Schlagwort: Syrien

  • RefugeeLife Crisis – Wann bin ich erfolgreich?

    Ein neuer Anfang, ein neuer Plan

    Als die Stürme des Krieges mein Land Syrien trafen, und nachdem das Resettlement-Programm begonnen hatte war ich noch Studierender und habe 2014 meinen Bachelor abgeschlossen. Ich sollte mein Land sofort in die Türkei verlassen und dort in einer Fabrik arbeiten, bis ich 2015 nach Deutschland kommen sollte. Durch etwas Glück und mit Hilfe der WillkommensKultur und meiner deutschen Freunde gründete ich das kohero Magazin (damals noch Flüchtling-magazin). Das ging sehr schnell und meine Kollegin Julia hat mich oft gefragt, ob ich damit Erfolg hätte. Damals habe ich gesagt, nein, ich hätte erst Erfolg, wenn ich mit dem Magazin Geld verdienen würde, da ich damals noch Hartz 4 bezog.

    Erfolg misst sich an den Zielen

    Nach 2 Jahren Arbeit im Magazin konnte ich endlich Geld mit der Zeitschrift verdienen. Julia fragte mich wieder, ob ich damit erfolgreich wäre. Ich sage, nein noch nicht, weil meine Sprache noch nicht gut sei. Ich bin erst wirklich erfolgreich, wenn ich die deutsche Sprache beherrsche. (Obwohl ich nicht glaube, dass ich die Sprache eines Tages beherrschen kann). In dieser Zeit habe ich mir angeschaut, was andere Syrer gemacht haben, wie sie Deutsch wie ihre Muttersprache sprechen können, manchmal mit Akzent. Und dann frage ich mich immer, warum können sie erfolgreich sein und ich nicht? Wegen der Arbeit im Magazin hatte ich keine Zeit, einen Kurs zu besuchen. Dieses schlechte Gefühl, dass ich noch keinen Erfolg hatte, begleitet mich und dieses Gefühl haben viele andere Syrer auch.

    Irgendwann habe ich von der Quarter-Life-Crisis gelesen, das heißt auf Deutsch „Viertelleben-Krise“. Diese bekommen viele jungen Leute im Alter von 20 bis 25 Jahren, wenn sie ihr Studium beendet haben, Arbeit suchen oder einen Job finden, der nicht zu ihnen passt. Eine Zeit zwischen der Vergangenheit und der Zukunft. Universität und Arbeit und vielleicht auch der alten Familie (Eltern und Geschwister) und der neuen Familie (Partner und vielleicht Kinder). In dieser Krise werden viele Fragen gestellt und es wird viel Druck auf einen ausgeübt. Man selbst sucht den persönlichen Erfolg in dieser Zeit, aber man hat keine Geduld mit ihm.

    Soziale Medien verfälschen die Erwartungshaltung

    Auf jeden Fall verstärken die sozialen Medien diese Krise, weil man sein Leben mit dem der Influencer vergleicht. Man sieht nur den Erfolg dieser Menschen, aber man weiß nicht, was sie dafür getan und was sie dafür bezahlt haben. Wie haben sie es geschafft? Welches Glück oder welche Kontakte hatten sie, um diesen Erfolg zu erreichen. Das setzt junge Menschen unter Druck, die auch erfolgreich sein wollen, aber sie wissen nicht worin. Das Gleiche ist mir auch passiert. Wie ich euch im letzten Artikel erzählt habe, haben die Syrer*innen die sozialen Medien entdeckt, um sich miteinander zu vernetzen und Zugehörigkeit zu schaffen. Ich habe mit vielen Syrer*innen, von denen ich die Realität nicht kenne, Freundschaft über die Sozialen Medien geschlossen. Ich kenne viele Syrer*innen, die wie ich Flüchtlinge sind und die Sprache beherrschen.

    Durch die sozialen Medien wird dieses schlechte Gefühl ausgelöst und setzt mich unter Druck, und ich kann nichts dagegen tun. Obwohl ich weiß, dass die sozialen Medien nicht das ganze Bild der Menschen zeigen. Ich kann nicht das ganze Bild ihres Lebens kennen, und vielleicht bedeutet ihnen dieser Erfolg auch nichts, oder ihre Ziele sind anders als das, was sie erreicht haben, und sie sind auch nicht zufrieden damit. Ich schäme mich, wenn ich in den sozialen Medien wieder einen Syrer treffe, der die Sprache erfolgreich gelernt hat.

    RefugeeLife Crisis – eine Lebenskrise

    Genau das, was mir passiert, passiert vielen Flüchtlingen. Man sollte es vielleicht nicht Quarterlife Crisis nennen, sondern RefugeeLife Crisis. Dieser Begriff beschreibt, was passieren kann, wenn Geflüchtete, egal wie alt sie sind, ein neues Leben und eine neue Zukunft mit einer neuen Sprache, neuen Kultur und neuem System beginnen sollen. Ein paar werden sich schnell in das System integrieren, andere brauchen mehr Zeit, und wieder andere schaffen es einfach nicht.

    Aber weil viele Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sind, sollten sie sich trotzdem in das Kapitalsystem integrieren und sie sollten arbeiten und einen Job finden. Egal was, es ist wichtig, dass du den Job findest. Auch, wenn es sehr schwierig ist, seine Zertifikate anerkannt zu bekommen, dann sollte man einfach einen Platz in einer Berufsschule finden. Wenn man Arzt ist, dann kann man als Pflegekraft arbeiten. Und wenn man ein Koch ist, dann kann man trotzdem als Reinigungskraft arbeiten. Es gibt viele Leute, die ein großes Netzwerk aufgebaut haben und sie haben es in kurzer Zeit geschafft, durch die Willkommenskultur. Und es gibt auch viele, die es nicht geschafft haben, wegen der Rassismusstruktur.

    Die Integration bedingt den Erfolg

    Der Unterschied zwischen Quarterlife Crisis und RefugeeLife Crisis ist, dass die jungen Leute eine Familie haben und ein großes Netzwerk aus Freunden und Bekannten. Sie können auch mal ein Jahr wegfahren und sich selbst finden. Aber das Schicksal der Flüchtlinge liegt nicht in ihrer Hand, sondern hängt von der Integration ab und davon, ob sie Ehrenamtliche finden und ihnen alles erzählen und sie sich dadurch die Wege zum Erfolg aufbauen können.

    Die einzige Aufgabe, die jeder Flüchtling schaffen sollte ist die Sprache beherrschen zu können. Viele haben das geschafft, und viele sind auf dem Weg dorthin, und andere werden es nicht schaffen können, weil sie im neuen Land nur wohnen und in ihrem alten Land leben. Weil sie nicht wissen, wie und wo sie anfangen sollen und weil sie keine Lust und Motivation haben nochmal neu anzufangen.

  • Überfall auf Charlie Hebdo-Je suis Charlie in Ost-Aleppo

    „Illa Rasoul Allah, respektiere Muhammad.“
    Dutzende Accounts in meinem Newsfeed benutzten diesen Rahmen für ihr Facebook Profilbild in der Woche nach dem Mord an Samuel Paty, einem französischen Lehrer in einer Vorstadt im Norden von Paris.

    Überfall auf Charlie Hebdo

    Der Satz, „Illa Rasoul Allah“, bedeutet wörtlich: “Niemand außer dem Gesandten Gottes“, brachte mich aus der Wärme eines Treffens mit Freunden in London zurück nach Ost-Aleppo vor fünf Jahren. Mein Herz raste und meine Adern waren blutleer; ich war am Rande einer Panikattacke. Seither habe ich kaum geschlafen.
    Am verschneiten, kalten Morgen des siebten Januars 2015 bereitete ich mich auf den letzten Tag meines Medientrainings für Journalist*innen vor, als mein Handy von Nachrichten bombardiert wurde. „Ein Anschlag auf das französische Satiremagazin Charlie Hebdo in Paris.“ „Zwei bewaffnete Männer töten 12 Menschen und verletzen 11 weitere.“ „Die Bewaffneten schrien, ‚wir haben den Propheten Muhammad gerächt‘, als sie die Namen der Journalisten riefen.“

    Überleben in Ost-Aleppo

    Ich hatte gerade eine Begegnung mit Boden-Boden Raketenangriffen überlebt, die wir Fil oder Elephantenraketen nannten. Außerdem schwere Kämpfe und Einsätze von Kampfflugzeugen, als syrische Regimetruppen versuchen, den Bezirk Saif al-Dawla zu erreichen. Dort lebte ich zu der Zeit.

    Mein Gebäude war das letzte bewohnte Haus vor einem Checkpoint, der von der bewaffneten Opposition in Aleppo besetzt war. Regierungstruppen trennten sie durch eine Barrikade aus umgekippten Mülltonnen. Ich hatte die Entscheidung, an der Front zu leben, bewusst getroffen: Es gab zwar das Risiko, im Kreuzfeuer getroffen zu werden, aber es wurden wesentlich weniger von den berüchtigten Fassbomben angegriffen: Fässer gefüllt mit TNT und Granatsplittern, die völlig unberechenbar waren und oft von Flugzeugen des Regimes auf zivile Gebiete abgeworfen wurden.  Mein Viertel war jedoch zu nah an den Truppen des Regimes, um die Fässer abzuwerfen, ohne möglicherweise die eigenen Truppen zu treffen.

    Meine Reaktion auf den Anschlag auf Charlie Hebdo

    Ich war frustriert und wütend, als ich die Nachrichten über den Anschlag auf Charlie Hebdo las. Ich wollte mein Mitgefühl ausdrücken für Menschen wie mich, die mit Plänen und Aufgaben aufwachten, nur um plötzlich an ihrem Arbeitsplatz exekutiert zu werden.

    So nahm ich einen Marker und schrieb “Je suis Charlie” auf ein Stück Pappe, rollte es ein und ging raus. Dann ging ich am Checkpoint vorbei zum Niemandsland, bis zum Salah al-Din Platz. Der Bezirk war geteilt zwischen Rebellen und Regierungstruppen, und der Platz war die Grenze. Die Umgebung wurde oft von Scharfschützen in der Saad Moschee auf der Regimeseite attackiert. Der Platz war zum Denkmal für die Opposition in der Stadt geworden. Also rollte ich mein Poster aus, und mein Partner schoss ein Foto von mir, mit dem Poster vor dem Gesicht. Dann gingen wir weiter zu einem Kulturzentrum namens Jadal, wo ich das Training machte.

    Es waren acht Journalisten im Programm, unter ihnen Homam Najjar. Der islamische Staat tötete ihn drei Monate später durch eine Autobombe.

    Die Folgen

    Nachdem wir das Training beendet hatten, ging ich zurück nach Hause, um über den Schock nach dem Attentat in Paris zu lesen. Ich twitterte das Foto vom Morgen mit der Beschreibung: „Ich weiß, was es bedeutet, sich zu fürchten und von kriminellen Terroristen getötet zu werden. Ich bin #syrisch. Ich fühle euren Schmerz. Ich bin #Syrerin. #JeSuisCharlie.“

    Über Nacht bekam ich tausende Reaktionen auf den Tweet. Das Bild gelangte auf Facebook, was ich am meisten fürchtete: Denn viele der Kämpfer und Aktivisten in der Stadt waren dort aktiv.

    Den ganzen Tag über verhielt ich mich ruhig, während die Debatten um mich tobten. Die Reaktionen reichten von Würdigungen für die „mutige Frau“, die die von Dschihadisten getöteten Journalist*innen unterstützte, hin zu Vorwürfen der Gehirnwäsche: Ich würde mein Leben riskieren, um vom „Westen gemocht“ zu werden. Die Schlimmsten beschuldigten mich der Blasphemie, für die Verurteilung des Mordes an „Gotteslästerern“.

    Panikattacken

    Am nächsten Tag ging ich wieder in das Kulturzentrum Jadal, um ein neues Projekt, an dem ich arbeitete, zu besprechen: Schulmädchen im Journalismus auszubilden. Die Direktorin schien ärgerlich zu sein, als ich mit meinem Freund Salman ankam. Ich begann zu sprechen, aber sie hob den Zeigefinger und unterbrach mich. Sie sagte zweimal: “Illa Rasoul Allah.“

    Ich hatte die erste Panikattacke meines Lebens. Es war, als ob mein Herz aus meiner Brust stürzte. Meinen Atem konnte ich hören, flach und doch laut, und meinen Bauch, knirschend wie Herbstblätter. Nach dieser hatte ich noch viele Panikattacken, auch als ich diesen Text in meiner sicheren Zuflucht in London schrieb und editierte.

    Salman sagte etwas, das ich nicht verstand. Ich versuchte, mein verängstigtes Ich beisammenzuhalten, präsent zu bleiben. Ich hörte sie sagen: “Ich habe dich nicht erwartet heute; sie hätten dich heute früh kriegen sollen.“ Mit ‘sie’ meinte sie die islamischen Rebellen, die die Rebellenseite der Stadt kontrollierten.

    Ich schleppte meinen bleichen, zitternden Körper zurück nach Hause, nur um Angst zu erleben, wie ich sie noch nie in meinem Leben erlebt hatte. Ich löschte meine Tweets, deaktivierte meinen Account, entfernte Bilder ohne Kopftuch von mir aus Facebook, und plante meinen Tod.

    Die Lüge

    Dann entschied ich mich zu lügen und zu behaupten, dass ich nicht „für die, die den Propheten beleidigten“ einstand. Stattdessen wollte ich die Aufmerksamkeit auf die Syrer*innen, die vom Regime getötet wurden, lenken. Ich schrieb sogar einen zurückdatierten Blogpost, um meine Lüge zu beweisen. Einige der Aktivisten, die meine Lüge glaubten, darunter auch die Direktorin, die meine Angstspirale ausgelöst hatte, änderten ihre Meinung. Sie verlangten Gnade für mich, da alles nur ein Missverständnis gewesen sei. Viele wagten nicht, ihre Unterstützung zu artikulieren.

    Doch die Dinge eskalierten. Im selben Kulturzentrum in Salah al-Din wurden syrische Magazine, die die Opfer des Anschlages unterstützten, verbrannt. In den Straßen von Aleppo brachen Demonstrationen aus. Hierbei verbrannten Protestierende das Logo des Magazins und formulierten ihre Unterstützung für die Verbrechen der Dschihadisten.

    Die mutigste Unterstützung erhielt ich von einigen Aktivist*innen, die meinen Blogpost teilen und meine Lüge betonten. Nur drei Menschen kannten meine wirkliche Meinung: Dass ich gegen die Tötung eines jeden Menschen war, auch derer, die sich der „Blasphemie“ schuldig machten.

    Furcht vor Rebellenführern

    Das surreale war, dass ein Rebellenführer, der mich für dieses vermeintliche Verbrechen verfolgte, selbst Kämpfe gegen den islamischen Staat in Aleppo angeführt hatte. Er war bekannt für seinen Mut im Kampf gegen den IS. Mehrere Aktivist*innen, die die Dschihadisten ablehnten, unterstützten ihre Operationen gegen das syrische Regime und ihre Verbrechen gegen Journalist*innen, mit denen sie nicht einer Meinung waren.

    Der andere Rebellenführer, den ich am meisten fürchtete, war ein Überlebender aus Syriens grausamen Regierungsgefängnissen. Er war in einem Austauschdeal freigelassen worden, danach war er Extremist geworden. Er befahl jemandem meinen Blog zu durchsuchen, um Beweise dafür zu finden, dass ich den Tod verdiente. Dieser Mann war zufällig einer der Journalisten, die ich am Tag des Anschlages geschult hatte. Ich hatte ihm beigebracht, Artikel zu schreiben.

    Während ich auf den Überfall der Rebellen auf meine Wohnung wartete, zerstörte ich meinen Weihnachtsbaum. Ich nahm die Papierschnipsel ab, die alle meine Neujahrswünsche enthielten (mein größter Wunsch war es, am Leben zu bleiben), und legte sie in einen Müllbeutel. Salman war bei mir, und er war bewaffnet. „Sie kriegen dich nicht, außer wenn ich tot bin“, sagte er. Er legte eine Granate an das Küchenfenster und eine weitere in das Schlafzimmer. Er sagte mir, ich sollte eine Pistole bereithalten und sie töten, bevor sie mich töteten. Ich weigerte mich, sie zu berühren. Sie werden für immer als Schande gelten, wenn sie eine unbewaffnete Journalistin in ihrer Wohnung überfallen und töten, sagte ich.

    Veränderung meines Lebens

    Kampfflugzeuge hingen über uns in diesen endlosen Stunden, aber dieses Mal versteckte ich mich nicht im Flur. Ein willkürlicher Tod schien ein Luxus zu sein. Nur Momente trennen einen davon, als Martyrerin von den Revolutionär*innen gefeiert zu werden, oder als Ungläubige, die den Tod verdient, verdammt zu werden.

    Mein Leben, Ich, änderte sich an diesem Tag für immer.

    Ich erlebte Schlaflosigkeit, mit ständigem, schmerzhaftem Ziehen im Bauch. Und ständig untersuchte ich mein Auto nach Sprengstoff.

    Dann wurde alles noch schlimmer. Der französische Präsident zu der Zeit, François Hollande, erwähnte meinen vollen Namen in einer Rede über den Anschlag auf Charlie Hebdo, als Beispiel für länderübergreifendes Mitgefühl und Empathie.
    Von Angst gelähmt, brach ich zusammen. Ich weinte mich in den Schlaf.

    Das Scharia-Gericht klagte mich in zwei Punkten des Abkehrs vom Glauben an: Erstens für Charlie Hebdo und zweitens für die Unterstützung der Homosexualität. Denn der Journalist, den ich geschult hatte, fand eine bestimmte Zeile in meinem Blog. Hierin schrieb ich, dass meine Tochter anstatt zu kämpfen, besser liberale Werte, wie das Recht auf gleichgeschlechtliche Ehe, verteidigen sollte.

    Angst wurde ein Teil meines Körpers. Sie blieb, bis ich es nicht mehr aushielt und mich entschied, Syrien zu verlassen.

    Rückblick

    Wenn ich heute zurückblicke, verwundert es mich, wie man andere Menschen oder Konflikte in Schwarz und Weiß betrachten und wie man die Welt in Heilige oder Verdammte einteilen kann. Es scheint mir, dass nur wenige Menschen komplexe Narrative offen betrachten können. Ich habe einen Krieg überlebt. Und es verblüfft mich, dass irgendjemand, der diese extrem komplexen Realitäten ebenfalls erlebt hat, die Welt in wir gegen sie, Assad gegen den IS, Rebellen gegen das Regime, Frankreich gegen den Islam, oder der Islam gegen den Westen einteilen kann.

    Als syrische Geflüchtete in GB

    Ich habe zwar nur wenige vernünftige Ideen. Aber eine ist, dass oberflächliche Kategorisierung den Spalt zwischen uns nur vergrößert. Sie trägt den Extremisten auf allen Seiten zu, die mächtiger und gewalttätiger werden. Das ist, gemeinsam mit Diskriminierung, ein Gefühl der Überlegenheit und kolonialer Politik und Denkweisen, ein eindimensionales Denken. Es erlaubt westlichen Regierungen, arabische Diktatoren zu unterstützen, die Journalist*innen und kritische Denker auf der Suche nach Stabilität und Schutz vor Extremismus einsperren.

    Als eine syrische Geflüchtete im vereinigten Königreich und häufig Reisende in den Westen kann ich kaum all die Male zählen, die ich aufgrund meiner Herkunft als Mensch zweiter Klasse behandelt wurde. Und dies geschieht, obwohl mein Englisch fließend ist, ich internationale Auszeichnungen und einen britischen Masterabschluss habe. Ich werde immer die Geflüchtete aus dem globalen Süden sein. Sogar in meinem Berufsfeld werde ich von westlichen Verlagen nur nach meinen Erfahrungen als Syrerin gefragt.

    Der Teufelskreis wird angetrieben von Ablehnung, Ghettoisierung und von dem Zwang, in Slums zu leben. Er wird angetrieben von der Hassrede auf Mainstream-Plattformen, von Faschismus, der ein Akt des Patriotismus ist.
    Die Segregation wächst, die Terroristen gewinnen.

    Ausblick

    An all das dachte ich nicht, als ich das Poster in Solidarität mit den Opfern von Charlie Hebdo hochhielt. Es war einfach klar für mich, dass niemand für seine Taten, Worte oder Glauben getötet werden sollte.

    Aber es ist vielleicht naiv von Menschen zu erwarten, ihre Vorurteile zugunsten des Guten aufzugeben. Ich dachte, es sei gesunder Menschenverstand, sich gegen Gewalt zu stellen.

    Dennoch ist der Trieb zum Extremismus unaufhaltbar. Verbrechen wie der Mord an Samuel Paty werden nicht nur gerechtfertigt, sondern seine Mörder werden auch noch gefeiert. Wie in meiner Heimatstadt Idlib, im späten Oktober.

    In den letzten zehn Jahren des Konfliktes in Syrien lernte ich auf die harte Tour, wie tödlich Polarisierung sein kann, und wie viele Brücken wir brauchen, um sie zu bewältigen. Vielleicht liegt der Schlüssel bei uns, mit jedem Schritt, den wir gegen die Normen auf die andere Seite machen.

    Aber während einige ihr Leben riskieren, um Brücken der Empathie zu bauen, provozieren Politiker aus Privileg und Machtpositionen Hass und Diskriminierung.

    In Syrien, im Irak, Jemen und in Ägypten müssen wir ein Erbe der Teilung überkommen, das im letzten Jahrzehnt tausende Leben gekostet hat. Da sich nun Europa weiter spaltet, sollten wir uns vielleicht an die Menschen in der arabischen Welt erinnern:  Die, die blieben, und die, die für ihr Leben flüchten mussten, die für ein freies Syrien kämpften, für Berichterstattung während der Kämpfe und für eine freie Meinungsäußerung.

    Diese Artikel wurde auf Newlinesmag auf Englisch veröffentlicht und von Emily Kossak ins Deutsche übersetzt.

  • zu.flucht-Podcast: Abschiebung – Bleiben wollen und gehen müssen

    Das Thema „Abschiebung“ wird von den Medien immer wieder thematisiert. Doch wie geht es Menschen, die von einer Abschiebung bedroht sind? Zain kommt aus dem Sudan und hat uns in unserer neuen Folge von seinen Erfahrungen und Ängsten erzählt. Wir haben uns auch gefragt, wie die Abschiebepraxis in Deutschland aussieht und wer eigentlich davon betroffen ist. Im Podcast sprechen wir mit Wiebke Judith von Pro-Asyl über die aktuelle Lage in Deutschland und ob die Corona-Pandemie etwas daran verändert hat.
    Außerdem in der neuen Folge Multivitamin: Was bedeutet das Ende des Abschiebestopps für Syrer*Innen in Deutschland? Qussay Amer von der Initiative syria-not-safe erzählt uns, warum er sich gegen drohende Abschiebungen nach Syrien einsetzt.
    Triggerwarnung: In dieser Folge sprechen wir unter anderem über Suizid und selbstverletzendes Verhalten. Wer sich damit nicht gut fühlt, überspringt am besten diese Folge oder hört sie sich nicht alleine an.
    Wenn ihr Fragen, Anmerkungen oder Themenvorschläge für die nächsten Folgen von „Multivitamin“ habt, schreibt uns gerne unter podcast@kohero-magazin.de!
    Das Multivitamin-Team: Lilli Janik, Lena Wilborn, Kim Sarah Eckert, Marie Lina Smyrek, Anne-Josephine Thiel, Sally Wichtmann, Anna Seifert, Florent Gallet
    Links und Quellen zur Folge: 

    Kampagne „syria-not-safe“

    Pro-Asyl
    Abschiebehaftkontaktgruppe Dresden Ausländerrat Dresden e. V.: Checkliste / Einführung Person des Vertrauens
    NDR-Beitrag zu Farah Demir
    Petition Farah Demir
    Elmedin Sopa: Die vermeintliche Trophäe des Rechtsstaates

  • Liberalismus in der arabischen Welt

    Gegen die Werte der syrischen Gesellschaft

    In der letzten Rede vom syrischen Machthaber Al-Assad, die er während seiner Teilnahme an der erweiterten regelmäßigen Sitzung des Ministeriums für religiöse Angelegenheiten in der Al-Othman-Moschee am 7. Dezember gehalten hat, erklärte Al-Assad den modernen Liberalismus zum Feind der Gesellschaft. Er sagte, der Liberalismus habe den Terror unterstützt und er sei gegen den Glauben und die Religion. Al-Assad unterschied dabei zwischen dem Liberalismus und dem modernen Liberalismus. Der erste sei okay, aber der zweite sei gegen die Werte der syrischen Gesellschaft. Zum Beispiel, weil er für die Ehe für alle ist oder weil er den Fokus auf die einzelne Person legt, nicht auf die Familie.

    Das ist interessant, weil Al-Assad in London studierte und als der “moderne Präsident” erwartet wurde, als er 2000 die Macht übernommen hat. Aber heute kritisiert er den modernen Liberalismus und auch die westlichen Werte vor den syrischen Imamen.

    Die Frage ist, warum Al-Assad jetzt den modernen Liberalismus als Feind präsentiert?

    Meine Meinung ist, dass er diese neue Position nicht nur eingenommen hat, weil er jetzt mit Russland und dem Iran befreundet ist (und auch von ihnen abhängig ist), welche beide gegen diese Werte einstehen, sondern auch weil viele junge und oppositionelle Syrer*innen jetzt im Exil leben und für die Freiheit aufrufen. Sie rufen nicht nur gegen die Diktatur auf, sondern auch für die Freiheit für alle, auch für die von Minderheiten wie schwulen und lesbischen Menschen.

    Al-Assad vermischt mit Absicht unterschiedliche Begriffe wie „Islam“, „Terrorismus“, „neuer Liberalismus“, „Säkularität“. Damit drückt er aus, dass eine Gefahr nicht gegen ihn, sondern gegen die Gesellschaft und die Religion besteht. Deswegen bittet Al-Assad um die Hilfe der Imame, um die drei Gefängnisse der Gesellschaft zu erhalten: die Regierung, die Religion und die Traditionen. 

    Die Geschichte vom Liberalismus in der arabischen Welt

    In Syrien und anderen Arabische Länder haben nicht viele ein tiefes Wissen vom Liberalismus. Seit der Zeit des Kolonialismus sehen viele eine Verbindung zwischen Liberalismus, europäischen Ländern und dem Kolonialismus. Sie haben gelernt, dass das Erste als das Ergebnis des Zweiten kam.

    In der Zeit des kalten Kriegs herrschte in arabischen Ländern vor allem eine konservative Politik, die auch von den USA unterstützt wurde. Diese war auch gegen den Liberalismus in den gesellschaftlichen Werten. Ein Beispiel ist Saudi Arabien, ein Land das auf dem Weg der Entwicklung war, bis zur Krise 1979, wonach es viel konservativer und strenger wurde. Und wie wir alle wissen, wurde dieser politische und religiöse Konservatismus (Wahhabismus) nach dem kalten Krieg in vielen arabischen Ländern verbreitet.

    Die Länder die mit einer linken, sozialistischen Politik von der Sowjetunion  unterstützt wurden haben sich auch gegen die liberalen Werte gestellt. Doch sie erschufen den Liberalismus und den Kolonialismus, denn aus dem Liberalismus entsteht Kolonialismus und aus dem Kolinialismus wiederum der Liberalismus.

    Deswegen haben wir als Araber*innen und auch als Syrer*innen den Liberalismus nicht richtig kennengelernt. Auf jeden Fall nicht genug, um darüber miteinander diskutieren zu können. Zudem darf es keine Diskussionen in einem diktatorischen System geben.

    Eine Zukunft für die Freiheit

    Am Ende sehe ich eine große Chance für die syrischen Exilanten und Exilantinnen, die jetzt in einem demokratischen System leben. Im Laufe der Zeit werden sie mit Hilfe der sozialen Medien große Diskussionen in ihren Communitys anstoßen. Das Problem dabei bleibt, dass wir als Menschen den Begriff „Liberalismus” einfach als Freiheit für alle verstehen. Leider diskutieren wir aber nicht genug untereinander darüber, was unsere Definition und Geschichte mit dem Begriff ist. Wir können das schaffen, mit Geduld, Toleranz und viel, viel Bildung.

     

     

  • EuGH hat entschieden- Bedeutung für syrische Geflüchtete

    Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in senem Urteil entschieden, dass im Regelfall die Flucht vor dem Wehrdienst in Syrien doch zu einer vollen Anerkennung als Geflüchteter führen muss. Bisher haben die deutschen Gerichte lediglich den Status als subsidiär Schutzberechtigte anerkannt. Dieser Status gibt den Schutzberechtigten geringere Rechte ( z.B. im Falle des Familiennachzugs). Deshalb  klagten viele syrische Geflüchtete auf den vollen Flüchtlingsschutz. Auch der syrische Kriegsdienstverweigerer E.Z. klagte – und zog mit Unterstützung durch den PRO ASYL-Rechtshilfefonds nun erfolgreich vor den EuGH.

    Militärdienst in Syrien

    In Syrien sind Männer von 18 bis 42 Jahren wehrpflichtig, aber es werden auch Jüngere oder Ältere eingezogen. Die Wehrdienstentziehung/verweigerung ist eine Straftat und wahrscheinlich sieht die Regierung laut UNHCR  dies als politische, regierungsfeindliche Handlung an. Das kann zu schärferen Strafen als den regulär vorgesehenen Sanktionen führen. Diese Strafen können Haft, Folter und andere Misshandlungen sein, oder der Einsatz an vorderster Front ohne ausreichende militärische Ausbildung.

    Mit Beginn des Bürgerkriegs kam es zu massenhafter Zwangsrekrutierung. Deserteuren drohen lange Haftstrafen oder sogar die Todesstrafe – in der Praxis kam es oft zu direkten Erschießungen von gefassten Deserteuren.* Im syrischen Bürgerkrieg werden regelmäßig Kriegsverbrechen begangen, auch gegen Zivilist*innen.**

    Entscheidung des EuGH

    Der Europäische Gerichtshof betont nun in seiner neuesten Entscheidung die starke Vermutung, dass die Verweigerung des Militärdienstes im Rahmen eines Konflikts, der z.B. mit Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit einhergeht, einen Verfolgungsgrund wie z.B. eine politische Überzeugung darstellt.

    Man nimmt an, dass bei der Verweigerung des Militärdienstes ein starker Wertekonflikt bzw. ein Konflikt politischer oder religiöser Überzeugungen zwischen dem Betroffenen und den Behörden des Herkunftslandes vorliegt. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Kriegsdienstverweigerung hart bestraft wird.

    „Ferner sei zu beachten, dass in einem Bürgerkrieg bei fehlender legaler Möglichkeit, sich seinen militärischen Pflichten zu entziehen, eine hohe Wahrscheinlichkeit bestehe, dass die Kriegsdienstverweigerung unabhängig von den persönlichen Gründen des Betroffenen als ein Akt politischer Opposition ausgelegt wird“, so der EuGH in seinem Urteil.***

    Was können subsidiär Schutzberechtigte tun, die vor dem syrischen Wehrdienst nach Deutschland geflüchtet sind?

    Wir empfehlen allen, die vor dem syrischen Militärdienst geflüchtet sind und dies auch als Fluchtgrund bei ihrer Anhörung vor dem BAMF angegeben haben, einen subsidiären Schutzstatus erhalten haben und deren Verfahren bereits endgültig abgeschlossen sind, einen Asylfolgeantrag zu stellen.

    Diesen Antrag muss man innerhalb von 3 Monaten nach dem Urteil, also bis spätestens zum 18.2.2021 stellen. Dafür muss man persönlich zur Außenstelle des BAMF, wo auch das erste Asylverfahren lief. (§ 71 Abs.2 Asylgesetz). Dies gilt auch, wenn zwischen dem ersten Asylverfahren und einem Nachfolgeantrag ein Umzug stattgefunden hat. Existiert die Außenstelle nicht mehr, muss man den Folgeantrag schriftlich beim BAMF in Nürnberg stellen. Der Asylfolgeantrag muss grundsätzlich die aktuelle Anschrift der antragstellenden Person sowie eine Begründung enthalten. Zur Begründung sollte man die folgenden beiden Urteile anführen:

    EUGH Urteil C-238/19 vom 19.11.2020***

    EUGH Urteil C-924 und 925/19 PPU vom 14.5.2020****

    Coronabedingte Einschränkungen

    Um den infektionsschutzrechtlichen Vorgaben auch bei Folgeantragstellungen gerecht zu werden, nehmen die Außenstellen die Anträge schriftlich entgegen. In diesem Fall erhalten Antragstellende eine Ladung zur ED-Behandlung. Die Außenstelle prüft in eigener Zuständigkeit, ob eine persönliche Folgeantragstellung möglich ist. Ist dies der Fall erhält die antragstellende Person einen Ladungstermin zur persönlichen Folgeantragstellung. Wenn bei der Außenstelle eine persönliche Folgeantragstellung nicht möglich ist, sieht man den schriftlichen Folgeantrag als wirksam an.

    Noch ist unklar, wie die deutschen Gerichte und auch das BAMF reagieren werden. Dennoch schadet ein Asylfolgeantrag auf keinen Fall und bietet die Chance, eine Flüchtlingsanerkennung zu erhalten. Es kann auch sein, dass das BAMF die Anträge trotz des Urteils erst einmal ablehnen wird. Dann kann immer noch vor dem Verwaltungsgericht Klage erhoben werden.

    Auf jeden Fall ist das Urteil des EuGH ein richtiger Schritt bei der Anerkennung von syrischen Geflüchteten, die den Wehrdienst in ihrem Herkunftsland verweigert haben.

    *Quellen: UNHCR, Schweizerische Flüchtlingshilfe, adopt a revolution

    ** Quellen: Amnesty International

    ***curia.europa.eu

    ****curia.europa.eu

  • Leitkultur bedeutet Toleranz

    “Handschlag verweigert – Libanese darf kein Deutscher werden” : so heißt ein Artikel, den die Bild Zeitung veröffentlicht hat. Zur Zeit der Veröffentlichung wurde der Fall nicht viel diskutiert. Aber als der Telegraph diesen Artikel auf Arabisch übersetzte, wurde zumindest auf der arabischen Sprache sehr viel darüber diskutiert und auch gestritten. Viele Kommentare sind dafür und viele dagegen. Unser Autor Hussam Al Zaher hat sich intensiv mit diesem Zeitungsartikel beschäftigt.

    Wo fängt Leitkultur an?

    In dem Fall geht es um einen Mann aus dem Libanon, der 2002 nach Deutschland einreiste, hier ein Medizinstudium machte und mittlerweile Oberarzt an einer Klinik ist. 2012 entschied sich der Mann, die Einbürgerung zu beantragen. Also nach 10 Jahren in Deutschland, wo er lebte, arbeitete und Steuern zahlte. Für die Einbürgerung hat er alle Prüfungen bestanden, er hat auch unterschrieben, den Extremismus abzulehnen und sich zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu bekennen. 2015, als er die Urkunde bekommen sollte, verweigerte er der Beamtin einen Handschlag zur Begrüßung. Nun durfte er keinen deutschen Pass bekommen, es wurde keine Einbürgerungsurkunde ausgehändigt. Zu seiner Verteidigung erklärte der Mann, dass er seiner (deutsch-syrischen) Ehefrau versprochen hatte, nur ihre Hand zu nehmen.

    Seit dem ist dieser Fall vor Gericht. Am 20. August 2020 hat nun das Verwaltungsgericht des Landes Rheinland-Pfalz geurteilt: “Die „innere Einstellung“ des Mannes gewährleistet nicht, dass er sich in die deutschen Lebensverhältnisse einordne. Die Klage auf Einbürgerung wird abgelehnt, jetzt wird wohl das Bundesverwaltungsgericht mit dem Fall beschäftigt.”

    Wie kam diese Meldung in den arabisch-sprachigen Communities an? Verweigert der Mann deutsche Werte? Oder ist es ein Fall von Diskriminierung seitens der Behörden? Ich kann hier nur von der syrischen Community berichten, die natürlich genau so vielfältig und unterschiedlich ist wie die Menschen selber. Trotzdem beobachte ich oft in Facebook Diskussionen, wie sich die Kommentatoren in zwei Gruppen aufteilen. Diese möchte ich etwas mehr beschreiben.

    Zwei Gruppen von Syrer*innen

    Eine Gruppe respektiert und akzeptiert die neue, europäische Kultur und gleichzeitig kritisiert sie ihre alte, zurückgelassene Kultur. Sie tut das nicht nur, weil sie sich in die neue Gesellschaft integrieren möchten, sondern auch weil sie an diese neuen Werte richtig glauben. Menschen, die nach dieser Gruppe kommentieren, stellen sich meistens gegen die andere Gruppe: Die konservativen Syrer*innen, die so schreiben, als wären sie noch in Syrien. Diese zweite Gruppe zeigt, dass sie nur wenig von der „neuen“ Kultur akzeptieren möchten. Sie kritisieren vieles Neue, von deutschem Gemüse bis zur europäischen Politik.

    Ich weiß nicht, ob hier „konservativ“ oder „links“ die richtigen Beschreibungen sind, da wir in Syrien nicht von politischen Richtungen sprechen können, so wie hier in Deutschland. Dazu kommt, dass die Geschichte von linken Gedanken in Syrien eine sehr andere Entwicklung durchgemacht hat, als in Europa und Deutschland.

    Ich schreibe also zur Einfachheit, dass die erste Gruppe sich eher links positioniert. Vor allem, wenn es um Muslime in Europa geht. Gläubige Menschen werden von dieser Gruppe als sehr konservativ gesehen. Vielleicht ist es auch so. Es könnte auch sein, dass die Menschen dieser linken Gruppe in der neuen Kultur gefunden haben, was sie brauchen, und sie sind stolz darauf. Sie haben jetzt Freiheit, Demokratie und Meinungsvielfalt gefunden. Sie sehen sich als Teil der neuen Gesellschaft und suchen Abstand zu dem Leben früher in Syrien.

    Spielt hier etwas verinnerlichter Orientalismus („internalised orientalism“) eine Rolle? Vielleicht. Oder vielleicht möchten viele junge Menschen einfach nicht zur zweiten, eher konservativen Gruppe gehören. Denn viele Menschen aus dieser zweiten Gruppe zeigen nach außen, dass sie nicht ihre Gedanken verändern möchten. Sie schreiben oder sagen, dass ihre „Mutterkultur“ und Werte besser sind als die, der neuen Heimat Deutschland. So möchten sie das behalten. Natürlich ist Angst, Unsicherheit und das Gefühl von Fremdsein ein Faktor. Manche fühlen sich im Exil nicht nur fremd im neuen Land, sondern sie fühlen sich auch innerlich fremd und zerstritten.

    Viel mehr als ein Handschlag

    Nun zurück zum ursprünglichen Bericht und die Diskussionen auf Facebook. Zum Kontext gehört auch zu sagen, dass Facebook für die meisten Syrer*innen so etwas wie ein Community Treffpunkt, wie ein digitales Café ist. Hier treffen sich Syrer*innen aus aller Welt und diskutieren miteinander. Dabei lassen sich wie gesagt zwei Gruppen beobachten.

    In dem Fall des libanesischen Oberarztes lief es so: die erste Gruppe äußerte sich für die Entscheidung, dem Mann keine Einbürgerung zu erlauben. Sie finden, dass das was die Beamtin gemacht hat, richtig war. Denn wenn Männer einer Frau nicht mit Handschlag grüßen, ist dies respektlos gegenüber den Frauen und der Freiheit. Diese Männer stellen sich gegen Integration. Deswegen dürfen sie auch keinen deutschen Pass bekommen. Und sie sagen: Wenn die Leute zwar die deutschen Werte akzeptieren, aber die deutsche “Leitkultur“ nicht, (viele neue Syrer oder Syrerinnen wissen nicht was dieser Begriff bedeutet und was hier in Deutschland damit gemeint ist) dann dürfen sie hier auch nicht leben. Sie fragen: Warum kommen diese Menschen hierher? Manche sagen sogar, dass so konservative Menschen hier nicht leben sollten.

    Die Menschen der anderen, zweiten Gruppe sprechen sich natürlich gegen das Urteil aus. Sie finden, was der Mann gemacht hat, ist fair. Und sie behaupten, dass die Deutschen insgesamt eine Doppelmoral haben. Wieso haben Menschen nicht die Freiheit, nicht die Hand zu geben? Viele kritisieren auch gleich die gesamte westliche Welt, weil sie wohl gegen den Islam und gegen ihre Lebensart sind.

    Beide Gruppen haben auch ihre YouTuber, Social Media Influencer und Facebook Gruppen. So wurde sehr viel diskutiert und kommentiert – aber ohne dass die meisten Deutschen das lesen oder hören werden.

    Fragen und Fazit der Geschichte

    Dieser Fall wirft viele Fragen auf. Zum Beispiel: Wie wurde bewiesen, dass der Arzt kein Verständnis und Respekt für die deutsche Verfassung und ihre Grundrechte zeigt? Ist ein Handschlag eine kulturelle Gewohnheit oder ein Grundwert, hinter dem viele andere Werte stehen?

    Ich meine, ein Gericht hätte auch die Kolleg*innen, Nachbar*innen und auch Patient*innen des Arztes fragen sollen, ob er sich gegen das deutsche Grundgesetz verhält. Oder er ist nur ein Mensch, der seine Kultur auch hier in Deutschland umsetzen möchte.

    Das führt zu der großen Frage, wie viel Freiraum haben nicht-deutsche Kulturen in der deutschen Gesellschaft? Der ehemalige Innenminister Thomas de Maizière (CDU) hat den Handgruß als Symbol für Leitkultur beschrieben, zufällig auch in der Bild Zeitung. Obwohl weder Leitkultur noch Handschlag im deutschen Grundgesetz erwähnt sind. Aber gehört es zu Deutschland, oder kann man diese Sache auch unterschiedlich verstehen?

    Außerdem zeigt dieser Fall, dass viele Syrer*innen sehr stark und emotional auf das Thema reagieren, genau so wie wenn Deutsche darüber diskutieren. Zum Teil habe ich Kommentare von Syrer*innen gelesen, die konservativer (oder radikaler?) als viele Deutsche waren.

    Ich kann diese Art zu Streiten zwischen Syrer*innen wegen dieser Geschichte gut verstehen. Und ich kenn diesen Streit zwischen nicht-gläubigen und Muslimen, oder zwischen Linken und Rechten aus Syrien. Streit ist fast immer gut, wenn sich beide Seiten nicht beleidigen, sondern offen für eine neue Perspektive sind und an einer gemeinsamen Lösung interessiert sind. Aber leider ist das nicht der Fall, wenigstens nicht in den Facebook Diskussionen die ich gelesen habe. Dort wird nur für oder gegen diskutiert, es gibt keine Mitte oder Kompromisse. Auch das kann ich verstehen, weil ich weiß, wie viele Syrer*innen wie ich in einem diktatorischen System aufgewachsen sind. Viele von uns kennen es so, dass es nur eine Perspektive geben kann und alles andere war falsch, ungläubig oder ein Affront.

    In diesem Fall fehlt auf vielen Seiten die Toleranz, die für mich Leitkultur ist. Wir alle sollten Toleranz lernen und umsetzen – als Syrer*innen und auch als Bürger*innen im demokratischen Deutschland.

     

    Mitarbeit: Lilly Murmann

  • „Syrien braucht unsere Hilfe“

    Draußen ist es kalt und stürmisch, von der Sonne ist nichts zu sehen. Ein typischer, verregneter Tag Ende Oktober. Das bunte Laub sammelt sich auf dem Weg, fällt langsam von den immer kahler werdenden Bäumen, rötlich und gelblich gefärbt, Farbkleckse in dem tristen, grauen Nebel. Der rostbraune Container auf der Straße fällt sofort auf. Er wirkt riesig, geräumig, weitläufig.

    Hilfsgüter für Syrien

    Der Platz vor dem alten Bunker in Wedel füllt sich nach und nach mit Menschen. Darunter sind viele Syrer, die in dicke Jacken mit wärmenden, langen Schals und Handschuhen gekleidet sind. Sie alle sind heute zusammengekommen, um Hilfsgüter in ihre Heimat zu schicken. Die Freie Deutsch Syrische Gesellschaft organisiert die Aktion in Kooperation mit Hanseatic Help.

    „Wir sind hier, um diesen Container mit medizinischen Geräten und Krankenhausbetten zu füllen. Es handelt sich bei den Sachen um Spenden von Krankenhäusern hier in der Gegend. Ich denke, er wird in circa zwei Wochen in Idlib ankommen“, beginnt Hassan Ied von der Freien Deutsch Syrischen Gesellschaft das Gespräch mit unserer Zeitung. Ied kommt selber aus Damaskus. Er hat in Deutschland Humanmedizin studiert und lange Zeit als Arzt gearbeitet. Sein Verein wurde 2012, im zweiten Jahr der syrischen Revolution, gegründet. Er ist eine unabhängige Non-Profit-Organisation und steht für Freiheit und Vielfalt, für Gleichberichtigung, Freundschaft und Frieden. Diese Werte fehlen in Syrien.

     Die humanitäre Lage in Syrien

    Laut der UN sind über 13 Millionen Menschen in Syrien auf humanitäre Hilfe und Schutz angewiesen, Tendenz steigend. Doch viele dieser Menschen leben in Regionen, die für Hilfsorganisationen schwer zu erreichen sind. In den belagerten Zonen sind viele Syrer von der Außenwelt abgeschnitten. Die internationale Hilfe kann nicht richtig greifen. Sowohl das syrische Regime als auch Terrororganisationen wie Al-Quaida oder der IS behindern ihre Arbeit. Nach fast zehn Jahren Krieg ist die Grundversorgung der Menschen vor Ort nicht mehr gewährleistet. Hunger, Krankheiten und Tod gehören zum syrischen Alltag. Besonders Krankenhäuser wurden im Laufe des Krieges immer wieder Ziele der Bombardements.

     Die angespannte Lage in Idlib

    Besonders kritisch ist die Situation in Idlib.

    „Momentan ist die Lage in Idlib zwar ruhig, aber keineswegs stabil. Die Kämpfe können jederzeit wieder losgehen“, erläutert Ied während er ein Bett mit Kabelbindern zusammenbindet. Mittlerweile haben die Helfer die ersten dieser Krankenhausbetten mit Hilfe eines Gabelstaplers in das Innere des Containers verfrachtet. Währenddessen transportieren andere immer mehr Geräte aus dem Bunker nach draußen. Es sind Wortfetzen auf Arabisch zu hören, die mit dem Schnaufen der hart schuftenden Männer vermischt sind. Viele haben ihre Jacken ausgezogen, arbeiten jetzt im T-Shirt und geraten trotz der Kälte ins Schwitzen. Es ist ein Kraftakt, die sperrigen und klobigen Betten heil in den Container zu bekommen.

    „Ich helfe hier heute mit, weil ich meinen Landsleuten helfen will. Ich habe Angst um meine Heimat, komme selber aus Idlib, wo die Situation immer mehr eskaliert“, erzählt ein junger Mann, während er sich mit der rechten Hand den Schweiß von der Stirn wischt, „Idlib braucht unsere Unterstützung und zwar jetzt“.

    Idlib ist mit circa 165.000 Einwohnern die Hauptstadt des Gouvernements Idlib im Nordwesten von Syrien. 2015 wurde Idlib durch die von der Türkei gegründeten islamistischen Gruppe Dschaisch al-Fatah in schweren Kämpfen und innerhalb kürzester Zeit eingenommen. Im März hatten Russland und die Türkei die Waffenruhe für die syrische Rebellenhochburg ausgehandelt. Allerdings habens sie sich nicht an ihr Abkommen gehalten: Am 26. Oktober griffen russische Kampfjets eine von der Türkei unterstützte Miliz an. Hierbei starben mehr als 50 Menschen, darunter viele Zivilisten, weiter 50 wurden verletzt, zum Teil schwer.

    Gespräch mit dem Journalisten Adil

    „Das muss aufhören“, sagt Adil (Name auf Wunsch von der Redaktion geändert). Adil möchte ungern mit seinem richtigen Namen genannt werden, schätzt die Anonymität. Der Fotograf und Journalist kommt aus Damaskus und ist in größter Sorge um sein Heimatland.

    „Es gibt so gut wie keine medizinische Versorgung mehr in dem Gebiet um Idlib, die Krankenhäuser wurden fast alle zerstört, die Menschen sind hilflos, viele haben durch die Bombardierungen Arme und Beine verloren. Jetzt kommt der Winter, das macht alles noch schlimmer. Wissen Sie, der Winter in Syrien ist nicht so wie hier, nein, er ist kalt, richtig bitter, bitter kalt. Ich mache mir Sorgen um meine Landsleute: Wo sollen sie schlafen, was sollen sie essen?“, sagt Adil und in seiner Stimme klingen Trauer und Verzweiflung mit, aber auch Wut und Aufregung.

    „Das Assad-Regime muss weg, nur dann kann Frieden entstehen. Und Russland, der Iran, die USA und die Türkei müssen verschwinden. So wie die Konstellation momentan ist, ist ein Frieden für Syrien unmöglich“, ergänzt Adil. Er packt seine Canon aus der Tasche, entfernt den Objektivdeckel, hält die Kamera vor seine Augen und schießt ein paar Fotos. Das sind Fotos von helfenden Händen, von Syrern, die mit anpacken, voller Motivation und Tatendrang. Fotos von medizinischen Geräten, von Krankenhausbetten, Sonografiegeräten und Röntgenapparaten. Adil ist Zeitzeuge, dokumentiert die Geschehnisse um sich herum mit seiner Kamera. In Syrien hat er deswegen Probleme bekommen und ist in Schwierigkeiten geraten.

    Adil über seine Arbeit in Syrien

    „Ich habe eine Reportage über die Geschehnisse in Damaskus gemacht. Dann kamen sie zu meiner Wohnung, haben meine Frau gefragt, wo ich bin. Mein Name stand auf einer Liste. Auf dieser Liste stehen die Namen von denjenigen, die inhaftiert werden sollen. Das war im Jahr 2011. 2013 bin ich dann in die Türkei geflüchtet“, ergänzt Adil. Mehr will der sympathische Reporter mit der angenehm melodischen Stimme zu diesen Geschehnissen nicht sagen.

    Es fängt an zu nieseln und die Kälte dringt langsam durch die Kleidung. Adil zieht den Reisverschluss von seiner Jacke zu, reibt seine Hände gegeneinander, die Kamera baumelt über seiner rechten Schulter.

    „Mein Land, meine Heimat ist krank und ich hoffe so sehr, dass es wieder gesund wird. Aber nach fast zehn Jahren Krieg gibt es eigentlich keine Hoffnung mehr. Und trotzdem wünsche ich mir so sehr, dass die Menschen dort endlich frei werden, dass wir eine neue Regierung bekommen und mit dieser neuen Regierung auch Demokratie. Ich glaube, nein, ich bin mir sicher, dass alle syrischen Flüchtlinge sofort in ihr Land, in ihre Heimat zurückkehren würden“, äußert sich Adil leise, mit Bedacht.

    Der Arabische Frühling in Syrien

    Seit den ersten Protesten im Frühjahr 2011 im Zuge des Arabischen Frühlings befindet sich Syrien in einem Bürgerkrieg. Die blutigen Auseinandersetzungen zwischen Assad-treuen Truppen, örtlichen Rebellengruppen und später dem IS hören nicht auf. Auslöser für diese Konflikte war ein zunächst friedlicher Protest gegen das autoritäre Regime von Präsident Baschar al-Assad. Zunehmend findet der syrische Bürgerkrieg  jedoch unter Beteiligung von Drittstaaten statt. Die Bündnispartner Assads – der Iran und die vom Iran unterstützte libanesische Hisbollah-Terror-Miliz und Russland mit seinem Militäreinsatz – machten aus dem Kampf innerhalb Syriens schnell einen regionalen Stellvertreterkrieg.

    Die Bildung eines internationalen Bündnisses unter der Führung der Vereinigten Staaten gegen den IS verstärkten diesen Effekt noch. Unter anderem kämpft der schiitische Iran gegen das sunnitische Saudi-Arabien und Katar, und Russland und die USA um die Vormacht in der Region. 2016 griff die Türkei mit ihrer Militäroffensive in Nordsyrien massiv in den Konflikt ein.

    Der Einfluss von Russland, dem Iran und der Türkei

    Assad und seine Familiendynastie sowie das ihn stützende Machtsystem können nicht ohne die militärische Hilfe Russlands und des Irans überleben. Moskau und Teheran sind die wichtigsten Verbündeten Assads.

    Seit November 2019 versucht der UN-Sondergesandte zu Syrien, Geir Pedersen, ein syrisch-syrisches Verfassungskomitee zusammenzubringen. Das Ziel ist, dass die Regierung, die Opposition sowie Vertreter der Zivilgesellschaft unter Schirmherrschaft der Vereinten Nationen eine neue Verfassung diskutieren sollen.

    Die politischen Bemühungen in Syrien gestalten sich jedoch als sehr komplex. Russland, der Iran und die Türkei versuchen mit dem Astana-Format, wichtige Bereiche des Friedensprozesses von der UNO abzuziehen um den eigenen Einfluss zu stärken. Mit dem Astana-Prozeß haben die drei Staaten eine Plattform für Verhandlungen über die Zukunft Syriens geschaffen. Dieses Gesprächsforum hat auch erreicht, die Streitthemen dieser drei Garantiemächte zu kanalisieren.

    „Die EU sowie die meisten europäischen Staaten machen ihre Hilfe und Unterstützung für Syrien abhängig von politischen Reformen. Reformen, die beispielsweise Sicherheit für die Rückkehr von Flüchtlingen schaffen sollen. Assad hat bis dato jedoch jedes Entgegenkommen abgelehnt“, fährt Adil fort.

     Ein Mittagessen für die Helfer

    Inzwischen ist es Mittag geworden. Viele der Betten und der medizinischen Geräte sind in dem Container verstaut, aber es gibt dennoch viel zu tun für die freiwilligen Helfer. Doch erstmal ist es an der Zeit, etwas zu essen. Alle sind nach der anstrengenden Arbeit durstig und hungrig, müssen sich kurz ausruhen und neue Kraft tanken. Es gibt typisch syrisches Essen: Reis mit Hähnchen und Gemüse aus dem Ofen, dazu einen frischen, gemischtem Salat. Nach und nach gehen die Anwesenden in die große, geräumige Küche im Innersten des Bunkers, nehmen sich einen Teller und Besteck, dann füllen sie ihn mit dem wunderbar duftenden Essen. Gespeist wird draußen an der frischen Luft, auf Holzstühlen, die Teller auf den Knien.

    „Meine ganze Familie ist noch in Syrien, mein Vater, meine Mutter und meine Schwester. Ich mache mir große Sorgen. Doch ich hatte auch Glück, ich konnte meine Frau und meine vier Kinder hierher nach Deutschland holen, ich habe eine Familienzusammenführung gemacht, Gott sei Dank hat das geklappt. Gerade für Frauen ist die Situation in Syrien nicht tragbar. Und trotzdem hoffe ich inständig, dass sich die Situation in meiner Heimat entspannt, dass Ruhe einkehrt“, ergänzt Adil während er isst.

    Die syrischen Friedensbemühungen

    Die Friedensbemühungen in Syrien begannen Anfang 2017 mit der Errichtung von acht Deeskalationszonen. Hinzu kamen Aushandlungen über regionale Waffenstilstände und Versöhnungsabkommen. Dieser Prozess wurde 2018 auf einer syrisch-syrischen Versöhnungskonferenz im russischen Sotschi fortgesetzt. Sieben dieser Deeskalationszonen wurden vom syrischen Regime ohne größeren türkischen, amerikanischen oder anderen westlichen Widerstand zurückerobert.

    Anfang 2020 stieß die russisch-türkische Einigkeit in der syrischen Provinz Idlib an ihre Grenzen. Die letzte Deeskalationszone wurde durch heftige Bombardements der syrischen Armee mit russischer Unterstützung zerstört und mehrere hunderttausend Zivilisten wurden in Richtung Norden vertrieben. Daraufhin schloss die Türkei ihre Grenzen. Dies führte zu einer erneuten humanitären Katastrophe, die bis heute andauert.

    [modula id=“17291″]

    Die Zerstörung der medizinischen Infrastruktur

    „Wir müssen handeln und zwar jetzt. Syrien braucht unsere Hilfe. Die Ausbreitung des Covid 19 Virus verschärft die ohnehin schon angespannte Lage massiv“, sagt Adil und seine Stimme klingt dabei aufgeregt, wenn nicht sogar aufgebracht.

    Die medizinische Infrastruktur in Idlib ist in den vergangenen Jahren größtenteils durch Luftangriffe der eigenen Regierung und Russlands zerstört worden. Die wenigen verbliebenen, funktionsfähigen Krankenhäuser verfügen über eine mangelnde Ausstattung an Geräten, Medizin und Personal.

    „Genau deswegen müssen wir etwas tun, wir sind jetzt aufgefordert, zu handeln. Gerade in Idlib leben die Menschen unter desaströsen, hygienischen Umständen. Sie brauchen Schutz, sie brauchen Hilfe“, erzählt Adil und jetzt schwingt Trauer in seiner Stimme mit.

    „Wir geben die Hoffnung für Syrien nicht auf. Niemals.“, sagt Adil zum Abschluss.

    Und genau das ist der Grund, warum an diesem grauen, tristen Samstagvormittag so viele Menschen zusammengekommen sind, um Hilfe in das von Krieg gebeutelte Syrien zu schicken. Der Nieselregen hält immer noch an und auch der Nebel ist noch nicht endgültig verschwunden. Und trotzdem zeigt sich am Himmel ganz, ganz kurz die Sonne zwischen den Wolken.

    Quellen:

    caritas-international.de

    awointernational.de/

    bpb.de

  • zu.flucht-Podcast: Mit Humor gegen Vorurteile

    In unserer ersten Folge war Allaa Faham zu Gast im Studio. Der Youtube-Star kämpft mit seinem Kanal German Lifestyle gegen Vorurteile und macht sich gemeinsam mit seinem Kollegen Abdul Abbasi über sowohl die syrische als auch die deutsche Kultur lustig. Im letzten Jahr haben sie ein Buch geschrieben: „Eingedeutscht – die schräge Geschichte unserer Integration“. Eine Kostprobe gibt es bei uns im Podcast!

    Außerdem haben wir uns mit dem Thema der Kurden in Rojava beschäftigt und mit Ramazan Mendanlioglu gesprochen. Er promoviert an der Uni Hamburg zur Geschlechtergerechtigkeit und der direktdemokratischen Selbstverwaltung in Rojava, Nordsyrien.Ihr hört uns auf Spotify, Youtube, Soundcloud und i-Tunes! Wenn ihr Fragen, Anmerkungen oder Themenvorschläge für die nächsten Folgen von „Multivitamin“ habt, schreibt uns gerne unter podcast@flüchtling-magazin.de!

    Das Multivitamin-Team: Cheung Chi Chung, Jannik Schulz, Lilli Janik, Natalja Starosta, Steffen Kahl und Suna Yilmaz

    Unser Podcast wird realisiert durch ein Projekt am Institut für Kultur- und Medienmanagement Hamburg. Wir danken außerdem für die finanzielle Unterstützung von Harvest Moon und für die Bereitstellung des Studios durch das SAE Institute Hamburg!

  • Wir sind zum Hoffen verdammt

    Sie widerstand den Folgen ihrer Krankheit ganze 50 Jahre lang. Doch als die Revolution begann, musste sie abermals den Schmerz des Verlustes ertragen, der nach und nach ihre Familie heimsuchte in den letzten Tagen von Assads Krieg, gegen ihr Dorf im Süden Syriens, nahe der Stadt Idlib.

    Ahlam konnte ihre Teenagerzeit nicht ausleben. Sie wurde als Kind in das Haus ihres Ehemanns gebracht, als sie gerade 15 geworden war, ohne jemals High Heels ausprobiert zu haben, ohne dass jemals ein Mann seinen Arm um ihre Taille gelegt hatte auf einer der lauten Partys, von denen die Männer in ihrem Dorf sprachen, wenn sie aus der Stadt zurück gekommen waren.

    Vielleicht hatte sie nie ein Wort mit irgendeinem fremden Jungen vor ihrer Schule gewechselt. Sie hatte Tanzmusik nie auf einer Party gehört, sondern nur über ein Radio, welches gleichzeitig die großen Siege von Al Assads Armee über die Muslimbrüder in den 80gern des letzten Jahrhunderts verkündete.

    Obwohl ihr Dorf nach diesem Krieg, der Tausende getötet hatte, komplett zerstört war, funktionierte ihr Radio immer noch bis in die ersten Jahre der Revolution hinein, als die Dorfbewohner sich gegen den Präsidenten auflehnten und weitere Zerstörungen und Plünderungen folgten.

    Ahlam, die Großmutter, hatte neun Kinder und 20 Enkel. Die meisten von ihnen lebten mit ihr in einem großen, alten Haus, das aus Lehm gebaut war. Das Haus wurde im Laufe der Jahre unzählige Male umgebaut, abgesehen vom Zimmer der Großmutter, welches unverändert blieb, bis das Haus schließlich unter seinem alten Holzdach zusammenbrach. Die Wände waren mit Kalkfarbe gestrichen, die normalerweise zum Bemalen der Bäume genutzt wurde.

    „Die Großmutter hatte nie Lesen gelernt, bis auf ein paar Zeichen, die über den Ruinen der Stadt angebracht wurden“

    Außerdem hing dort ein Bild ihres Mannes, dessen Schicksal ungeklärt blieb. Er war vor einem Vierteljahrhundert eingesperrt worden mit der Begründung, er wäre ein islamischer Soldat, der gegen die Al Baath Partei gekämpft hätte, um diese zu stürzen. Das hatte Ahlam niemals glauben können, denn sie kannte ihren Mann durch und durch. Sie wusste, dass sein größter Traum gewesen war, sein altes, schwaches Pferd durch ein junges, kräftiges zu ersetzen, damit er es leichter hätte, den trockenen Boden zu pflügen.

    Die Großmutter hatte nie Lesen gelernt, bis auf ein paar Zeichen, die über den Ruinen der Stadt angebracht wurden. Sie sammelte diese Zeichen und dekorierte ihr zerstörtes Zimmer damit nach den Freitagen, an denen die Dorfbewohner demonstrierten und den Sturz von Al Assad forderten.

    Sie kannte weder die Theorien über sozialen Umbruch, die zur Revolution geführt hatten, noch wusste sie, was diktatorische Macht in dörflichen Gemeinden anrichten kann. Sie dagegen hatte mit ihren holzigen Fingern gespürt, wie Menschen langsam einen langen Tod sterben und wie es sich anfühlte, wenn die Bomben auf ihr Dorf fielen und das Gemetzel sich auf den Gesichtern ausbreitete. Sie wusste, was es hieß, wenn ein Kind nur aus dem Grund weinte, weil es seine Familie durch den Bombenstaub nicht sehen konnte. Und mit dem Herz einer Großmutter hob sie immer wieder ihre Hände zum Himmel, um zu beten und den Unterdrücker bzw. den kleinen Teufel, wie sie ihn nannte, anzuklagen.

    Ebenso hatte sie nie einen der modernen Züge gesehen, von denen ihr Enkel immer sprach, wenn er sie einmal im Monat auf ihrem alten Telefon anrief. Diese Züge, die er in den fernen Ländern sah, in denen er als Flüchtling während des Krieges gelandet war. Sie kannte auch nicht die Art von nachhaltiger Entwicklung, die sich in diesen Ländern ausbreitete, wo alle Menschen Arbeit hatten, sodass die Armut verschwand.

    Der Grundstein für das erste mobile Zivilkrankenhaus

    Seit Kriegsbeginn ging sie hingegen auf ihren eigenen Füßen zu den Treffen mit anderen Großmüttern, welche die gleichen Erinnerungen an den ersten Krieg in den 80ern hatten. Entschlossen gab sie vor, was in den nächsten Tagen zu tun war.

    Innerhalb weniger Monate schaffte sie es, Heilkräuter zu sammeln und zu kultivieren, die in den Bergen nahe dem Dorf wuchsen. Sie benutzte die Kräuter, um Kinder zu behandeln, die an den Folgen der Flucht aus ihren Dörfern, dem Fieber und der Kälte, litten. Auch ältere Männer und Frauen behandelte sie mit den Heilkräutern. Nach und nach säten Ahlam und ihre Enkelin, die den gleichen Namen trug, die ersten Samen, welche den Grundstein für das erste mobile Zivilkrankenhaus bildeten. Dieses Krankenhaus sollte in den folgenden Jahren der Revolution eine wichtige Rolle spielen.

    Ahlam, die Enkelin, bildete auch junge Menschen ihres Dorfes in Erster Hilfe aus. So konnten sie den Kriegsopfern und den verletzten Kämpfern helfen, die aus dem Krieg zurück kamen mit amputierten Beinen oder anderen Körperteilen, die den Bomben von Assad zum Opfer gefallen waren.

    Durch das Wissen ihrer Vorväter, wie man dem Tod am besten entgegentritt, hatte Ahlam, die Großmutter, eine entscheidende Rolle, wenn es darum ging, die Schmerzen der Sterbenden zu lindern. Diese wurden auf schmalen weißen Tüchern zum zivilen Krankenhaus gebracht, welches sich im Innern einer Berghöhle befand. Ahlam rezitierte für die Sterbenden aus ihrem reichen Schatz an religiösen Gesängen mit der einfühlsamen Stimme einer Großmutter und sie flüsterte ihnen das Versprechen ins Ohr, sich um ihre Familien und Kinder zu kümmern.

    Wenn der Tod dann gekommen war, versammelte sie die Frauen des Dorfes, um das Grab vorzubereiten. Der Name des Verstorbenen wurde auf einen Baumstamm geschrieben und dieser neben das Grab gepflanzt, welches Ahlam von Zeit zu Zeit besuchte. Sie bat außerdem ihre Enkelin, Buch zu führen über alle Verstorbenen, um die sie sich im Namen ihrer Familien kümmerte.

    Sie  gab ihr Grab in den Revolutionsjahren auf

    Da der Tod ein häufiger Besucher in ihrem Dorf war, entschied Ahlam, ihre Arbeit stärker zu organisieren. Zu diesem Zweck gab sie ihrer Enkelin die Namen der Verstorbenen und auch Informationen zu den Todesursachen. Sie fing an, von der spärlichen Ernte auch noch etwas für die Hinterbliebenen abzuzweigen und nähte mit den anderen Dorfbewohnerinnen Kinderkleidung. Sie sammelte auch gebrauchte Kleidung und schickte diese mit den jungen Revolutionskämpfern in andere Dörfer.

    Ahlam hatte einmal in ihrem Leben zusammen mit ihrem Ehemann die Stadt besucht, als sie noch jung war. Bei diesem Besuch hatte sie eine ihrer Brüste verloren in einem der Krankenhäuser von Damaskus. Als sie damals in ihr Dorf zurückkehrte, schwor sie, es nie wieder zu verlassen und monatelang grub sie ihr eigenes Grab und dachte, dass der Tod sie schnell ereilen würde.

    Allerdings gab sie ihr Grab in den Revolutionsjahren auf und begrub stattdessen dort amputierte Gliedmaßen, die sie sanft bettete. Oft lag sie dann hinter dem größten Grab und wünschte sich, dass ihr Körper als Ganzes beerdigt würde. Sie dachte, sie werde ihre Hand als Tote brauchen, um ihre Tränen abzuwischen. Sie erzählte ihrer Enkelin oft vom Weinen der Toten und den uralten Legenden, die besagen, dass die Toten lange weinen und man Blumen auf ein Grab stellt, um dem Tod zu helfen, all die Tränen zu trinken.

    In den ersten Monaten der Revolution musste Ahlam, die Großmutter, viele Verluste erleiden, nachdem drei ihrer Söhne bei Massendemonstrationen festgenommen worden waren. Die Sicherheitskräfte hatten in die Masse geschossen, um die Demonstranten auseinander zu treiben und sie leichter festnehmen zu können. Nach mehreren Monaten kam einer von Ahlams Söhnen als lebloser Körper zurück aus der Haft. Dann verlor sie auch die Familie ihres jüngsten Sohnes, als Al Assads Armee eine Bombe über ihrem Haus abwarf. Seitdem lief sie immer wieder durch die Straßen, um zu überprüfen, wie es den Familien ihrer anderen Söhne ging.

    Die Revolution floss in Ahlams Blut

    Die Revolution floss in Ahlams Blut und so floss auch Ahlam in der Revolution. Wie bei allen syrischen Muttern, so hatte der Tod auch Ahlams Herz gebrochen und sie gezwungen, auf Friedhöfen zu leben und in engen Gassen zu gehen, die zu ihrem Dorf führten. Durch ihre Krankheit hatte Ahlam auf harte Weise gelernt, dass der Schmerz nur den schwachen Körper angreift, um ihn zu töten und dass die Hoffnung nur wirklich inspirieren kann, wenn sie von der schwachen Stimme aus den Tiefen der Seele kommt und man diese Stimme stärkt und sie mit dem Gold des Lebens umgibt.

    Ahlam nahm die Lektionen ihres Lebens mit in Al Assads Gefängnis, wo sie für zehn Tage eingesperrt wurde. Als sie von einer Sicherheitsstelle zur nächsten gelaufen war, um herauszubekommen, wo ihre Söhne sein könnten, fand sie sich schließlich selbst gefangen in einer winzigen Zelle wieder. Die von oben bis unten beschriebenen Wände des Raums gaben ihr eine bedrückende Vorstellung davon, wie viele Menschen hier schon vor ihr gefangen waren. Ohne auch nur ein Wort des Geschriebenen lesen zu können, verstand sie, dass Hoffnung eine historisch belegte Wahrheit ist und über alles herrscht und jedem zugänglich ist, der ihr folgt und ihr alles opfert, was er hat.

    Ahlam wurde mit großen Schmerzen in ihren Beinen, aber ruhmreich, aus ihrem einsamen Gefängnis entlassen. Da sie mehr Schmerzen als früher hatte, reduzierte sie ihre täglichen Pflichten ein wenig. Sie stand früh morgens auf und sah nach ihren Bäumen und Heilkräutern. Nachmittags besuchte sie die zerstörten Häuser ihrer Söhne, da ja ihr großes Haus eingestürzt war.

    Die Abende verbrachte sie damit, die Umzüge der Familien zu überwachen, die in ihr Dorf oder nach außerhalb zogen. Oft saß sie auch vor ihrem zerstörten Haus auf einem kleinen Stuhl und zählte die Menschen, die vorbei gingen – sie konnte sie an den Fingern einer Hand abzählen.

    Wir sind zum Hoffen verdammt

    Ahlam, die Enkelin, war in ihren Zwanzigern und sah ihrer Großmutter nicht nur ähnlich, sondern hatte auch viele ihrer Charaktereigenschaften. Sie blieb immer an ihrer Seite. Sie begleitete sie, wenn sie die Häuser der Rebellen besuchte, um zu erfahren, wie die Lage bei den andauernden Kämpfen war.

    Obwohl Ahlam in ihren wenigen Schuljahren Lesen und Schreiben gelernt hatte, fing sie früh an, als Krankenschwester zu arbeiten. Sie begleitete ihre Großmutter zu den Geburten der Dorfbewohnerinnen. Sie war bezaubert vom Wunder der Geburt und der mystischen Verwandlung der Neugeborenen. Dies inspirierte sie dazu, die Jugendlichen im Dorf in Erster Hilfe zu unterrichten, damit diese den Überlebenden der verheerenden Bombenangriffe helfen konnten.

    Trotz ihrer Leidenschaft für ihr Dorf und ihre Großmutter hatte Ahlam den Traum, ihr Land zusammen mit ihr zu verlassen. Dies sollte allerdings ein Traum bleiben. Zwar hörte ihre Großmutter ihr zu, wenn sie von fernen Ländern erzählte, wo die Menschen nicht in Angst leben mussten und wohin die Reise zwar gefährlich war, aber am Ende ein Leben in Sicherheit wartete. Aber anschließend lächelte ihre Großmutter nur und sagte:

    „Wir sind zum Hoffen verdammt. Niemand kann dem Tod entkommen, meine Enkelin.“ Als ihre Großmutter gestorben war, stieg Ahlam, die junge Frau, in eines der Schlauchboote zu den griechischen Inseln und wiederholte immer wieder die Worte ihrer Großmutter, um die Angst vorm Ertrinken zu vertreiben.

    Übersetzer:  Nawar Jacoub / Tatjana Plöning

     

kohero-magazin.com