Schlagwort: Theater

Veranstaltung, Kunst

  • HAJUSOM – Ein Theater der Zukunft 

    Alles beginnt mit einem Performance-Workshop am Hamburger Stadtrand. Dort, in einer sogenannten Erstversorgungseinrichtung für minderjährige, unbegleitete Geflüchtete, stehen im Jahre 1999 Ella Huck und Dorothea Reinicke vor dreißig jungen Menschen, um mit ihnen einen Theaterworkshop durchzuführen. Aus drei Monaten ist ein Vierteljahrhundert geworden.

    „Wir hatten total Feuer gefangen“

    Der Name HAJUSOM erinnert an die ersten drei Jugendlichen, die mit HAJUSOM und vielen anderen Geflüchteten auf der Bühne standen oder in der ersten Gruppe aktiv waren: HA für Hatice aus Kurdistan, JUS für Jusef aus Afghanistan und OM für Omid aus dem Iran.

    „Die Jugendlichen wollten, dass die Arbeit weitergeht und auch wir hatten total Feuer gefangen – die gemeinsame Arbeit machte Spaß und hat auch unseren Wunsch, uns als Performancekünstlerinnen politisch und sozial zu engagieren, voll entsprochen“, erklärt Ella Huck. Ella Huck ist Mitbegründerin von HAJUSOM und bringt als gelernte Tischlerin und Schauspielerin bei Jacques Lecoq an der Ecole internationale de Thèâtre in Paris den handwerklichen Griff für die Kunst und Performance.

    Ella Huck und ihrer Kollegin Dorothea Reinicke war damals klar: Sie wollen mit den jungen Erwachsenen Kunst schaffen. Gemeinsam mit den Jugendlichen stellen sie einen ersten Antrag auf Kulturförderung bei der Stadt Hamburg. Das Ziel: Eine professionelle Produktion ermöglichen. Die erste Premiere fand in einer kleinen Konzerthalle in St. Pauli statt, einem ehemaligen Schlachthof.

    „So etwas gab es zu dieser Zeit noch nicht und viele Zuschauer*innen waren glücklich, sich durch das Geschehene repräsentiert und gesehen zu fühlen“, erzählt Ella Huck. Für die Jugendlichen, die ihre Performance selbst kreiert, Texte geschrieben und ihre Tanzbewegungen erfunden hatten, war das ein Moment voller Stolz und Freude.

    „Kunst kann Schutzräume schaffen“

    Orte wie HAJUSOM braucht es immer mehr. Gerade geflüchtete Menschen sind oftmals vulnerabler. Menschen, die mit der Geschwindigkeit der Gesellschaft nicht mitkommen, brauchen geschützte Räume, um sich entfalten zu können.

    „Kunst kann Schutzräume schaffen. Räume, um zu sich emanzipieren und Selbstvertrauen zu entwickeln. Um sich wieder sicherer zu fühlen. Um selbst andere zu unterstützen und ein selbstbewusster Teil der Gesellschaft zu werden. Auch geflüchtete Menschen haben ein Mitspracherecht und dürfen Gesellschaft mitgestalten und verändern“, pointiert Ella Huck. „HAJUSOM ist eine Welt, in der Menschen, die etwas verloren haben, es wiederfinden können.“

    Denn HAJUSOM wirkt wie der Entwurf einer selbstgewählten Familie, Menschen aus der ganzen Welt, die in Deutschland als Minderheit gelten. Dabei wirft das Familienkonstrukt alle zuvor geltenden Regeln über Bord und schafft Störung und Verzerrung in bekannten Konstrukten. Das entspricht auch den Produktionen von HAJUSOM, denn selten gibt es eine durchgängige Story. Viel eher folgt die Dramaturgie einer Aneinanderreihung von Geschichten und Schicksalen als ein bewusst konstruierter Fantasieraum voller Lügen und Wahrheiten.

    „Wir respektieren und schätzen die Lebenserfahrungen aller Menschen“

    Zu Gründungszeiten bestand HAJUSOM vor allem aus Kriegsgeflüchteten und ehemaligen Kindersoldat*innen. Die Jugendlichen sind ohne Eltern nach Hamburg gekommen und mussten um ihren Aufenthalt kämpfen. „Oft war während einer Produktion nicht das gemeinsame Kunstschaffen im Fokus, sondern die Organisation des Alltags“, verrät Ella Huck.

    Sie führt aus: „Durch die Performance-Theater versuchen wir einen künstlerischen Ausdruck für unsere Anliegen zu finden, auch durch neue experimentelle Wege. Um die Ideen der anderen zu verstehen, braucht es Zeit und Gespräche“. Vertrauen ist die Basis. „Wir respektieren und schätzen die Lebenserfahrungen und -realitäten aller Menschen.“

    Mit viel Herz und einem analytischen Blick auf die gesellschaftlichen Zusammenhänge und politischen Zustände, leistet HAJUSOM einen Beitrag zu aktuellen Diskursen, in denen es um die Positionierung von Theater und Kunst in der Gesellschaft geht. „Wir versuchen in den aktuellen gesellschaftlichen Diskurs von Migrationspolitik eine wichtige Perspektive einzubringen, nämlich von den Menschen selbst, über die so viel gesprochen wird, aber viel zu selten mit ihnen“, betont Ella Huck.

    Dafür hat sich HAJUSOM immer wieder mit anderen transnationalen und lokalen Künstler*innen verbunden. HAJUSOM lebt vom Austausch, gegenseitiger Bereicherung und davon, den Horizont immer weiter zu öffnen.

    „Es ging uns gleichzeitig um den ganzen Menschen“

    Dabei stellt HAJUSOM den Performer*innen zeitgenössische Kunstformen und Materialien zur Verfügung, aus denen sie autonom etwas bauen können. Das Ziel ist, eine Performance-Produktion zu schaffen, die öffentliche Räume neu gestaltet und Platz im Diskurs einnimmt. HAJUSOM ist ein Ensemble, das eine eigene künstlerische Position in den Kontext von Performance-Kunst einbringt. Mittlerweile sind mehr als 25 Produktionen mit dem Koproduktionspartner Kampnagel entstanden.

    „Bisher war das wichtigste Ziel für uns als künstlerisches Team des Ensembles, für jede einzelne Person, die zu HAJUSOM kommt, Zeit und Raum zu haben. Die Brücke war immer die künstlerische Arbeit, aber es ging uns gleichzeitig um den ganzen Menschen“, sagt Ella Huck. Die politische Arbeit für Geflüchtete und bei Bedarf juristischer Beistand sind für HAJUSOM bis heute allgegenwärtig und prägen die Arbeit weiterhin.

    „Es ist eine neue Generation von HAJUSOM entstanden“

    Heute ist HAJUSOM ein anerkannter Ort für transnationale Performance-Kunst. Mehr als hundert Menschen unterschiedlicher Herkunft und Geschichte haben diesen Ort geformt. Nach rund 25 Jahren hat sich auch intern bei HAJUSOM einiges getan.

    „Es ist eine neue Generation von HAJUSOM entstanden. Ehemalige Performer*innen haben heute ihre Familien und geben das Gefühl von HAJUSOM weiter. Viele ehemalige Mitglieder, die wir beispielsweise als 14-Jährige kennengelernt haben, besuchen uns heute in den Proben und bringen Geflüchtete mit, die ihre Geschichte erzählen möchten, unsicher sind oder irgendeine Form des Ballast mit sich tragen“, erzählt Ella Huck. Dadurch entsteht ein Kosmos mit Menschen, die ähnliche Erfahrungen teilen und sich auf Basis dessen auf einer ganz besonderen Ebene treffen.

    Für HAJUSOM wünscht sich Ella Huck vor allem eines: Dass die nächste Generation den Geist von HAJUSOM erhält und weiter in die Welt trägt. Ihr ist bewusst, dass sie als weiße cis-Frau jahrelang eine durchaus machtvolle Position innehatte. Doch manchmal braucht es genau das: Verbündete, die die Steine aus dem Weg räumen, damit in Zukunft neue Generationen die Plätze einnehmen können und die Chance bekommen, alt bewährte Strukturen aufzubrechen.

    • HAJUSOM steht für HAtice, JUSef und Omid
    • Ella Huck hält die Auszeichnung THE POWER OF THE ARTS 2019 in den Händen. Die Jury urteilt: „HAJUSOM wagt den Schritt in die Zukunft, bringt unterschiedliche Bevölkerungsgruppen neu zusammen, macht dabei nicht Diskriminierung sichtbar, sondern hält vor allem der Gesamtgesellschaft den Spiegel vor.“

    Mehr zum Thema Räume – in Kultur, in der Stadt und sonst im Leben – findest du in unserer Printausgabe #10

  • Landsfrau – ein autofiktionales Theaterstück

    Sie betritt die Bühne erneut, in der Hand hält sie einen Koffer. Als sie den Koffer auf der Bühne abstellt und öffnet, entpuppt sich ein Harmonium. Sie fragt die Zuschauer, ob sie etwas für sie singen soll, dann kehrt Stille ein, bis diese von lang gehaltenen, durchdringenden Tönen durchbrochen wird, welche sie mit ihrer Stimme erzeugt, bevor eine Begleitung durch Harmonium und Trommeln einsetzt.

    „Ich bin eine Frau. Ihr hört meine Stimme, ihr seht meinen Körper“, sagt sie am Ende ihrer Performance. Sie spricht auf Dari, während die Übersetzung parallel auf Deutsch und Englisch an die Wände projiziert wird. Sie spricht über die Sicht- und Unsichtbarkeit von Frauen und von wem sie bestimmt wird. 

    Das Stück Landsfrau, bei welchem Mariann Yar als einzige Spielerin auf der Bühne steht, bildet eine autofiktionale Erzählung, geschildert durch die deutsch-afghanische Schlüsselfigur Ariana, ab. Dieser ist der Zugang zu dem Heimatland ihrer Eltern verwehrt, seit sich am 26. August 2021 die Grenzen geschlossen haben und die Bundeswehr ihre Evakuierungsoperation beendet hat. 

    Sie zeichnet entlang der Performance ihre Erinnerungen und Verknüpfungen mit dem Land ihrer Eltern nach, welche sich aus den Bildern und Erzählungen speisen, die ihr geblieben sind. Am Ende stellt sie fest, dass dieses Land, von dem sie träumt und erzählt, nie wieder jenes Land aus den Erzählungen und Erinnerungen ihrer Eltern sein wird. 

    Die Inszenierung ist collagenhaft. Durch Licht und Musik wird der Zuschauer aus einer Szenerie in die nächste geworfen. Das Stück baut sich aus einer Zusammenstellung an Musik, Gesang, Tanz und gesprochener Performance zusammen, bei welcher häufiger die vierte Wand zum Publikum durchbrochen wird. Auch wenn ich keine aktive Rolle einnehmen musste, fühlte ich mich durch diese Taktik als Teil des Geschehens und auf einer persönlichen und dadurch emotionalen Ebene angesprochen. Dies ist mir eindrücklich in Erinnerung geblieben. 

    Wer ist Mariann Yar?

    Mariann Yar ist Schauspielerin, Performerin und Sprecherin (als @mariannyar auf Instagram). 

    Sie absolvierte ein Schauspielstudium an der Universität der Künste in Berlin, in jener Stadt, in der sie noch heute lebt und arbeitet. Sie ist Teil des Projektmanagements und des Leitungskollektivs des Ringtheaters Berlin, als Schauspielerin an einer Vielzahl von Produktionen beteiligt und auf den Bühnen Deutschlands unterwegs. 

    Sie ist die Tochter afghanischer Eltern und engagiert sich im Verein Stabiler Rücken e. V., bei welchem sie im Vorstand sitzt, für eine diverse und inklusive Film- und Theaterlandschaft im deutschsprachigen Raum. 

    Landsfrau wurde im Rahmen des fluctoplasma Festivals in Hamburg auf der Plattform Bühne des Ernst-Deutsch Theater aufgeführt.

    Das Genre Autofiktion

    Autofiktion ist eine Literaturkategorie, welche sich als Mischform der Autobiografie und Fiktion versteht. Niemand weiß, wie viel Wahrheitsgehalt in den Erzählungen von Ariana steckt und wie nah sich ihre fiktionale Person an Mariann bewegt. Menschliche Erinnerungen sind keine standhaften Gebilde. Sie sind leicht zu manipulieren und können auch unter der Berücksichtigung der Tatsache, dass niemand eine objektive Realität erlebt, nur in Teilen einer allgemeinen Wahrheit entsprechen.

    Mit der vorgeschalteten Aufschrift als Autofiktion, wird die Erzählung unverletzlich und bietet Ariana einen sicheren Raum, ihre Erinnerungen anzuschauen, sie in Teilen neu zu durchleben, zu hinterfragen und eigene Schlüsse daraus zu ziehen. Diese setzen sich mit dem Gefühl von Verlust und Schuld sowie mit dem Bedürfnis nach Aufbruch und Tatendrang auseinander. 

    Im Raum war gerade durch die Anwesenheit von persönlich Betroffenen ein hohes Maß an Emotionalität zu verspüren und ich habe die ein oder andere Träne fließen sehen, als ich die Reihen der Zuschauer entlang schaute. Ariana und Mariann ist es gelungen, die Zuschauer auf eine Reise zu schicken, die viele in Erinnerung behalten werden. 

     

  • Online-Theater – neue Chancen in der Krise

    Als ich mich 2008 am Higher Institute of Dramatic Art in Damaskus bewarb, um Theaterkritik zu studieren, wurde ich gefragt, was der unterschied zwischen Theater und Fußball sei und welche Ähnlichkeiten es gibt.

    Meine Antwort war klar und zwar: Beide sind interaktive Shows, die direkt vor Publikum im Stadion oder im Theater präsentiert werden. Davor müssen sich die Spieler gut vor der Vorstellung bzw. dem Spiel vorbereiten. Und vieles mehr. Allerdings war aus meiner Sicht dazwischen der einzige Unterschied, dass die Theatervorstellung ein bekanntes Ende hat. Die Fußballer aber wissen nicht, ob sie gewinnen oder verlieren bis zum Ende des Spiels.

    Fußball und Theater sind zwei der stärksten betroffenen Bereiche in dieser Corona-Krise. Weil viele Theater-Vorstellungen und Fußballspiele abgesagt wurden, was in beiden Bereichen zu einer finanziellen Krise führt.

    Theater hat keine Broadcast-Plattform

    Am 15. April hatte die Bundesregierung nach einem Corona-Gipfel beschlossen, das Verbot der großen Versammlungen bis Ende August zu verlängern. Da trotz der Entscheidung nicht klar war, was mit „große Veranstaltungen“ genau gemeint ist, waren deswegen einerseits viele enttäuscht, dass in diesem Sommer keine Sport-, Kultur- und Freizeitaktivitäten organisiert werden könnten. Andererseits haben Fußballfans immer noch die Hoffnung, dass der Ball wieder in leeren Stadien rollt.  Denn sie können die Geisterspiele im Fernsehen zuhause anschauen.

    Das Gegenteil ist die Situation für das Theater und sein Publikum. Die Theater-Gäste müssen warten bis das Leben zu seinem normalen Rhythmus zurück findet. Denn das Theater hat kein Broadcast-Plattform wie Kinos oder Fußball, um seine Vorstellungen zu übertragen.

    Vor kurzem hat der Prinzipal des Mondpalasts Christian Stratmann die Entscheidung getroffen, die erfolgreichste Komödie des Mondpalasts von Wanne-Eickel „Ronaldo & Julia“ auf dem YouTube-Kanal für das Publikum kostenlos zur Verfügung zu stellen, um die Kommunikation mit der Öffentlichkeit aufrechtzuerhalten und den Druck der Menschen in dieser schwierigen Zeit zu verringern.

    Trotz der technischen Probleme bekam die Vorstellung auf YouTube in zwei Tagen mehr als 4000 Zuschauer. Von denen haben viele schon die Komödie im Theater gesehen. Außerdem hatten andere die Möglichkeit, die Komödie zum ersten Mal anzuschauen. Daher ist es notwendig, über den Tellerrand hinaus zu denken, um dieser Herausforderung zu begegnen: durch mehr Online-Übertragungen von Theater-Vorstellungen.

    Neue Orte und andere Menschen erreichen

    Um die Theater nicht in finanzielle Krisen zu führen, könnten die Vorstellungen gegen einen günstigen Ticket-Preis über eine Plattform übertragen werden, um die Chance zu behalten, dass die Theater-Häuser nach der Corona-Krise wieder auf ihren Beinen stehen.

    Inzwischen wäre das auch eine Möglichkeit, neue Gäste für das Theater zu gewinnen, die niemals die Chance hatten, ins Theater zu gehen. Außerdem kann beispielsweise ein*e Hamburger*in mehr über das Ruhrgebiet erfahren.

    Bekanntlich ist das Publikum im Theater nur wenige Meter von den Schauspielern entfernt. Alle leben ihre Gefühle in großer Nähe zueinander, und das Publikum wendet sich jeder Bewegung und jedem spontanen Moment zu. Dies ist  in der online Präsentation schwierig. Die Online-Zuschauer könnten aber sofort ihre Kommentare schreiben und ihre Meinungen zur Aufführung äußern.

    Gegenwärtig lohnt es sich also, mit dieser Idee zu experimentieren. Vielleicht kann sie das Theater zu neuen Orten führen, die das Theater zuvor noch nicht erreicht hat.

  • Dokumentartheater – „Akte/NSU“ auf der Bühne

    kohero: Magst du dich bitte einmal kurz vorstellen? Was ist dein beruflicher Background, was hast du studiert?

    Mein Name ist Xenia Wolfgramm, ich bin 29 Jahre alt, komme ursprünglich aus Bremen und lebe jetzt in Berlin. Von 2010 bis 2014 habe ich an der Theaterschule Aachen für Schauspiel und Regie meine Schauspielausbildung gemacht.

    Du bist Schauspielerin. Was reizt dich daran, auf der Bühne zu stehen?

    Einiges. Vor allem liebe ich es aber Geschichten zu erzählen die die Menschen berühren, egal in welcher Hinsicht, ob nun erheiternd oder bedrückend, für mich ist es schön zu merken, dass es die Menschen bewegt.

    Worin liegt dein schauspielerischer Schwerpunkt? Im Drama oder in der Komödie? Sind es also eher die lustigen oder die ernsteren Rollen, die dir liegen?

    Das ist so pauschal schwer zu beantworten. Bisher wurde ich mehr für ernstere Rollen besetzt, aber auch die Komödie gefällt mir, aufgrund dessen, dass ich aber viel mehr ernstere Stücke gespielt habe, würde ich sagen, dass sie mir schwerer fällt. Allgemein ist Komödie zu spielen oft schwieriger als der Zuschauer denken mag, weswegen ich große Hochachtung vor guten Komikern habe. Es braucht ein unglaublich gutes Gefühl für das Timing!

    Ich mag beides sehr und würde keiner Art mehr Gewicht geben und würde mich auch ungern entscheiden wollen. Aufgrund meiner Erfahrung fühle ich mich mit ernsteren Texten prinzipiell aber erstmal wohler.

    Was genau zeichnet das Dokumentar Theater Berlin aus? Welche Art von Theater wird hier vorrangig praktiziert?

    Wir machen „Theater gegen das Vergessen“, sprich: aus der Historie heraus. Relevante, geschichtsträchtige aber auch unbekannte Ereignisse bringen wir auf die Bühne. Ich bin seit 2015 bei dem Theater dabei und habe beispielsweise in einem Stück über die Reaktor-Katastrophe in Tschernobyl mitgespielt, sowie auch in dem Stück für das wir vom Bfdt ausgezeichnet wurden „Akte/NSU“.

    Es variiert je nach Inhalt und Stück, wie genau die Regisseurin Marina Schubarth arbeitet. Grundsätzlich aber – wie der Name schon sagt – dokumentarisch. Recherchen und sich mit Zeitzeugen zu treffen, wenn es um Themen wie Zwangsarbeit geht, sind also unumstößlich. Der riesige Erfahrungsschatz unserer Regisseurin ist dabei Gold wert!

    „Es gibt Szenen, die kommen ganz ohne Text aus“

    Bei dem Stück „… und der Name des Sterns heißt Tschernobyl“ hatte sie z.B. ein sehr gemischtes Ensemble und kaum einer sprach Deutsch, also gibt es relativ wenig Text, abgesehen von der Hauptfigur, die ihre Geschichte erzählt und das Stück ist sehr bildhaft, die Musik ist sehr wichtig. Es gibt Szenen, die kommen ganz ohne Text aus.

    „Akte/NSU“ hingegen ist laut, schnell, aggressiv, wir haben Auszüge der echten Verhöre der Angehörigen der Opfer. Bei dem Tschernobyl-Stück folgen wir fast ausschließlich der Geschichte von einer bestimmten Frau. „NSU“ spielt mal an der Ostsee, wo das Trio Urlaub machte, dann befinden wir uns wieder im Gerichtssaal, dann im ehemaligen Jugendclub usw.

    Wie groß ist euer Ensemble? Auf was für Schauspieler trifft man bei euch? Sind es Profis oder eher Laien?

    Wir sind für ein unsubventioniertes Ensemble tatsächlich relativ viele, je nach Projekt teilweise an die 20 Personen. Für die meisten Stücke bei uns müssen wir auch mindestens 13 Menschen sein. Unser Theater ist super bunt durchmischt. Von früher gibt es noch den ein oder anderen, der aus einem Jugendclub ans Theater kam und viel Spielerfahrung hat, jetzt aber was ganz anderes studiert.

    „Altersspanne von 16 bis 70“

    Und auch Schauspieler, die keinen bezahlten Job haben, aber weiterhin spielen möchten, oder Schauspieler, denen die Themen einfach so am Herzen liegen, dass sie es einrichten, dass es möglich für sie ist, ehrenamtlich zu spielen. Menschen aus allen möglichen Bereichen, die einfach gern auf der Bühne stehen wollen und vor allem einfach Menschen, denen es wichtig ist, dass diese Geschichten  auf der Bühne erzählt werden. Momentan ist unsere Altersspanne von 16 bis 70 etwa und auch verschiedenste Religionen, Diversitäten, Herkunftsländer usw.

    Wie seid ihr auf die Idee gekommen, das Thema NSU auf die Bühne zu bringen? Was war der Auslöser?

    Marina Schubarth hat damals, als rauskam, dass es der nationalsozialistische Untergrund war, der die Morde beging, mit Jugendlichen ein Theaterprojekt gemacht und eines Tages kam einer dieser Jugendlichen zu ihr und meinte, sie solle doch auch darüber ein Stück schreiben, denn schließlich hätte das auch ihr Vater sein können. Und je mehr Marina recherchierte, desto klarer war für sie, dass sie es machen muss.“

    Welche Herausforderungen sind euch während des gesamten Prozesses, also von der ersten Idee bis hin zur Umsetzung und zur Premiere, begegnet? Was war besonders schwierig?

    Ich persönlich war leider nicht bei der ursprünglichen Entstehung des Stücks dabei und kann deswegen auch nur erzählen, was ich von der Regisseurin weiß. Das Mühsamste war wohl tatsächlich das Recherchieren und dann Herausfiltern, was für das Theater nutzbar ist. Aber im Großen und Ganzen war die Entstehung des Textes sozusagen das geringere Problem. Im Nachhinein gab es eher hier und da schon mal Schwierigkeiten oder man lädt uns halt nicht ein oder so…

    Die tatsächliche Herausforderung ist mehr das Spielen. Vor allem natürlich, wenn man die Rolle eines Neo-Nazis hat. Das ist einfach nochmal eine andere Herausforderung und so wie Marina inszeniert hat, agieren die Neo-Nazis teilweise auch mit dem Publikum und da muss sich der eine oder andere schon sehr überwinden, jemandem ins Gesicht zu brüllen, am besten noch beleidigend.

    „Du weißt nie, wie das Publikum reagiert“

    Für mich war es jedenfalls eine riesige Überwindung. Und dann stolpert man teilweise immer wieder über neue Hürden. Dieses Jahr im April konnten wir beispielsweise auch in Krakau spielen und obwohl ich das Stück unzählige Male gespielt habe und zuletzt das Gefühl hatte, mich da schon sehr gut „automatisiert“ zu haben, hatte ich wieder wie beim ersten Mal ein Lampenfieber, das stärker als nur die normale Aufregung war. Du weißt letztendlich nie, wie das Publikum reagiert, wenn du auf einmal mit erhobenem rechtem Arm vor ihnen stehst und inbrünstig rufst „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!“

    Wie oft probt ihr?

    Zwei bis drei Mal die Woche für circa zwei Stunden, vor den Aufführungen aber intensiver, je nach Verfügbarkeit.

    Welche Rolle spielst du in dieser Produktion? Was sind deine Aufgaben?

    Bei „NSU“ spiele ich verschiedene Rollen und auch immer je nach Ensemblegröße mal mehr mal weniger. Relativ fix sind meine Rollen als Neo-Nazi und Sekretärin. Das macht mir auch großen Spaß mittlerweile. Anfangs fand ich es nur furchtbar, Nazi sein zu müssen. Jetzt kann ich die Ideologie aber sehr gut von mir fernhalten. Ich habe für mich einen Weg gefunden, dass ich die richtige Intention habe, um den Nazi verkörpern zu können, innerlich aber anders damit umgehe.

    „Von einem Extrem ins andere hüpfen“

    Ich kann also sehr kraftvoll mit großer Energie nach außen den Nazi spielen und ein paar Minuten später bin ich eine etwas trottelige, aber super engagierte, charmante Sekretärin einer Behörde, bei der sie wahrscheinlich selbst nicht einmal genau weiß, wie die heißt. Das ist natürlich ein wahnsinniger Spaß!

    Ich liebe es auch von einem ins andere Extrem hüpfen zu können. Parallel dazu biete ich aber auch regelmäßig vor unseren Proben Unterricht für unsere Laien an. So wollen wir versuchen, ein möglichst hohes und gleiches Maß an Qualität erhalten zu können. Gleichzeitig wächst unser Ensemble schnell zusammen und ich kann Techniken vermitteln, die sie dann im Spiel nutzen können. Profis können sich so aber auch einfach fit halten.

    Was ist eure Intention? Was wollt ihr mit Akte/NSU zum Ausdruck bringen?

    An allererster Stelle steht natürlich das Erinnern, im Kopf behalten, Bewusstsein, aber auch Aufklärung. Zwar ging der Prozess sehr medial und es gab eine große Aufmerksamkeit aus der Bevölkerung, doch zum einen, wie das ja nun mal immer so ist, nicht nachhaltig und zum anderen wurde und wird fast ausschließlich nur über die Täter gesprochen. Wir haben absichtlich auch ein großes Augenmerk auf die Opfer und ihre Angehörigen gelegt, Ermittlungs-Pannen, von denen es einige gab, rücken wir ins Licht. Grundsätzlich gilt aber leider: es ist nicht vorbei. Es kann immer jeden Moment wieder losgehen.

    Du unterstützt das Dokumentartheater ehrenamtlich. Was bedeutet dir ehrenamtliches Engagement?

    Für mich ist es eine Selbstverständlichkeit und ich bin einfach nur froh, dass ich, obwohl ich nichts „anständiges“ gelernt habe, mich gesellschaftlich engagieren kann.

    Wie reagiert das Publikum auf dieses Theaterstück?

    Positiv, wenn man das so sagen kann. Also ich habe schon oft gehört, dass Zuschauer erstmal etwas verstört waren, weil es so intensiv ist, aber ich kann mich an keine Vorstellung erinnern, bei der es am Ende keine stehenden Ovationen gab. Es dauert oftmals einige Minuten, bis angefangen wird zu klatschen, weil die Leute (zu Recht) verwirrt sind, ob sie klatschen „dürfen“. Deswegen kommen wir oftmals dann schon in abgewandeltem Kostüm raus, sodass sie verstehen, dass sie den Schauspielern applaudieren können und das nicht bedeutet, dass sie den Taten applaudieren.

    Wann sind die nächsten Aufführungstermine?

    Wir haben mit „Akte/NSU“ Ende November drei Aufführungen geplant. Leider ist die Bühne auf der wir ursprünglich spielen sollten aus verschiedenen Gründen nicht mehr verfügbar und wir sind händeringend auf der Suche nach einer neuen Auftrittsmöglichkeit. Momentan sieht es zwar gut aus, aber ich muss vorsichtshalber bitten, dass alle, die Interesse haben, sich über unsere Homepage auf dem Laufenden zu halten.

  • Musiktheaterprojekt – Verführung aus dem Serail

    Dokumentarisches Musiktheaterprojekt

    Seit ihrer Uraufführung im Jahr 1782 ist Mozarts Oper eines seiner erfolgreichsten Bühnenwerke – im deutschsprachigen Raum, rund um den Globus und vor allem in der Türkei, wo Mozart sein schillerndes Singspiel über Verführung, Treue und Liebe platzierte.

    Bei diesem Bremer Musiktheaterprojekt zu Mozart nehmen Personen aus Deutschland, Australien, USA, Brasilien, Korea und Syrien teil –  und zwar Profis, Opernsänger, Musiker und andere Menschen. Am 23. Mai gibt es zum Abschluss im Theater Bremen die Uraufführung.

    Student, Sänger und Schauspieler

    Einer der Sänger in diesem dokumentarischen Musiktheaterprojekt ist Wissam Alkhalil.  Mit ihm habe ich gesprochen. Wissam ist 24 Jahre alt, kommt aus Damaskus in Syrien, lebt seit fünf Jahren in Hamburg und studiert Bauingenieurwesen an der TU Hamburg. Zugleich ist er aber auch Schauspieler und Sänger. Als er neu in Deutschland war, lernte er den Regisseur eines Theaterstücks kennen und durch diesen Kontakt fing er an, im Theater an Opernaufführungen mit ihm zu arbeiten. Er genießt diese Kunst und hatte bisher vier Theateraufführungen in vier verschiedenen Bundesländern wie Berlin, Frankfurt, Hamburg und jetzt Bremen.

    Wissam erklärt, dass Theateraufführungen und Gesang für ihn eine negative Seite haben, weil er seine Kurse an der Universität verpasst.  Aber er schafft es, sein Studium und seine Theaterarbeit miteinander zu vereinbaren.

    Weitere Infos:

  • Literally Peace – schreiben für den Frieden

    Literally Peace – der Name klingt nach lebendigen Buchstaben und Frieden. Was haben zu Papier gebrachte Wörter und die Sehnsucht nach friedlichen Begegnungen miteinander zu tun? Und was heißt das ganz konkret für das Projekt, das diesen Namen trägt?

    Es heißt nicht umsonst, dass die Feder mächtiger ist als das Schwert. Und das bedeutet für uns: Wir schreiben für den Frieden. Wir schreiben, weil es für uns alle immer der beste Weg war, um uns auszudrücken, um gegen die Hilflosigkeit anzukämpfen, die uns jedes Mal überkommt, wenn wir von Krieg und Leid hören. Es ist quasi Therapie, aber natürlich auch Kommunikationsmedium. Es hilft uns, anderen einen Eindruck davon zu geben, wie wir Dinge wahrnehmen.

    So entsteht ein Dialog und darum geht es ja

    Für unsere syrischen Autor*innen heißt das ganz konkret: Sie können ihre eigene subjektive Sichtweise von dem Leben in Syrien, auf der Flucht und nach der Flucht präsentieren, fernab von Medienberichten und Vorurteilen. Und wir können darauf reagieren und es mit einem breiten Publikum teilen. So entsteht ein Dialog und darum geht es ja. Um das Miteinander, um den Austausch, um das gemeinsame Schaffen.

    Oft ist es ja so: Durch eine Begegnung, ein Erlebnis oder eine Situation entsteht eine Idee. Die Idee nimmt Gestalt an, wächst, entwickelt sich durch Erfahrungen weiter, verändert sich…Wie war das bei Literally Peace? Wie fing es an, wo steht ihr heute miteinander und in welche Richtung könnte es vielleicht weitergehen?

    Diese Geschichte kann ich mittlerweile im Schlaf (sie ist fester Bestandteil fast jeder Veranstaltung): Ich lernte im Herbst 2016 im Rahmen des Schreibwettbewerbs „A Sea of Words“ einen jungen Syrer kennen, der zu dem Zeitpunkt noch in Syrien lebte. Er war ganz anders als mein Bild von in Syrien lebenden Menschen. Er erzählte mir von alten Kriegsruinen, die als wunderbare Partylocation dienten. Von der Uni, von seiner Freundin. Der Krieg spielte in seinem Alltag nur eine untergeordnete Rolle.

    Er war da, damit musste man umgehen, aber man machte das Beste daraus. An manchen Tagen unterschied sich sein Leben nicht sehr von meinem. Natürlich war er sehr privilegiert. Es gibt mit Sicherheit Menschen in Syrien, für die ein solcher Umgang mit dem Thema nicht möglich ist. Die in ständiger Todesangst leben, die hungern und um ihre Angehörigen trauern.

    Es gibt viele Geschichten. Und wir möchten so viele wie möglich erzählen

    Aber das ist ja der Punkt: Es gibt viele Geschichten. Und wir möchten so viele wie möglich erzählen. Und so startete Literally Peace. Mit einem Blog, auf dem die ersten Geschichten erzählt wurden. Dann kamen Lesungen dazu und mittlerweile haben wir neben unseren Autor*innen auch Musiker*innen, Übersetzer*innen, Künstler*innen, Filmemacher*innen, usw. Wir planen gerade eine Wanderausstellung, haben eine Förderung für einen Kurzfilm bekommen, möchten einen arabisch-deutschen Schreibwettbewerb crowdfunden und werden im Juni dann auch endlich ein Verein.

    Wir sind stolz auf das, was wir nach zwei Jahren erreicht haben, aber in vielerlei Hinsicht fühlt es sich an, als würden wir gerade erst anfangen. Denn nachdem wir lange einfach nur gemacht haben, lernen wir nun Schritt für Schritt Struktur in unsere Arbeit zu bringen – das ist unsere aktuellste Herausforderung.

    Wie viele Menschen sind bei euch derzeit aktiv? Was macht die Vielfalt in eurem Projekt aus? Und wie kann man von euren Aktivitäten erfahren?

    Natürlich fällt auch auf, dass unsere Autor*innen vielfältige kulturelle Hintergründe haben, aber das geschah eher nebenbei.

    Wir sind April 2017 mit zehn jungen (Hobby-)Autor*innen gestartet – fünf auf der syrischen Seite, fünf auf der deutschen. Mittlerweile sind wir etwa 35 Engagierte mit unterschiedlichen Fähigkeiten, Talenten und Interessen. Das macht uns vielfältig. Natürlich fällt auch auf, dass unsere Autor*innen vielfältige kulturelle Hintergründe haben, aber das geschah eher nebenbei. Dadurch, dass meine Netzwerke bunt gemischt sind und wahrscheinlich auch, weil das Thema Menschen anzieht, die sich selbst schon mal mit den Begriffen Heimat und Migration auseinandergesetzt haben.

    Wir posten unsere Texte auf unserem Blog, den man auf unserer Homepage findet. Dort findet man auch alle möglichen Infos über uns, natürlich auch, wann und wo unsere nächsten Veranstaltungen stattfinden. Eher unmittelbare Infos und Aktivitäten finden sich auf unseren Profilen auf Instagram und Facebook.

    Kannst du uns vielleicht mit einem kurzen Text – zum Beispiel mit einem Gedicht – exemplarisch einen ganz kleinen Eindruck vermitteln von den Gedanken, die in euer Projekt eingebracht werden. Vielleicht lässt sich auch ein bisschen was über die Entstehungsgeschichte des Textes erzählen?

    Spontan habe ich diesen Text hier rausgesucht:

    „Diese Szene kommt mir bekannt vor.
    Jemand geht fort.
    Es klingt, als würde sich der Lärm der Stadt entfernen, als wäre ich in einem isolierten Wald oder auf dem Gipfel eines Berges, den einer der Propheten als Zufluchtsort gewählt hat, um Gott zu begegnen.

    Ich sitze auf meinem kleinen eingebildeten Gipfel. Ich zähle all die Schritte, die uns voneinander trennen. Die Schritte werden mehr. Sie sind nun Meter. Tausende Meter. Tausende Kilometer.Ich sehe, dass du kleiner wirst, zusammen mit dem letzten Horizont, der uns je vereinen wird.
    Ich folge den Bewegungen der Wolken. Es sieht nicht so aus, als würde es bald regnen. Schade eigentlich. Ich bräuchte diese Art von Banalität, um mein Kunstwerk zu vervollständigen.“

    Liebe in Zeiten von Krieg und Frieden

    Dies ist ein Ausschnitt aus dem Text „Die ganze Zeit“ von Aya Alnamly. Sie lebt in Damaskus und hat eben ihr Studium der Architektur beendet. Dieser Text entstand für unsere Lesung mit dem Namen „Liebe in Zeiten von Krieg und Frieden“. Der Text ist in Tagebuchform geschrieben. Eine junge Frau wundert sich, dass es so einfach ist, in einem Moment sein zerbombtes Haus vor sich zu sehen und Todesangst zu empfinden und im nächsten auf Wolke 7 zu schweben.

    Und im wieder nächsten Moment todunglücklich zu sein. Nicht wegen des Krieges, sondern weil dieser eine besondere Mensch geht. Ich finde, dieser Text ist ein schönes Beispiel dessen, was wir zeigen wollen. Dass selbst junge Syrer*innen manchmal überrascht sind, wie vermeintlich banal ihre Gedanken und Gefühle sind, wie normal, während sie unter absolut extremen Umständen leben.
    Hier ist der Text komplett auf Englisch und Arabisch nachzulesen:

    Viele von euch leben im Raum Stuttgart. Dort finden viele Lesungen von euch statt. Aber ihr stellt eure Werke auch im Internet vor. Wenn jemand bei euch mitmachen möchte – geht das auch, wenn man z.B. In Norddeutschland wohnt? Und was wäre dafür wichtig zu wissen?

    Unser Sitz ist Stuttgart, wir haben aber mittlerweile Autor*innen in ganz Deutschland – in Berlin, in der Nähe von Hamburg, in Frankfurt, usw. Texte für unseren Blog beizutragen, kann man aus jeder Stadt. Wer gern bei unseren Lesungen dabei sein möchte, kann das auch. Wir haben glücklicherweise eine kleine Förderung, die uns erlaubt, Fahrtkosten zu übernehmen. Außerdem freuen wir uns immer, wenn wir in neuen Städten lesen dürfen.

    Ansonsten suchen wir einfach junge Menschen, die Spaß an der Begegnung haben. Ob sie schreiben, malen, Musik machen oder einfach nur gern Veranstaltungen organisieren – wir freuen uns über jeden und jede, der oder die ein Teil von Literally Peace werden möchte!

    Erzählst du uns zum Schluss noch ein bisschen was über dich?

    Ich habe in Heidelberg Ethnologie und Englische Literatur studiert und in Schwäbisch Gmünd Interkulturalität und Integration. Seit 2014 arbeite ich hauptberuflich in der Jugendarbeit, stets mit kulturell diversen jungen Menschen. Ich schreibe, seit ich denken kann, und meine Kurzgeschichten und Gedichte wurden bereits in verschiedenen Anthologien veröffentlicht.

    Ich danke sehr herzlich für die interessanten Einblicke in euer Projekt!

    Weitere Infos

  • Sehnsucht neue Heimat – das Künstleratelier International

    Flüchtling-Magazin: „Sehnsucht neue Heimat- Ankommen im Nordwesten“ – unter diesem Thema habt ihr euch künstlerisch gemeinsam auf den Weg gemacht. Kannst Du an einem Beispiel sagen, was Dich dabei besonders überrascht hat? Was sich vielleicht ganz anders gezeigt hat, als anfangs erwartet?

    Editha: Alle Projektteilnehmer haben angefangen, zum Thema zu arbeiten, ohne dass wir vorab ein bestimmtes Konzept besprochen hatten. Jeder wollte einfach loslegen! Nicht lange reden. Arbeiten. Endlich. Als wir dann die erste Ausstellung gehängt hatten, fiel uns auf, dass wir uns alle mit der Wahrnehmung der neuen Heimat und nicht dem Aufarbeiten der Vergangenheit beschäftigt hatten. Keiner von den Zugereisten wollte die Vergangenheit oder die alte Heimat widerkäuen. Alle schauten nur nach vorne. Ein Projektteilnehmer sagte ganz treffend: “ Ich kann 2 Sachen nicht mehr hören: 1. Flüchtlingspolitik und 2. Trump!“

    „Intensive Gespräche über Religion, Tradition und Lebensphilosophie“

    Flüchtling-Magazin: Eure gemeinsame Arbeit als Kunstschaffende im Künstleratelier kam und kommt ja nicht allein durch die entstandenen Werke zum Ausdruck. Wenn Du an die Begegnungen, an Gespräche mit Menschen aus ganz verschiedenen Ländern denkst – was hast Du dabei für Dich gelernt, vielleicht für Deine Kunst, vielleicht auch für Dein Verständnis von Heimat?

    Editha: Die Anfrage, die Leitung des Künstlerateliers- zusammen mit Manuela Milenkovic-Todorovic – zu übernehmen, kam für mich etwas überraschend. Bis dahin hatte ich nie über solch eine Projektarbeit nachgedacht. Ja, gelernt habe ich eine Menge. Wir alle. Die meisten Teilnehmer die deutsche Sprache, ich selber ungeheuer viel über die verschiedenen Kulturen und ganz andere Lebensweisen. Da wir alle künstlerischen Hintergrund hatten, war natürlich das Interesse an den Arbeiten der anderen groß und schnell sind auch Gemeinschaftsarbeiten und Verabredungen zu Malwochenenden entstanden.

    „In punkto Kunst war das Projekt hochinspirierend“

    Daneben sind intensive Gespräche über Religion, Tradition und Lebensphilosophie entstanden – von japanischen und niederländischen Trachten über gelebten Islam, dem 30-jährigen Krieg, bis hin zu Martin Luther und der Reformation – um nur Beispiele zu nennen. Und ich habe hautnah die deutsche Bürokratie in Hochform erlebt…

    Habe erlebt, was es heißt, wenn die ganze Familie über halb Europa, oder sogar über die ganze Welt verteilt lebt und wie kompliziert es ist, wenn plötzlich weit entfernte Familienmitglieder erkranken… Ich habe gelernt, dass der jetzige Wohnort, die jetzige „neue Heimat“ auch nur eine Option von vielen ist. Für mich haben sich durch diese Projekt die Perspektiven verschoben.

    „Mein Blick, mein Denken ist weiter geworden. Wesentlich weiter“

    Flüchtling-Magazin: Ein Blick in die Zukunft: Auch jetzt, nach dem offiziellen Abschluss des Projekts, treffen sich einige von euch weiterhin als internationale Künstlergruppe. Was ist euch bei der Zusammenarbeit besonders wichtig geworden? Gibt es Wünsche und Ideen, die ihr auch gern anderen mitteilen möchtet?

    Editha: Wir haben uns kennengelernt. Einige Künstler und Künstlerinnen kannte ich oberflächlich durch die Kunstschule Zinnober. Die meisten Projektteilnehmer kannte ich zu Anfang gar nicht. Wir alle waren so froh, endlich künstlerisch arbeiten zu können. Einfach loslegen.

    Wir alle haben ja die selben Interessen, haben uns gemeinsam Ausstellungen angeschaut und über die Werke diskutiert, haben die selben Künstlersorgen, können stundenlang über Material und Technik diskutieren. Einen solchen Rahmen zu bekommen, das war genau das, was uns fehlte. Daraus sind schnell weitere gemeinsame Projekte entstanden, die nichts oder nur am Rande etwas mit der Kunstschule Zinnober zu tun haben.

    „Einige Künstler*innen konnten nun endlich eigene Ideen umsetzten“

    Wir haben uns gegenseitig beraten und unterstützt. Ein Netzwerk aufgebaut. Wir haben uns als Gruppe für die ParkArt in Sögel im Sommer ein riesiges Zelt reservieren lassen und auch schon für 2019 einen Ausstellungstermin festgemacht. Auch weiterhin treffen wir uns und versuchen gemeinsam zu wachsen. Genau das ist es, was uns allen fehlte: die Möglichkeit zu wachsen.

    Dokumentation zum Projekt:

    Infos zum Projekt:

  • Das Theaterprojekt „Robinson Crusoe – Gestrandet in Metropolis“

    Seit Anfang Juli proben sie schon: rund 20 Leute, ungefähr die Hälfe sind Geflüchtete. Einmal wöchentlich erarbeiten sie sich unter der Leitung der Schauspieler und Theaterpädagogen India Roth und Hauke Horeis den Stoff von Daniel Defoes „Robinson Crusoe“ ganz neu. Vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrungen mit Einsamkeit, Isolation, aber auch den Abenteuern in einer völlig neuen Umgebung, machen sie dabei spannende Entdeckungen.

    So kann Integration gelingen

    Die Projektleiter verstehen das Theaterprojekt als Möglichkeit für gelingende Integration, die sie als lebendigen Prozess zwischen allen Beteiligten betrachten. Geprobt wird in der Schule für Schauspiel Hamburg, die die Probenräume kostenlos zur Verfügung stellt. Am 15. und 16. November wird es zwei Aufführungen in der Kulturwerkstatt/Hebebühne Altona, Barnerstraße 30, geben. Grimme-Preisträgerin Marie Bäumer konnte als Schirmherrin für das Projekt gewonnen werden.

    Das Flüchtling-Magazin fragte India Roth nach ihrer Motivation für das Projekt.

    India Roth kam durch die Arbeit ihrer Mutter, die als Therapeutin und Familienhelferin auch mit Asylsuchenden arbeitetete, schon früh in Berührung mit der Flüchtlingsthematik. Roth: „2015 war ich erschüttert von dem Leid, das viele Menschen aus ihrer Heimat wegtreibt und gleichzeitig habe ich gesehen, wie groß die Aufgaben sind, die wir meines Erachtens gemeinsam und im friedlichen Dialog bewältigen müssen.“

    Eine Reise, die das Selbstbewusstsein stärkt

    Dabei ist ihr wichtig, dass Hilfe immer Hilfe zur Selbsthilfe ist. Und genau darin sieht sie auch die große Möglichkeit von Theater und Schauspiel: Menschen begeben sich auf eine Reise, die über das Projekt hinausgehen kann, ihr Potential entfaltet und ihnen größeres Selbstbewusstsein gibt.

    Neben allen kulturellen Unterschieden erlebt es India Roth als große Bereicherung und Inspiration, wenn bei der Probenarbeit echte Begegnung auf der Bühne stattfindet. Gerade auf der Bühne ist es wichtig, auch Nähe zulassen zu können. Dennoch ist es ihrer Erfahrung nach wesentlich, dass ein privater Raum geschützt wird und das Projekt sie nicht 24/7 in Anspruch nimmt. Sonst „kann die Gefahr drohen, irgendwann auszubrennen“, so Roth.

    Eine gemeinsame Sprache durch das Theater

    Für die Mitwirkenden des Projektes wünscht sie sich die Erfahrung von Tiefe und Leichtigkeit gleichermaßen, gerade für Menschen mit Traumata. Die größte Herausforderung stellt die Projektorganisation durch unterschiedliche Vorstellungen von Pünktlichkeit und Arbeitsethos dar. Besondere Höhepunkte dagegen sind die Momente, in denen Menschen sich durch die Sprache des Theaters über das Sprechen einer gemeinsamen Sprache hinaus auf der Bühne plötzlich verstehen und begegnen.

    Für sich selbst empfindet India Roth das Projekt als wesentlichen Beitrag zur gesellschaftlichen Partizipation. Etwas, was sie jedem Menschen wünscht. Integration versteht sie als Dialog, als Prozess von allen Seiten. Das heisst, dass alle Beteiligten voneinander lernen können und müssen. Eine multikulturelle Gesellschaft ist für sie gleichbedeutend mit einer Offenheit, die es möglich macht, einerseits wesentliche Werte zu verteidigen und gleichermaßen bereit zu sein zu lernen. Dazu kann ihrer Erfahrung nach jeder Mensch im Kleinen beitragen: „Wie eine Familie auch ist die Welt alles andere perfekt. Aber zusammenleben müssen wir und dabei gibt es zum Glück auch vieles Schöne selbst im Unperfekten zu entdecken.“

    Aufführungen „Robinson Crusoe – Gestrandet in Metropolis“:
    15. & 16. November 2017, 19.30 Uhr (Einlass: 19 Uhr)
    Kulturwerkstatt/Hebebühne Altona, Barner Straße 30 im Hinterhof.
    Eintritt frei, auf Spendenbasis.
    Um Anmeldung wird gebeten unter:

kohero-magazin.com