Schlagwort: Ukraine

  • Mein Weihnachtsgedicht auf Deutsch

    Wie kann ich Deutsch lernen, 

    wenn meine Tochter mir schreibt:

    “Wir müssen wieder in den 

    Bunker gehen!”?

     

    Wie kann ich Deutsch lernen,

    wenn ich meine eigene Sprache 

    nicht sprechen darf?

     

    Wie kann ich Deutsch lernen, 

    wenn ich mit meinen Lehrern

    die Sprache sprechen muss,

    die meine Heimat bombardiert?

     

    Wie kann ich Deutsch lernen, 

    wenn ich eigentlich nur

    nach Hause gehen möchte?

     

    Wie kann ich Deutsch lernen?

     

    Sag es mir!

     

    Wie kann ich Deutsch lernen,

    wenn Menschen sterben?

     

    Wie kann ich Deutsch lernen?

     

    Sag es mir!

     

    Wie kann ich deutsche Weihnachtslieder singen,

    mit Menschen, die ich nicht kenne, 

    wenn meine Tochter im Dunkeln sitzt?

     

    Sag es mir, mein liebes Deutschland

    und sag es mir jetzt.

     

     

  • Ich schaue aus dem Fenster… Teil 2

    „Die Geschichte meines Leben ist ein Teil der Geschichte meines Volkes“

    Taras Schewtschenko

     

    Wenn es furchtbar kalt ist, man selbst in einer warmen Jacke spazieren geht und das kleine Kind in einem T-Shirt mit nacktem Hintern auf den kalten Beton klettert, bricht einem das Herz. Aber du kannst nichts tun, denn selbst wenn du etwas sagst, werden sie dir nicht nur nicht zuhören, sondern dich auch „sehr weit weg“ schicken. Selbst wenn Sozialarbeiter*innen Bemerkungen machen, reagiert niemand auf sie. Solche Menschen, solche Erziehung. Offenbar sind sie an dieses Leben gewöhnt und es ist für sie normal. Aber für meinen gesunden Menschenverstand ist das abnormal, und ich kann nicht in Ruhe betrachten, was vor meinen Augen, vor meinen Fenstern geschieht.

     

    Toilette

    Unordnung, Schmutz und ständige Unsauberkeit sind zum festen Bestandteil des Lebens in unserer Containerstadt geworden.

    Die Toiletten sind ständig schrecklich schmutzig. Kinder, und vielleicht auch Erwachsene, verstopfen ständig die Toiletten und Waschbecken. Kinder tragen ständig Sand heran und werfen ihn in die Toilette. Sie stapeln eine Menge Papier. Überall liegen Damenhygieneartikel herum, obwohl es Abfallkörbe gibt. Es ist sehr schwierig, aus der Masse der vorhandenen Toiletten in dem Gebiet eine zu finden, die benutzt werden kann.

    Es riecht fürchterlich, schmutzig und von oben bis unten voll. Sogar die Türen sind kaputt, nicht nur die Schlösser in den Türen, sondern auch die Türen selbst. Die Toiletten sind ständig verqualmt. Obwohl die Sozialarbeiter*innen immer wieder Schilder mit den Aufschriften „Rauchen auf der Toilette verboten“, „Sauber halten“, „Nachspülen“, „Nichts in die Toilette werfen“ …. aufhängen, werden die Schilder stets abgerissen. Die meisten Menschen schenken ihnen keine Beachtung. Und das, obwohl die Reinigungskräfte jeden Morgen putzen. Und wieder muss mein Kind in all dem leben. In diesen unhygienischen Bedingungen.

     

    Duschen

    Auch das Duschen ist eine bittere Geschichte. In den ersten Tagen des Aufenthalts funktionierten von sechs Kabinen in einer Dusche mehr oder weniger nur drei. In denen wurden die Duscharmaturen einfach abgerissen. Und bei den anderen drei ist die Duschhalterung entweder an- oder ganz abgebrochen. Von den sechs Duschen ist keine einzige unversehrt geblieben. Es gibt noch mehr solcher Duschen. Es ist schmutzig. Haare, Körperpflegeprodukte und alle möglichen anderen Abfälle liegen verstreut herum, obwohl es Abfallkörbe gibt, auch in der Toilette.

    Sowohl in der Dusche als auch in der Toilette wird oft eine Menge Wasser auf den Boden geschüttet. Und nicht, weil der Wasserhahn kaputt ist (obwohl die Wasserhähne auch meistens kaputt sind). Das Wasser…. ist ein „Spiel“ der Kinder, die das Wasser in irgendein Behältnis nehmen und es direkt auf den Boden schütten. Und den Eltern ist es wie immer egal.

    Die Sozialarbeiter*innen sind einfach schockiert von all dem. Alles wurde und wird für das Wohl der Menschen getan. Damit sie sich auf der Flucht vor dem Krieg in einem fremden Land wie zu Hause fühlen. Und so „vergelten“ sie es… Natürlich gibt es auch Menschen, die sehr dankbar für alles sind, was für sie getan wird, und die sich normal verhalten, aber in unserem Lager sind sie leider die große Minderheit.

     

    Das Bild meines Fensters

    Der Morgen wechselt zum Tag, der Tag zum Abend, der Abend zur Nacht und die Nacht zum Morgen. Vor meinem Fenster ändert sich nichts, das Bild ist dasselbe, nur dass es von morgens bis abends im Tageslicht und von abends bis morgens im Licht der Laternen erscheint.

    Von morgens bis abends wurde geschrien, gekämpft und geflucht. Unflätige Sprache ist ein fester Bestandteil des Vokabulars einiger Bewohner*innen. Selbst kleine Kinder, die noch nicht richtig sprechen gelernt haben, benutzen schon so schlimme Wörter, die ich mir damals nicht hätte leisten können.

    Sie schämen sich nicht und haben vor nichts und niemandem Angst. Weder vor den Sozialarbeiter*innen unserer Containerstadt, noch vor Wachleuten oder gar der Polizei. Sie benehmen sich immer sehr trotzig und streiten mit jedem, sogar mit der Polizei.

    Die Polizei und der Krankenwagen sind zu regelmäßigen Besuchern in unserer Stadt geworden. Einige Frauen arrangieren Kämpfe und Streitigkeiten untereinander. Jemand sah jemanden falsch an und alle „gingen in die Luft“. Und dann mischen sich ihre Ehemänner ein und alles beginnt …… Ein Haufen Wachleute kommt auf einmal, und mehrere Polizeitrupps treffen schnell ein, weil einer allein offenbar überfordert ist.

    Es ist sehr beängstigend. Wenn etwa zwanzig Polizist*innen auf einmal vor den Fenstern auftauchen. Das habe ich noch nicht einmal in Filmen gesehen. Einige Polizist*innen brechen den Kampf ab, und andere stellen sich nebeneinander auf und umzingeln den Bereich, um zu verhindern, dass Leute, die sich unbedingt an der Schlägerei beteiligen wollen, mitmachen.

     

    Aufwachsen

    Und wieder wächst meine Tochter mit all dem auf.  Es ist sehr bitter und schwer für mich, dies alles zu bedenken. Einige Kinder der Bewohner*innen streiten sich nicht nur untereinander, sondern auch mit anderen Erwachsene. Die Kinder haben auch keine Angst vor anderen. Fremde machen immer wieder Bemerkungen über sie, aber sie reagieren überhaupt nicht.

    Die Eltern kümmern sich überhaupt nicht um sie und erziehen sie nicht. Diese Kinder wachsen wie Unkraut am Straßenrand. Niemand erklärt ihnen etwas, sie lernen nur, indem sie das Verhalten ihrer Eltern beobachten. Sie sind immer schmutzig, barfuß, und die Kleinsten sind nackt. Ein nacktes Kind, wenn es kalt, heiß oder regnerisch ist, bei allen Wetterbedingungen. Sie sind schmutzig, vor allem die Kleinsten, die noch nicht einmal laufen können, klettern mit ihrem nackten Hintern auf den Asphalt, über den Boden, heben alles vom Boden auf und stecken es sich in den Mund. Es ist so beängstigend und es tut mir so leid für diese Kinder.

    Ich schäme mich so sehr für die Bürger*innen, die sich auf diese Weise verhalten. Es ist traurig und bitter, dass man selbst wegen dieser Menschen verurteilt wird!

     

    Weiße Wolken

    Ich kann all das wirklich nicht ausstehen. Ich möchte die vom Schicksal und der Zeit gebrochenen Flügel ausbreiten. Sie auszubreiten und in den Himmel zu fliegen, in sein sanftes Blau. Sich in diesen weißen Wolken zu verstecken. Eintauchen in ihre weiße, weiche Luftigkeit. Um mich vor der ganzen Welt zu verstecken. Mich in mir selbst verlieren.

    Fortsetzung folgt…..

     

     

    Dieser Beitrag ist im Schreibtandem mit Yuliia Marushko und Johannes Campos entstanden.

  • Fliegeralarm: Die Tonspur des Krieges

    Manchmal versuche ich absichtlich, diesen Ton in meinem Kopf einzuschalten, diese auf Dauerschleife gepresste Tonspur. Fliegeralarm. Als ob ich versuchen würde, mich in eine andere Dimension zu versetzen. Hier, in einem anderen Land, ein paar tausend Kilometer weg von Zuhause, ertappe ich mich unwillkürlich beim Gedanken, dass mich der Ton hier in meiner neuen  Realität in den Schlaf singen kann. Es ist so, als würde man einen Schleier vor die Augen legen, damit man vergisst, einschläft. Versteckt die Realität von dir.

    Aber ich hatte Glück. Ich wuchs in einem Land auf, in dem die Menschen keine Angst vor der Realität haben. In einem Land, das am Bruch zwischen zwei Welten und Ideologien steht. Also strebe ich nach ihr. Ich kann nicht ohne sie. Es ist mein Sauerstoff und mein Wesen.

    Jemand hat den Krieg vertont

    Heute ertönte der Fliegeralarm in der Aufnahme im Herzen von Hamburg. Es ist eine von zahlreichen regelmäßigen Demos von den Ukrainern gegen Genozide in ihrem Land. Demonstranten standen starr mit Flaggen und Fotos der inhaftierten Verteidiger. Und ich dachte wieder, dass mich dieses Geräusch hält. Die Sirene ist unsere Tonspur geworden, sie ist ein dauerhafter Soundtrack dieses Krieges und all der vorherigen. Eine bizarre Erleichterung, dass es existiert. Jemand hat den Krieg vertont. Dieser Klang saugt das ganze Leben auf, lässt das Wesen zu einem winzigen unsichtbaren Punkt schrumpfen, alles in ihm fokussieren. Die Singularität unserer Zivilisation, ihr Untergang. Wir wissen, wie unser Ende aussieht. Dennoch dreht sich die Geschichte wie im Teufelskreis weiter.

    Wenn man zum ersten Mal dieses Geräusch hört, gehört man in dem Moment nicht mehr sich selbst. Die Sirene ist wie ein Gong. Ein Nachhall unserer Urinstinkte. Wir werden nur von unserem Angstgefühl gesteuert, eine sogenannte Stimme, die sagt, dass man sich retten muss. Man verwandelt sich in einen Volksstamm. Vielleicht nennt man dies Selbsterhaltungstrieb.

     Wie Obelisken

    Aber die Leute in der Innenstadt bemerken es nicht, sie gehen weiter vorbei, um Sachen im saisonalen Ausverkauf zu erwerben. Und die Ukrainer stehen weiter, stehen standhaft wie ägyptische Obelisken, von deren Oberflächen der Himmel reflektiert wird. Und dann denke ich: Vielleicht ist einer von ihnen aus Mariupol? Wie fühlen sie sich? Die Ukrainer haben sich in mehrere Kategorien eingeteilt: diejenigen, die im Krieg überlebt haben und ihre Familie und Heimat verloren haben, diejenigen, die noch in der Ukraine sind, aber glücklicherweise den Schrecken des Krieges nicht persönlich erlebt haben, Ukrainer, die nicht alles verloren haben, aber der Sicherheit halber beschlossen, zu fahren, und letztendlich die Ukrainer die schon vor Beginn des Krieges im Ausland waren.

    Aber sie alle sind jetzt durch ein gemeinsames Gefühl verbunden, einen Wunsch zu überleben, diese Geschichte an ihre Nachkommen weitererzählen zu können und zu verhindern, dass die schrecklichen Fehler der Vergangenheit sich wiederholen. Damit wir in Zukunft nur noch von lebenspendenden Tonspuren begleitet werden können.

  • Meine Kriegsgeschichte

    Ich heiße Olga, ich bin 52 Jahre alt und ich bin Ukrainerin. Mein ganzes Leben lang lebte ich in Kyjiw, arbeitete, hatte eine Familie, ein Zuhause und viele Pläne für die Zukunft. Pläne, die in einem Moment durch eine Invasion der russischen Armee in mein Land zerstört wurden.

    Der 24. Februar

    Am Abend des 23. Februar war ich bei der Eröffnung einer Kunstausstellung, wo ich auch teilgenommen habe. Die Ausstellung fand in einer privaten Galerie im Herzen der Stadt statt, nur wenige Gehminuten von Maidan Nesalezhnosti (zentraler Platz in Kyjiw red.). Viele Menschen kamen dort zusammen, wir tranken Wein, genossen Malerei und unterhielten uns. Nachdem ich nach Hause kam war ich gut gelaunt, konnte lange nicht einschlafen, ich war überwältigt von Emotionen, und mein Kopf war voll von neuen Ideen und Plänen für die Zukunft.

    Um fünf Uhr morgens wachte ich auf und konnte nicht verstehen, was gerade passiert. Etwas donnerte, und im Innenhof eines mehrstöckigen Wohnhauses fuhren die Leute mit ihren Autos weg. Es waren ungewöhnliche viele. So viele, dass sie nicht auseinander fahren konnten. Ich bemerkte einen entgangenen Anruf auf meinem Handy. So früh rief mich meine Freundin nie an. Es lief mir eiskalt den Rücken hinunter, in dem Moment wurde mir etwas bewusst, etwas was ich zu vertreiben versuchte ein Gedanke. Das kann nicht passieren! Aber genau so begann der Krieg für mich.

    Die Explosionen aus den Raketen waren sehr gut zu hören. Das Glas in den Fenstern klirrte. Über eine russische Invasion wurde im Radio und Fernsehen berichtet. Es war furchtbar, aber das Gefühl, dass es so schnell enden würde, wie es begann, ließ mich nicht los.

    Es schien wie ein Traum

    Ich kann mit Sicherheit sagen, dass das ukrainische Volk für diesen Krieg nicht vorbereitet war. Es wurde über die Wahrscheinlichkeit gesprochen, aber bis zum Ende glaubte man nicht, dass es sein könnte. Die Menschen glaubten es vor allem nicht, weil die Ukrainer eine Nation friedlicher fleißiger Menschen ist, die an Gott glauben, ihre Familien und ihre Heimat lieben. Wir haben nie eine aggressive Politik gegenüber anderen Ländern betrieben. Das wichtigste für den Ukrainer ist, dass keiner die Arbeit stört. Wir lieben es, zu arbeiten und kümmern uns gerne um unsere Kinder und geliebten Familienangehörigen.

    Selbst als Luftalarme und endlose Sirenen begannen, als ich mehrere Tage wach blieb, darauf wartete, meine Mutter und meinen Sohn aufzuwecken, um rechtzeitig Bunker zu erreichen, weigerte sich mein Gehirn, diese Realität wahrzunehmen. Es schien wie ein Traum. Du wirst jetzt aufwachen und alles wird gut.

    Bis man den Horror des Krieges nicht spürt, versteht man ihn nicht

    Am dritten Tag des Krieges versteckten wir uns in der U-Bahn, an unserer Station, deren Ausgang gesperrt war, weil es bereits Schlachten auf den nahe gelegenen Straßen gab. In Obolon, dem Bezirk, in dem wir leben, fuhr ein russischer Panzer; eine russische Landung landete im Nachbarnbezirk, zehn russische Hubschrauber versuchten in Hostomel zu landen. Es ist 19 km von uns entfernt.

    Meine Mutter ist 87 und musste den ganzen Tag auf dem kalten Granitboden in der U-Bahn sitzen, zwischen Hunderten von Menschen, in der Schwüle und Angst, nicht nach Hause zurückkehren zu können. Ihr Blutdruck stieg an, ihr ganzer Körper tat weh. Ich beschloss, ins Haus in der Nähe von Kyjiw zu fahren, aber ich konnte nicht mehr nach Hause kommen, um das Auto zu holen. Genauso hatte ich keine Möglichkeit nach Hause zu kommen, um Sachen zu holen. Wir stiegen in die U-Bahn ein und fuhren ins Haus auf dem Land, nur mit Pässen und Taschengeld. Fünf Familien versammelten sich an diesem Abend in unserem Haus. Ältere Kinder, ihre Freunde und Eltern kamen zu uns.

    Einmal im Jahr 2014 haben wir Geflüchtete aus Donezk aufgenommen. Das waren Menschen die wir kaum kannten, wir telefonierten nur mit einander wegen der Arbeit. Wir konnten sie kaum überreden, alles aufzugeben und nach Kyjiw zu kommen. Damals hatte mir ihre Situation  sehr leid getan, ich dachte, ich verstehe sie. Seitdem hatte ich ein Gefühl für die Absurdität der Situation und die umgekehrte Realität. Aber jetzt weiß ich, dass ein Mensch so angeordnet ist: bis man den Horror des Krieges nicht spürt, wird man nicht verstehen, was er wirklich ist.

    Völlige Ungewissheit

    In den ersten Kriegstagen gab es riesige Schlangen an den Tankstellen, es war unmöglich, das Auto zu tanken. Den Läden gingen Brot, Zucker, Getreide, Fleisch und Milchprodukte aus. Es dauerte nicht lange, aber genug, um die Panik und Angst vor dem hungrigen Tod zu spüren. Das Licht durfte am Abend nicht eingeschaltet werden. Wir versammelten Kinder und Enkel im Keller, legten ein Bett auf den Boden und schliefen zusammen: fünfzehn Menschen, von denen der älteste 87 Jahre alt war, und der jüngste – nur ein Paar Monate.

    Jede Nacht frühmorgens hörten wir ein schreckliches Summen von Flugzeugen. Es schien, als würden sie ins Dach des Hauses stürzen. Wir wussten nie, ob das unsere Kampfjets oder russische waren. Das Haus wurde zu einem Wohnheim, in dem Kinder liefen und weinten, Männer während des Tages Lebensmittel beschafften, damit Frauen Essen kochen konnten, und alle Erwachsenen folgten ständig den Nachrichten. Die Schule wurde unterbrochen. Für meinen 16-jährigen Sohn war es eine Katastrophe, in ein paar Monaten sollte er ein Schulzeugnis für die Universität bekommen. Eine völlige Ungewissheit erwartete uns.

    Männer begannen Frauen zu überreden, mit ihren Kindern an einen sicheren Ort zu fahren. Im Land wurde ein Ausnahmezustand verhängt, und in Kyjiw und anderen Städten – eine Ausgangssperre. Alle Männer im Alter von 18-60 Jahren durften das Land nicht verlassen. Zunehmend kam es zu Zusammenstößen zwischen Landesverteidigung und Separatisten, die waren sehr viele, wie es sich heraus stellte.

    Der moderne Krieg

    Wenn du nachts auf der Straße bist kannst du dein eigenes Auto oder sogar das Leben loswerden. Brücken wurden gesperrt, der öffentliche Verkehr funktionierte nicht, auf allen Straßen wurden mehrere Checkpoints angeordnet, auf denen bewaffnete Menschen die Autos, Ausweise, persönliche Gegenstände kontrollierten. In einem mehrstöckigen Gebäude in der Nähe des Gebäudes, in dem meine größere Tochter und ihre Familie lebten, traf ein Fragment einer entwendeten Rakete ein. Mehrere Stockwerke wurden zerstört und verbrannt.

    Moderner Krieg ist eine schreckliche Sache. Sie leben zu Hause mit dem Internet, Mobilfunk, Licht, Wasser, Heizung, aber plötzlich trifft eine Rakete das nächste Haus, Menschen sterben, und ihre Wohnungen verwandeln sich in Asche. Sie haben heute Glück, aber was wird im nächsten Moment passieren, wo werden Sie einen sicheren Ort finden, um Kinder und Eltern dorthin zu transportieren, bis das alles vorbei ist…

    Viele Fragen können Sie nicht beantworten. Es gibt eine Art von Nichtanwesenheit. Die Art und Weise, wie du Filme siehst, und du hast den Eindruck, anwesend zu sein, nur genau umgekehrt. Es ist echtes Leben, und es scheint, als wärest du ins Kino gekommen. Weil es nicht  die Wahrheit sein kann…

    Aber die Opfer des Beschusses zwischen den Zivilisten wurden immer mehr mit  jedem Tag. Explosionen wurden häufiger in verschiedenen Regionen der Ukraine. Dann war Butscha…

    Zunächst wurde die Kommunikation mit den Städtchen in der Nähe von Kyjiw von der Seite des Militärflughafens in Hostomel unterbrochen, wohin die Rashisten ihre Truppen schickten. Butscha und Irpin sind kleine Satellitenstädte der Hauptstadt. Russische Truppen wollten sie einnehmen, um ihren Weg nach Kyjiw zu öffnen. Es gab heftige Schlachten dort.

     

    Fortsetzung folgt…

    Dieser Artikel ist im Schreibtandem entstanden.

  • Die Engel von Mariupol

    Ein Ausschnitt aus der Vogelperspektive taucht im Kopf auf, wenn ich an Asow-Stahl denke. Dieses Bild wurde mehrmals in sozialen Netzwerken und Dokus im Internet gezeigt. Solche Bilder habe ich früher aus Syrien gesehen und konnte nicht verstehen, wie man die Stadt so zerstören kann. Und jetzt sind das die Bilder von meinem Heimatland.

    Eine Drohne fliegt ganz langsam über die zerstörte Stadt und auch über ein riesiges Stahlwerk. Das Werk heißt Asow-Stahl und befindet sich in Mariupol. Vor der russischen Invasion hatte man in europäischen Medien kaum gehört von Mariupol, eine kleine Stadt am Asowschen Meer in der Ukraine.

    Nach dem Überfall von Russland am 24. Februar begann die Belagerung von Mariupol. Die Einheimischen konnten nicht glauben, dass die Eroberung von der Stadt überhaupt möglich ist. Sie wurden überzeugt, dass die Stadt wie ein Fort verstärkt ist und niemand schafft es, reinzumarschieren. Aber die ersten Wochen der Belagerung haben das Gegenteil gezeigt.

    Während der dreimonatigen Bombardierung zogen sich die russischen Okkupationstruppen aus dem ukrainisch kontrollierten Gebiet auf das Industriegebiet des Metallurgischen Kombinats Asow-Stahl zurück. Die letzten Verteidiger haben am 20. Mai das Territorium von dem Stahlwerk verlassen.

    Er sieht den Balken im eigenen Auge nicht, aber den Splitter im fremden

    Seit Beginn der russischen Invasion ist das Regiment Asow mehrmals in Kritik, besonders durch westliche Medien, geraten. Hauptsächlich wegen der zuvor vorgeworfenen Beziehung mit rechtsextremistischen Gruppen. Dies ist aber immer noch umstritten. Allerdings wurden im Laufe des Krieges diese Geschichten gerne von propagandistischen Medien in Russland genutzt und das Regiment Asow wurde dort als terroristische Organisation eingestuft. Seit 2013 hatte Russland seinen absurden Mythos über Neonazis in der Ukraine geschaffen und ein weltweit verbreitetes Netzwerk dafür gebildet.

    In Deutschland wird diese Aussage auch mehrmals verwendet und sehr aufrichtig damit manipuliert. Es drängt sich ein alter Spruch auf: „Er sieht den Balken im eigenen Auge nicht, aber den Splitter im fremden“. In Deutschland werden die Skandale mit Verfassungsschutz und Polizei gerne mal vertuscht und kleingemacht.

    Von zahlreichen Skandalen und Gewalttaten wird schon seit Jahren in den Medien berichtet. Davon kann man in einem Gastbeitrag aus dem Jahr 2019 von Sebastian Wehrhahn und Martine Renner lesen: Seit 1956 wurden ehemalige Nazis im Bundestag als „freie Mitarbeiter“ angestellt. Das damalige Zitat aus dem Spiegel lautet: Die „Sammelwut [des Verfassungsschutzes] geht so weit, dass jeder Bundesbürger, der nur seine Grundrechte wahrnimmt, fürchten muss, vom Verfassungsschutz erfasst zu werden.“ Solche Fälle bieten eine Möglichkeit für illegalen Tätigkeit der Rechtsextremisten bis heute.

    Zivilisten im Regiment

    Asow besteht aus mehreren Freiwilligenbataillonen und wurde 2014 gegründet. Seitdem kämpften sie erst gegen prorussische Separatisten. Eine Hälfte vom Regiment Asow besteht aus Zivilisten, viele davon sind seit dem 24. Februar dazugekommen. Das heißt, ganz normale Menschen, die im früheren Leben an der Bar oder als Rechtsanwalt gearbeitet haben. 2014, nach der Gründung von Asow, haben sich weltoffene, progressive und pflichtbewusste Menschen dem Regiment angeschlossen. Sie verstanden früher als wir alle, dass der Krieg uns allen innewohnt, wer unser Feind ist und welche Gefahr von dem Krieg in Donbas ausgeht.

    Unter ihnen war auch mein ehemaliger Kommilitone und erfolgreicher Architekt aus Kyjiw – Serhii Rotschuk. Serhii befindet sich immer noch in russischer Gefangenschaft, sein Schicksal bleibt weiterhin unbekannt. Zusammen mit anderen Kämpfern ist er am 21. Mai 2022 in die Gefangenschaft geraten.

    Die Zeit während des Krieges fühlt sich anders an und vergeht sehr schnell, und sogar jetzt, knapp 10 Monate nach der Invasion, werden in den Medien außerhalb Ukraine kaum Berichte gehört über zahlreiche Opfer und Kämpfer. Obwohl mittlerweile wieder eine neue Kriegsphase anfing. Massive Beschüsse von Kyjiw und anderen Städten mit iranischen Kamikadze-Drohnen und Raketen beweisen, dass der Aggressor seine Pläne noch nicht abgeschlossen hat. Was bleibt nach dem Ende dieser Ereignisse?

    In Stein gemeißelt

    Im Verlauf menschlicher Geschichte rühmte die Bevölkerung von jedem Land eigene Helden. Der bekannteste und beliebteste Weg war und bleibt ein Denkmal für bestimmte Persönlichkeiten. Aber nur einzelne bleiben im Laufe der Zeit stehen und noch weniger davon bekommen von der Mehrheit die Begeisterung und erhalten den gebührenden Respekt.

    Die Verherrlichung mancher Personen war oft durch politische Ziele bedingt. Wie zum Beispiel das Denkmal der roten Armee in Riga, Lettland. Im August 2022 wurde das Denkmal der sowjetischen Armee endgültig abgebaut. In der Bevölkerung von Lettland herrschten unterschiedliche Ansichten: Für ein Teil war das Denkmal ein Symbol für den Sieg der Roten Armee und gleichzeitig eine Erinnerung an die Besatzung Lettlands.

    Letztendlich erinnern die Denkmäler wie Grabsteine auf einen Friedhof an die Überlebenden und ihre Familienmitglieder. Aber zum Glück  können wir selbst entscheiden, auf welche Weise wir unsere Toten ehren möchten. Der Stein bleibt kalt und wird nicht die leidende Seele wärmen oder trösten. All die berühmten Bilder von sowjetischen Soldaten, versteinerte dynamische Figuren, die in der Regel das gleiche Gesicht haben, wecken nicht viel Sympathie bei uns.

    Denkmäler sind Ausdruck eines Zeitgeistes, sie vergegenwärtigen unser Erbe, konfrontieren uns mit einer fortwirkenden Vergangenheit, die – beharrlich, unbarmherzig, bisweilen auch versöhnlich – in unsere Gegenwart hineinragt“, so der Brockhaus.

    Russland, ein Spiegelland

    Nach knapp 10 Monaten Krieg hat sich Russland endgültig in einen Terrorstaat verwandelt. Die Bevölkerung im Westen macht schon lange die Augen zu. Vielleicht hat man sich nach dem Horror des Zweiten Weltkriegs Frieden gewünscht. Für mich ist Russland ein Spiegelland. Sie stellen Denkmäler für Omas, die die Sowjetunion vermissen, auf, bringen die Büste Lenins zurück, sie versuchen mit aller Mühe das alte Regime ins Leben zu rufen. Der Preis dafür ist Verwüstung, Gewalt und Zerstörung – überall, wo russische Soldaten mit ihrer „Friedensmission“ gewesen sind.

    Die Geschichte wiederholt sich immer und immer wieder. Der Mensch lernt nicht daraus.

    Unfassbarer Daseinswille – trotz  allem

    Am 2. September 2022 wurden 215 ukrainische Kämpfer freigelassen, dabei waren auch Asow-Stahl-Kämpfer. In einem Video des Ereignisses sieht man, wie eine junge, hochschwangere Frau als erste aus dem Bus ausstieg. Nur fünf Tage später brachte sie ein Baby auf die Welt.

    Etwa eine Woche später fand ein magisches Treffen statt: Fünf Kommandeure aus dem Regiment Asow trafen sich mit ihren Familien in der Türkei. Präsident Selenskij meldete, dass sie bis zum Ende des Krieges in der Türkei bleiben sollen. Die anderen sind in der Ukraine und haben noch einen langen Rehabilitationsweg vor sich. Fast alle freigelassenen Kämpfer haben eine kritische Stufe von Anorexie und körperlicher Erschöpfung erreicht. Aber sie leben, und das ist ein Beweis für ihren unfassbaren Daseinswillen. Trotz unmenschlicher Bedingungen  haben sie sich selbst nicht verloren.

    Nur Menschen mit klaren, hellen Gedanken, Vorhaben, nur Persönlichkeiten, die ein Löwenherz haben, bleiben in unserer Erinnerung. Die Verteidiger von Mariupol brauchen keine Blöcke aus Stein und Marmor, da sie für immer in unseren Herzen und Gedanken bleiben. Eine Erinnerung an sie und unsere helle, glückliche Zukunft in der Ukraine – unser größter Dank geht an sie, die ihr Leben für unsere Freiheit und das Recht, unter freiem Himmel laufen zu können, gelassen haben.

     

    Dieser Artikel ist im Schreibtandem entstanden.

  • Ich schaue aus dem Fenster…

    „Ich schaue in den Himmel und denke: Warum bin ich nicht ein Falke, warum fliege ich nicht, warum, Gott, hast du mir keine Flügel gegeben? Ich würde die Erde verlassen und in den Himmel fliegen.“ (T.G. Schewtschenko)

    Ich schaue aus dem Fenster meines kleinen Zimmers, das sich Container nennt …

    Containerstadt im Herzen von Hamburg. Meine Tochter, die erst 8 Jahre alt ist, und ich wurden am Morgen des 2. Juli 2022 aus dem Flüchtlingsaufnahmezentrum am Bargkoppelweg 60 in Hamburg hierher gebracht.

    Es handelt sich um gewöhnliche Container, in denen Waren transportiert werden, die zu Wohnzwecken umgebaut wurden. Zwei Fenster, Türen und Innenwände sind mit Futter bedeckt, das sehr schlecht riecht. Container. Der Raum ist mit zwei Etagenbetten ausgestattet; vier schmale Hochschränke aus Metall mit wenig Stauraum; ein Tisch ist für einen so kleinen Raum sehr groß (breit und lang), der Durchgang zwischen Tisch und Bett ist sehr schmal, nur eine Person kann hindurchgehen, und der Container ist für vier Personen und vier Stühle ausgelegt.

    Der erste Eindruck war sehr schmerzhaft und schockierend. Ich dachte, dass es nach dem Leben im Flüchtlingsaufnahmezentrum nicht schlimmer kommen könnte. Aber nein, ich hoffte vergeblich. Mein Herz zerbrach vor Schmerz bei einer einzigen Frage: „Wo habe ich mein Kind wieder hingebracht?“ Ich war innerlich zerbrochen, Tränen schossen mir in die Augen, ein Krampf schnürte mir die Kehle zu. Aber ich muss mich zusammenreißen, um meine Tochter nicht noch mehr zu erschrecken, sie hat ohnehin schon Angst vor allem nach….

    KRIEG… Ständige Luftangriffe, Raketen, Flugzeuge, Explosionen… Angst umgibt überall…. Lange Straße…… Umzug ins Nirgendwo… Der Umzug ins Ungewisse… Das Einzige, was sie hatte, war der Glaube an ihre Mutter, die sagte: „Hab keine Angst, wir schaffen das schon.“

    Und sie, wenn ich völlig „aus dem Häuschen“ bin und die Tränen vor ihr nicht zurückhalten kann, wie sie mich mit ihren kleinen Händen fest umarmt und … und ich …. – „Hab’ keine Angst, alles ist gut, alles ist gut“. Und ich sage mir: „Ich werde es auf jeden Fall schaffen, ich habe es meinem Kind versprochen, und sie weiß, dass Mama immer hält, was sie verspricht.“

    Aber selbst da konnte ich mir noch nicht vorstellen, dass dies erst der Anfang des Schocks war.

    Es war eine brandneue, saubere, schöne Containerstadt, die gerade gebaut wurde. Neue Containerräume, neue Containerduschen und -toiletten. Zwar waren sie separat auf der Straße, und nicht in den Zimmern, aber immerhin war es sauber. Langsam, Tag für Tag, begannen die Menschen, sich hier niederzulassen. Menschen aus unserer Heimat Ukraine  mit verschiedenen Nationalitäten. Die große Mehrheit sind Rom*nja. Und gleichzeitig endete das Leben der Containerstadt in Sauberkeit und Frieden.

     

    Fortsetzung folgt…..

     

    Der Artikel ist im Schreibtandem entstanden. Übersetzung von Yuliia Marushka und Johannes Campos.

  • Sofias Geburtstag

    Weißt du, was das angenehmste Gefühl der Welt ist? Wenn einem nach stundenlangen, unerträglichen Schmerzen ein warmes und unglaublich zartes Baby auf den Bauch gelegt wird. Dies ist der lebendigste Eindruck vom 21. November 2013. An diesem Tag wurde meine Tochter geboren und der Maidan versammelte sich, die Revolution der Würde und der Freiheit begann. Wir lebten am linken Ufer des Dnipro-Flusses in Kyiv, und so erfuhr ich alles aus den Nachrichten. Ich wollte mit allen dort sein, denn es herrschte eine unglaubliche Atmosphäre. Ich erinnere mich noch sehr gut an die Nacht Anfang Februar, als mein Mann auf den Maidan ging, er war schon vorher dort gewesen, aber nicht die ganze Nacht, und es hatten bereits gewalttätige Auseinandersetzungen begonnen. Ich habe meine Tochter gestillt und versucht, meinen Mann über den Webcast zu beobachten. Wenn ich meine Tochter nicht geschaukelt habe, habe ich sie viel beruhigt und sie mit allem, was ich konnte, abgelenkt. Ich konnte nicht schlafen, aber am Morgen war die Wohnung hell erleuchtet. 

    März 2014: Die Ukraine verliert die Krim

    Ich war nur einmal dort, im September 2013 als Erwachsene, meine Tochter war auch dort, aber mit dem Bauch. Wir waren bei der Zwangsräumung des Freundes meines Mannes. Er ist ein Krymtatar. Wir sind viel gelaufen, haben geredet und dem Meer zugehört. Es waren unsere Flitterwochen, wir konnten dort zwei Wochen bleiben. Ich hatte Geburtstag, ich zündete eine Kerze auf der Torte in einem literarischen Café in Evpatoria an und am Abend gingen wir zu einer Hochzeit. Mein Mann ist Kameramann und hat gefilmt, ich habe Blumen bekommen, ein Lied wurde mir gewidmet, und die Verwandten meines Freundes haben mich trotz meines dicken Bauches zum Tanzen aufgefordert. So lernte ich das Volk der Krymtataren kennen. Die Krym habe ich als gastfreundlich, stimmungsvoll und sehr schön in Erinnerung. Diese Mischung aus Bergluft und Meeresbrise habe ich noch nirgendwo anders erlebt. Ich möchte meiner Tochter unbedingt die Krym zeigen, ich spreche oft darüber. Ich weiß, dass für jede Mutter ihr Kind etwas Besonderes ist, auch für mich, weil sie an einem solchen Tag geboren wurde. Meine Tochter weiß alles, was damals geschah und was heute geschieht. Dieser Tag ist nicht nur der Geburtstag meines einzigen Kindes, sondern auch der Beginn des Kampfes meiner Generation für die Freiheit, für die europäischen Werte, die ich noch zu meinen Lebzeiten in der Ukraine zu sehen hoffe. 

    24. Februar 2022

    Der 24. Februar sollte ein normaler Arbeitstag werden, wir wollten einen Werbespot drehen, um 5 Uhr morgens rief mich der Kameramann an und sagte; der Krieg habe begonnen, werden wir drehen? Damals verstand niemand die Skala. Ich habe meiner Tochter erklärt, dass der Krieg zu uns gekommen ist. Sie weinte nicht, sie hörte zu und umarmte mich, ich spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Am nächsten Tag fielen Raketensplitter auf unsere Straße, ich sah ein sehr helles Licht am Fenster und ein lautes Geräusch. Ich schnappte mir schnell meine Tochter und wir liefen ins Bad, am Morgen gingen wir in den Schutzraum, in den Keller der Schule, denn in unserem Haus gibt es keinen. Alles war wie in einem Film über den Krieg, der Keller war voller Staub, feucht und kalt, viele Menschen, Hunde, Katzen, die Menschen nahmen die wertvollsten Dinge mit, irgendwo war ein Papagei zu hören, ein 10-jähriger Junge hielt ein Meerschweinchen. Das Schwierigste für mich war, mein Kind in den wärmsten Kleidern an der alten Tür in diesem Keller schlafen zu sehen. Nach drei Wochen ließ ich mich überreden und beschloss zu gehen, denn das Kind verbrachte diese Wochen im Keller oder in der Wohnung bei geschlossenen Fenstern und mit Laken zugedeckt.

    Wir waren vier Tage lang unterwegs. Der Weg war beschwerlich, der Zug nach Lviv fast stehend, dann 8 Stunden Warten am Bahnhof in der Kälte, wir wurden von Freiwilligen mit heißem Tee und Decken gerettet, aber in der Nacht half auch das nicht. Dann der Zug nach Polen ohne Toilette, fast in völliger Dunkelheit standen wir 5 Stunden lang mitten im Nirgendwo. Schon auf dem Weg dorthin erfuhren wir, dass eine deutsche Familie auf uns wartete. Als wir ankamen, hatten wir das Gefühl, dass sie auf uns warteten, sie hatten alles vorbereitet, was wir brauchten, Zahnbürsten, Kleidung für das Baby, sogar Spielzeug und Süßigkeiten. Als wir zusammen zu Abend aßen, hatte ich in den ersten Tagen ein wenig Angst, in der Nähe des Fensters zu essen, denn zu Hause aßen wir im Flur, in der Küche in der Nähe des Fensters war es gefährlich. Meine Tochter lebt hier zum ersten Mal in einem Land ohne Krieg. Diese Familie ist zu unserer Familie geworden. Das werde ich nie vergessen und ich werde immer dankbar für die Unterstützung und Hilfe sein. Ich mag Deutschland, meine Tochter fühlt sich hier wohl, sie hat deutsche Freunde, lernt gut in der Schule, lernt schnell Deutsch. Als ich sie frage, wovon sie träumt, antwortet sie: Ich möchte in die Karpaten und durch die Ukraine reisen. Ich möchte es wirklich wahr werden lassen. Ich träume davon, dass meine deutsche Familie eines Tages in die Ukraine kommt und ich ihr meine Heimat zeigen kann, weil ich etwas habe, auf das ich stolz sein kann. 

    Am 21. November, dem Tag der Würde und Freiheit in der Ukraine, dem 9. Geburtstag meiner Tochter Sofia, feiern wir zu Hause bei meiner deutschen Familie in Hamburg.

     

    In Gedenken an alle Menschen, die für die Freiheit gekämpft und ihr Leben gelassen haben. Vor neun Jahren sind Ukrainer*innen bei der Maidan-Revolution auf die Straßen in Kyiv gegangen. Die Gefallenen sind als die ”Himmlischen 100” bezeichnet worden. Marushka, ukrainische Künstlerin und Autorin sowie die Verantwortliche für die ukrainische Gruppe des Schreibtandems, die seit 2013 in Hamburg lebt, verewigte die Himmlischen 100. Tief verflochten mit der modernen Geschichte ihres Herkunftslandes schafft Marushka eine Kunst gegen das Vergessen, gewidmet allen Opfern, die für Freiheit, Menschenrechte und Demokratie gekämpft haben und allen, die es weiter tun. Stets steht der einzelne Mensch im Mittelpunkt der gezeigten Werke, ob Fotografie, eilige Skizze, Gedicht oder Gemälde.

    Nazar Voitovych
    Ukrainer, 17 Jahre alt, ursprünglich aus der Region Ternopil, Student. Hingerichtet durch einen Kopfschuss am 20.02.2014. Er war der jüngsten unter den Opfern. Einziger Sohn seiner Eltern.
    Ivan Nachonechnyi
    Ukrainer, wohnte in Kyiv, 82 Jahre alt, Offizier, Rentner. Der Älteste unter den Opfern. Am 18.02. auf der Instytytska Strasse in Kyiv von der Sondereinheit „Berkyt“ schwer misshandelt. War im Koma. Verstarb am 11.04.2014.

     

    Der Artikel ist im Rahmen des Schreibtandems entstanden.

  • Nicht alle sind willkommen

    Aktuell herrscht europaweit eine große Bereitschaft, Geflüchtete aus der Ukraine aufzunehmen und zu unterstützen. Selbst osteuropäische Länder wie Polen und Ungarn, die ansonsten eine extrem restriktive Asylpolitik betreiben, heißen Geflüchtete aus der Ukraine willkommen. Gleichzeitig müssen seit dem vergangenen Sommer tausende Geflüchtete aus anderen Herkunftsländern an der EU-Außengrenze zwischen Polen und Belarus ausharren, nachdem Polen eine 5,50 Meter hohe und 186 Kilometer lange Stahlmauer errichtet hatte.

    Mehrere tausend polnische Soldaten wurden entsandt, um die Grenze zu schützen. Hierbei kommt es regelmäßig und systematisch zu massiven Rechtsbrüchen, indem Schutzsuchende aktiv zurückgedrängt und somit davon abgehalten werden, Asyl zu beantragen. Diese sogenannten Pushbacks verstoßen nicht nur gegen Art. 14 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, sondern unter anderem auch gegen die Genfer Flüchtlingskonvention und die EU-Grundrechte-Charta. Doch damit nicht genug: An der Grenze zu Polen starben bereits mehrere Menschen an Unterkühlung oder Erschöpfung. Viele andere wurden zurückgeschickt, beispielsweise in den Irak. Dieser skandalöse Umstand ist Ausdruck einer EU-Asyl- und Migrationspolitik, die eine rigorose Abschottung gegenüber Schutzsuchenden an den EU-Außengrenzen verfolgt.

    Dagegen ist die Solidarität der osteuropäischen Nachbarländer mit den Geflüchteten aus der Ukraine überwältigend. Es wird also auf der einen Seite beinahe schulterzuckend hingenommen, dass Menschen versterben; gleichzeitig wird Geflüchteten mit einem ukrainischen Pass ermöglicht, ohne weitere Kontrollen die Grenze zu Polen zu passieren.

    Nicht alle Menschen sind willkommen

    Auch hierzulande werden Schutzsuchende aus der Ukraine mit offenen Armen empfangen. Freiwillige eilen zum Bahnhof, stellen beinahe euphorisch Zimmer und Wohnungen zur Verfügung, kleiden sich in gelb und blau, sammeln Spenden. Für die Geflüchteten aus der Ukraine waren die Zugfahrten von Anfang an kostenlos, es wurde empfangen und willkommen geheißen, ohne dass Frontex, die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache, die ebenfalls wegen Vorwürfen illegaler Zurückweisungen von Schutzsuchenden in der Kritik steht, versucht hat, die Menschen abzuhalten. Von jetzt auf gleich gab es die Zusicherung einer Aufenthaltserlaubnis, Zugang zu Sozialleistungen. Abschlüsse wurden anerkannt, Arbeitserlaubnisse erteilt, eigene Wohnungen zur Verfügung gestellt und vieles mehr.

    Schüler:innen aus der Ukraine, die fluchtbedingt nicht an den Abschlussprüfungen teilnehmen konnten, können sich nun sogar für ein Studium bewerben. Und nur zur Klarstellung: Dies gilt nur für Menschen mit einem ukrainischen Pass, nicht für Drittstaatsangehörige, die vor Kriegsbeginn in der Ukraine lebten. Ukrainische Staatsangehörige bekommen in Deutschland vorübergehenden Schutz nach § 24 Aufenthaltsgesetz, inklusive Arbeitserlaubnis und Sozialleistungen. Wer dagegen in der Ukraine gelebt und vor denselben Bomben geflohen ist wie ukrainische Staatsangehörige, aber beispielsweise äthiopischer, türkischer oder nigerianischer Staatsbürger ist, durfte zwar bis zum 31. August vorübergehend in der Bundesrepublik bleiben. Danach endete jedoch für viele Drittstaatsangehörige der Zeitraum, in dem sie sich rechtmäßig ohne Aufenthaltstitel in Deutschland aufhalten konnten. In den allermeisten Fällen wird es daher heißen: Zurück ins Herkunftsland.

    Auch die Menschen aus der Ukraine sind also nur dann willkommen, wenn sie einen ukrainischen Pass haben. Und so sehr die Unterstützung für diesen Teil der Geflüchteten auch zu begrüßen ist, so unabdinglich ist zugleich, dass diese Hilfe allen Menschen in Not zukommt – auch den Drittstaatsangehörigen aus der Ukraine und auch den Schutzsuchenden aus Syrien, Afghanistan, Eritrea oder anderen Herkunftsländern. Unsere Solidarität muss allen Menschen gelten, unabhängig von ihrer Hautfarbe, ihrer Religion oder ihrem Bildungsstand.

    Nichts anderes als: Rassismus

    Die vergangenen Monate wären der perfekte Zeitpunkt gewesen, um endlich zu konstatieren, welche Maßnahmen es auf dem Weg zu einem menschenwürdigen Umgang mit Schutzsuchenden braucht – und zwar auch für solche ohne ukrainischen Pass. Dies wurde nicht lediglich versäumt, vielmehr ist es weder politisch noch gesellschaftlich gewollt. Stattdessen werden Menschen in Not eingeteilt in Geflüchtete erster und zweiter Klasse, in solche, die willkommen sind und solche, die es nicht sind. Und der Grund ist schlicht und einfach: Rassismus.

    Der Migrationsrechtler Daniel Thym ist da anderer Ansicht. Gegenüber dem Spiegel sagte er: „Ukrainern bevorzugt zu helfen, ist kein Rassismus.“ Seiner Ansicht nach sei es vielmehr „völlig legal, bestimmte Flüchtlingsgruppen bevorzugt zu behandeln.“

    Diese Auffassung mutet befremdlich an, verstößt doch diese Ungleichbehandlung nicht nur gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des Grundgesetzes, sondern auch gegen die UN-Menschenrechtskonvention und die UN-Konvention zur Abschaffung rassistischer Diskriminierung. Zudem verhöhnt Thyms Aussage all die Geflüchteten aus anderen, nicht-europäischen Herkunftsländern, die in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht werden, teilweise seit Jahren auf eine Entscheidung in ihrem Asylverfahren warten oder ständig mit der Angst leben müssen, abgeschoben zu werden.

    Gleiches gilt für die Menschen, deren Aufenthalt seit Jahren nur geduldet wird und die trotz enormer Bemühungen keine Arbeitserlaubnis erhalten. Insbesondere gegenüber Geflüchteten aus dem globalem Süden gibt es behördliche Widerstände von allen Seiten – da wird hingehalten, verweigert, erschwert, wo es nur geht. Gleiches gilt in vielen Fällen leider auch für die Justiz.

    Nun könnte man meinen, die Situation hätte sich mit der Ankunft der Geflüchteten aus der Ukraine gebessert, schließlich sollte doch jedem Menschen klar sein, dass alle Schutzsuchenden die gleiche Unterstützung bekommen müssen. Leider ist dem nicht so, vielmehr ist das Gegenteil der Fall: In Berlin, Chemnitz und anderen Städten Deutschlands mussten Asylsuchende aus anderen Herkunftsländern ihre Unterkünfte teilweise binnen Stunden räumen, um den ukrainischen Geflüchteten Platz zu machen.

    An der Grenze zu Polen wurden dunkelhäutige Geflüchtete schlichtweg abgewiesen. Falls sie es doch über die Grenze und von dort aus nach Deutschland geschafft hatten, wurden sie von der Bundespolizei aus Zügen gezerrt, während die Menschen aus der Ukraine weiterfahren durften.

    Kehrtwende in Politik und Gesellschaft

    Es ist schon erstaunlich, wie schnell Politik, Gesellschaft und Behörden mit Beginn des Kriegs in der Ukraine auch ihre Einstellung in Bezug auf die russische Föderation geändert haben. So gab es jahrelang keinen Schutz für die Menschen, die beispielsweise aus dem Nordkaukasus geflohen waren – vor genau dem Despoten, der nun dieselben Kriegsverbrechen begeht wie in den beiden Tschetschenienkriegen, nur dieses Mal nicht tausende Kilometer von uns entfernt, sondern mitten in Europa. Damals wurde von Gerichten und Behörden bescheinigt, die russische Föderation sei ein demokratisches, sicheres Herkunftsland, von dem keine Gefahr für Menschen mit tschetschenischer Volkszugehörigkeit ausgehe. Auch die deutsche Bevölkerung war weit entfernt von Unterstützungshandlungen.

    Und dies gilt leider bis heute – zwar nicht in Bezug auf die Geflüchteten aus der Ukraine, aber für die Menschen aus dem Nordkaukasus, die auch nach Ende des zweiten Tschetschenienkrieges von Putins Regime gefoltert, entführt oder deren Familienmitglieder getötet werden. Und es gilt auch für all die Menschen aus Syrien, Afghanistan, Eritrea, Somalia oder anderen Ländern. Weil das alles zu weit weg ist? Oder sind uns die Menschen, die vor diesen anderen Kriegen geflohen sind, nur fremder? Weil sie die falsche Religion haben? Weil ihre Leben uns nicht so sehr an unsere eigenen erinnern?

    Die rassistische Komponente ist offensichtlich. So lautet der Tenor in der öffentlichen Berichterstattung: Aus einem europäischen Land suchen Menschen Schutz bei uns, die uns ähnlich sind, die gleiche Hautfarbe haben, mit hoher Wahrscheinlichkeit dem christlichen Kulturkreis angehören, die zivilisiert sind und einen hohen Bildungsgrad aufweisen. Diese Menschen sind wie wir. Oder um es mit den Worten der bayerischen Integrationsbeauftragten Gudrun Brendel-Fischer (CSU) zu sagen: „Ukrainischen Geflüchteten muss nicht erklärt werden, wie eine Waschmaschine funktioniert, oder dass auf dem Zimmerboden nicht gekocht werden darf.“

    Diese Aussage macht fassungslos und wütend zugleich, zeigt sie doch einmal mehr, wie tief rassistisches Denken noch immer in Politik und Gesellschaft verankert sind.

    Die eigene Betroffenheit

    Niemals, wir sind doch keine Rassist:innen, werden nun vermutlich viele rufen. Und nehmen wir an, das sei richtig, nehmen wir an, unser Aufwachsen in einer rassistischen Gesellschaft hätte uns nicht geprägt: Liegt die Ungleichbehandlung der Geflüchteten dann womöglich daran, dass andere, weit entfernte Kriege schlicht und einfach nicht an unserem Gefühl von Sicherheit kratzen?  Ist unser Helfen gar nicht so selbstlos, wie wir es uns selbst einzureden versuchen? Handelt es sich vielleicht sogar um ein sehr fragwürdiges Verständnis von Solidarität? Auf Facebook und Instagram, in Talkshows und Zeitungsartikeln zeigen sich immer wieder Menschen beunruhigt darüber, dass nun ein Krieg in Europa (!) ausgebrochen ist.

    Und ja, das ist furchtbar, doch nicht furchtbarer als ein Krieg in Afrika, Süd- oder Nordamerika, Asien, Australien oder der Antarktis. Gründet also unsere aktuelle Betroffenheit und daraus folgend auch unsere Solidarität in erster Linie darauf, dass wir Angst um uns selbst haben, um unser Haus, unseren Garten, das neue Auto, um Familie und Freunde, das Haustier?

    Zuweilen heißt es, die Situation sei eine andere als 2015, weil aus der Ukraine hauptsächlich Frauen und Kinder nach Deutschland kommen und nicht – wie aus Syrien, Eritrea, Tschetschenien, Somalia, Afghanistan und anderen Herkunftsländern – in erster Linie junge Männer. Und es erstaunt doch sehr, wie heuchlerisch diese Argumentation ist: ICH habe Angst vor Männern mit anderer Hautfarbe oder anderer Religion, deshalb möchte ICH nicht, dass diese Menschen in „unser“ Land kommen. Unabhängig davon, dass dieser Argumentationskette das schlichtweg falsche Narrativ zugrunde liegt, Männer aus anderen Kulturkreisen seien „gefährlicher“ als Deutsche, Schweizer oder EU-Bürger, ist auch dies eine rein egoistische Begründung.

    Wir sollten endlich aufhören, uns in den Mittelpunkt zu stellen, und einen Krieg in Afrika ebenso wichtig nehmen wie einen in Europa. Wir sollten davon abrücken, Menschen einzuteilen nach Hautfarbe, Religion, Geschlecht, sondern Solidarität als das verstehen, was sie ist: Das Eintreten füreinander, für alle Menschen auf dieser Welt – unabhängig von unserer eigenen Betroffenheit.

    Denn wie schon Camus sagte: „Jedes Mal, wenn ein Mensch in dieser Welt angekettet wird, werden wir mit ihm angekettet. Freiheit muss es für einen jeden geben oder für überhaupt keinen.“ Gleiches muss für die Solidarität gelten. Wir alle sind auf dieser Welt versammelt und diese Welt besteht nicht nur aus Menschen, die aussehen wie wir, die dieselbe Bildung genossen haben, dieselbe Kleidung tragen und denselben Gott anbeten.

    Und selbst wenn es uns – aufgrund unserer eigenen Ängste, unserer Sorgen oder unserer tiefsitzenden Vorurteile – nicht gelingt, alle Menschen gleich zu behandeln, sollten wir uns diese Tatsache zumindest bewusst machen, sie thematisieren und uns immer wieder aufs Neue fragen, wie sehr unser Denken und Handeln rassistisch geprägt ist.

     

    Der Text stammt von meinem Blog smellslikeriot. Dort schreibe ich in erster Linie über Feminismus, Migration und Literatur.

  • Streit zwischen alten und neuen Geflüchteten

    Am 21. September 2019 wurde ein Video auf Facebook veröffentlicht, in dem ein Journalist einer Berliner Redaktion eine Frau fragt, ob sie dafür ist, die Grenzen wieder für syrische Flüchtlinge zu öffnen, die von russischer Seite und von Assads Armee angegriffen wurden. Sie antwortete: “Natürlich bin ich nicht dafür. Ich denke dreißig Jahre zurück, ich möchte wieder entspannt leben. Jetzt ist das Leben stressig, weil so viele Menschen in die Stadt gekommen sind.” 

    Man denkt wahrscheinlich, dass es sich um eine Berlinerin ohne Migrationshintergrund handelt. Oder um jemanden, der einfach keine Ausländer*innen mag. Aber es war eine libanesische Frau mit Kopftuch, die auf Arabisch, nicht auf Deutsch antwortete. Leider können wir nicht mehr erfahren, was sie genau gemeint hat, was sie genau sagen wollte. Denn der Journalist hat sie nicht gefragt. 

     

    Streit zwischen ‚alten‘  und ’neuen‘ Geflüchteten

    Für mich zeigt dieses kurze Interview viel über den Streit zwischen ‘alten’ und ‘neuen’ Geflüchteten, den wir jetzt im Zusammenhang mit den neuen Flüchtlingen aus der Ukraine wieder erleben. Viele Libanes*innen sind in den 80er Jahren vor dem Bürgerkrieg geflüchtet. Leider hat sich die Politik damals nicht um sie gekümmert, oder mindestens nicht so wie sie es heute tun könnte. Es gab keine staatlich bezahlten Sprachkurse, keine Starthilfen, keine Willkommens-Cafés oder Initiativen. Das Motto war: Willkommen in Deutschland, aber erwartet keine Unterstützung oder zivilgesellschaftliches Engagement. Jede*r ist für sich selbst verantwortlich.

    Als dann 2014 bis 2016 die vielen syrischen Geflüchteten nach Deutschland kamen, war nicht nur ein Teil der Libanes*innen sauer, sondern auch ein Teil der Syrisch-Deutschen (Deutsch-Syrer*innen), die hier seit langer Zeit leben und die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Sie wollten zur Mehrheit gehören und poistionierten sich wegen der vorherrschenden Mehrheitsmeinung ebenfalls gegen die neuen Geflüchteten. Auch wenn diese Syrer*innen sind. Deshalb hat nur ein kleiner Teil der Deutsch-Syrer*innen damals den Geflüchteten geholfen. Viele haben sich auch nur um ihre eigene Familie gekümmert, die noch in Syrien lebte. 

     

    Helfer*innen der zweiten und dritten Generation

    Viele Menschen mit Migrationsgeschichte haben den neuen Geflüchteten, die 2015 gekommen sind, geholfen. Aber mir ist besonders aufgefallen, dass viele der Helfer*innen mit Migrationsgeschichte aus der zweiten und dritten Generation stammten, und sehr wenige Leute aus der ersten Generation. Ich gehe davon aus, dass die erste Generation damals gegen neue Geflüchtete war. Aber die zweite und dritte Generation wollten gerne ihre Hilfe anbieten. Besonders wenn sie die gleichen Wurzeln hatten wie die Geflüchteten. Weil sie die Zugehörigkeit suchen.  

    Das ist auch ein Grund, warum die Syrer*innen bis jetzt noch keine Community in Deutschland, oder wenigstens in den Bundesländern, gebildet haben. Darüber will ich in einem weiteren Artikel schreiben, insha’allah, auf Deutsch – oder richtiger zu sagen auf Bayrisch – so Gott will.

     

    Willkommenskultur muss für alle gelten

    Jetzt kommt die Diskussion um die ganzen neuen Geflüchteten aus der Ukraine. Und damit einher geht die hochnäsige, rassistische Unterscheidung zwischen den neuen Geflüchteten mit blauen Augen und blondem Haar und den „anderen“, die noch an der europäischen Grenze ausharren. Für sie gibt es viel Empathie und wohlwollende Berichterstattung, Unterstützung von Seiten der Unternehmen, vereinfachte Bürokratie, schönen Worte von Politiker*innen und ganz einfach die Tatsache des im Vergleich zu anderen Geflüchteten vereinfachten Lebens.

    Als die damals aus dem Libanon geflüchteten Menschen gesehen haben, wie die neuen Flüchtlinge 2015 kamen und welchen Luxus sie im Vergleich zu ihnen bekommen haben, waren einige von ihnen sauer. Aber nicht auf die Politiker*innen, sondern auf die neuen Geflüchteten

    Und so passiert es auch heute. Wegen der langsam aufkommenden Kritik der Geflüchteten, die zur gleichen Zeit wie ich gekommen sind gegenüber den ukrainischen Flüchtlingen.

    Die Ex-Geflüchteten waren vielleicht neidisch aufeinander und auf das neue, vereinfache Leben für die  neuen Geflüchteten. Weil wir sehen, wie wir selber gelitten haben, möchten wir Anerkennung für diesen harten Weg, den wir gegangen sind, um hier ein neues Leben aufzubauen.

    Aber am Ende werden wir alle verstehen, dass die Politiker*innen das Leben aller Geflüchteten vereinfachen müssen oder diese werden sich gegenseitig bekämpfen. Wegen all dieser Gründe muss die Willkommenskultur allen Geflüchteten gelten!

  • Deutsche Media für Ukrainer*innen

    Ankommen in Deutschland

    Die Bundesregierung hat die Seite germany4ukraine.de gelauncht. Diese Seite stellt Informationen für Geflüchtete aus der Ukraine zur Verfügung. Auf Instagram hat funk den Kanal How to Deutschland erstellt, der auf Ukrainisch Ankunftstipps für Geflüchtete veröffentlicht. Der Kölner Stadtanzeiger bietet das Portal Willkommen in Köln an, welches Informationen in ukrainischer, russischer und deutscher Sprache bereitstellt. Davon können nicht nur Menschen in Köln profitieren. Es werden auch allgemeine Informationen wie z.B. Musteranträge für Behörden und Vokabeln zum Deutsch lernen angeboten.

    Die Informationsplattform Handbook Germany  stellt ein noch umfangreicheres Angebot bereit. In einer Art FAQ sind einfache Antworten auf wichtige Fragen gesammelt, z.B. über die Themen Wohnen, Kinder, Leistungen vom Staat oder Studium. Darüber hinaus gibt es  Ressourcen für Freiwillige, die Ukrainer*innen helfen bzw. zeitweise bei sich aufnehmen wollen. Das Angebot gibt es sowohl auf Deutsch, als auch auf Englisch und Ukrainisch.

    Darüber hinaus hat das Online-Magazin MedWatch eine Grafik auf Ukrainisch mit Informationen für Geflüchtete erstellt. Hier kann man sehen, wie man einen Antrag auf Anerkennung stellt und wie man Zugang zum deutschen Gesundheitssystem erhält.

    Die Technische Hochschule Lübeck hat eine umfangreiche Sammlung mit Online-Kursen rund um das Ankommen in Deutschland veröffentlicht.

    WDR COSMO bietet in Form kurzer Audiobeiträge Nachrichten, Informationen und Service für Geflüchtete und Ukrainer*innen in Deutschland an. Jeden Tag erscheint eine neue Folge des Radios. Der WDR hat darüber hinaus kurze Artikel auf Ukrainisch erstellt, die sich mit Themen rund um die Ankunft in Deutschland auseinandersetzen.

    Verschiedene Bundesländer haben länderspezifische Hilfs- und Informationsangebote online gestellt, darunter Berlin, Hamburg, Bremen, Bayern, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Sachsen, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt, Hessen und Schleswig-Holstein. Die Seiten sind nur teilweise übersetzt. Dennoch bieten sie wertvolle lokale Informationen zu der Situation in den jeweiligen Bundesländern.

    Nachrichten über den Krieg

    Katapult informiert seit dem Angriff auf die Ukraine vermehrt über den Krieg. Das Magazin hat sogar eine neue Ukraine-Redaktion gegründet, die sich ausschließlich mit dem Land und den Folgen des Krieges beschäftigt. Der Fokus liegt auf der Berichterstattung vor Ort. Katapult Ukraine hat einen englischsprachigen Feed auf Telegram eingerichtet, auf dem die neuesten Artikel der Redaktion gepostet werden.

    Auch der deutschsprachige Liveticker der Bild auf Telegram widmet sich den Geschehnissen in der Ukraine und weniger den Geflüchteten in Deutschland. Das gilt ebenso für das Ukraine-Update von RTL/ntv: In dieser regelmäßigen Sondersendung gibt es aktuelle Informationen über den Krieg in ukrainischer Sprache.

    Für Kinder

    Bis zum 27. März sind deutschlandweit mehr als 20.000 ukrainische Kinder an allgemeinen und Berufsschulen aufgenommen worden. Der Deutsche Lehrerverband geht davon aus, dass die Zahl der geflüchteten Kinder bis auf 250.000 steigen könnte – viele Schulen sprechen von Überlastung. Umso besser also, dass es im Internet auch Angebote für geflüchtete Kinder gibt:

    Die ARD hat in ihrer Mediathek eine Sammlung mit ukrainischen Videos für Kinder veröffentlicht. Dabei sind unter anderem einzelne Folgen von „Shaun das Schaf“ und „Die Sendung mit der Maus“. Der WDR stellt noch weitere Maus-Folgen auf Ukrainisch bereit. Ein anderes Angebot des WDR richtet sich an Kinder, die noch nicht Ukrainisch sprechen. Im KiRaKa-Sprachkurs des WDR können Kinder Begrüßungen sowie Vokabeln rund um die Themen Schule, Freizeit oder Essen und Trinken lernen.

    Dieser Artikel wurde auf Englisch veröffentlicht

    https://kohero-magazin.com/germany-media-for-ukrainians/

kohero-magazin.com