vielleicht aber haben sie den Wunsch nach Veränderung in der Politik überschätzt. Oder wie ist ihr Wahlergebnis von unter 15% zu bewerten? Auf der einen Seite ist es 7,5% mehr als 2017, auf der anderen Seite gab es vor ein paar Monaten noch die Hoffnung auf 20, 22 oder 25%. Ich habe bei dem grünen Wahlkampf etwas Wichtiges über Fehlerkultur gelernt: Die Menschen sind sehr sensibel, was die Fehler von Annalena Baerbock angeht. Als neue Politikerin ohne Regierungserfahrung haben viele Wähler:innen das Vertrauen in sie schnell wieder verloren. Viele Menschen konnten ihr nicht verzeihen und wollten Baerbock keine zweite Chance geben, obwohl es in der deutschen Politik genug Beispiele für Fehler und Verzeihen (oder Vergessen) gibt. Die Frage, ob die Grünen nun gewonnen (im Vergleich zu 2017) oder verloren (im Vergleich zu den Erwartungen oder Chancen) haben, beantwortet jede:r Wähler:in unterschiedlich. Vielleicht haben sie auch verloren, obwohl sie gewonnen haben. 

     

    Migration, Flucht und Asyl sind nicht mehr die großen Streitthemen in Deutschland.

     

    Für mich war es eine große Erleichterung, dass die SPD nicht von ihren Kolleg:innen in Dänemark beeinflusst wurde. Sie hat nicht versucht, mit einer harten, migrationskritischen und Anti-Geflüchteten-Politik Wähler:innen zu gewinnen. Das kann auch daran liegen, dass Migration, Flucht und Asyl nicht mehr die großen Streitthemen in Deutschland sind, wie sie es 2017 waren. Die SPD hat mit ihrem (überraschenden) Erfolg jetzt die Möglichkeit, ihre eigene sozialdemokratische Politik zu machen, ohne dass diese von der CDU und Frau Merkel verschluckt wird. Die Frage ist, was wird das Ergebnis? In der Koalition zwischen SPD und Grüne 2002 wurde das Konzept für Hartz IV geboren. Hartz IV ist, wie viele Dinge in Deutschland, ein sehr altes Model und braucht dringend eine Modernisierung. 

    Für mich als Geflüchteter, Syrer, Mensch mit Migrationshintergrund und/oder nicht wahlberechtigter Hamburger ist diese Wahl auch besonders interessant, weil viele Menschen die ich kenne, eine große Bewunderung für Bundeskanzlerin Merkel haben. Von Syrer:innen wird sie Mama Merkel genannt. Die Gesetze ihrer Partei waren in den letzten sechs Jahren nicht wirklich vorteilhaft für Geflüchtete und Migrant:innen. Trotzdessen verbinden viele Geflüchtete mit ihr eine Willkommenskultur und die Chance auf ein neues Leben in Sicherheit und Freiheit. 

     

    2021 wurden Menschen mit den unterschiedlichsten Geschichten und Lebenswegen gewählt.

     

    Vielleicht sollten wir auf die vielen Abgeordneten gucken, die neu in den Bundestagswahl gewählt (oder wieder gewählt) wurden, die aus eigener Erfahrung wissen, wie es ist, als Mensch mit Flucht- oder Migrationsgeschichte in Deutschland zu leben. 2017 wurden von den 709 Abgeordneten auch 58 mit dem sogenannten “Migrationshintergrund” gewählt, so der Mediendienst Integration. 2021 hat sich diese Zahl nochmals vergrößert und es wurden Menschen mit den unterschiedlichsten Geschichten und Lebenswegen gewählt.

    Die beiden erfolgreichsten Direktkandidat:innen der Grünen heißen Cem Özdemir und Canan Bayram. Frankfurt am Main hat zum ersten Mal zwei Direktkandidaten mit Migrationsgeschichte in den Bundestag gewählt: Omid Nouripour (Grüne) und Armand Zorn (SPD). In Schwerin hat Reem Alabali-Radovan zum ersten Mal ein Direktmandat für eine Abgeordnete mit Migrationsgeschichte geholt (für die SPD). Sie sagte der dpa dazu: “Das hat für mich eine besondere Bedeutung, da ich zum einen ein modernes Bild von Mecklenburg-Vorpommern im Bundestag repräsentieren kann”. Viele Syrer:innen freuen sich mit ihr und auch mit Lamya Kaddor (Grüne) aus Duisburg. Der 28-jährige Kassem Taher Saleh kann für die Grünen in Sachsen die Perspektive von geflüchteten Menschen vertreten, er ist selbst im Alter von zehn Jahren mit seiner Familie aus dem Irak nach Deutschland geflüchtet. In seiner Bewerbungsrede als Landesvorstandssprecher der Grünen 2018 sagte er: “​​Politische Erfahrung bedeutet für mich, zu wissen, wie es sich anfühlt im Asylheim zu wohnen und trotz der Barrieren Teil unserer städtischen Gesellschaft zu werden”. 

     

    Abgeordnete mit Flucht- oder Migrationserfahrung sind in einer schwierigen Position.

     

    Dabei ist es mir auch wichtig zu sagen, dass unsere Gesellschaft sehr vielfältig ist. Außerdem bedeutet politische Repräsentation, dass wir mit der Zeit diese Vielfalt auch im Bundestag sehen werden. Aber ein Mensch, ob aus dem Irak geflüchtet oder mit Großeltern aus der Türkei, kann unmöglich alle Menschen “mit Migrationshintergrund” repräsentieren. Es gibt keine einheitliche Gruppe “die Flüchtlinge” oder “die Syrer:innen”, sondern sehr viele unterschiedlichen Communities und Meinungen.

    Und ich finde auch, dass die Abgeordneten mit Flucht- oder Migrationserfahrung in einer schwierigen Position sind. Auf der einen Seite ist die Erwartungshaltung, dass sich Politiker:innen für alle Wähler:innen und Bürger:innen einsetzen. Auf der anderen Seite gibt es hohe Erwartungen aus ihren Communities, dass sie sich für ihre Themen einsetzen. Neue deutsche Politiker:innen stehen besonders im Fokus und jedes ihrer Worte wird analysiert und unter dem Titel “Identität” doppelt untersucht. Die neuen Abgeordneten mit ihrer vielfältigen, internationalen Geschichten können aber auch Brückenbauer:innen zwischen der Mehr- und der Minderheit werden. Die Frage ist, ist es fair, diese hohen Erwartungen nur ihnen gegenüber zu haben?

    Der Chefredakteur von MIGAZIN hat auf Twitter gefragt: “Wenn heute Millionen nicht wahlberechtigte Ausländer mitwählen dürften, würde #noAfD die meisten Stimmanteile verlieren. Dieses Potenzial wurde auch bei dieser #btw21 nicht abgerufen. Warum?” 

    Ich finde, wir können das nicht so genau sagen. Auch Menschen ohne die deutsche Staatsbürgerschaft können konservativ oder rechts denken und wählen. Aber das Ergebnis einer symbolischen Wahl für Nicht-Wahlberechtigte, veranstaltet von dem Netzwerk WIR WÄHLEN in 14 Städten, zeigt, dass die AfD mit 0,7% der Stimmen doch sehr unbeliebt ist. 2021 waren 9,5 Millionen Menschen, die in Deutschland leben aber keine deutsche Staatsbürgerschaft haben, nicht wahlberechtigt. Das sind laut WIR WÄHLEN ungefähr 14% der volljährigen Bürger:innen in Deutschland. 

     

    Jede neue Stimme in einer demokratischen Gesellschaft ist wichtig und bringt neue Gedanken und vielleicht neue Lösungen.

     

    Auch ich darf nicht wählen, weil ich keinen deutschen Pass habe. Obwohl ich seit sechs Jahren in Deutschland lebe, arbeite und (wie ich finde) mich gut in diese Gesellschaft integriert habe. Trotzdem darf ich die Zukunft dieses Landes nicht mitbestimmen. Noch nicht einmal die Zukunft meiner Stadt oder meines Viertels. Obwohl immer gesagt wird, dass wir keine Parallelgesellschaft haben möchten, werden Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft ausgegrenzt. Ich finde es schwer, mich zu 100% zugehörig zu fühlen, wenn ich hier nicht wählen darf. Mit dem Wahlrecht wäre ich ein noch aktiveres und engagierteres Mitglied der deutschen Gesellschaft. Jede neue Stimme in einer demokratischen Gesellschaft ist wichtig und bringt neue Gedanken und vielleicht neue Lösungen. 

    Seit zwei Jahren habe ich die Volt Partei und ihre Ideen verfolgt und ich habe mir gewünscht, dass sie es bei dieser Wahl doch in den Bundestag schaffen. Sie sind eine sehr junge Partei und soweit ich das erkennen kann, haben sie viel mehr Politiker:innen ohne Migrationsgeschichte … aber ich finde die Basis ihrer Ideen sehr interessant, besonderes für uns Menschen mit Flucht- oder Migrationsgeschichte. Wenn wir Politik auf der europäischen Ebene sehen, könnten wir vielleicht weniger über das Deutschsein oder die deutschen Leitkultur sprechen. Unsere Zugehörigkeitsempfinden wird stärker, wenn wir uns nicht nur auf die deutsche Identität konzentrieren. 

    Heute, zwei Tage nach der Bundestagswahl, freue ich mich auf jede nächste Wahl in Deutschland. Die Ergebnisse bringen uns nicht nur Zahlen und Fakten. Sie sind auch ein Zeichen dafür, wie die Gesellschaft sich verändert, welche Probleme es gibt und welche Lösungen sich die Wähler:innen wünschen. Die Mehrheit in diesem Wahjahr für die SPD und die vielen Stimmen für Grüne und FDP bedeutet für mich, dass es eine Mehrheit für neue und kreative Ideen gibt, für Digitalisierung, für Veränderung ohne Angst vor der neuen Zeit. 

  • Wählen – meine einmalige Erfahrung

    In meinem Leben durfte ich erst einmal wählen. Ich bin 34 Jahre alt. Die Parlaments- und Provinzratswahlen in Afghanistan 2005 waren meine erste und bisher einzige Erfahrung mit dem Wählen. Sie fanden im Spetember 2005 statt. Die Bekanntgabe der Ergebnisse wurden wegen des Vorwurfs des Wahlbetrugs verzögert und erst im Noveber bekannt gegeben.

    Wenn ich mich recht erinnere, bestand das Wahlverfahren darin, dass sich jeder Bürger mit seinem Personalausweis registrieren lassen musste, um eine Wahlkarte zu erhalten, mit der man am Wahltag wählen konnte. Die Registrierung dauerte einen Monat.

    Nachdem die Registrierung abgeschlossen war, kam der Wahltag und wir durften wählen. Wenn man am Wahltag seine Stimme abgegeben hatte, wurde der Indexfinger gefärbt , damit sichtbar war, dass man bereits gewählt hatte und in keinem anderen Wahllokal mehr wählen durfte.

    Das Wählen ist das Schöne an der Demokratie, aber gleichzeitig ein grundlegendes Recht für die Bürger*innen eines Landes. Es ist der wichtigste Bestandteil eines demokratischen Systems. Verwehrt man den Bürger*innen die Möglichkeit, an der politischen Gesellschaft teilzunehmen, verwehrt man ihnen ihre Grundrechte.

    Die Bürgerrechte garantieren gleiche soziale Chancen und gleichen Schutz vor dem Gesetz, unabhängig von Rasse, Religion oder anderen persönlichen Merkmalen. Die Staatsgewalt muss diese gewähren und sicherstellen.

     

    Morgen wird in Deutschland gewählt!

     

    In Deutschland ist morgen die Bundestagswahl. Alle deutschen Staatsbürger über 18 Jahren sind wahlberechtigt (Art. 38, Abs. 2 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland). Das ist in den meisten Ländern so und Afghanistan ist dabei keine Ausnahme.

    Obwohl sich die Gesamtsituation in Afghanistan in den letzten 20 Jahren etwas verbessert hatte, gab es Korruption und viele Probleme bei den Wahlen. Ich würde aber sagen, dass es trotz der Probleme, Streitigkeiten und Korruption immer noch gut war, dass das Volk seine Stimme abgeben und seinen eigenen Führer wählen konnte.

    Im Jahr 2004 sollten in Afghanistan Präsidential- und Parlamentswahlen abgehalten werden, um die Übergangsregierung zu ersetzen. Dabei erhielt Hamid Karzai 55,4 % der Stimmen und wurde Präsident. Er erhielt dreimal so viele Stimmen wie jeder andere Kandidat. Dieses eindeutige – und nicht überraschende – Ergebnis zeigte, dass viele Menschen Karzai in der damaligen politischen Situation als ihren Präsidenten für die nächsten Jahre haben wollten.

     

    Diese Wahlen fanden in Afghanistan auch noch statt:

    Die Präsidential- und Provinzialratswahl 2009, die jedoch von mangelnder Sicherheit, Gewalt, geringer Wahlbeteiligung, Wahlmanipulation, Einschüchterung und anderen Wahlfälschungen geprägt waren.

    Bei den Parlamentswahlen 2010 schüchterten die Taliban die Dorfbewohner*innen in bestimmten Gebieten ein, damit sie nicht wählen gehen. Sie warnten sie, dass sie jeder Person die Finger abschneiden würden, die wählen ginge.

    2014 war Hamid Karzai bei den Präsidentschaftswahlen aufgrund der Amtszeitbeschränkung nicht wählbar und Ghani wurde zum Wahlsieger und Präsidenten erklärt.

    Die Parlamentswahlen 2018 sollten eigentlich schon 2016 stattfinden, wurden aber verschoben. Grund dafür waren Debatten über eine Reform der Wahlgesetze in Afghanistan. Das Parlament trat allerdings erst im April 2019 in Kraft.

     

    Inzwischen lebe ich in Deutschland. Ich warte sehnsüchtig darauf, in Zukunft wieder wählen zu dürfen, um die politische Zukunft mitbestimmen zu können.

  • Darfst du wählen? Ich nicht!

    In Deutschland gehört man zur politisch mündigen Gesellschaft, wenn man einen deutschen Pass hat, wenn man mindestens 18 Jahre alt ist und wenn man seinen Wohnsitz in Deutschland hat. Damit erfülle ich zwei von drei Voraussetzungen: Ich lebe mittlerweile seit fünf Jahren in Deutschland, habe auch meinen Wohnsitz hier und ich bin 24 Jahre alt. Ich darf aber nicht wählen und das nur, weil ich die deutsche Staatsbürgerschaft noch nicht besitze.

    Ich bin in der deutschen Gesellschaft integriert

    Bereits seit meiner Schulzeit interessiere ich mich für Politik und auch für die soziale Anliegen meiner Umwelt. Gerne helfe ich meinen Mitmenschen und möchte mich für diese stark machen und gesellschaftspolitisches Engagement zeigen. Da ist zum einen der Einsatz für den Umweltschutz, der mir sehr am Herzen liegt. Aber vor allem auch das Thema Klimagerechtigkeit. Ich bin davon überzeugt, dass der Schutz des Klimas uns alle betrifft und gleichzeitig untrennbar mit den sozialen Anliegen der einzelnen Menschen verknüpft ist. Basierend auf meiner politischen Grundhaltung bringe ich meine vielseitigen Interessen sehr gut ein.

    Als aus Syrien geflüchtete, kurdische Frau trage ich neben den Themen Ökologie und Nachhaltigkeit auch Demokratie, Menschenrechte, Selbstbestimmung und Gerechtigkeit im Herzen. Bei diesen Themen ist es für mich elementar, sie aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten. Da ich mich zudem noch für die Verwirklichung einer demokratischen Einwanderungsgesellschaft einsetze, habe ich mich ermutigt gefühlt, mich bei einer progressiven Partei zu engagieren.

    Von Syrien nach Deutschland

    Ich bin in Syrien geboren und aufgewachsen. Als Kurdin habe ich in Syrien einer Minderheit angehört und hatte deswegen keine Möglichkeit politisch zu partizipieren. Ich habe 18 Jahre in Syrien ohne Staatsangehörigkeit gelebt.

    Dass der Weg zur deutschen Staatsbürgerschaft ein langer ist, war mir bewusst, bevor ich hierhergekommen bin. Mir war jedoch nicht bewusst, dass es Menschen gibt, die seit 20 Jahren hier sind und nicht wählen dürfen. Ich dachte, dass sie in einem demokratischen Land sind und jeder wählen darf.

    Denn als wir in Syrien waren, hatten wir keine Nationalität und waren nicht anerkannt. Weil wir zur Volksgruppe „Kurden“ gehören, durften wir in Syrien nur die arabische Sprache in der Schule lernen, aber nicht beim Staat tätig werden und dies hat immer mein Interesse an der Politik geweckt. Mein Vater hat immer selbstständig gearbeitet und mit seiner Arbeit die Familie versorgt. Er war aber hauptsächlich im Handel tätig.

    Außerdem durften wir nicht aus Syrien raus, denn wir hatten keinen syrischen Pass. Wir mussten mit der Situation leben können und nur weil wir keine syrische Nationalität hatten, hatten wir auch keine Rechte.

    Vor fünf Jahren kam ich mit meinen Geschwistern und Eltern aus Syrien nach Deutschland. Seitdem wohne ich mit ihnen in Erfurt. Ich habe zunächst die deutsche Sprache gelernt und dann meine Ausbildung gemacht. Außer in Bezug auf das Thema „wählen“, fühle ich mich integriert. Aktuell studiere ich Erziehungswissenschaft und Sozialwissenschaft im dritten Semester an der Universität in Erfurt. Seit vielen Jahren engagiere ich mich außerdem ehrenamtlich. Ich unterrichte Kinder, helfe Geflüchteten bei der Suche nach einem Arbeits-/Ausbildungsplatz und dabei, die deutsche Sprache zu lernen. Trotzdem habe ich kein Wahlrecht – weder bei den Bundestags- noch bei Landtagswahlen.

    Mein Wunsch, wählen zu dürfen

    Um wählen zu dürfen, müssen verschiedene Vorrausetzungen erfüllt werden. Eine weitere Voraussetzung ist, dass man 6 Jahre in Deutschland gelebt haben muss. Das konnte ich leider noch nicht erfüllen, denn aktuell lebe ich erst seit 5 Jahre in Deutschland. Deswegen dauert es noch ein Jahr, bis ich die Staatsbürgerschaft bekommen werde und endlich wählen darf.

    Den deutschen Bundestag wählen nur deutsche Staatsbürger. Wie zuvor in Syrien, versuche ich ein wertvolles Mitglied für die Gesellschaft zu sein. Deswegen habe ich, nachdem ich nach Deutschland gekommen bin, sehr viele Stunden investiert, um die Sprache zu lernen und mit dem Studium anzufangen. Das war sehr schwer für mich, aber ich wollte es unbedingt schaffen, um persönlich weiterzukommen und um die Gesellschaft, die mir Sicherheit bot, mit eigenen Impulsen mitzugestalten. Wählen darf ich aber nicht, weil ich keinen deutschen Pass habe.

    Leben in einem Land, indem ich mich nicht politisch beteiligen darf

    Damit fühle ich mich, als wäre ich kein Teil dieses Landes und dieser Gesellschaft. Ich kann nicht nachvollziehen, wie Menschen Steuern zahlen und hier leben, aber nicht mitbestimmen dürfen, was mit den Steuergeldern geschieht. Für mich ist es sehr wichtig, an der Politik beteiligt sein zu können, denn ich weiß, dass es mein Leben betrifft. Und es wird auch die Gesetze meiner eigenen Zukunft beeinflussen, sodass ich auch sehr gespannt auf die Wahlergebnisse des diesjährigen Bundestagswahl bin. Es ist ein komisches Gefühl, weil ich ganz genau weiß, dass bald sehr viele Menschen wählen dürfen. Und ich lebe hier und stehe an der Seite und kann eigentlich wenig machen.

    Das wünsche und fordere ich von der Politik

    Aktuell ändert sich in unserer Welt sehr viel. Unser Zusammenleben ist durch die Pandemie stark verändert. Das Bildungssystem funktionierte plötzlich nicht mehr, der Klimawandel wird immer deutlicher und vieles mehr. Es ist wichtig, dass wir uns jetzt neue Pläne für die Zukunft machen und nicht zu versuchen, alles wieder zum „Alten“ zurückzuwenden. Ich fordere von den Politikern, dass sie sich nicht nur auf die Bildung von Kindern und Jugendlichen konzentrieren, sondern auch die Bildung von Erwachsenen im Blick behalten. Um den Klimawandel zu verlangsamen, muss sich die Wirtschaft anpassen und der Arbeitsmarkt sich wandeln. Das erfordert wiederum, dass die Menschen sich weiterbilden.

    Außerdem wünsche ich mir persönlich, dass sich die Politiker für den Klimaschutz einsetzen werden. Klimaschutz ist enorm wichtig, damit wir auch in Zukunft gut (oder auch noch besser) leben können. Wir tragen aber auch Verantwortung für die nachfolgenden Generationen und sollten den Lebensraum, den wir haben, auch für sie schützen. Nicht zuletzt sollte sich die Politik bewusst machen, dass es nicht nur darum geht, unser eigenes Überleben und das unserer Kinder zu schützen. Auch den Lebensraum der Pflanzen und Tiere zu bewahren, mit denen wir uns diesen Planeten teilen.

    Wahlrecht als Teil von Integration

    Bei Wahlen ist es mir wichtig, sie auch für Ausländer zu öffnen, die integriert sind und Steuern zahlen. Von der Politik wünsche ich mir, dass sie nicht nur von Integration spricht, sondern sich auch aktiv dafür einsetzt und Taten folgen lässt.

    Integration heißt meiner Meinung nach nicht nur die Sprache zu lernen, sondern auch das Recht zu haben, über die eigene Zukunft mitzuentscheiden. Beispielsweise durch eine politische Wahl. Das Recht zu wählen und eine politische Entscheidung zu treffen, möchte ich nicht nur für mich allein. Ich denke da vielmehr an all die Menschen, die mir in meiner Zeit in Deutschland bisher begegnet sind. Auch für die Menschen, die mich unterstützt haben und für Menschen, die mit dem Traum nach Deutschland kommen, ein hilfreiches und engagiertes Mitglied für die Gesellschaft sein zu dürfen. Maßgeblich sollte nicht die Herkunft sein, sondern der Wille, sich einzubringen.

    Politisch setze ich mich besonders für Chancengleichheit und Gleichberechtigung ein und deswegen wünsche ich mir, dass es mehr Chancen geben wird. Ich musste leider selbst erfahren, wie schwer es ist, einen Ausbildungsplatz zu erhalten, wenn man beispielsweise mit einer Sprachbarriere konfrontiert ist. Ich wünsche mir, dass solche Hürden abgebaut werden und alle Menschen die gleichen Chancen erhalten. Dazu gehört es für mich auch, sich bewusst zu machen, dass Menschen vielfältig sind und sich unterscheiden. Diese Unterschiede müssen meiner Meinung nach jedoch nicht dazu führen, dass sie Menschen trennen und die Gesellschaft spalten. Die Politik muss sich vielmehr dafür einsetzen, die Unterschiede zwischen uns zu überwinden und für Gleichberechtigung und einen respektvollen Umgang miteinander zu sorgen.

    Meine Hoffnung ist, dass es eine Änderung des Wahlrechts für Ausländern geben wird. Sie sind Teil dieses Staates, Teil unserer Gesellschaft und sollten dementsprechend auch politische Teilhabe besitzen – und wählen dürfen.

    Meine Hoffnungen und Ziele

    Abschließend würde ich sagen, dass ich sehr dankbar dafür bin, nach meiner Flucht 2016 in Deutschland Asyl erhalten zu haben. In Deutschland habe ich ein neues Zuhause gefunden und ich fühle mich hier sehr wohl. Ich bin dankbar dafür, hier die Möglichkeit zu haben, in Sicherheit zu leben und studieren zu dürfen.

    In Zukunft kann ich mir gut vorstellen, ein eigenes Projekt zu leiten, in welchem ich Jugendlichen und Studierenden (vor allem mit Migrationshintergrund) helfe. Ich könnte sie beispielsweise beim Lernen unterstützen, Berufsberatung anbieten oder sie allgemein in verschiedenen Fragen beraten. Das Projekt sollte zudem einen Fokus auf politischer Bildung besonders in Bezug auf Demokratie, Abbau von Vorurteilen und Diskriminierung und Klimagerechtigkeit haben. Ich bin davon überzeugt, dass wir junge Menschen fördern und unterstützen müssen, da wir eine große Rolle für die Gesellschaft und deren Zukunft spielen.

    Ich möchte vor allen Dingen Rassismus und Diskriminierung in der Welt abschaffen. Es wird immer Unterschiede zwischen den Menschen geben, aber wie ich bereits beschrieben habe, sollte diese Unterschiede uns nicht trennen und schon gar nicht dazu führen, dass Menschen ungleich behandelt werden. Ich möchte eine Welt, in der alle Menschen respektvoll und gleichbehandelt werden und die gleichen Chancen erhalten.

  • „In Deutschland gibt es ein demokratisches Defizit“

    Khaled ist Sozialarbeiter und kommt aus Damaskus, Syrien. Inzwischen ist der 39-Jährige seit 17 Jahren in Deutschland, allerdings mit Unterbrechungen. Er lebte 1989 kurz in Berlin, kam zum Studieren zwischen 2001 und 2008 wieder her und traf 2015 die Entscheidung, nach Deutschland zu flüchten. Khaled wohnt in Hamburg und arbeitet in der Kinder- und Jugendhilfe. Privat engagiert er sich u.A. in den Bereichen des Zusammenlebens, der Integration und gegen Rassismus.

     

    Du kommst aus Damaskus, Syrien und bist später aus deiner Heimat geflüchtet. Wie war dein Leben dort?

    Ich habe in Damaskus mein Abitur absolviert und ein Semester an der Universität Mathe studiert. 2001 bin ich dann aber nach Deutschland gekommen und habe einen Sprachkurs gemacht. Danach habe ich ein Pharmaziestudium an der Universität Münster aufgenommen, aber nicht abgeschlossen. Ich hatte mich in dieser Zeit mit anderen Dingen beschäftigt, Sport zum Beispiel.

    2008 bin ich nach Katar gegangen, weil ich meinen Militärdienst leisten musste. Man kann zwar eine bestimmte Summe bezahlen, um sich davon abkaufen zu können, doch ich habe die Voraussetzungen dafür nicht erfüllen können. Ich bin dort also drei Jahre, bis 2011, geblieben und dann im Juli, als die Revolution angefangen hat, nach Syrien zurückgekommen. Ich dachte, dass die nicht lange anhält oder Assad bald zurücktritt. Dass es so eskaliert, hätte ich nie gedacht.

     

    Wie ging es dann für dich weiter?

    Ich bin bis 2013 geblieben. Dann habe ich eines Tages eine Explosion erlebt, ganz in meiner Nähe. Das war der Moment, in dem ich dachte, hier kann ich nicht bleiben und dann bin ich in die Türkei abgehauen. Dort habe ich zwei Jahren gearbeitet und bin dann nach Deutschland geflüchtet.

     

    Wieso hast du dich damals entschieden, nochmal nach Deutschland zu kommen?

    2015 habe ich die Entscheidung getroffen, nach Deutschland zu flüchten. Es gab mehrere Probleme wie zum Beispiel mit einer Studien- und Aubildungszulassung.

    Du bist am 25. Juli in Deutschland angekommen. Doch der Weg war nicht so leicht. Möchtest du darüber mehr erzählen?

    Ich hatte mich mit einer kleinen Gruppe getroffen, in der wir uns gemeinsam auf mögliche Notfälle vorbereitet haben. Wir haben uns auch die Route auf das Handy heruntergeladen, damit wir wissen, wo wir ungefähr sind. Und dann lief das eigentlich ganz gut. Wir haben ca. 20 Tage gebraucht. In Serbien hatten wir Schwierigkeiten, da hatten wir mehrmals Kontakt mit der Polizei. Sie wollten uns zurückschicken, aber meinten, dass wir etwas bezahlen können, um weiterzudürfen. Da haben wir die Polizei bestochen.

    In Deutschland bin ich zuerst in Passau angekommen, also an der Grenze zu Österreich. Dann waren wir fünf Tage in München. Anfang August war ich in Hamburg.

     

    Wie war es dann in Hamburg? Wo bist du untergekommen?

    Irgendwann wurden wir von Harburg nach Veddel oder Wilhelmsburg gefahren und in einem Gymnasium untergebracht. Dort waren wir eine Woche und am 8. oder 9. August kam ich dann in die Messehallen.

     

    Du warst nicht zum ersten Mal in Deutschland und sprichst sehr gut Deutsch. Damit konntest du vielen Geflüchteten helfen, hast ehrenamtlich gearbeitet. Was hast du genau gemacht?

    Also ich kam nach Deutschland, um wieder Pharmazie zu studieren, weil ich das Studium beenden wollte. Doch in den Messehallen war ich der Einzige unter den 1.200 Menschen, der Deutsch gesprochen hat. Deshalb habe ich meine Hilfe angeboten, Geflüchtete und Ehrenamtliche zu begleiten und für sie zu übersetzen, falls irgendetwas ist. Am Anfang hat mir das Spaß gemacht, aber dann bin ich an meine Grenzen gekommen, weil ich nicht immer nur übersetzen wollte.

    Damals war ich 35, wenn ich mein Pharmaziestudium wieder aufnehme, dauert das nochmal drei, vier Jahre. Darauf hatte ich keine Lust. Deshalb habe ich mir etwas gesucht, was für mich mehr Sinn ergab. Ich hatte 2016 angefangen, im Bereich Sprache und Integration zu arbeiten, doch gemerkt, dass ich mehr kann, als Übersetzen und Tipps geben. Deshalb habe ich dann Soziale Arbeit studiert.

     

    Inwiefern war es anders für dich, zum zweiten Mal nach Deutschland zu kommen? Du konntest beispielsweise besser Deutsch sprechen, auf C1-Level.

    Beim zweiten Mal kannte ich alles: Ich kann mich verständigen. Ich weiß, wo ich hingehe, wie ich mich in bestimmten Situationen verhalte, wenn ich angesprochen werde. Ich weiß, wie das Land funktioniert, weil ich hier studiert habe. Für viele, die jetzt erst kommen, ist es ein fremdes Land. Nehmen wir mal an, ich bin jemand aus Syrien und sehr gebildet. Wenn ich dann aber nach Deutschland komme und die Sprache nicht kann, bin ich sozial wieder ganz unten. Das Gefühl hatte ich aber nicht, weil ich Deutsch spreche und mich hier sofort behaupten konnte.

     

    Wie war denn die Willkommenskultur?

    Das hat mich überrascht, weil ich Deutschland von meinem ersten Aufenthalt anders in Erinnerung hatte. Damals hatte ich das Gefühl, ich muss hier schnell wieder weg und bin unerwünscht. Das kam zum Beispiel durch Prozesse in der Bürokratie wie der Verlängerung meines Aufenthaltstitels. Oder wenn man auf Sozialhilfe angewiesen war, dann konnte man nicht einfach zum Jobcenter gehen und alles wurde schnell geklärt. Das war sehr kompliziert.

    2015 war das anders. Ich habe Einiges schon früh beantragt, weil ich ja wusste, wie es funktioniert. Ich habe schnell einen Deutschkurs bekommen und einen Job. Außerdem wurde die Dauer der Aufenthaltstitel verlängert. Als Student galt meiner damals nur sechs Monate, jetzt waren es gleich drei Jahre. Da hatte sich echt was verändert.

    Ich war überrascht, wie offen und herzlich die Menschen waren. Da waren meine Erfahrungen auch anders. Früher waren einige so kalt und mir gegenüber verschlossen. Doch 2015 habe ich Menschen kennengelernt, die mir ihre Wohnung angeboten haben, um mal allein zu sein oder zu duschen. Da ist irgendetwas anders, da ist irgendwas passiert.

     

    „Heute erlebe ich die Migrationspolitik eher so, dass so wenig Geflüchtete wie möglich bleiben sollen.“

     

    Du hast gerade die Unterschiede von 2001 bis 2008 zu 2015 beschrieben. Wie nimmst du es heute wahr?

    Wenn die Politik vorgibt, wie mit Geflüchteten umgegangen wird, dann kann die Willkommenskultur machen, was sie will. Wenn mein rechtlicher Rahmen nicht gegeben ist, dann ist es egal, wie sehr ich willkommen bin, ich kann nicht bleiben.

    Angenommen, jemand kommt aus Afghanistan, einem Kriegsgebiet, und die Dokumente sind verloren gegangen. Dann bekommt man ein Schreiben, dass man sich die Dokumente besorgen muss. Sonst bearbeiten die Behörden den Fall nicht und die Person bekommt keine Unterstützung. Es gibt kein Geld und man erhält nur einen Duldungsstatus. Ich sehe das als Rückschritt zu 2015.

    Damals war es so, dass so vielen Menschen wie möglich geholfen wurden, etwa durch Sprachkurse, damit sie in Deutschland Anschluss finden. Heute erlebe ich es eher so, dass so wenig wie möglich bleiben sollen. Auch diese ganze Debatte über die „deutsche Leitkultur“ ist heute viel größer als 2015 und auch Haltungen gegen Geflüchtete sind heute durch Soziale Medien wie Facebook, YouTube oder Twitter sichtbarer als noch 2001.

     

    Du hast eben auf Schwierigkeiten hingewiesen, die unter anderem durch politische Entscheidungen entstanden sind. Ende September ist Bundestagswahl. Darfst du wählen und so deine eigene Zukunft hier in Deutschland mitgestalten?

    Ich lebe inzwischen 17 Jahre in Deutschland, darf aber nicht wählen. Ich komme nicht aus Europa und bin kein Deutscher. Ich habe keinen deutschen Pass. Die Zeit zwischen meinen Aufenthalten in Deutschland war zu lang und deshalb wurde es mir nicht anerkannt.

    Wie fühlt sich das für dich an, so lange in einem Land zu leben, das dir keine Stimme gibt?

    Ich frage mich die ganze Zeit, wieso ich nicht wählen darf. Ich lebe hier. Jetzt durchgehend seit 2015. Seit 2016 arbeite ich Vollzeit und zahle Steuern, genau wie jede*r, die*der hier arbeitet. Ich darf aber nicht mitentscheiden, was ich will und was ich nicht will. Gleichzeitig frage ich mich, wie Freunde von mir, die hier nur Erasmus-Studierende sind, also nur sechs Monate hier sind, wählen können. Nicht auf Bundesebene, aber mit dem Europäischen Pass zumindest kommunal.

    Aber ich, obwohl ich seit Jahren hier lebe, darf nicht kommunal bestimmen, wer mich vertritt. Da frage ich mich, wo das Problem liegt. Ich habe mich damit auseinandergesetzt und gelesen, dass man Angst hat, dass diese Menschen, wenn sie wählen, irgendwie das Wahlsystem unterwandern. Das sind Aussagen, die einfach nicht stimmen.

    Die Kommunalwahl für Menschen zu öffnen, die seit einigen Jahren in dem jeweiligen Ort leben, wäre eigentlich ein ganz guter Anfang.

     

    Würdest du das an bestimmte Bedingungen knüpfen, beispielsweise das Beherrschen der deutschen Sprache oder das aktive Einbringen in die Gesellschaft?

    Diese Menschen sind Teil der Gesellschaft. Egal, wie gut sie die Sprache können oder das Land kennen, die Gesetze betreffen sie trotzdem. Das sind Sozialgesetze oder andere Gesetze, die den Aufenthalt in Deutschland regeln.

    Laut Grundgesetz steht die Menschenwürde über allem, alle haben die gleichen Rechte und sind vor dem Gesetz gleich. Und so zahle ich Steuern oder müsste ins Gefängnis, wenn ich eine Straftat begehe. Mir geht es erstmal darum, Wählen gehen zu dürfen, nicht wählen zu gehen. Ich will das Recht haben. Das Recht steht mir zu. Das nimmt man mir weg.

    Es gibt acht Millionen Menschen in Deutschland, die nicht wählen dürfen, obwohl sie hier leben. Das sind zehn Prozent der Bevölkerung. Ich nenne das ein demokratisches Defizit.

     

    Du hast eine sehr klare Haltung zum Wahlrecht. Inwiefern setzt du dich denn trotzdem mit den Inhalten auseinander, etwa für die kommende Bundestagswahl?

    Ich fühle mich von den Inhalten der Parteien nicht angesprochen. Es gibt wenig Themen, die mich zurzeit betreffen. Die CDU sagt, dass alle kriminellen Ausländer abgeschoben werden müssen. Ausländer bin ich zumindest.

    Aber ich fühle mich von den Menschen auch nicht repräsentiert. Es gibt kaum Politiker*innen mit Migrationshintergrund, keine in der der Bundesregierung. Und so werden auch Themen wie ein Wahlrecht für in Deutschland lebende Ausländer weder von der SPD, den Grünen oder Linken beachtet. Wenn ich an einem Stand der Grünen vorbeigehen würde, dann würden die mich nicht ansprechen und um meine Stimme bitten. Die Politik beachtet nur Menschen, die deutsch gelesen werden. Es würde sich nichts verändern, selbst wenn ich einen deutschen Pass hätte. Ich wäre Deutscher, sehe aber nicht deutsch aus.

     

    Hast du solche Erfahrungen schonmal gemacht?

    Zurzeit gibt es überall Stände der Parteien. Ich habe es mal ausprobiert und bin zu einem SPD-Stand gegangen. Da habe ich gefragt, was sie für Migranten machen. Doch das war nicht ihr Thema und sie wollten sich die Zeit für die anderen Schwerpunkte nehmen.

    Es gibt niemanden, der für mich einsteht. Von anderen Bürger*innen erwarte ich nicht, dass sie in meinem Interesse wählen und es gibt keine Politiker*innen, die mich verstehen würden.

     

    Vorhin sprachst du von einem demokratischen Defizit. Meinst du, dass sich keine Partei wirklich für Migration interessiert?

    Es gibt einen Fehler im System und das System muss geändert werden. Es gibt 16 Länder in Europa, wo man als Ausländer wählen darf, teilweise kommunal oder sogar auf Landesebene. Deutschland gehört nicht dazu. Weltweit sind es noch mehr. Neuseeland ist ein gutes Beispiel: Dort darf man nach einem Jahr national wählen, egal ob jemand dort geboren, aufgewachsen oder zugewandert ist. Solange Deutschland das nicht ändert, kann niemand behaupten, dass Migranten in diesem Land von der Politik beachtet werden.

    In Syrien gibt es ein Sprichwort: „Wer auf mich mit einem Finger zeigt, zeigt auf sich mit drei Fingern.“ Wenn immer gesagt wird, Migration ist ein Problem, eine Gefahr, wird sich nichts verändern.

  • Neuwähler:in – Deutsche Politik auf Arabisch

    Aboassi selbst lebt seit 2015 in Deutschland. Schon kurz nach seiner Ankunft trat der 32-Jährige einer demokratischen Partei bei und fing seinen Master in Deutschem und Europäischem Recht an. Nun möchte er anderen Geflüchteten zeigen, wie sie am politischen Diskurs in Deutschland teilhaben können, obwohl sie noch keine Staatsbürger*innen sind. Aboassi ist der Auffassung: „Wir alle sind verantwortlich für unsere Gesellschaft. Man kann nicht zuschauen und sagen ,Das geht mich nichts an‘. Es ist wichtig, dass alle mitmachen, und das fängt mit Informationen an“.

    Eine Brücke aus Informationen

    Deshalb produziert das vierzehnköpfige Neuwähler:in-Team seit Anfang des Jahres Videos in einfacher Sprache mit arabischen Untertiteln. Sie stellen die Strukturen der deutschen Parteienlandschaft vor und arbeiten die Bedeutung aktueller Geschehnisse auf. „Politische Teilhabe kann nur dann funktionieren, wenn man die Leute dort abholt, wo sie stehen“, erläutert Esther Feiertag. Die 27-jährige Masterstudentin ist bereits seit Beginn des Projekts Teil des Neuwähler:in-Teams. Dabei ist sie unter anderem für das Schreiben der Video-Skripte zuständig.

    „Wir wollen eine Brücke zwischen Migrant*innen und der deutschen Politik bauen“, ergänzt Aboassi. Durch die Erklärvideos und -posts sollen Partizipationsmöglichkeiten im deutschen System wie Parteien oder Integrationsbeiräte den Geflüchteten nähergebracht werden. Feiertag führt aus: „Wir sind davon überzeugt, dass alle Personen einen wichtigen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten haben. Deswegen gehört es zu einer Demokratie dazu, dass jeder auch eine Chance dazu bekommt mitzugestalten, wie wir gemeinsam leben wollen.“

    Integration durch politische Teilhabe

     Dass ein enormer Bedarf besteht, merke das junge Team allerdings nicht nur daran, dass ihre Community immer weiterwachse. Aboassi beginnt von einem Work-Shop zu erzählen, der einige Wochen zurückliegt. Das Interesse der Teilnehmer*innen sei groß gewesen, da bislang Informationen über die politische Struktur Deutschlands nur begrenzt zugänglich auf Arabisch seien. Entsprechend häuften sich die Fragen der Teilnehmer*innen über Wahlen und die unterschiedlichen Parteien.

    „Es gibt in Deutschland Migrationskurse. Wenn man gute Noten hat, wird gesagt, dass man integriert ist“, bemängelt Aboassi. Die politische Dimension werde dabei nur bedingt beachtet, obwohl diese genauso wichtig sei. Sein politisches Engagement habe so auch ihn bereichert: „Wenn ich nur hier wäre, um zu arbeiten, hätte ich das Gefühl, nicht auf derselben Stufe zu stehen. So habe ich das Gefühl, dass ich zur Gesellschaft gehöre“.

    „Eine Demokratie funktioniert nur dann, wenn sie alle Personen, die betroffen sind, miteinbezieht.“

     „Wir sind eine vielfältige Gesellschaft. Das wird allerdings vor allem von institutioneller Seite kaum gelebt“, kritisiert Feiertag. Es brauche mehr Engagement, um Migrant*innen politisch zu integrieren. Natürlich müsse die*der Einzelne Motivation mitbringen. Doch insbesondere die Politik sei dafür verantwortlich, dass man Menschen erreicht und sie sich hierzulande eingeladen fühlen würden. Dafür müsse es mehr allgemeine Informationen auf verschiedenen Sprachen geben. Wünschenswert wäre zudem eine weitreichendere Unterstützung von Projekten wie Neuwähler:in seitens der Institutionen. Feiertag ist überzeugt: „Eine Demokratie funktioniert nur dann, wenn sie alle Personen, die betroffen sind, miteinbezieht“.

    Du fühlst Dich angesprochen?

    Informiere Dich über Partizipationsmöglichkeiten und unterstütze Neuwähler:in via Facebook, Instagram und YouTube.

  • “Der Klimawandel ist von Menschen gemacht, er kann von Menschen gelöst werden.”

    Endloses Blau umgibt die Republik der Marshallinseln, ein Inselstaat in der Nähe des Äquators im Pazifischen Ozean. Das Land erstreckt sich über drei Berg-Inseln und 29 flache Korallenatolle, die 1.156 einzelne Inseln und Inselchen umfassen. Die meisten davon liegen weniger als 1,8 Meter über dem Meeresspiegel. Die Folgen des Klimawandels sind hier deutlich zu spüren: Negative Prognosen gehen davon aus, dass die Inseln bis 2050 untergehen werden. Die Bewohner*innen stehen im Kampf gegen den Klimawandel an vorderster Front.

    “One Word” ist ein partizipativer Dokumentarfilm. Neun Monate begleiteten Viviana Uriona, ihr Mann Mark Uriona und (aus der Ferne) die Filmproduzentin Maria Kling die Marshalles*innen. Sie drehten und entwickelten den Film in enger Zusammenarbeit mit den Bewohner*innen. Denn sie sind davon überzeugt, dass die Menschen auf den Marshallinseln die zuverlässigsten Expert*innen sind, wenn es um die Geschichte ihres Landes geht.

     

    Du hast Politikwissenschaften studiert. Was muss passieren, um dann einen Film über den Klimawandel zu drehen?

    Viviana Uriona: In Deutschland wird alles starr auseinandergehalten. Von der Politikwissenschaft her müsste man gedanklich wohl schnell auf dieses Thema kommen, tut man aber oft nicht.

    Dass wir das Thema Klimawandel behandeln, liegt daran, dass wir uns schon sehr lange damit beschäftigen. Wir sind der Meinung, dass der Ansatz, den wir haben, Dokumentarfilme mit einem partizipativen Ansatz zu machen, sehr gut passt. Also, dass wir die Möglichkeit haben, in bestimmte Regionen zu gehen, in denen wir mit den Leuten vor Ort arbeiten, sie selber zu Wort kommen lassen und nicht, dass wir aus einer anderen Perspektive einen Film über sie drehen.

    In diesem Sinne ist Politikwissenschaften eigentlich nicht so weit entfernt von den ganzen Thematiken, die wir in unseren Dokumentarfilmen behandeln.

     

    Wie bist du auf die Idee gekommen, einen Film auf den Marshallinseln zu drehen?

    Das ist eigentlich eine Frage, die Mark betrifft. In einer grauen Nacht im November 2016 ist er aus einer kindlichen Laune heraus auf die Suche gegangen, ob man nicht irgendwo eine Insel findet, auf die man ziehen kann und in Ruhe arbeiten kann. So ist er auf die Inselrepublik Kiribati gestoßen. Je mehr er über die Inselrepublik las, desto mehr Informationen fand er, die mit dem Klimawandel verbunden waren. Er weckte mich und sagte: “Ich glaube, ich habe unseren neuen Dokumentarfilm gefunden.” Also haben wir das Projekt geplant. Am 1. Januar 2018 machten wir uns auf den Weg dorthin.

    Als wir auf dem Weg nach Kiribati waren, bekamen wir die Information, dass sich die politische Lage verändert hat. Die Regierung vor Ort wollte den Klimawandel nicht mehr als Thema betrachten. Die Republik sollte zu einer Art Offshore-Paradies vorangetrieben werden. Es passte ihnen nicht, dass ständig über Klimawandel gesprochen wird, auch, weil die Prognose lautet, dass es die Inseln in 20, max. 40 Jahren nicht mehr gibt. Die Region entschied sich zu einer sehr albernen Haltung. Die sagten: “Wir haben hier keinen Klimawandel.“ Aber das mussten wir natürlich akzeptieren. Heute ist die politische Richtung dort, sehr zu unserer Freude, wieder im Einklang mit allen anderen Inselstaaten in der Region.

     

    Wie ging es dann von Kiribati auf die Marshallinseln?

    Wir haben uns Mitte Februar entschieden, dass wir einen anderen Ort suchen, wo die Umstände vergleichbar sind. Und wir bekamen den Tipp von jemandem, den wir bis dahin nicht persönlich kannten, der uns aber viel mit der Recherche und den Kontaktaufnahmen auf Kiribati geholfen hat. Wir haben uns innerhalb von wenigen Tagen entschieden, dass wir umziehen und versuchen, das Projekt auf den Marshallinseln von null auf die Beine zu stellen. Das war ziemlich stressig, weil wir nichts hatten. Aber es klappte. Es war super. Dass es am Ende so ein großartiger Film – unserer Meinung nach – geworden ist, ist selbstverständlich den Menschen zu verdanken, die bereit waren, mitzumachen.

     

    “One Word” ist nicht dein erster partizipativer Dokumentarfilm. Der Film entstand gemeinsam mit zahlreichen Marshalles*innen. Wieso hast du diese Art des Films (erneut) gewählt?

    Weil ich davon überzeugt bin, dass man nicht studieren muss, um einen guten Film machen zu können. Es wäre gut, wenn viele Menschen ein solches Empowerment erfahren und Sachen verstehen, die dann von anderen Leuten erstellt werden. Wir lernen so viel und es ist so spannend, was man alles mitbekommt durch diesen Austausch. Man bricht mit so vielen Vorstellungen, die man selber hat, weil man sich selbst in den eigenen Gedanken Fragen stellt.

    Wenn du den Austausch nicht hast, bleibst du in diesen Fragen. Wenn du dich aber öffnest, dann kommen auf einmal andere Fragen, die dir nicht in den Sinn kommen können, ohne bestimmtes Wissen zu haben. Und da bin ich sehr dankbar, dass wir diesen Ansatz gewählt haben, vor allem in Regionen, in denen wir kulturfremd sind. Es ist eigentlich die beste Methode. Sowohl für uns, um weiter zu wachsen, als auch dafür, Wissen, was schon vorhanden ist, freie Bahn zu geben.

     

    Auf euerer Website zum Film schreibt ihr, dass die “Marshallesen die einzigen zuverlässigen Experten sind, wenn es um die Geschichte ihres Landes geht.” Wie habt ihr eure Protagonist*innen gefunden und wer sind sie?

    Die Protagonist*innen haben wir gefunden, indem wir das Projekt erst einmal vorgestellt haben. Wir haben eine Auftaktveranstaltung gemacht. Es kamen ca. 80 Leute. Eine Woche später haben wir angefangen. In Workshops haben wir mit den Leuten gesprochen. In dem Antrag zum Dreh haben wir festgehalten, dass es um die Auswirkungen des Klimawandels vor Ort geht. Aber wir haben klar gemacht, dass das zunächst nur unsere Haltung ist. Es hätte sein können, dass wir dorthin kommen und die Leute uns sagen, dass der Klimawandel für sie keine Rolle spielt. Dann wird es ein Dokumentarfilm, der vielleicht die Frage einmal aufwirft, aber es geht in eine ganz andere Richtung. Es war aber schnell klar, dass der Klimawandel dort eine riesige Rolle spielt.

    Dann haben wir sie gefragt, was die Leute in Europa oder auf dem amerikanischen Kontinent über ihre Kultur und die Lebensweise wissen sollten, um sie zu verstehen.

    Nachdem wir das abgearbeitet haben, haben wir gefragt, mit wem wir reden müssen. Sie sagten z. B., wir müssen auf jeden Fall mit einem Fischer reden, mit jemanden aus der Forschung. So entstanden Vorschläge. Danach wurden zusätzliche Gruppen gebildet, in denen wir fragten, wer einen Fischer kennt, der bereit ist, ein Interview zu geben oder wer die Kamera, den Ton oder die Logistik machen möchte. In diese praktischen Bereiche haben wir die ganze theoretische Ausbildung eingearbeitet und selbstverständlich gebraucht.

     

    Die Bewohner*innen haben vom Interview bis zum Schnitt sehr viel selbst gemacht. Wie war die Zusammenarbeit mit den Bewohner*innen der Insel? Wie sind sie dir und deinem Team begegnet? 

    Ich muss immer versuchen, nicht zu heulen. Also es war großartig (Viviana hält einen Moment inne). Das sind liebenswerte, sehr freundliche Menschen, die einen Humanismus leben, von dem wir hierzulande oft nur sprechen. Man fühlt sich von Anfang an als ein Teil von ihnen. Die ersten Tage haben wir überlegt, ob das eine Art positiver Rassismus ist, weil wir ja von außen kommen und es Unterschiede gibt. Und dann wurde uns ziemlich schnell klar, dass das gar nicht der Fall ist.

    Dass sie sowas wie Rassismus oder Homophobie tatsächlich nicht leben, diese toxischen Gedanken gar nicht haben. Und das ist wunderschön, auch wenn ich verstehe, dass es schwer zu glauben ist. Sie haben dort auch eine Bescheidenheit, die häufig befremdlich ist. Sie wissen ganz viel, aber sie prahlen nicht damit. Das war auch für uns eine interessante Lernkurve.

     

    Einer der Protagonisten sagt: “Derselbe Ozean, der uns ernährt, bedroht und jetzt.” Wie gehen die Marshalles*innen im Allgemeinen mit dem Thema Klimawandel um?

    Es ist sehr unterschiedlich. Kathy Jetn̄il-Kijiner vertieft das ein bisschen, als sie sagt: “Natürlich spielt das eine Rolle. Aber man muss trotzdem den Alltag bewältigen, man muss die Kinder in die Schule bringen, man muss die Rechnungen bezahlen.” Und trotzdem ist es latent immer da.

    Das Interview mit ihr war nach der Präsentation von Chip Fletcher, die man im Film sieht. Die Stimmung im Raum war beklemmend. Man wusste, dass es nicht gut läuft. Man hat immer Hoffnungen, dass man es hinbekommt. Und dann kam Chip Fletcher mit diesen Bildern der Zukunft und du siehst z. B. den Flughafen nicht mehr. Alles, was im Film besprochen wird, sind schon Themen und Überlegungen, die eine Rolle spielen im Alltag. Aber es werden trotzdem auch Geburtstage gefeiert und es wird geheiratet. 

     

    Du hast die Animationen gerade angesprochen. Sie zeigen, wie das Wasser in den nächsten Jahren die Inseln immer weiter einnimmt, sogar verschwinden lässt. Die Bewohner*innen blicken dennoch hoffnungsvoll in die Zukunft. Woher nehmen sie diesen Optimismus?

    Aus einer kämpferischen Haltung heraus. Also, es wäre ganz dramatisch, wenn wir keinen Optimismus mehr hätten. Dann würden wir auch nicht mehr weiter vorankommen. Dann würde es auch hier in Deutschland ganz düster aussehen.

    Eunice Borero bringt es ganz gut auf den Punkt: Es gibt eine jüngere Generation, die zu einem aufschaut und da kann man nicht sagen, dass man keine Hoffnung mehr hat. Wie denn? Es ist etwas, was wir selber verursachen und nicht lösen können? Das ist irgendwie unlogisch. Wenn wir etwas verursachen, können wir auch was anderes verursachen. Ich glaube, das ist die grundlegende Haltung, die dahinter steckt. Es geht nicht um eine Naturkatastrophe, zu der wir nicht beigetragen haben, sondern die Naturkatastrophen sind das Ergebnis unserer Lebensweise. Es ist von Menschen gemacht, es kann von Menschen gelöst werden.

     

    Mitte Juli gab es in Teilen Deutschlands verheerende Flutkatastrophen. Was haben die Bilder mit dir gemacht? 

    Wir waren in der Zeit auf Dreh, in einer sehr stressigen Situation. Mittendrin bekamen wir die Information. Es hat mich erst mal fassungslos gemacht. Das sind Momente, wo ich nur den Kopf schütteln kann. Noch wütender machen mich die ganzen Informationen, die danach noch rauskamen. Dass Deutschland nicht in der Lage war, Warnsignale rechtzeitig zu berücksichtigen. Es so bürokratisch geworden, dass Menschenleben überhaupt keine Rolle spielen. Also es sind so viele Ebenen, die für mich keine Entschuldigung haben. Mehr kann ich dazu nicht sagen.

    Nach einer kurzen Pause spricht sie doch weiter. 

    Ich finde es interessant, dass dieses Jahr ein Wahljahr ist und ich bin gespannt, wie die Wahlen ausgehen. Ich glaube eigentlich nicht an die Gestaltungskraft von Wahlen. Das ist alles sehr viel komplizierter. Wobei, seit die AfD so stark ist sage selbst ich: “Geht wählen!” Grundsätzlich glaube ich aber, dass Wahlen in einer bürgerlichen Demokratie wenig Veränderungspotential bieten, wenn es nicht gerade um die Gemeindeebene geht.

    Ich denke, die Leute müssen gemeinsam von unten die progressiven Veränderungen aufbauen, die sie wünschen. Gäbe es diesen breiten gestalterischen Akt (in Lateinamerika gibt es ihn zum Teil) und wäre er hier stark genug, würde sich der politische Überbau an ihm orientieren müssen oder ihn bekämpfen. Und das wäre dann eine Richtungsentscheidung, die sich auch in einer bürgerlichen Wahl sinnvoll wiederfinden würde: Wähle ich die, die meine Selbstermächtigung akzeptieren, sie vielleicht sogar unterstützen oder wähle ich die, die sie verhindern wollen.

    Den größten Glauben habe ich also in soziale Bewegungen und in politischen Aktivismus, der für eine veränderte Welt kämpft, die uns allen zu Gute kommt. Wenn man aus Trotz nicht wählen geht, macht man allerdings die Tür für die Rechten und die Faschisten auf. Ich bin also trotzdem sehr gespannt, wie die Wahlen im September enden.

     

    Du hast selbst ein beeindruckendes Beispiel für die mediale Berichterstattung über den Klimawandel geschaffen. Wie wünscht du dir den Umgang mit dieser Problematik in den Medien und auch der Politik?

    Eine sehr gute Frage. Also da würde ich kurz gefasst sagen, dass ich mir Ehrlichkeit und Mut wünsche. Ehrlichkeit insofern, dass Tatsachen schon belegt sind und es Alternativen gibt, die dargestellt worden sind, es gibt Hinweise, was man machen könnte. Und was mir noch fehlt, ist der Mut, diese Sachen durchzuführen. Da stoße ich so ein bisschen auf Verständnislosigkeit. Warum man den Mut nicht hat.

    Denn eigentlich hat man die Bevölkerung hinter sich bei der Thematik. Wenn wir jetzt die geringste Zahl an Verschwörungstheoretiker und Klimaleugner nicht betrachten – das ist immer noch eine Minderheit. Wovor man da noch Angst hat, das kann ich mir nur mit systemtheoretischen oder ökonomischen Verflechtungen zwischen Politik und Kapitalismus erklären.

     

    Eine letzte Frage noch: Mit welchem Wort beschreibst du den Klimawandel?

    Ich würde das Wort “Hoffnung” nehmen. Aber nicht aus einer religiösen Sicht, sondern wie Bloch, in dem Sinne, dass wir ein Ziel brauchen, auf das wir gezielt hinarbeiten. Und Hoffnung hat, dass diese Arbeit klappt. Deshalb würde ich das Wort Hoffnung nehmen.

     

    Viviana Uriona ist zwar die Regisseurin, sagt aber, dass der Film nicht nur ihr Verdienst ist, sondern auch der vielen Menschen, die mitgewirkt haben, der ihres Mannes Mark Uriona und ihrer Kollegin Maria Kling, der Filmproduzentin beim Filmstudio Kalliope.

     

    Kohero zeigt den Film „ONE WORD“ morgen, am 19. September, um 13 Uhr im Studio Kino in Hamburg. Du möchtest dabei sein? Dann melde dich hier an.

    Zur Website des Filmes kommst du hier.

  • Multivitamin-Podcast: Bundestagswahl 21 – Representation Matters!

    Selma Zoronjic spricht mit uns über ihren Weg zur Staatsbürgerschaft. Und darüber, wie es sich anfühlt, zum ersten Mal zu wählen.
    Die Politologin und Autorin Emilia Roig erklärt uns, was unter Intersektionalität verstanden wird –und was diese für Repräsentation in der Politik bedeutet.
    Yonca Dege vom Think Tank für politische Partizipation beantwortet uns die Frage, inwiefern der sogenannte Migrationshintergrund eine Rolle für politische Beteiligung spielt und Prof. Hacı-Halil Uslucan erklärt, wie Migration im Wahlkampf thematisiert wird.
    Außerdem kommt unsere Community zu Wort: Wir wollten wissen, was Wahlen für euch bedeuten und haben spannende Antworten bekommen.
    Ihr hört uns auf Spotify, YouTube, Soundcloud und Apple Podcast! Wenn ihr Fragen, Anmerkungen oder Themenvorschläge für die nächsten Folgen von „Multivitamin“ habt, schreibt uns gern über Social Media oder unter podcast@kohero-magazin.de

    Das Multivitamin-Team:
    Valeria Bajaña Bilbao, Marina Bühren, Florent Gallet, Sassetta Harford, Lionel Märkel, Sina Nawab, Anna Seifert, Anne Josephine Thiel, Lena Tuulia Wilborn, Khanem, Sarah Zaheer

  • Bundestagswahl in Deutschland – leicht erklärt!

    Am 26. September wird der 20. deutsche Bundestag gewählt. Die Parteien, die in den Bundestag einziehen, bilden für die nächsten vier Jahre die Deutsche Regierung (auch “Regierungskoalition” genannt). Und die restlichen Parteien, die es mit einer Stimme in den Bundestag schaffen, bilden die Opposition (also die “Gegenstimmen”). Besonders wichtig ist dabei, wer die Regierung bildet. Denn der Bundestag soll die Interessen der Bevölkerung widerspiegeln.

     

    Wer darf  in Deutschland wählen? 

    Bevor wir uns ansehen, was der Bundestag macht, werfen wir einen kurzen Blick in eines der wichtigsten deutschen Gesetzesbücher: Das Grundgesetz. Laut Artikel 20 im Grundgesetz heißt es: “Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.” Mit anderen Worten: In Deutschland leben wir in einer Demokratie. Wer und welche Parteien das Land regieren sollen, bestimmen die wahlberechtigten Bürger*innen. Laut Gesetz dürfen in Deutschland Menschen den Bundestag wählen, die:

    • 18 Jahre alt oder älter sind und
    • die deutsche Staatsbürgerschaft haben und
    • mindestens drei Monate vor der Wahl einen Wohnsitz in Deutschland haben.

    In Deutschland gilt auch, dass Wahlen “allgemein” sind. Das bedeutet: Alle Stimmen zählen gleich viel. Egal wie viel Einkommen eine Person hat, welche Religion sie hat oder welches Geschlecht. Obwohl alle Stimmen gleich viel zählen, hat nicht jede Person eine Stimme. Viele Menschen wohnen in Deutschland, sind hier Zuhause und dürfen trotzdem nicht wählen. Davon sind besonders oft Menschen mit Migrations- und Fluchtgeschichte betroffen.

     

    Was macht der Bundestag?

    Im Bundestag arbeiten sogenannte “Abgeordnete”. Das sind die Personen, die von Wahlberechtigten in den Bundestag gewählt werden. Dabei gehören die meisten Abgeordneten auch einer Partei an – zum Beispiel den Linken, den Grünen, oder der CDU/CSU. Und diese Abgeordneten machen im Bundestag vor allem eins: Über Gesetze abstimmen.

    Darüber hinaus entscheidet der Bundestag aber auch noch weitere Angelegenheiten: Über den Bundeshaushalt, also wie viel Geld in Deutschland für welche Sachen ausgegeben werden soll, über die Einsätze der Bundeswehr im Ausland und er wählt außerdem die Bundeskanzlerin/den Bundeskanzler. Mit diesen Aufgaben zählt der Bundestag zu einem der wichtigsten “Organe” (anderes Wort: Bestandteile) der deutschen Demokratie. Mit dieser Entscheidungsmacht über Gesetze entscheidet der Bundestag gleichzeitig über den Alltag vieler Menschen.

     

    Wie funktioniert die Wahl zum Bundestag? 

    Ok, jetzt wissen wir was der Bundestag macht und warum er wichtig ist. Aber, wie genau funktionieren die Wahlen denn eigentlich? Dafür gilt es sich erstmal zwei verschiedene Arten der Wahl anzusehen, denn bei der Wahl zum Bundestag werden beide kombiniert:

     

    Die Mehrheitswahl: Auch bei der Mehrheitswahl wird wieder zwischen zwei verschiedenen Vorgehen unterschieden. Es gibt

    1. die absolute Mehrheitswahl: Hier gewinnt die Person, die mindestens die Hälfte aller Stimmen bekommt.

    2. die relative Mehrheitswahl: Hier gewinnt einfach die Person, die mehr Stimmen hat als die anderen.

    Die Verhältniswahl: Bei der Verhältniswahl geht es nicht um Einzelpersonen, sondern um ganze Parteien. Das Verhältniswahlrecht entscheidet, wie viele Sitze eine Partei erhält, je nach Anteil der Zweitstimmen (Zweitstimmen? Das erklären wir gleich!) die sie in einem Bundesland erhalten hat.

    Nochmal zusammengefasst: Die Wahl zum Bundestag erfolgt nach einem sogenannten “personalisierten Verhältniswahlrecht”. Das ist die Mischung aus einer relativen Mehrheitswahl und einer Verhältniswahl. Doch wie kann sowas einfach gemischt werden? Das hängt damit zusammen, dass jeder Wähler und jede Wählerin in Deutschland zwei Stimmen hat, um den Bundestag zu wählen.

     

    Das Zwei-Stimmen System:

    Jede Person die in Deutschland wahlberechtigt ist und entweder am 26. September in ein Wahllokal geht oder sich vorher für die Wahl per Brief registriert, wird auf ihrem Stimmzettel gleich zwei Kreuze machen müssen!

     

    Mit der ersten Stimme wird eine Person aus dem eigenen Wahlkreis gewählt. Zum Beispiel: Hamburg hat insgesamt sechs Wahlkreise für die Bundestagswahl. Wenn du etwa in Altona wohnst, gehörst du automatisch zum Bezirk Altona. In diesen Wahlkreisen lassen sich also Menschen zur Wahl aufstellen (sogenannte Direktkandidat*innen). Die Person mit den meisten Stimmen in einem Wahlkreis gewinnt und zieht direkt mit einem Platz in den Bundestag (siehe: relative Mehrheit). Das ganze nennt sich dann ein Direktmandat: Mit solchen Mandaten werden 50% der Sitze im Bundestag besetzt.

    Mit der zweiten Stimme wählen Bürger*innen eine Partei. Die Zweitstimme ist somit wesentlich wichtiger als die Erststimme, weil diese bestimmt, wie viele Sitze eine Partei im Bundestag hat. Und es gilt: Je mehr Sitze im Bundestag, umso mehr Entscheidungskraft hat eine Partei.

    Welche Parteien stehen zur Wahl? 

    Bei der Bundestagswahl 2021 dürfen insgesamt 53 Parteien antreten. Um in den Bundestag einziehen zu dürfen, muss eine Partei jedoch mindestens fünf Prozent der Wähler*innenstimmen erhalten (auch “Fünf-Prozent-Hürde” genannt). 53 Parteien ist eine ganz schön große Zahl. Darunter gelten sieben Parteien als sogenannte “Etablierte” – also Parteien, die es über Jahrzehnte hinweg immer wieder geschafft haben, in den Bundestag einzuziehen.

    Dazu gehören die CDU (Christlich Demokratische Union Deutschlands), das Bündnis 90/Die Grünen, die SPD (Sozialdemokratische Partei Deutschlands), die FDP (Freie Demokratische Partei), Die Linke, und – leider seit Jahren stärker vertreten – die rechtsextreme und rechtspopulistische Partei AfD (Alternative für Deutschland).

    Neben diesen bereits bekannteren Parteien gibt es jedoch noch viele weitere, zum Beispiel: die Tierschutzpartei, die ÖDP (Ökologisch-Demokratische Partei) oder Volt Deutschland. Um herauszufinden, für welche Themen sich Parteien stark machen, ist es hilfreich, sich das Wahlprogramm anzusehen.

     

    Das Wahlrecht – Grundstein der Demokratie?

    Mit seiner Aufgabe über Gesetze zu entscheiden, hat der Bundestag eine wahnsinnige Entscheidungsmacht. Parteien im deutschen Bundestag diskutieren über wichtige Themenfelder wie auch die Klimapolitik, Corona-Maßnahmen, den Arbeitsmarkt oder die Pflege. Es sind Gesetze, die im Bundestag beschlossen werden, die unseren Alltag mitbestimmen. Also müssen wir wohl auch alle ein Mitspracherecht haben, oder? Im Idealfall ja, in der Realität zeigt sich jedoch besonders eins: Das eigene Wahlrecht wahrzunehmen, ist ein demokratisches Grundrecht, aber auch ein Privileg.

    Der Bundestag beschließt über viele Themen, die besonders Menschen mit Migrationshintergrund betreffen: Migration und Ausländer*innenrecht, Einbürgerungen und Wahlrecht für alle und auch Rassismus und Diskriminierung.

    Doch viele Menschen, die von diesen Gesetzen betroffen sind, werden in den Entscheidungsprozess überhaupt nicht mit eingebunden. Wir müssen uns bewusst machen, dass Wahlergebnisse nie die gesamte Gesellschaft widerspiegeln. Und, dass viele Menschen, die von den politischen Entscheidungen des Bundestags betroffen sind, kein Wahlrecht und somit kein Mitspracherecht haben.

  • Der Kampf um das Wahlrecht

    Wahlprogramme, Werbekampagnen, Plagiate auf einer Seite und Gelächter über die Trümmer der Flutkatastrophe auf der anderen Seite sorgen für viele Diskussionen unter den Menschen und lassen sie eine wichtige Frage stellen, wen sie bei den nächsten Wahlen wählen werden.

    Bei den Wahlen nur als Zuschauer!

    2017 lud mich eine Freundin ein, das Wahlerlebnis im Hagener Rathaus zu erleben. Dort sah ich zu, wie die Parteivertreter*innen und Bürger*innen der Stadt die Wahlergebnisse abwarten. Nach der Veröffentlichung der Ergebnisse schwankten die Reaktionen zwischen glücklich und enttäuscht, trotzdem wünschten alle den anderen viel Glück. Dies war das erste Mal, dass ich einen solchen Prozess hautnah miterlebte. Obwohl ich damals bei diesen Wahlen nicht wählen konnte, habe ich zumindest einen Tag lang den Fortschritt des Politisch-Demokratischen miterlebt.

    Für mich wird der kommende 26. September noch ein normaler Tag sein, an dem ich mit meiner Familie bzw. meinen Freund*innen was unpolitisch unternehmen werde. Der Grund ist, wir dürfen nicht über die neue Zukunft des Landes mitentscheiden, obwohl wir hier seit mehr als sechs Jahren leben.

    Das ist mir nicht neu, ich persönlich hatte aufgrund meiner politischen Situation nie das Wahlrecht für eine bestimmte Partei, weder in meinem früheren Wohnsitzland Syrien noch in meinem Heimatland Palästina. In Syrien gelten wir (Palästinenser*innen) und ihre Nachkommen als Flüchtlinge. Da wir die syrische Staatsbürgerschaft nicht erhalten dürfen, haben wir kein Recht, Abgeordnete oder gar den Staatspräsidenten zu wählen. Außerdem darf ich als Flüchtling bei den Parlamentswahlen sowie den Kommunalwahlen in Palästina nicht wählen, wenn sie stattfinden. Denn laut des palästinensischen Wahlgesetzes haben nur Palästinenser*innen, die im Westjordanland, Jerusalem und Gaza geboren wurden, das Wahlrecht. Und damit gelte ich als ein in Syrien geborener Flüchtling weder als Syrer noch als Palästinenser und deswegen darf ich nicht an den Wahlen teilnehmen.

    Aber warum?

    Artikel 21 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte besagt, dass Jeder das Recht hat, direkt oder durch frei gewählte Vertreter an der Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten seines Landes teilzunehmen. Allerdings sind palästinensische Flüchtlinge davon ausgenommen, weil sie keine anerkannte Staatsbürgerschaft besitzen.

    Meine politische Situation spielt eine wichtige Rolle in der Politik vieler Länder wie Libanon, Syrien, Palästina und sogar Israel. Jedoch hatte ich nie eine Rolle bei der Festlegung dieser Politik und ich durfte nicht die Politiker*innen auswählen, die mich vertreten, um über meine Situation zu sprechen. Daher ist mir „nicht wählen zu dürfen“, als wäre man jemand, dessen Stimme nicht gehört oder respektiert wird und somit hat man keinen Einfluss auf die Politik seines Landes. Und so kann man sich an der Zukunft seines Landes nicht beteiligen und seinen Willen nicht frei äußern.

    Jedes Mal, wenn ich über Wahlen in irgendeinem Land lese, frage ich mich, wann ich als Bürger meine Vertreter*innen in irgendeiner Regierung auswählen kann. Für mich ist das schwer zu ertragen, denn ich engagiere mich seit langer Zeit für Politik und würde gerne eines Tages über politischen Themen mitentscheiden können. Währenddessen weigern sich viele junge Menschen wählen zu gehen, obwohl sie in einer Gesellschaft leben, in der sie für sich die passende Partei mit ihrem Programm aussuchen können. Laut des Bundeswahlleiters nahmen 2017 mehr als 23% der Wahlberechtigten in Deutschland ihr Wahlrecht nicht in Anspruch. Warum? Interessieren sie sich nicht für Politik? Oder haben sie davor Angst, ihre Stimme in die falsche Richtung zu richten?

    Wahlrecht ist ein Privileg

    Meiner Meinung nach ist das Wahlrecht für Menschen in der EU oder in den USA ein Privileg, für das Generationen gekämpft haben. Mittlerweile kämpfen andere Menschen in dieser Welt immer noch für dieses Recht, ganz egal, ob sie staatenlos sind oder unter einem Diktator leben. Ich bin einer von ihnen und ich werde weiterkämpfen, bis ich eines Tages wählen gehen kann.

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