Schlagwort: syrien update

  • Eine neue Ära für Syrien: Amads Hoffnung und Emotionen nach dem Sturz von Al-Assad

    Amads Augen leuchten, als er über die vergangenen Tage spricht. Für ihn war es wie ein Erwachen: „Das krasseste Gefühl ist, dass ich endlich ein Land habe, eine Heimat“, sagt er. Zum ersten Mal fühlt er, was es bedeutet, wirklich dazuzugehören. „Die ganze Zeit war das eine fiktive Heimat in meinem Kopf, die in Wirklichkeit nicht existierte. Eine Heimat soll Sicherheit geben, ein Rückzugsort sein – das gab es vorher nicht. Und jetzt? Jetzt existiert sie wirklich.“

    Er schildert die Flut von Emotionen, die ihn überwältigten: Freude, aber auch Angst, die sich langsam legte, als die Realität von Latakia – seiner Heimatstadt, in der religiöse Vielfalt gelebt wird – ihm zeigte, dass nichts passieren würde. „Es ist erstaunlich, dass es bisher keine Racheakte gab. Das macht mich stolz auf die Latakianer.“

    Amad erzählt von den kurzen Telefonaten in der Nacht des Umsturzes und den häufigen Gesprächen am nächsten Tag. „Wir haben uns Bilder und Videos geschickt – von den Straßen, den Feiern, überall.“ Selbst hier in Hamburg, Tausende Kilometer entfernt, feierte er mit anderen Syrer*innen: „Es war minimal, aber wir waren auf den Straßen, haben gejubelt, Revolutionslieder gesungen – doch das ist nur ein Bruchteil von dem, was man vor Ort erlebt.“

    Die Bedeutung dieses historischen Tages für Syrer*innen ist für viele Außenstehende schwer greifbar. „Ich habe jemandem erzählt, dass ein 53-jähriger Diktator gestürzt wurde, und die Reaktion war, mir kurz auf die Schulter zu klopfen und weiterzugehen. Das hat mir gezeigt, wie wenig die Leute hier darüber nachdenken, was das für uns bedeutet.“

    Er hebt hervor, wie brutal und lähmend die 24-jährige Herrschaft Bashar al-Assads war und die insgesamt 53 Jahre lange Diktatur der Al-Assad-Familie: „Je länger ein Diktator an der Macht ist, desto brutaler wird es. Und für uns war es ein Leben ohne Perspektive.“

    Doch Amad ärgert sich verständlicherweise auch über die kühle, analytische Haltung vieler westlicher Medien und Menschen, die sofort nach dem Sturz kritisch und pessimistisch die Zukunft Syriens analysierten. „Man nimmt den Menschen die Freude. Klar, der Wiederaufbau wird schwierig, aber das ist kein Grund, am ersten Tag die Hoffnung zu dämpfen.“

    Amad denkt viel darüber nach, was die Zukunft bringen könnte. Seine Hoffnung? „Ich wünsche mir, dass alles reibungslos verläuft und dass wir Syrer – ob im Inland oder in der Diaspora – das Gelernte der letzten 13 Jahre nutzen. Früher wussten wir nicht einmal, was ein Ausnahmezustand ist. Jetzt sind wir politisch bewusster und können bessere Entscheidungen treffen.“

    Ein leises Lächeln huscht über sein Gesicht, als er hinzufügt: „Ich hoffe, eines Tages in Syrien einen Wahl-O-Mat nutzen zu können. Hier in Deutschland ist das gut, aber für die Heimat wäre es unbeschreiblich. Einfach die Freiheit zu haben, eine Wahl zu treffen – das ist der wahre Luxus.“ 

    Für Amad und Millionen anderer Syrer*innen markiert der 8. Dezember 2024 nicht nur das Ende eines Regimes, sondern den Beginn einer neuen Ära. Es ist ein Tag, an dem Träume, die lange begraben waren, wieder aufblühen. Ein Tag, der Hoffnung gibt – auf Frieden, Freiheit und eine Heimat, die ihren Namen verdient.

  • Bericht zur israelischen Präsenz

    Der israelische Fernsehsender Kanal 14 berichtete am heutigen Montag, dass Tel Aviv darauf abzielt, die politische und militärische Instabilität in Syrien auszunutzen, um seine militärische Präsenz auf den Golanhöhen zu verstärken. Diese Maßnahme erfolgt im Rahmen der Bemühungen Israels, seine strategischen Interessen in der Region angesichts der sich rasch entwickelnden Situation im Inneren Syriens zu sichern.

    Laut des Senders könnte die israelische Armee, sollte sich herausstellen, dass das neue Regime in Syrien feindselig ist und eine Bedrohung darstellt, für längere Zeit in der Pufferzone bleiben. Diese Zone hat für Israel eine strategische Bedeutung, vor allem, wenn die Unruhen in Syrien andauern. Die Besetzung des Berges Hermon (Dschabal asch-Scheich) stellt dabei einen weitreichenden Schritt dar, da die israelischen Streitkräfte rund 14 Kilometer tief ins syrische Gebiet vorgedrungen sind. Diese Entwicklungen deuten auf eine erhebliche Eskalation der israelischen Militäraktivitäten an der syrischen Grenze hin.

    Israel hatte am gestrigen Sonntag die Besetzung des Berges Hermon und der Pufferzone zwischen Syrien und Israel verkündet und dabei behauptet, dass das Entflechtungsabkommen von 1974 nach dem Sturz des Regimes von Baschar al-Assad zusammengebrochen sei. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu erklärte in einer Videobotschaft in Grenznähe zu Syrien: „Dieses Gebiet steht seit rund 50 Jahren unter Kontrolle. Das Entflechtungsabkommen von 1974 ist zusammengebrochen, und die syrischen Soldaten haben ihre Stellungen aufgegeben.“

    Das im Mai 1974 unterzeichnete Entflechtungsabkommen beendete den Oktoberkrieg von 1973 sowie die anschließende Phase der Abnutzung. Es sah vor, dass sich Israel aus den während des Krieges besetzten Gebieten am Berg Hermon zurückzieht, ebenso wie aus etwa 25 Quadratkilometern, darunter das Umfeld der Stadt Kuneitra und weitere Gebiete, die es im Juni-Krieg 1967 erobert hatte. Laut derselben Quelle verfolgt Israel in Syrien zwei Hauptziele: erstens, die strategischen Fähigkeiten der syrischen Armee auszuschalten, und zweitens, die Präsenz der israelischen Besatzungstruppen in der Pufferzone auszuweiten. Diese Ziele sind Teil der israelischen Strategie, die nationale Sicherheit zu stärken und neue Tatsachen vor Ort zu schaffen, während im Inneren Syriens weiterhin Instabilität herrscht.

  • Informationen zur Übergangsregierung

    Ahmed al-Schar‘ (Anführer der HTS) traf sich mit Mohammed al-Baschir – Medienberichten zufolge soll Letzterer mit der Bildung einer Übergangsregierung beauftragt worden sein. Ziel des Treffens war es, klare Übergaberegelungen festzulegen, um zu verhindern, dass Syrien im Chaos versinkt.

    Wer ist Mohammed al-Baschir?

    Al-Baschir wurde 1983 in Dschabal az-Zawiya im Süden der Provinz Idlib geboren. Er erhielt 2007 einen Abschluss in Elektro- und Nachrichtentechnik an der Universität Aleppo. Im Jahr 2011 arbeitete er als Leiter der Abteilung für Feinmessgeräte in einer Gasfabrik der Syrischen Gasgesellschaft.

    Außerdem war er zweieinhalb Jahre lang Direktor für religiöse Bildung im Ministerium für Awqaf (Stiftungen), Daʿwa und Erziehung. Laut seines Profils in der „Rettungsregierung“ besitzt er zudem einen Abschluss in Scharia-Recht und Rechtswissenschaft mit Auszeichnung von der Universität Idlib (2021) sowie ein Zertifikat in Grundsätzen von Planung und Verwaltungsorganisation. In den Jahren 2022 und 2023 war Mohammed al-Baschir Minister für Entwicklung und humanitäre Angelegenheiten in der Rettungsregierung.

    Was ist die Rettungsregierung?

    Die Rettungsregierung wurde am 2. November 2017 unter Mitwirkung der HTS mit elf Ministerien unter dem damaligen Premierminister Mohammed asch-Scheich gebildet. Sie kontrollierte seinerzeit die administrativen und dienstleistungsbezogenen Bereiche des Lebens in der Provinz Idlib, im nördlichen Umland von Hama, das damals unter Kontrolle der Opposition stand, sowie Teile des westlichen Umlandes von Aleppo.

    Wie andere syrische politische Gruppen darauf reagieren werden, ist unklar. Wer Syrien kennt, weiß, dass es ein vielfältiges Land mit vielen verschiedenen Gruppen, Nationalitäten und Ethnien ist. Seit den letzten 13 Jahren Krieg haben sich zudem zahlreiche politische Gruppierungen gebildet – etwa die Istanbul-, die Kairo-, die Riad- und sogar eine Moskau-Gruppe, die ebenfalls gegen Assad war.

    Wie ich im ersten Newsletter erwähnt habe, gibt es in Syrien vier unterschiedliche Regierungen sowie zahlreiche verschiedene Milizen und militärische Gruppen. Ob es Kontakte zwischen diesen unterschiedlichen Gruppierungen mit ihren politischen Hintergründen gibt, weiß ich nicht. Ich hoffe es jedoch, damit sie eine neue technokratische Regierung bilden können, die die Übergangsphase organisiert – vielleicht für etwa ein Jahr, um eine neue Verfassung und anschließende Wahlen vorzubereiten.

    Die syrischen Städte kehren langsam zur Normalität zurück. Viele Personen, die in der Verwaltung arbeiten, sind heute wieder bei der Arbeit, wenn auch nicht alle, da es kaum öffentlichen Nahverkehr gibt. Aber es wird sich allmählich einpendeln.

    Endlich ist ganz Syrien frei, bis auf die Golanhöhen, von wo ich stamme. Ich schreibe dies, weil die israelische Armee gestern nicht nur Positionen der syrischen Armee angegriffen hat, sondern auch mehr als 14 Kilometer tief nach Syrien vorgedrungen ist. Was auch immer Israel damit bezweckt: Es zeigt, wie sensibel die ganze Region in puncto Sicherheit ist. Dies ist einer von tausenden Gründen, warum es keinen Frieden im Nahen Osten gibt.

     

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  • Freiheit, Hoffnung und die syrische Identität

    Heute ist der erste Tag für Syrien ohne die Assad-Familie. Eine Nacht ohne Angst vor dem Geheimdienst, ohne Angst vor der Wand. Meine Eltern sagten mir immer: „Sprich nicht über Politik, denn die Wände haben Ohren.“ Das bedeutete, dass der Geheimdienst hören würde, was man sagt.

    Gestern war ich bei einer Demonstration in Hamburg, um zu feiern, dass die Syrer*innen zu ihren Kindern zurückkehren und dass Assad gestürzt ist. In jeder Stadt, in der Menschen aus Syrien leben, wurden ähnliche Demonstrationen organisiert. Viele Syrer*innen im Exil haben sich gemeinsam mit denen in Syrien gefreut.

    Durch diese große Hoffnung werden die Syrer*innen eine neue Identität erlangen, denn ihre syrische Identität wurde wegen der Kriege von Assad gegen das syrische Volk gestört. In den letzten 13 Jahren haben sie vollkommen unterschiedliche Erfahrungen gemacht und dementsprechend unterschiedliche Erinnerungen entwickelt. Menschen, die seit mehr als sieben Jahren im Exil leben, haben völlig andere Erlebnisse als Syrer*innen, die in Europa leben. Diejenigen, die unter Assads Herrschaft standen, haben eine andere Geschichte als jene, die in der Türkei oder in Idlib leben.

    Dies war meine große Sorge: Wie können sich die Syrer*innen jemals wieder vereinen und wie kann diese Gesellschaft wieder zusammenwachsen? Doch gestern habe ich, wie viele andere, erlebt, dass die Hoffnung nach der Stürzung Assads die gesamte Gesellschaft vereinen kann. Junge und alte Menschen, Frauen und Männer, Muslim*innen und Christ*innen, Araber*innen und teilweise auch Kurd*innen haben gemeinsam gefeiert und dabei ihren Stolz auf die syrische Identität zum Ausdruck gebracht.

    Leider bleiben die Akten tausender Häftlinge eine große Wunde für alle Syrer*innen. Eltern von Verschwundenen suchen nun nach allen Informationen aus Assads Gefängnissen, um herauszufinden, ob ihre Kinder noch leben und vielleicht befreit werden könnten. Das erfordert eine Übergangsjustiz. Es wird sehr lange dauern, all die Informationen und Beweise zu sammeln. Das Syrische Netzwerk für Menschenrechte schätzt, dass im Jahr 2020 rund 150.000 Menschen entweder in Haft- oder Gefängniszentren festgehalten wurden oder unter zweifelhaften Umständen verschwunden sind.

    Aber niemand weiß genau, wie viele Menschen noch inhaftiert sind oder vermisst werden. Auch das Zusammentragen aller Namen wird lange Zeit in Anspruch nehmen. Bis dahin wünsche ich allen Müttern und Vätern, dass sie ihre Kinder eines Tages wiedersehen.

    Danke, dass Du das „syrien update“ liest. Falls Du neu dazu gekommen bist, fülle bitte diese kurze Umfrage aus.

    Liebe Grüße
    Hussam Al Zaher

    Chefredakteur

     

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  • “Ich habe meine Heimaten zurückgewonnen”

    Heute ist ein ganz besonderer Tag für mich – ein Wendepunkt, der meine Identität neu definiert und eine Wahrheit offenbart hat, die ich nicht leugnen kann. Nach zwölf langen Jahren fühle ich mich heute endlich sicher, als wäre ich aus einem Gefängnis befreit worden, so wie viele andere, die die Gefängnisse von Baschar al-Assad verlassen haben.

    Dieser Tag ist ein historischer Moment für jede*n Syrer*in auf der Welt. Heute sind wir alle vereint, verbunden durch dasselbe tiefe menschliche Gefühl, das sich in die Geschichte eingebrannt hat und das niemand jemals vergessen wird. Viele Menschen haben zu dieser Freude beigetragen – Wegbegleiter, die diesen Moment unvergesslich gemacht haben.

    Es gibt viele, die uns die Hand gereicht haben, als wir sie am meisten brauchten, darunter Deutschland – ein Land, das uns mit offenen Armen empfangen hat, uns aufgenommen hat und uns das Gefühl gegeben hat, dass es uns als Teil von sich selbst haben möchte.

    Heute muss ich laut sagen: Danke, Deutschland! Danke für all die Chancen, die wir hier bekommen haben, und für das Zuhause, das uns gegeben wurde, als wir gezwungen waren, unser eigenes zu verlassen. Danke für all die Liebe, Fürsorge und den Frieden, den wir hier erfahren durften. Es tut mir leid, dass ich mich lange Zeit nicht zugehörig gefühlt habe. Ich hatte das Gefühl, zu allem gezwungen zu sein, und musste mit dieser Realität leben.

    Doch heute hat sich alles verändert. Heute fühle ich, dass ich mein Zuhause zurückgewonnen habe. Heute kann ich mit Stolz sagen: Ich bin Deutsch-Syrer. Ich habe die Freiheit, hier oder dort zu leben. Hier ist meine Heimat, und dort ist meine Heimat. Und ich bin unglaublich glücklich, beides in mir zu tragen.

     

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  • Assad gestürzt: Syrien ist frei

    Heute ist ein historischer Tag: Syrien ist frei von dem al-Assad Regime. Endlich, nach mehr als 54 Jahren. Ja, ich sage, Syrien ist frei, nach all den täglichen Albträumen, nach der Angst vor dem Unrechtsregime, vor dem Geheimdienst und den Foltergefängnissen. Mehr als 13 Jahren nach der Revolution, nach blutigen Kämpfen, nach vielen Hunderttausenden Toten, Verschwundenen und Vertriebenen. Nach Belagerungen, Hunger, nach unzähligen Tränen unserer Mütter und Väter.

    Syrien ist frei. Ich hätte nie gedacht, dass ich diesen Tag erleben würde. Heute, der 8. Dezember ist ein Tag der Freiheit, den wir jedes Jahr feiern werden.

    Ich sehe die Bilder und Videos von den Menschen in Syrien, wie sie auf die Straßen strömen und feiern. Frauen und Männer laufen durch den Palast der ehemaligen Diktatorenfamilie und machen Witze. Frauen und Kinder (!) werden aus den bluttriefenden Gefängnissen freigelassen und fragen ihre Befreier: Was ist passiert? Es sind Szenen, die vielen Syrer*innen weltweit Tränen in die Augen treiben.

    Gleichzeitig fragen viele, im In- und Ausland: was passiert als Nächstes? Ist eine Übernahme durch islamistische Gruppen wirklich eine gute Entwicklung? Der Blick von außen sucht die „Guten“ und versteht nicht, dass die große Mehrheit von Syrer*innen aller Ethnien und Religionen heute feiern.

    Ich möchte nicht wegwischen, was in den letzten Jahren passiert ist. Natürlich haben die Gruppen, die seit Jahren gegen das Assad Regime gekämpft haben, Verbrechen und Fehler begangen. Wenn Du Syrer*in bist, oder Dich schonmal mit einer syrischen Person über das Thema unterhalten hast, weißt Du, wie viele Fehler seit 2011 gemacht wurden. Das Regime und die Assad-Regierung hingegen haben alles getan, was Diktatoren üblicherweise tun. Auch dazu hat jede Syrer*in eine Geschichte, und das nicht erst seit 2011. Und doch hat das syrische Volk es geschafft, den Diktator zu stürzen.

    Und das alles, nachdem so viele Menschen jede Hoffnung verloren hatten. Ich kann hier nicht jedes Detail der letzten Jahre wiedergeben, aber für mich persönlich war viel verloren, als Assad die vermeintliche „rote Linie“ von dem ehemaligen US-Präsidenten Obama überschritt und chemische Waffen gegen seine eigene Bevölkerung einsetzte. Damals, 2013, war ich schwer enttäuscht, dass sich die USA nicht mehr einmischen wollte. Heute kann ich sagen: Ich bin froh, dass das Assad Regime nicht von einer ausländischen Kraft besiegt wurde, sondern vom syrischen Volk selbst. Die Hoffnung ist nun, dass die Syrerinnen und Syrer ihr Land selbst regieren und gemeinsam eine neue, freie Regierung aufbauen werden.

    Wo genau sich der ehemalige Machthaber Bashar al-Assad und seine Familie jetzt aufhalten, ist unklar. Es gibt Gerüchte, dass er in den frühen Morgenstunden das Land verlassen haben soll. Bemerkenswert ist, dass der syrische Premierminister, Ghazi al-Jalali nicht geflohen ist. Er hielt gegen 4 Uhr morgens eine kurze Rede, in der er die Regierungsinstitutionen an die Rebellen übergab. Dadurch herrscht — bis jetzt — kein völliges Chaos. Es gibt aber erste Berichte von Plünderungen von Banken und es ist ebenfalls noch nicht klar, wer in Damaskus jetzt das Sagen hat. Weitere Fragen zu den nächsten Tagen habe ich weiter unten gesammelt.

    Wer die Bedeutung dieses Tages besser verstehen will, sollte sich die Videos aus den geöffneten Gefängnissen ansehen. Besonders die Aufnahmen aus dem Saydnaya Gefängnis waren für viele Syrer*innen schlimmer als jeder Horrorfilm. Man nannte diesen Ort ein Schlachthaus für Menschen. Allein der Name ist für uns ein Synonym für Erniedrigung, für unsagbare Folter und Massenhinrichtungen durch Assads Soldaten.

    Nun sind auch die dort gefangenen Menschen endlich frei. Es gibt Videoaufnahmen von Frauen, die mit ihren Kleinkindern befreit werden. Viele, besonders die älteren Frauen, trauen sich in den Aufnahmen nicht heraus, sie fragen immer wieder „was ist passiert, wo sind wir?“ So hat das Assad-Regime Hunderttausende Familien leiden lassen, und über 50 Jahre lang das ganze Land zu einem riesigen Gefängnis gemacht.

    Syrien ist frei, wir müssen keine Albträume mehr vor Assads Gefängnissen und Geheimdiensten haben. Wir sind endlich frei! Ich habe mit vielen Freunden gesprochen, die in Deutschland leben. Ich fragte sie, ob sie nach Syrien zurückkehren möchten, jetzt nach Assads Sturz. Viele sagten: Ja, auf jeden Fall. Syrien braucht seine Menschen, um es wieder aufzubauen. Das zeigt sich auch an den Grenzen zum Libanon, zu Jordanien und zur Türkei, wo tausende Syrer*innen in ihre Häuser und ihre Heimat zurückkehren wollen – noch unsicher, was die Zukunft bringt, aber mit dem Optimismus, dass es besser als unsere Vergangenheit mit Assad sein wird.

    Auch ich denke seit gestern darüber nach, nach Syrien zurückzukehren. In mein altes Zuhause, um meine Familie wiederzusehen, um die vertrauten Orte zu besuchen. Doch natürlich sind die Fragen und die Zweifel groß, vor allem, nachdem ich den Beitrag eines deutsch-syrischen Journalisten gesehen habe. Er war vor wenigen Tagen im Norden Syriens, um eine Reportage über die aktuelle Lage zu drehen. Er schrieb auf Instagram, dass er sich in Syrien nun fremd fühlt und lieber nach Hamburg zurückkehren möchte, wo er eine neue Heimat gefunden hat.

    Sehr viel wird in den nächsten Tagen entschieden werden. Mehr dazu weiter unten. Aber wir hoffen von ganzem Herzen, dass Syrien endlich zu seinen Söhnen und Töchtern zurückkehrt und sie gemeinsam ein neues, freies Syrien aufbauen können – mit Arabern, Kurden, Turkmenen, Tscherkessen, Aramäer und Assyrer; mit Sunniten, Schiiten, Alawiten, Drusen, Jesiden, Ismailiten, Murshidi, orthodoxe und katholische Christen; mit allen Generationen, mit Frauen und Männern; mit Einheimischen, Migranten, Reichen und Armen.

    Heute wird Syrien neu geboren, mit der Hoffnung auf die Zukunft.

    Danke, dass Du dabei bist. Falls Du neu dazu gekommen bist, bitte fülle bitte diese kurze Umfrage aus


    Zusammenfassung der bisherigen Entwicklungen

    Falls Du die Entwicklungen der letzten elf Tage nicht so intensiv verfolgt hast, möchte ich Dir hier eine Zusammenfassung geben. Sie ist so kurz wie möglich, aber so lange wie nötig, hoffe ich …

    • Am 27. November startete eine lose Koalition syrischer Oppositionsgruppen eine Offensive. Angeführt von der Gruppe Hayat Tahrir al-Sham (HTS) und unterstützt von der Türkei unterstützten Syrischen Nationalarmee (SNA), begann die Offensive in den Gouvernements Idlib und Aleppo. Es war das erste Mal seit dem Waffenstillstand von Idlib im März 2020, dass Rebellen wieder eine umfassende Militäroffensive starteten. Mehr Informationen zu HTS kannst Du hier, in der 4. Folge dieses Newsletters lesen.
    • Am 29. November rückten HTS und später auch die Demokratischen Kräfte Syriens (Abkürzung des engl. Namens: SDF, das kurdisch-syrische Militärbündnis angeführt von der PKK-Schwesterorganisation YPG) weiter in Richtung Aleppo, der zweitgrößten Stadt des Landes. In den frühen Stunden des 30. November war der Großteil der Stadt erobert, während die regierungstreuen Soldaten entweder desertierten, oder flüchteten. Bis zum Abend war auch der Flughafen Aleppo eingenommen, nachdem sich SDF-Truppen zurückgezogen hatten.
    • Am Abend des 30. November rückten von HTS angeführte Rebellen ebenfalls im Gouvernement Hama sehr schnell vor und eroberten dutzende Städte und Dörfer im Umland. Parallel dazu fingen die SNA und SDF an, einander zu bekämpfen bzw. die SNA griff Versorgungslinien der SDF an.
    • Am 1. Dezember flog Russland Luftangriffe auf kürzlich von den Rebellen eroberte Orte, unter anderem auf ein Flüchtlingslager in Idlib und auf das Universitätskrankenhaus in Aleppo.
    • Am Abend des 2. Dezembers fingen die bislang heftigsten Kämpfe im Norden der Region Hama an. Bei Luftangriffen und Drohnenbeschuss sowohl von russischer als auch von Rebellen-Seite starben mehrere Zivilist*innen. Im Laufe der nächsten drei Tage intensivierten sich die Kämpfe rund um die Stadt Hama und die umliegenden Dörfer.
    • Am 5. Dezember drangen die Rebellen in den nordöstlichen Teil der Stadt Hama ein, während es im Osten der Stadt zu Luftangriffen der syrischen Regierung kam. Bis zum Nachmittag hatten die HTS-geführten Rebellen die volle Kontrolle über Hama. Wieder zogen sich Regierungsarmeen zurück, oder die Soldaten flüchteten von der Armee. In einer Erklärung begründete die syrische Regierung ihren Rückzug aus Hama mit der „Wahrung des Lebens von Zivilisten“. Ich habe über die Geschichte und Symbolik der Stadt Hama hier mehr geschrieben.
    • Am 5. und 6. Dezember fingen die Entwicklungen dann an, sich immer schneller zu überschlagen. Im Norden rückten die Rebellen auf die Region um Homs zu, in den südlichen Städten Daraa und as-Suwaida demonstrierten nicht-islamistische Gruppen.
    • Am Abend des 5. Dezember betraten die Rebellen im Norden die Stadt Salamiyah kampflos, nachdem sie eine Einigung mit den Stadtältesten und dem örtlichen ismailitischen Rat erzielt hatten. Zeitgleich bombardierten russische Flugzeuge die Hauptbrücke zwischen Homs und Hama, um den Vormarsch der Rebellen zu verlangsamen. Vergeblich, da die Rebellen im Laufe des 6. Dezembers fünf weitere Städte einnahmen und sich den Randbezirken von Homs näherten.
    • Der Iran begann in den frühen Morgenstunden des 6. Dezember damit, sein Personal und IRGC-Stützpunkte aus Syrien abzuziehen.
    • Am Abend des 6. Dezember 2024 eroberten die Rebellen im Süden die Stadt as-Suwaida. Auf Englisch werden diese Rebellen als “Southern Front” beschrieben, sie sind eine lose Allianz aus über 50 Rebellengruppen, die teilweise mit der Freien Syrischen Armee (FSA) verbunden sind.
    • Am 6./7. Dezember brachten Gruppen die südliche Stadt Daraa unter ihre Kontrolle, während SDF-Truppen die Stadt Deir ez-Zor im Nordwesten einnahmen. Parallel dazu eroberte die FSA (von den Vereinigten Staaten unterstützt) von at-Tanf aus die Kontrolle über die historische Stadt Palmyra.
    • Am 7./8. Dezember wurde deutlich, dass das syrischen Militär Homs verlassen hatte. Damit wurden die Assad-Truppen, einschließlich der in Damaskus verbliebenen Soldaten, effektiv von der syrischen Westküste abgeschnitten, an der sich die russischen Stützpunkte des Landes befinden.
    • Der Fall von Damaskus war zu diesem Zeitpunkt absehbar. Im Laufe des 7. Dezembers waren die Kämpfe um den Stadtkern Homs und die umliegenden Städte vor Damaskus konzentriert. In der sogenannten Rif Dimashq Region wurden immer mehr Orte von dem syrischen Militär verlassen, inkl. Militärstützpunkte, womit die Rebellen bereits bis zu 10km vor den Toren standen.
    • Am frühen Morgen des 8. Dezembers wurde gemeldet, dass Rebellen Damaskus eingenommen hatten. Die Meldungen kamen Schlag auf Schlag: Gefängnisse befreit, Assad sei geflüchtet, Menschenmassen, die auf den Straßen feierten. Die offizielle Meldung kam am Vormittag, als die Führung der syrischen Armee ihren Offizieren mitteilte, dass die Regierung Assad beendet sei und Ministerpräsident al-Jalali erklärte, er sei bereit, „mit jeder vom Volk gewählten Führung zusammenzuarbeiten“.

    Fragen für die nahe Zukunft

    • Die Situation zwischen den Kurd*innen, der SDF und der SNA bleibt unklar. Welche Rolle wird der nächste US-Präsident für die Kurd*innen in Syrien spielen? Wird die türkische Regierung auf ihre bisherigen Positionen und Kämpfe gegen die SDF beharren?
    • Was sind die Folgen für das russische Regime, das fast zehn Jahre in das gestürzte Assad-Regime investiert hat? Werden sie sich an den Entwicklungen beteiligen?
    • Welche Rollen möchten die arabischen Länder einnehmen? Bisher haben sich Ägypten, Saudi-Arabien, Qatar, Irak und Jordanien an dem Doha Prozess beteiligt. Werden sie ein freies Syrien akzeptieren?
    • Wird es den Rebellengruppen gelingen, sich an einen Tisch zu versammeln und eine politische Lösung für Syrien zu finden?
    • Wie wird es der kommenden Regierung gelingen, die unterschiedlichen Rebellengruppen wieder zu entwaffnen? Wird es Racheakte oder Gewalt gegen die Bevölkerung geben? Insbesondere gegen Minderheitsgruppen, deren Anführer sich in den letzten Jahren eher pro-Assad positioniert hatten.
    • Wo ist Bashar al-Assad? Ist er noch am Leben?

     

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  • Die syrische Unabhängigkeitsflagge: Symbol für Widerstand, Identität und Hoffnung

    Seit Beginn der syrischen Revolution 2011 steht die Wahl der Flagge im Zentrum des Konflikts. Während das Assad-Regime die Staatsflagge nutzt, erhebt die Opposition bewusst die „Unabhängigkeitsflagge“. Was bedeutet die Unabhängigkeitsflagge eigentlich?

    Für Sumiah und Ali, die gemeinsam mit vielen Syrer*innen in Düsseldorf gegen Assads Regime demonstrieren, haben die Farben und Symbole eine große Bedeutung. Grün in der syrischen Unabhängigkeitsflagge steht für Hoffnung und Fruchtbarkeit, während Weiß Frieden und Reinheit symbolisiert. Schwarz erinnert an die dunklen Zeiten der Fremdherrschaft, die das Land durchlebt hat. Die roten Sterne schließlich repräsentieren die verschiedenen Volksgruppen Syriens und ihren gemeinsamen Kampf für Freiheit und Einheit. Nach der Unabhängigkeit Syriens im Jahr 1946 wurde diese Flagge offiziell bestätigt und war bis 1963 das Symbol der freien syrischen Republik.

    Die Veränderung unter der Baath-Partei und Assad

    Mit dem Putsch der Baath-Partei im Jahr 1963 verschwand die Unabhängigkeitsflagge. Eine neue Fahne wurde eingeführt, um die Vereinigte Arabische Republik – eine kurzlebige politische Union zwischen Syrien und Ägypten – zu repräsentieren. Obwohl diese Union 1961 aufgelöst wurde, blieb die von Hafiz al-Assad eingeführte Flagge erhalten. Sie trägt zwei grüne Sterne und steht für die ideologische Ausrichtung der Baath-Partei. Für viele Syrerinnen und Syrer wurde diese neue Flagge jedoch zunehmend mit den Unterdrückungsmechanismen der Assad-Diktatur in Verbindung gebracht.

    Warum entschied sich die Opposition für die alte Flagge?

    Mit Beginn der Revolution im Jahr 2011 wählte die Opposition die Unabhängigkeitsflagge bewusst als Symbol für Freiheit, Widerstand und den Wunsch nach einem demokratischen Syrien. Laut Aktivist*innen gab es dafür mehrere Gründe: Zum einen sollte ein klares Zeichen gegen die Symbolik der Assad-Diktatur gesetzt werden. Zum anderen sollte die Rückkehr zur alten Flagge an die Werte von Unabhängigkeit und Einheit erinnern, die vor der Herrschaft der Baath-Partei galten. Für viele ist diese Flagge auch ein Zeichen der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Ihre erneute Einführung stellt somit einen bewussten und deutlichen Bruch mit dem bestehenden Regime und dessen Narrativen dar.

    Das Assad-Regime und der Konflikt um die Flagge

    Das Assad-Regime reagierte auf den wachsenden Einfluss der Unabhängigkeitsflagge mit einer intensiven Kampagne, um dieses Symbol zu dämonisieren. Es bezeichnete sie als „Mandatsflagge“ und versuchte, sie mit der französischen Kolonialzeit in Verbindung zu bringen. Eine historische Überprüfung widerlegt jedoch diese Darstellung: Die Flagge wurde nach der Unabhängigkeit Syriens offiziell angenommen und repräsentierte in den Jahrzehnten vor der Baath-Herrschaft ein souveränes Syrien. Ironischerweise nutzte selbst das Assad-Regime die Unabhängigkeitsflagge bei Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag und auf offiziellen Briefmarken. Ihre Farben und Symbole sind eng mit der arabischen Revolutionsbewegung verknüpft und stehen für die Einheit der arabischen Zivilisationen sowie den Widerstand gegen Fremdherrschaft.

    Für die Hoffnung im Ausland

    In Ländern wie Deutschland, wo viele syrische Geflüchtete leben, ist die Unabhängigkeitsflagge bei Demonstrationen ein häufiges Bild. Sie wird dort nicht nur als Symbol des Widerstands gegen das Assad-Regime gesehen, sondern auch als Zeichen der Hoffnung und Solidarität für ein freies Syrien. Das Hissen der Unabhängigkeitsflagge erinnert die internationale Gemeinschaft an die Forderungen der Revolution. Für die syrische Diaspora ist sie ein emotionales Symbol, das die Verbindung zur Heimat und den Wunsch nach Freiheit repräsentiert.

    Flaggenstreit: Ein Kampf um Identität

    Der Streit um die syrische Flagge ist mehr als nur eine symbolische Debatte. Er spiegelt den grundlegenden Konflikt um die nationale Identität Syriens wider. Während das Assad-Regime die offizielle Flagge als Zeichen staatlicher Kontinuität und Macht nutzt, sehen viele in der Unabhängigkeitsflagge eine Rückbesinnung auf die Werte, die Syrien einst ausmachten.

  • Hama: Eine Stadt zwischen historischer Bürde und gegenwärtigem Widerstand

    Nach intensiven Gefechten ist es oppositionellen Rebellen gelungen, die Truppen des Assad-Regimes aus der strategisch wichtigen Stadt Hama zurückzudrängen. Doch Hama ist nicht nur militärisch bedeutsam – sie trägt auch eine schwere historische Last.

    Die Wunden von 1982: Hama und das Massaker

    Hama ist tief mit einem der dunkelsten Kapitel der syrischen Geschichte verbunden. In der Nacht zum 2. Februar 1982 startete die syrische Armee unter der Führung von Rifaat al-Assad einen groß angelegten Angriff auf die Stadt, um einen islamistischen Aufstand niederzuschlagen. Über mehrere Wochen hinweg kam es zu massiven Gewaltakten, die als eines der schwersten Massaker des Nahen Ostens im 20. Jahrhundert gelten. Schätzungen zufolge verloren zwischen 10.000 und 40.000 Menschen ihr Leben. Ein Großteil der Altstadt wurde zerstört; zahlreiche Menschen wurden willkürlich verhaftet und hingerichtet.

    Der Weg zur Eskalation: Politische Spannungen vor dem Massaker

    Seit der Unabhängigkeit Syriens im Jahr 1946 blieb das Land wirtschaftlich fragil und sozial gespalten. Unterschiedliche politische Strömungen, etwa die Muslimbruderschaft und die säkulare Baath-Partei, rangen um Einfluss. Nach dem Putsch von 1963 übernahm die Baath-Partei die Macht und etablierte ein autoritäres Regime.

    Im Jahr 1970 gelangte Hafiz al-Assad, Angehöriger der alawitischen Minderheit, durch einen weiteren Putsch an die Spitze des Staates. Unter seiner Herrschaft wurden Schlüsselpositionen im Staatsapparat mit loyalen Alawiten besetzt, während politische Opposition konsequent unterdrückt wurde. In den späten 1970er Jahren verübten islamistische Gruppierungen mehrere Anschläge, darunter ein fehlgeschlagenes Attentat auf Hafiz al-Assad im Jahr 1980. Daraufhin verschärfte das Regime sein Vorgehen gegen die Muslimbruderschaft drastisch; allein die Mitgliedschaft wurde per Dekret mit der Todesstrafe bedroht.

    Das Schweigen nach dem Sturm: Die Folgen des Massakers

    Das Massaker von 1982 hinterließ tiefe Narben in der syrischen Gesellschaft. Jahrzehntelang wirkte es als schreckliches Exempel, das oppositionelle Bewegungen lähmte. Wirtschaftliche Probleme, Korruption und soziale Ungleichheiten blieben jedoch ungelöst. Das Thema Hama wurde zu einem gesellschaftlichen Tabu, das kaum öffentlich angesprochen wurde.

    Vom Vater zum Sohn: Syrien unter Baschar al-Assad

    Nach dem Tod Hafiz al-Assads im Jahr 2000 übernahm sein Sohn Baschar al-Assad die Macht. Anfangs keimten Hoffnungen auf Reformen, doch bald erstickte erneute Repression jede aufkeimende Kritik. Mit dem Arabischen Frühling 2010 erfasste eine Welle des Protests auch Syrien. Forderungen nach Bürgerrechten und demokratischen Reformen wurden mit Gewalt beantwortet, was den Konflikt eskalieren ließ. Der darauf folgende Bürgerkrieg forderte Hunderttausende Opfer und zwang Millionen in die Flucht.

    Hama heute: Ein Symbol von Hoffnung und Tragödie

    Der jüngste Rückzug der Assad-Truppen aus Hama verdeutlicht die anhaltende Dynamik und Symbolkraft des syrischen Konflikts. Für manche steht Hama für Widerstand und die Hoffnung auf Veränderung, für andere bleibt es eine schmerzhafte Mahnung an die Brutalität des Regimes. Die Geschichte dieser Stadt ist ein eindringliches Beispiel dafür, wie fragile politische und soziale Strukturen in Gewalt, Leid und fortwährende Ungewissheit münden können.

     

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  • Rebellen, Jihadisten, Islamisten, oder Revolutionäre?

    Es ist Samstagabend und ich verfolge ich die Nachrichten aus Syrien weiterhin sehr genau. Wahrscheinlich genauso wie Du! Es passiert viel, aber ich versuche, die wichtigsten Ereignisse zusammenzufassen. Erstens: unterschiedliche Rebellengruppen stehen vor den Toren von Damaskus, während die syrische Armee kaum noch präsent ist. Die Rebellen haben in den letzten Stunden weitere Orte unter ihre Kontrolle gebracht. Zweitens: die bisherigen Beschützer des Assad Regimes scheinen eher auf diplomatische Gespräche statt auf Waffenlieferungen zu setzen. Es laufen angeblich Diskussionen zwischen den Außenministern/Repräsentanten der Türkei, dem Iran, Russland, sowie weiteren arabischen Ländern.

    Heute, am Samstag, verlor das Assad Regime die Kontrolle der Städte Daraa und as-Suwaida im Süden des Landes. Hier ist es von großer Bedeutung, dass diese Städte nicht von islamistischen Rebellengruppen (wie Hayat Tahrir Al-Sham, HTS) eingenommen/befreit wurden, sondern von lokalen aufständischen Gruppen. Mehr dazu weiter unten in dieser Folge.

    Von den 16 wichtigen Städten im Land kontrolliert das Assad Regime anscheinend nur noch vier: Damaskus, Tartus und Latakia. Während ich diese Zeilen tippe, laufen Videos im Fernsehen, die das geöffnete Zentralgefängnis in Homs zeigen und Menschen, die auf die Straßen von Homs strömen.

    Auch die Freie Syrische Armee, die in at-Tanf stationiert ist, war heute aktiv. Zur Erinnerung: Die US-amerikanische Basis at-Tanf in Syrien besteht seit 1991. Zwischendurch wurde sie zwar stillgelegt, aber seit 2016 und dem Kampf gegen den „Islamischen Staat“ in der Region wieder in Betrieb genommen. Sie befindet sich in der Nähe der Grenzen zu Jordanien und dem Irak.

    Das bedeutet, dass aktuell vier verschiedene Gruppierungen Richtung Damaskus vorrücken:

    1. Die Rebellen aus dem Norden, größtenteils islamistische Gruppen wie die HTS, die mit ihrer schnellen Offensive Aleppo, Hama und Homs eingenommen haben
    2. Kämpfer aus Daraa, zum Teil mit ehemaligen Kämpfern der anti-Assad Opposition, die bis 2018 noch mit Assad kooperierten
    3. Kämpfer aus as-Suwaida, die Hauptstadt der Region, in der die Mehrheit der syrischen Drus*innen leben
    4. Die Freie Syrische Armee, die von den USA unterstützt wurde

     

    Die Syrische National Armee (SNA, von der Türkei unterstützt) sowie das syrisch-kurdische Militärbündnis kämpfen weiterhin rund um Deir-ez-Zor und des Euphrats. Es gibt Berichte, dass sich die zwei Gruppen rund um Manbij gegenseitig bekämpfen. Die Verwaltungen in den kurdisch-kontrollierten Gebieten melden, dass sie mit der Ankunft von über 200.000 Vertriebenen rechnen. Zur Erinnerung: Berichten zufolge sind bisher über 330.000 Menschen aufgrund der Kämpfe vertrieben / geflüchtet.

    Zudem gibt es Berichte, dass die Türkei, Russland und Iran einen Deal ausgehandelt haben, der politische Lösungen vorsieht, unter anderem eine neue Verfassung für Syrien. Allerdings ist noch völlig unklar, ob diese Pläne mit oder ohne Assad gemacht werden. Der zukünftige US-Präsident Trump postete in den sozialen Medien, dass „Syrien ein Chaos ist (…) und die Vereinigten Staaten sollten nichts damit zu tun haben“.

    Es bleibt also ein angespanntes Wochenende.

    Danke, dass Du dabei bist. Falls Du neu dazu gekommen bist, bitte fülle bitte diese kurze Umfrage aus.


    Nach der ersten Folge dieses Newsletters habe ich eine Rückmeldung von einem Leser erhalten. Er schrieb, dass die FAZ berichtet, man solle die Kämpfer in Syrien nicht „Rebellen“ nennen, sondern „Islamisten“. Diese Bemerkung hat mich nachdenklich gemacht: Welche Begriffe wählen wir bei kohero?

    Wenn ich mich in deutschsprachigen Medien umhöre, gibt es alles Mögliche: Rebellen, Jihadisten, Aufständische, Islamisten, Oppositionelle, Revolutionäre. In der heutigen Presseschau des Deutschlandfunks wurde beispielsweise ein Kommentar aus der Rhein-Neckar-Zeitung zitiert, demnach die Wahl zwischen Assad und den Islamisten aus westlicher Sicht wie die Wahl zwischen Pest und Cholera sei.

    Ich möchte hier nicht unbedingt auf die Definitionen von Islamismus, oder dem Selbstverständnis von Gruppen wie Hayat Tahrir Al-Sham (HTS) eingehen. Ich habe versucht, in der vierten Folge dieses Newsletters einen Überblick über HTS gegeben. Hier möchte ich stattdessen auf die Komplexität der Lage in Syrien hinweisen und auf das Problem, wenn nicht-syrische Beobachter*innen die Lage aus einer zu engen Perspektive zu sehen.

    Viele deutschsprachige Journalist*innen sprechen kein Arabisch und haben den gesamten Verlauf des syrischen Konflikts nicht verfolgt. Und noch weniger wissen über die mehr als 50 Jahre von Assad-Herrschaft über Syrien. Es ist kein schwarz-weiß Konflikt und es sind sehr viele unterschiedliche Spieler auf dem Feld. Gleichzeitig ist es den vielen Syrer*innen, die sich schon so lange ein Ende des mörderischen Assad-Regimes wünschen, ungerecht, oberflächliche Analysen zu verkaufen.

    Denn jetzt kämpfen nicht nur Islamisten gegen Assads Militär, sondern auch andere lokale, bewaffnete Gruppen, wie zum Beispiel in Daraa. Warum sollten diese in den Medienberichten ungeachtet bleiben? Oder die Städte, in denen Minderheiten wie Christ*innen und Ismailit*innen, Abkommen mit HTS getroffen haben, die ihnen Sicherheiten zusprechen?

    In diesem Kontext benutze ich „Rebellen“, um bewaffnete Gruppen zu beschreiben, die gegen das syrische Regime, das syrische Militär, sowie Milizen, die diese unterstützen (wie zum Beispiel pro-Iranische Milizen) kämpfen. Sie versuchen, Territorien zu erobern und politische Veränderungen herbeizuführen. Für mich ist der Begriff „Rebellen“ nicht zwangsläufig positiv. Er ist neutral und bedeutet lediglich, dass diese Gruppen gegen die bestehende Ordnung kämpfen – unabhängig von ihren Motiven oder Ideologien. Deshalb können auch islamistische Gruppen Rebellen sein, weil sie gegen das Regime kämpfen.

    Seit der ersten Folge dieses Newsletters habe ich versucht, Dir als Leser*innen die Fakten zu präsentieren, so wie ich sie als Syrer und als Journalist empfange. Es liegt an Dir, zu entscheiden, wie Du diese Entwicklungen in Syrien bewerten möchtest. Ich möchte keine moralische Belehrung oder vorgefertigte Meinung liefern (wie es meiner Meinung nach oft in den deutschen Medien passiert). Stattdessen versuche ich, alle Informationen so darzustellen, damit Du selbst zu einem Urteil kommen kannst.

    Ich verstehe, dass es für nicht-Syrer*innen schwer nachzuvollziehen ist, wie eine Gruppe wie HTS von der Bevölkerung gesehen wird. Auch für viele Syrer*innen sind die aktuellen Entwicklungen von widersprüchlichen Gefühlen begleitet: Wir können uns freuen, wenn Symbole der Diktatur, wie Statuen, von den Kämpfern heruntergerissen werden. Aber gleichzeitig haben wir Sorgen um unsere Familien, um deren Versorgung und davor, dass es doch noch Bombardierungen geben könnte. Wir können hoffnungsvoll sein, wenn junge Syrer*innen nach fast dreizehn Jahren wieder auf die Straßen laufen und gegen Assad demonstrieren. Wir können dabei auch Sorgen haben, ob eine politische Lösung tatsächlich am Horizont erscheint.

    In diesem Newsletter werde ich weiterhin den Begriff Rebellen nutzen. Ich habe noch keinen anderen Begriff gefunden, der die vielen unterschiedlichen Gruppen beschreiben kann. Und ich kenne die syrische Geschichte gut und sehe die Komplexitäten. Viele Männer haben 2011–2012 gegen Assad demonstriert, später gekämpft und sind dann irgendwann aufgrund von Vertreibung, Perspektivlosigkeit und anderen Umständen später zu islamistischen Gruppen übergelaufen. Andere sind bestimmt überzeugte Jihadisten und versuchen, eine islamistische Gesellschaftsordnung zu bauen. Andere Kämpfer sind vor allem vom Geld getrieben und daher von der Position, die ihre Geldgeber haben.

    Aber wer die syrische Geschichte und die Konflikte der Region besser kennt, weiß, dass man mit schwarz-weiß Denken nicht weit kommt. Vieles ist komplex und auch widersprüchlich: Manche Gruppen leisten an einem Ort Gutes und begehen anderswo sehr schlimme Verbrechen.

    Was meinst Du dazu? Ist diese Sichtweise nachvollziehbar? Was ist Deine Meinung – als Syrer*in oder als Deutsche*r?

    Ich freue mich auf Deine Gedanken und Dein Feedback.

     

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  • Die Stimme Syriens: Hoffnung und Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit

    Die neue Geschichte Syriens

    Die Geschichte Syriens der letzten Jahrzehnte ist geprägt von Leid und Unterdrückung – aber auch von einem unerschütterlichen Kampfgeist und dem tief verwurzelten Wunsch nach Freiheit.

    Mehr als fünf Jahrzehnte Diktatur, Korruption und Repression haben ein Volk geformt, das trotz allem immer wieder für Gerechtigkeit und Würde einsteht.

    Als die Revolution begann, war ich 13 Jahre alt.
    Ich wurde in Damaskus geboren und habe dort gelebt – in der ältesten Hauptstadt der Welt. Damaskus ist eine Stadt voller Vielfalt, Zivilisation und reicher Geschichte.

    Damaskus, meine Stadt, hat nie aufgehört, sich gegen Ungerechtigkeit und das Regime zu wehren. Damaskus ist eine Stadt für alle.

    Am 15. März 2011 fand eine Demonstration statt, die ihren Ursprung im Souk Al-Harika hatte, aber schnell niedergeschlagen wurde. Damaskus blutete leise, im Verborgenen.
    Wie kann eine Stadt der Liebe und Gerechtigkeit jemals Ungerechtigkeit akzeptieren?

    Die Revolution: Hoffnung und Brutalität

    Seit dem 18. März 2011 erleben wir in Syrien eine Revolution, die mehr ist als nur ein politischer Wandel – sie zeigt das tiefe Bedürfnis der Menschen nach Freiheit. Doch die grausame Realität zeigt, wie erbittert Regime um ihre Macht kämpfen.

    Der Anfang: Friedliche Demonstrationen (2011)

    Die Revolution „Rebellen“ begann als ein Symbol der Hoffnung.
    Das syrische Volk erhob sich mutig gegen die Angst. Die Menschen, die in Daraa auf die Straßen gingen, waren keine Politiker oder bewaffneten Gruppen, sondern einfache Bürger: meine Familie, meine Nachbarn, meine Freunde. Sie verlangten nach Freiheit und Würde.

    Ein besonders symbolträchtiges Ereignis war der Protest in Daraa, als Kinder an die Wand einer Schule in Daraa Al-Balad schrieben: „Doktor, du bist dran.“ Ihre Verhaftung und Folter lösten landesweite Proteste aus.

    Doch das Regime reagierte brutal: Gewalt, Verhaftungen und Bombardierungen wurden zum Alltag. Seitdem ist das syrische Volk mit einer Brutalität konfrontiert, die viele in der Welt nicht wahrhaben wollen.

    Die Eskalation: Ein Land in Trümmern

    Es macht mich wütend, dass das Regime, unterstützt von Iran, der Hisbollah und später Russland, das Land systematisch zerstört hat.

    Ab 2012 nahmen die Kämpfe zu. 2015 änderte sich die Lage drastisch durch den militärischen Eingriff Russlands aufseiten Assads. Die Zerstörung der Gebiete, die gegen das Regime kämpften, nahm erschreckende Ausmaße an. Tausende Menschen starben, Millionen wurden vertrieben.

    Die Rückeroberung Aleppos durch das Regime im Jahr 2016 markierte einen traurigen Wendepunkt, den die Welt mit Entsetzen verfolgte. Doch der Widerstand der syrischen Bevölkerung blieb ungebrochen. Ihr Leid ist eine Anklage an die Welt, die oft wegsieht oder schweigt.

    Ein neuer Funken Hoffnung: Entwicklungen 2024

    Am 27. November 2024 startete die syrische Opposition eine neue Offensive. Sie nutzte die Schwäche des Regimes, das durch internationale Konflikte und interne Verluste geschwächt war. Innerhalb weniger Tage eroberte die Opposition wichtige Städte wie Aleppo zurück und sicherte strategische Punkte.

    Diese Rückeroberung ist nicht nur ein militärischer Erfolg, sondern ein Symbol der Hoffnung auf Veränderung und ein freies Syrien.

    Mit der Befreiung Aleppos senden die Syrerinnen und Syrer eine starke Botschaft der Einheit. Diese Revolution gehört allen Menschen, unabhängig von ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit. Besonders bemerkenswert ist die Unterstützung der christlichen Gemeinschaft von Aleppo und der drusischen Bevölkerung von Suwaida.

    Diese Revolution steht für gemeinsame Werte wie Freiheit und Würde und lehnt jede Form von Diskriminierung ab.

    Hama: Eine schmerzhafte Erinnerung und ein neuer Anfang
    Heute ist ein besonderer Tag: Hama ist befreit.

    Hama, eine Stadt, die eines der grausamsten Massaker der modernen Geschichte erlebt hat, kann endlich aufatmen. Im Februar 1982 führte die syrische Armee ein brutales Massaker durch, das 27 Tage dauerte. Tausende unschuldige Zivilisten wurden getötet, viele gelten bis heute als vermisst. Die Schätzungen der Opferzahlen variieren, doch sie liegen zwischen 10.000 und 40.000.

    Aber heute, nach Jahren des Leids, ist Hama frei. Tausende Gefangene wurden aus den Gefängnissen des Regimes entlassen. Trotz des Schmerzes empfinde ich auch Stolz. Hama, das so viel Ungerechtigkeit erlebt hat, lebt nun in Freiheit – mit einem ungebrochenen Geist.

    Gerechtigkeit für alle
    Ich glaube fest daran, dass Syrien eines Tages ein freies Land sein wird – ein Land, in dem Gerechtigkeit und Würde für alle Menschen herrschen, unabhängig von ihren Überzeugungen oder kulturellen Hintergründen.

    Gerechtigkeit ist die Botschaft eines jeden Menschen – und sie ist auch meine Botschaft.

    Gerechtigkeit für alle.

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