Schlagwort: syrien update

  • Syrien: Bei vielen kehrt langsam wieder mehr Realismus ein

    Nach der unglaublichen Erleichterung und dem Gefühl von Hoffnung, die wir durch den Sturz Assads in den letzten Wochen erlebten, kehrt bei vielen Syrer*innen langsam wieder mehr Realismus ein. Bei mir ist es jedenfalls so – besonders, wenn ich an die aktuellen politischen Entwicklungen, die wirtschaftliche Not und die ungewisse Zukunft vieler Syrer*innen denke. Die lange Herrschaft des Assad-Clans und die Schrecken der Diktatur und des Krieges haben tiefe Wunden hinterlassen. Dieses schmerzhafte Erbe hat bei vielen, auch bei mir, ein starkes Misstrauen gegenüber neuen Systemen und Führungen erzeugt. Es wächst die Sorge, dass ein neues Regime die Muster der Vergangenheit wiederholt.

    Diese Sorgen werden ehrlich gesagt auch verstärkt von den vielen Berichten, die mich aus Syrien erreichen. Es sind sehr viele internationale Journalist*innen im Land, zum ersten Mal seit über einer Dekade, und sie fangen an alles zu durchleuchten. Gestern habe ich einen Artikel in der Financial Times gelesen, in dem zwei Journalist*innen ein Meeting zwischen ehemaligen Assad Bürokraten und einem Technokraten der neuen, HTS-geführten Regierung.

    Die Schilderungen geben einen Einblick in die tiefe Korruption, Hierarchie der Angst und vor allem der Sinnlosigkeit des alten Regimes. Dieser Artikel hat mir einmal mehr vor Augen geführt, wie viel Arbeit auf die Syrerinnen und Syrer zukommt. Syrien braucht extreme Bemühungen, um überhaupt die Grundlage für einen funktionierenden Staat zu schaffen.

    Eine zentrale Frage bleibt auch die Rolle der islamistischen Rebellengruppen, insbesondere der HTS. Bis jetzt wirkt ihr Verhalten in Damaskus zu schön, um wahr zu sein. Werden sie wirklich ein freieres System erbauen, oder entwickeln sie sich ähnlich wie die Taliban in Afghanistan, oder das iranische Regime in den 1980 Jahren? Ihre Führung spricht von Hoffnung, Vertrauen und Ruhe für das syrische Volk … aber wie viele dieser Versprechen werden sie halten können?

    Syrien ist heute ein Land in Hoffnung und in Trümmern. Neben der wirtschaftlichen und physischen Zerstörung des Landes und des Staates gibt es auch die gesellschaftliche Zerstörung. Hier in Deutschland gibt es ein Verständnis davon, was viele Jahre Diktatur und Regime der Angst mit einer Gesellschaft machen. Der Begriff „gespalten“ kommt da zu kurz. Der Sturz von Assad hat bei vielen Menschen neue Zuversicht entfacht, viele wiederholen Sprüche der Revolution wie „Syrien ist eins“, oder „Wir haben gewagt, zu träumen“. Gleichzeitig sind die Herausforderungen auch enorm.

    Die Zukunft Syriens ist ungewiss. Wird es ein autoritäres Modell mit Fokus auf Wirtschaft wie in Saudi-Arabien, eine instabile Demokratie wie in der Türkei, oder ein repressives Regime wie im Iran? Es liegt an uns allen, gemeinsam den Wiederaufbau zu gestalten. Die nächsten Schritte werden zeigen, ob Hoffnung oder Chaos unser Schicksal bestimmen.

    Da die Entwicklungen in Syrien jetzt nicht mehr so rasant kommen, werden wir den Rhythmus dieses Newsletters ab dieser Folge etwas verlangsamen. Wir planen, dir jetzt 2–3 x pro Woche das „syrien update“ zu schicken.

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    Eine kurze Zusammenfassung der Lage

    Binnenvertriebene und humanitäre Lage:

    • UN-Bericht: Über eine Million zusätzliche Binnenvertriebene wurden seit dem Anfang der militärischen Operationen in Syrien registriert.
    • Internationales Rotes Kreuz: Forderung an alle Konfliktparteien, wichtige Dokumente wie Listen von Gefangenen und Verstorbenen zu schützen, um Familien von Vermissten Antworten zu ermöglichen.

    Proteste und Sicherheitslage:

    • Unruhen in Raqqa: Proteste gegen die kurdischen Einheiten führten zu Todesopfern. SDF-Kommandeur Mazloum Abdi versprach Transparenz und Rechenschaft, um die Lage zu beruhigen.

    Politische und militärische Entwicklungen:

    • Waffenstillstandsabkommen in Manbidsch ist in Kraft: Die Syrischen Demokratischen Kräfte (engl.: SDF) streben eine Integration in die syrische Armee an.
    • Neue Übergangsregierung in Syrien: Die Regierung plant die Aussetzung von Verfassung und Parlament für drei Monate. Aber sie verspricht die Errichtung eines Rechtsstaats.
    • Russland sichert seine militärische Präsenz auf ihren Stützpunkten in Hmeimim und Tartus.
    • Internationale Gespräche: Jordanien richtet ein Treffen mit Außenministern aus den USA, der EU, der Türkei und arabischen Staaten aus, um die Lage in Syrien zu erörtern.

    Ermittlungen und Rechenschaft:

    • UN-Untersuchungen: Geheime Listen mit 4.000 hochrangigen Tätern des Assad-Regimes wurden erstellt, um die Verantwortlichen für schwere Verbrechen vor Gericht zu bringen.
    • „Caesar“-Dossiers: Enthüllung der Identität von Osama Othman, der maßgeblich bei der Dokumentation der Folterverbrechen mitgeholfen hat. Die Bilder sind zentrale Beweismittel gegen das Assad-Regime.

    Internationale Reaktionen:

    • Asylpolitik: Mehrere europäische Länder, darunter Deutschland, Frankreich und Schweden, haben die Bearbeitung von Asylanträgen syrischer Flüchtlinge ausgesetzt.
    • Russische Getreidelieferungen: Lieferungen wurden gestoppt, während die Ukraine ihre Bereitschaft signalisierte, Syrien mit Lebensmitteln zu versorgen.

    Assads Flucht:

    • Flucht nach Moskau: Baschar al-Assad verließ Syrien heimlich, ohne selbst engste Vertraute wie seinen Bruder Maher zu informieren.
  • Debatte um die Rückkehr Geflüchteter nach Syrien

    Bereits einen Tag nach dem Sturz des Assad-Regimes wurde in Deutschland und Europa intensiv darüber diskutiert, wie mit syrischen Geflüchteten umgegangen werden soll. Viele Politiker*innen, insbesondere in Deutschland, fordern die Rückkehr der Geflüchteten nach Syrien, das nun als „sicheres Land“ betrachtet wird. Deutschland und andere europäische Länder haben seit Montag wegen der unklaren Lage vorerst alle Entscheidungen über Asylanträge aus Syrien ausgesetzt.

    Der dänische Minister für Integration und Migration, Kaare Dybvad, erklärte in einem Interview mit dem finnischen Fernsehsender „MTV3“: „Für diejenigen, die in ihre Heimat zurückkehren möchten, bieten wir etwa 20.000 bis 25.000 Euro an, damit sie zurückkehren können.“

    Im Vergleich dazu zeigte sich Jens Spahn, stellvertretender CDU/CSU-Fraktionsvorsitzender, weniger großzügig. Er schlug im RTL/ntv- „Frühstart“ vor: „Wie wäre es, wenn die Bundesregierung sagt: Jeder, der nach Syrien zurückkehren möchte, für den chartern wir Maschinen. Der bekommt ein Startgeld von 1.000 Euro.“

    Die CDU versucht, dieses Thema für den Wahlkampf zu nutzen, ignoriert dabei jedoch, was viele Arbeitgeber*innen in Deutschland befürchten: Sollte eine große Zahl von Syrer*innen ihre Arbeitsstellen in Deutschland verlassen und nach Syrien zurückkehren, könnte dies massive Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt haben.

    Allein im Gesundheitswesen sind mehr als 5.800 Syrer*innen als Ärzt*innen tätig, hauptsächlich in Krankenhäusern. Zudem gibt es schätzungsweise über 2.000 syrische Menschen mit Fluchtgeschichte, die in deutschen Apotheken arbeiten. Was würde passieren, wenn diese Fachkräfte zurückkehren?

    Auch im Transportwesen, etwa bei Bus- und Lkw-Fahrerinnen, sind viele Syrer*innen beschäftigt. Ein plötzlicher Wegfall dieser Arbeitskräfte würde erhebliche Lücken hinterlassen.

    Natürlich braucht Syrien seine Bürger*innen und viele Syrer*innen möchten eines Tages in ihre Heimat zurückkehren. Doch die Entscheidung sollte bei ihnen liegen. Wie das UNHCR betont, muss die Rückkehr „freiwillig und sicher“ sein. Dies gilt nicht nur für Geflüchtete aus dem angrenzenden Libanon, sondern auch für Europa, das einst als Zufluchtsort für Menschenrechte galt.

    Dabei sollte man nicht vergessen, dass rechtsextreme Propaganda von verschiedenen Parteien verstärkt wird, was die Situation zusätzlich verschärfen könnte. Deutsche Politiker*innen übersehen zudem oft, dass viele Syrer*innen mittlerweile die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen und somit wählen können.

    In Deutschland leben derzeit etwa 974.000 Menschen mit syrischer Herkunft.  Bis Ende 2023 haben mehr als 160.000 Syrer*innen die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten. Allein im Jahr 2023 wurden 75.485 Personen aus Syrien eingebürgert, was 38 % aller Einbürgerungen in diesem Jahr ausmacht. Dennoch scheint das Interesse an den Stimmen syrischstämmiger Wähler*innen gering zu sein.

    Laut des Statistischen Bundesamts lebten Ende 2023 etwa 970.000 Syrer*innen in Deutschland. Im ersten Halbjahr 2024 wurden mehr als 37.000 Asylanträge von Syrer*innen gestellt (31 % der Gesamtzahl). Im Jahr 2023 wurden laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge über 100.000 Asylanträge eingereicht. Die meisten der Ankommenden sind junge Menschen, die flüchten, um dem Militärdienst zu entgehen. Doch dieser Grund besteht nicht mehr, und ich glaube, viele Syrer*innen werden tatsächlich nach Syrien zurückkehren. Wie ein Freund von mir sagt: „Was mache ich hier in Deutschland, wenn meine Heimat gerade eine historische Zeit erlebt?“

    Meine Einleitung, die ich am 8.12. hier für das syrien update geschrieben habe, wurde auch in der taz veröffentlicht.

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    • Ba’ath-Partei stellt Aktivitäten ein: Die Zentralleitung der Ba’ath-Partei hat alle Parteiarbeiten ausgesetzt und Parteivermögen unter staatliche Aufsicht gestellt. Zudem sollen Mitglieder in ihre ursprünglichen Arbeitsplätze zurückkehren.
    • UN-Kritik an Israels Luftangriffen: UN-Expert*innen betonten, dass Israels Luftangriffe auf syrische Militärstellungen gegen internationales Recht verstoßen und globale Instabilität fördern könnten.
    • Neue Flagge Syriens: Die FIFA hat die syrische „Unabhängigkeitsflagge“ offiziell anerkannt, die während des Kongresses zur Verkündung der Gastgeberländer der Weltmeisterschaften 2030 und 2034 gezeigt wurde.
    • Zivilschutz warnt vor Kriegsüberresten: Der syrische Zivilschutz dokumentierte in den letzten Wochen tödliche Unfälle durch Minen und Kriegsüberreste. Er ruft zur Vorsicht und Meldung verdächtiger Objekte auf.
    • Assad in Russland: Der russische Vize-Außenminister bestätigte, dass Baschar al-Assad sicher nach Russland gebracht wurde. Eine Auslieferung an den Internationalen Strafgerichtshof sei jedoch nicht möglich.
    • Spanien diskutiert Sanktionen: Der spanische Außenminister fordert die Überprüfung der Sanktionen gegen Syrien und betont die Notwendigkeit, rote Linien für Gespräche mit der neuen syrischen Führung festzulegen.
    • Wirtschaftliche Herausforderungen: Der syrische Übergangsministerpräsident Mohammed al-Bashir beschreibt die prekäre finanzielle Lage des Landes und kündigt Pläne zur Stabilisierung, Rückkehr von Geflüchteten und Wiederaufbau an.
    • Gefährdung von Menschenrechten: Die internationale Gemeinschaft wird aufgefordert, sicherzustellen, dass Menschenrechte und Rechte von Minderheiten in der neuen politischen Ordnung Syriens respektiert werden.
    • Rolle der Diaspora: Syrer*innen in Europa, insbesondere in Deutschland, sind Teil der Diskussionen über Rückkehrmöglichkeiten, während ihre wirtschaftliche und soziale Bedeutung im Gastland anerkannt wird.
    • Ein US-Amerikaner namens Travis Timmerman wurde im ländlichen Gebiet von Damaskus gefunden. Es wird angenommen, dass er in den Gefängnissen Assads inhaftiert war. Zunächst wurde fälschlicherweise angenommen, dass es sich bei dem Mann um den in Syrien verschwundenen amerikanischen Journalisten Austin Tice handelte.
  • Mit Assads Sturz endet ein Königreich des Grauens

    Der Sturz des Assad-Regimes markiert das Ende einer Ära, die von Unterdrückung, Gewalt und Angst geprägt war. Mehr als fünfzig Jahre lang hat eine Diktatur die Menschen in Syrien geknebelt, ihre Rechte mit Füßen getreten und das Land in eine Spirale aus Elend und Zerstörung geführt. Nun ist dieser Albtraum zu Ende. Doch an die Stelle des alten Systems treten nicht automatisch Stabilität, Frieden und Wohlstand. Vielmehr beginnt jetzt eine Phase, die nicht weniger herausfordernd ist: der Wiederaufbau eines Landes, das in Trümmern liegt – nicht nur physisch, sondern auch moralisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich.

    Eine Bilanz der Tyrannei

    Seit Hafiz al-Assad 1970 durch einen Putsch an die Macht kam, hat die Assad-Familie das Land mit eiserner Faust regiert. Die brutale Repression betraf alle Lebensbereiche: Zehntausende Syrer*innen verschwanden in Folterkellern, ganze Städte wurden zerstört, unzählige Menschen flohen ins Ausland. Die Schrecken des Regimes erreichten unter Bashar al-Assad ihren Höhepunkt. Die Revolution von 2011, die mit dem Ruf nach Freiheit und Würde begann, wurde mit unvorstellbarer Härte niedergeschlagen. Chemiewaffenangriffe, Belagerungen, Massenhinrichtungen und eine Flut von Desinformationen – das Regime schreckte vor nichts zurück, um an der Macht zu bleiben.

    Doch all dies hat es nicht geschafft, den Freiheitswillen der Menschen zu brechen. Der Sturz des Regimes zeigt, dass selbst die brutalsten Diktaturen nicht unbesiegbar sind, wenn das Volk sich erhebt. Es ist ein historischer Moment, der Hoffnung gibt – aber auch einen enormen Auftrag mit sich bringt.

    Die Herausforderung: Ein neues Syrien aufbauen

    Der Fall des Assad-Regimes ist nur der erste Schritt in einem langen Prozess. Jetzt muss Syrien als Staat und Gesellschaft neu aufgebaut werden. Dabei stehen die Syrer*innen vor einer gewaltigen Aufgabe: Es geht nicht nur um den Wiederaufbau zerstörter Städte und Infrastrukturen, sondern um die Heilung eines tief gespaltenen Landes. Jahrzehnte der Propaganda, der Gewalt und des gegenseitigen Misstrauens haben das soziale Gefüge zerrissen. Die Menschen müssen wieder lernen, miteinander zu leben – über ethnische, religiöse und politische Gräben hinweg.

    Politisch steht das Land vor einem Neuanfang. Ein autoritäres System, das alle Macht in den Händen einer einzigen Familie und ihrer Anhänger konzentriert hatte, ist nicht einfach zu ersetzen. Es braucht demokratische Strukturen, die auf Dialog, Teilhabe und Rechtsstaatlichkeit basieren. Doch der Weg dorthin ist lang und steinig, zumal viele Regionen von Milizen kontrolliert werden, deren Agenden oft nichts mit Demokratie oder Menschenrechten zu tun haben.

    Ein zentraler Baustein für die Zukunft Syriens ist die Aufarbeitung der Vergangenheit. Die Gräueltaten des Assad-Regimes dürfen nicht in Vergessenheit geraten. Es braucht eine umfassende juristische und gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den Verbrechen der letzten Jahrzehnte. Die Opfer verdienen Gerechtigkeit, und die kommende Generation muss die Wahrheit über diese dunkle Zeit erfahren. Nur so kann eine Kultur der Verantwortung und der Demokratie entstehen. Ohne Erinnerung droht die Gefahr, dass die alten Fehler wiederholt werden.

    Wirtschaftliche und soziale Hürden

    Neben den politischen Herausforderungen ist die wirtschaftliche Lage des Landes ein drängendes Problem. Millionen von Menschen leben in Armut, die Infrastruktur ist zerstört, und die Wirtschaft liegt am Boden. Der Wiederaufbau wird immense Ressourcen erfordern – Ressourcen, die Syrien nicht allein aufbringen kann. Internationale Unterstützung ist hier unverzichtbar. Doch selbst mit Hilfe von außen wird es Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern, bis das Land wieder auf eigenen Beinen stehen kann.

    Trotz aller Schwierigkeiten gibt es Grund zur Hoffnung. Der Sturz des Assad-Regimes zeigt, dass Veränderung möglich ist, selbst nach Jahrzehnten der Unterdrückung. Doch diese Hoffnung muss nun in konkretes Handeln umgesetzt werden. Es liegt an den Syrer*innen, die Fehler der Vergangenheit zu vermeiden und eine Gesellschaft zu schaffen, die auf Gerechtigkeit, Gleichheit und Respekt basiert.

    Dabei dürfen sie nicht allein gelassen werden. Die internationale Gemeinschaft hat eine Verantwortung, Syrien beim Übergang zu unterstützen – sei es durch finanzielle Hilfe, politische Beratung oder die Förderung von Bildung und Versöhnung. Doch letztlich ist es das syrische Volk, das den Weg in die Zukunft ebnen muss. Der Fall des Regimes ist nicht das Ziel, sondern der Beginn eines langen und schwierigen Prozesses.

     Syrien steht an einem Wendepunkt seiner Geschichte. Das Ende des Assad-Regimes ist eine Befreiung, aber keine Garantie für eine bessere Zukunft. Es ist eine Chance – eine, die genutzt werden muss. Die kommenden Jahre werden entscheidend sein. Wenn die Syrer*innen zusammenstehen und aus den Fehlern der Vergangenheit lernen, können sie ein neues Kapitel aufschlagen – eines, das nicht von Angst und Unterdrückung, sondern von Freiheit und Würde geprägt ist.

     

  • Übergangsregierung nimmt Arbeit auf

    Gestern gab der designierte Ministerpräsident Mohammed Al-Baschir die Bildung einer Übergangsregierung bekannt. Diese setzt sich aus mehreren Ministern der ehemaligen syrischen Rettungsregierung zusammen, die zuvor in Idlib tätig war. Al-Baschir betonte, dass dieses provisorische Kabinett bis März 2025 bestehen soll, um Verfassungsfragen zu klären, die Sicherheit zu gewährleisten, Institutionen zu stabilisieren und den Zerfall des Staates zu verhindern. Zugleich soll sie der Bevölkerung grundlegende Dienstleistungen bereitstellen, bis eine neue Regierung gebildet ist, die den Erwartungen der syrischen Gesellschaft entspricht.

    Allerdings bleibt die Lage im Umland von Damaskus weiterhin chaotisch, wo sich nach dem Zerfall alter Sicherheitsstrukturen einige junge Leute unerlaubt Waffen angeeignet haben. Nun ist es eine dringende Aufgabe, diese Waffen wieder einzusammeln, neue Polizeistrukturen aufzubauen und die Stabilität wiederherzustellen – ein aufwändiger und zeitintensiver Prozess.

    Unterdessen werfen sowohl Russland als auch der Iran anderen Akteuren, darunter der Türkei, vor, die Stabilität des Assad-Regimes untergraben zu haben. In diesem Zusammenhang äußerte Al-Baschir die Hoffnung, dass die Minister der abgesetzten Regierung bei der Übergabe von Dokumenten und Aufgaben helfen, um die Kontinuität der Dienstleistungen für die Bevölkerung sicherzustellen.

    Gleichzeitig griff der bekannte russische Philosoph Alexander Dugin, ein enger Berater des russischen Präsidenten Wladimir Putin, den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan scharf an. Mit den Worten „Er hat Russland verraten“ warf er Erdoğan vor, Russland und den Iran in Syrien hintergangen zu haben.

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    Eine kurze Zusammenfassung der Lage

     

    Rückkehr syrischer Geflüchteter:

    • Der türkische Innenminister Ali Yerlikaya plant ein Treffen mit syrischen NGOs, um die Rückkehr von Flüchtlingen zu besprechen.
    • Die Türkei hat die tägliche Kapazität für Rückkehrer auf bis zu 20.000 Personen erhöht. Seit 2016 sind 738.000 Syrer „freiwillig“ zurückgekehrt, während 2,935 Millionen Syrer weiterhin in der Türkei leben.

     

    Waffenstillstand in Manbidsch:

    • Die Kämpfe zwischen der „Syrischen Nationalarmee“ und den SDF wurden durch US-Vermittlung beendet.
    • SDF-Kommandant Mazlum Abdi kündigte den Abzug von Kämpfern aus Manbidsch an und forderte einen landesweiten Waffenstillstand sowie politische Verhandlungen

     

    US-Militärpräsenz:

    • John Finer, stellvertretender US-Sicherheitsberater, bestätigte den Verbleib der US-Truppen in Syrien zur Bekämpfung des IS und als Absicherung gegen Instabilität.
    • Die Türkei kritisierte den fehlenden Rückzug und forderte von Verbündeten, die Unterstützung der SDF und YPG einzustellen.

     

    Zukunftsperspektiven und Konflikte:

    • Die SDF signalisierte Bereitschaft, mit der neuen Regierung in Damaskus zusammenzuarbeiten und an einem politischen Prozess teilzunehmen.
    • Robert Kennedy Jr. berichtete über Trumps Pläne, US-Truppen aus Nordsyrien abzuziehen, um sie aus potenziellen Konflikten zwischen der Türkei und kurdischen Kräften herauszuhalten.

     

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  • „Syrien gehört wieder den Syrer*innen“

    „Sprich nicht über Politik, denn die Mauern haben Ohren“. Diesen Satz haben damals viele Menschen in Syrien gesagt oder gehört, wenn sie über die Politik ihrer Regierung sprechen wollten. Auch Hussam hat ihn gestern erwähnt. Denn in Assads Syrien konnte das mit dem Verschwinden im Gefängnis enden.

    Mehr als 50 Jahre lang herrschte das Assad-Regime in Syrien. Vater wie Sohn richteten ihre Politik gegen die eigene Bevölkerung. Korruption, Piraterie und Kriege, die Millionen Syrer*innen aus ihrer Heimat vertrieben haben.

    Vor dreizehn Jahren, genau am 15. März 2011, begann alles mit friedlichen Protesten gegen die Regierung und für mehr Freiheit und Demokratie. Doch Assad und seine Sicherheitsdienste gingen mit aller Härte dagegen vor. In der Folge wurden mehr als 300.000 Menschen getötet, Millionen haben das Land verlassen und sind seit 2011 auf der Flucht. Seit 2011 sind 113.218 Menschen dem Verschwindenlassen zum Opfer gefallen, darunter mehr als 3.000 Kinder und 6.700 Frauen.

    Mit dem Einmarsch der Rebellen Ende November haben viele Syrer*innen wieder Hoffnung geschöpft, ihre Familienangehörigen, Freund*innen oder Bekannten wiederzusehen. Und das ist nur möglich, wenn Assad und sein Regime gestürzt werden.

    Dieser Traum ist am Sonntag, dem 8. Dezember 2024, in Erfüllung gegangen. Syrien hat mit Assad nichts mehr zu tun. Nach 14 Jahren Krieg, Vertreibung, Zerstörung, Massenmord, Folter, Aushungerung, Bombardierung, Verzweiflung, Verlust der Heimat und vielem mehr blicken die Syrer*innen nun auf das neue Syrien und rufen: Die Diktatur ist vorbei. Ob in Syrien, in Deutschland, in der EU oder auf der ganzen Welt — sie feiern den Sturz Assads voller Freude und Hoffnung auf eine bessere Zukunft für ihr Land.

    Doch die Euphorie ist nicht nur Ausdruck der Freude über das Ende eines tyrannischen Regimes. Sie ist auch ein Zeichen für den unerschütterlichen Willen eines Volkes, das trotz unvorstellbarer Herausforderungen die Hoffnung auf ein besseres Morgen nie aufgegeben hat. Die Syrer*innen feiern nicht nur das Ende der Vergangenheit, sondern auch den Beginn einer Zukunft, die sie in Freiheit und Würde gestalten wollen.

    Ob ein ehemaliger Al-Qaida-Anhänger besser ist, lässt sich schwer sagen. Aber wem es gelingt, das Regime in Damaskus aus dem Palast zu vertreiben, der kann danach alles erreichen. Denn Syrien soll ein demokratisches Land für alle seine Bürger*innen werden. Fakt ist, dass der Sturz des Regimes einen historischen Wendepunkt markiert, den viele Syrer*innen lange Zeit nicht für möglich gehalten haben — an den sie aber immer geglaubt haben. Die Freude, die jetzt auf den Straßen zu spüren ist, ist überwältigend: Die Menschen tanzen, singen und feiern, sie sehen nach Jahren der Dunkelheit endlich wieder Licht.

    Lasst die Syrer*innen jetzt einfach feiern, denn sie haben diese Freiheit verdient. Sie haben sie verdient, nach all den Jahren. Wie sie danach ihr Land wieder aufbauen werden, das ist eine Frage für die Zukunft. Wichtig ist jetzt, dass Assad weg ist und Syrien wieder den Syrer*innen gehört, egal welcher Ethnie oder Minderheit sie angehören.

     

     

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  • Israelische Angriffe in Syrien

    Leider sind die Nachrichten, die aus Damaskus kommen, nicht alle so nur positiv – insbesondere im Hinblick auf die israelischen Angriffe in Syrien. Ein Radiosender der israelischen Besatzungsarmee berichtete: „Die israelische Armee hat die Fähigkeiten der syrischen Armee in der größten Luftoperation zerstört, die wir jemals in unserer Geschichte durchgeführt haben.“

    Zwei große Themen stehen dabei im Vordergrund: die selektive Gerechtigkeit und die historische Aufarbeitung. Ahmed al-Schar’a al-Jolane, der Oberbefehlshaber der syrischen bewaffneten Opposition (HTS), erklärte, dass die neuen Behörden bald eine Liste mit den Namen hochrangiger Personen veröffentlichen werden, die an der Folter des syrischen Volkes beteiligt waren, um sie strafrechtlich zu verfolgen und zur Rechenschaft zu ziehen. In einer Erklärung über Telegram erläuterte er, dass die künftige Regierung Belohnungen für Hinweise auf Armee- und Sicherheitsbeamte aussetzen wird, die in Kriegsverbrechen verwickelt sind. Er betonte, dass diese Personen auch international verfolgt werden sollen, um eine gerechte Bestrafung sicherzustellen.

    Al-Schar’a bekräftigte zudem, dass denjenigen Nachsicht gewährt wird, deren Hände nicht mit syrischem Blut befleckt sind, und dass eine Amnestie für ehemalige Wehrdienstleistende vorgesehen ist. Gleichzeitig versicherte er, dass die Rechte der Opfer nicht verwirkt oder vergessen werden.

    Diese Aussagen kommen zu einer Zeit, in der es zahlreiche Gerichtsprozesse gibt, die auf geheime Gefängnisse in Syrien hinweisen, von denen viele Menschen bislang nichts wussten. Diese juristische Aufarbeitung wird sich voraussichtlich ausweiten, zumal viele Syrer*innen nach Beweisen für das Schicksal verschwundener Kinder suchen.

    Ein drittes Thema betrifft die künftige Übergangsregierung. Es heißt, alle Ministerien stünden HTS sehr nahe oder dass HTS bislang keinen Kontakt zu anderen politischen Gruppen aufgenommen hat, sodass noch offen ist, ob an der Übergangsregierung alle politischen Strömungen in Syrien beteiligt sein werden können. Derzeit ist vieles unklar.

    Allerdings erwägen die USA offenbar, Hay’at Tahrir al-Sham von ihrer Terrorliste zu streichen, um eine direkte Kommunikation mit HTS zu ermöglichen – insbesondere angesichts neuer Erkenntnisse darüber, wie HTS nach einem Sturz Assads agieren könnte.

    Es kommen auch viele Informationen aus Deir ez-Zor, wonach zahlreiche Menschen gegen die von den Kurden geführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDK) demonstrieren. Dabei sollen die SDK angeblich mit Waffen gegen die Demonstrierenden vorgegangen sein. Gleichzeitig droht die von der Türkei unterstützte Syrische Nationale Armee (SNA) gemeinsam mit der ANA, Rakka von der SDK anzugreifen und unter ihre Kontrolle zu bringen. Scholz und Macron bekunden ihre vorsichtige Bereitschaft, „mit den neuen Führungspersönlichkeiten“ in Syrien zusammenzuarbeiten.

    Es bleibt sehr spannend, wie sich die Lage in ganz Syrien weiterentwickelt. Doch die Hoffnung ist noch groß, dass sich die Syrer*innen miteinander einigen und gemeinsam ein neues Syrien aufbauen können. Das ist, was ich mir wünsche.

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    Liebe Grüße
    Hussam Al Zaher

    Chefredakteur

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  • Der erste Atemzug in Freiheit: Syrien ohne Assad

    Die Worte, um meine Gefühle zu beschreiben, fehlen mir. Kann ich wirklich in Syrien laut „Freiheit!“ rufen? Werden meine Freund*innen dort endlich offen sprechen können? Unsere Wünsche waren einst so groß und wirkten doch so unerreichbar. Und nun ist es Wirklichkeit: Nach Jahrzehnten der Unterdrückung und 13 Jahren Revolution ist Syrien endlich frei von Assad!

    Doch mit dieser ersehnten Freiheit kommen auch immense Herausforderungen: Wie kann ein Land, das so lange unter einer brutalen Diktatur gelitten hat, wieder aufstehen? Wie kann Gerechtigkeit hergestellt werden?

    Freiheit nach der Angst

    „Lilas, die Wände haben keine Ohren mehr.“ Das schrieb mir gestern mein Lehrer. Zum ersten Mal können die Menschen in Syrien frei sprechen, ohne Angst vor Überwachung, Folter oder Repression. Es ist ein überwältigendes Gefühl der Befreiung – für viele das erste Mal in ihrem Leben. Doch die neue Freiheit bringt auch große Aufgaben mit sich: ein zerrüttetes Land, traumatisierte Menschen und der schwierige Weg zurück in die Normalität.

    Der Schmerz der Rückkehr

    Einige Gefangene wurden endlich befreit, doch viele werden immer noch vermisst. Wer zurückkehrt, findet oft ein Leben vor, das sich fremd anfühlt. Nicht nur wirtschaftliche, sondern auch psychische und soziale Probleme belasten die Menschen. Für Millionen Syrer*innen, die ins Exil fliehen mussten, ist die Zukunft ebenso ungewiss. Eine Freundin aus einem Flüchtlingslager in Jordanien schrieb mir: „Lilas, die Länder, die uns zurückschicken wollen, sollten wenigstens die Kosten für unsere Rückreise übernehmen. Wir haben nichts mehr.“ Die Sehnsucht nach der Heimat ist groß, doch die Realität bleibt erschreckend hart. Viele haben alles verloren, und Syrien steht vor dem riesigen Wiederaufbau einer zerstörten Nation.

    Bildung: Der Schlüssel zur Zukunft

    Das syrische Bildungssystem wurde von Assads Regime nahezu vollständig zerstört. Schulen liegen in Trümmern, Lehrer*innen und Schüler*innen sind geflohen, und eine ganze Generation wurde ihrer Bildung beraubt.

    Viele Kinder, die 2011 geboren wurden, haben niemals eine Schule besucht – nicht in Syrien, aber auch nicht in Zufluchtsländer wie der Türkei, Libanon oder Jordanien. Sie sind jetzt 13 oder 14 Jahre alt, ohne Bildung, ohne Perspektive. Diese Bildungslücke ist eine der größten Herausforderungen für den Wiederaufbau. Denn ohne Bildung wird es schwer, eine neue Gesellschaft aufzubauen.

    Auch die Gesellschaft muss sich neu finden. Die Jahre der Gewalt und Spaltung haben tiefe Gräben hinterlassen. Versöhnung, Verständnis und Zusammenhalt sind der Schlüssel, um diese Wunden zu heilen und eine gemeinsame Zukunft aufzubauen.

    Syrien war schon immer ein Land der Vielfalt – Christ*innen, Muslim*innen, Kurd*innen, Araber*innen. Diese Vielfalt muss jetzt zu einer Stärke werden, die Syrien vereint statt trennt.

    Hoffnung durch Gemeinschaft

    Syrien kann die anstehenden Herausforderungen nur gemeinsam meistern – mit der Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, von Organisationen.

    Möchte ich zurück? Ich habe viele gefragt, doch die Antwort bleibt unklar. Die Situation ist so neu, dass sie kaum zu begreifen ist. Ist es wirklich wahr? Syrien ohne Assad? Für viele in meiner Community bleibt diese Frage offen, besonders für jene, die in Europa aufgewachsen sind. Hier haben sie sich eine neue Heimat aufgebaut, viel erreicht und geschafft.

    Die Herausforderungen sind andere, aber nicht weniger groß. Doch eines ist sicher: Von hier aus kann man oft mehr bewirken. Viele, die in Europa Zuflucht fanden, hatten die Chance zu studieren und zu arbeiten. Jetzt können sie dieses Wissen nutzen, um den Wiederaufbau Syriens aktiv zu unterstützen. Die Kraft der Gemeinschaft war schon immer ein Teil der syrischen Identität. Diese Einheit muss jetzt stärker sein als je zuvor.

    Syrien ohne Assad ist der erste Schritt in eine bessere Zukunft. Mit Mut, Zusammenhalt und harter Arbeit kann es den Syrer*innen gelingen, ihr Land wieder aufzubauen – ein Land, in dem Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden herrschen.

    Syrien kann es schaffen. Die Syrer*innen können es schaffen. Gemeinsam.

     

    Weitere Updates zur Lage in Syrien bekommst du im Newsletter „syrien update“.

  • Stimmen von Damaskus in Syrien bis zum Ruhrgebiet in Deutschland

    Damaskus: zwischen Hoffnung und Sorge

    Im Herzen der Hauptstadt von Syrien, dem Zentrum der Macht des Assad-Regimes, spüren viele Syrer*innen eine nie dagewesene Aufbruchstimmung. Mahmoud (35), ein Lehrer in Damaskus, sagt: „Endlich fühlen wir uns frei, wie wir es nie zuvor kannten. Wir sehen die Hoffnung in den Augen der Kinder und der Bürger, die immer unter der Last der Angst lebten. Jetzt können wir von einer besseren Zukunft träumen, in der jeder seine Meinung äußern kann, ohne Angst vor Verhaftung oder Verfolgung zu haben.“ Trotz dieses neuen Aufbruchs zeigt Mahmoud Besorgnis über die Zukunft des Landes. „Syrien braucht Jahre, um sich zu erholen. Die Wunden, die der Krieg hinterlassen hat, heilen nicht über Nacht. Wir haben Angst, dass das Land in Chaos und neue Konflikte stürzen könnte, wenn wir nicht vorsichtig sind.“ Sana (22), Studentin aus Damaskus, spricht über die sozialen Herausforderungen, die Syrien nach dem Sturz des Regimes erwarten. „Der Krieg und die Propaganda haben das gesellschaftliche Gefüge des Landes zerrissen. Wir müssen wieder lernen, miteinander zu leben, über ethnische, religiöse und politische Gräben hinweg.“

    Hama: Hoffnungen mit Vorsicht

    Besonderes in Hama, einer Stadt mit einer langen Geschichte des Widerstands gegen das Regime, sind die syrischen Bürger*innen von einer Mischung aus Hoffnung und Vorsicht erfüllt. Ahmad (28), ein Bewohner von Hama, der viele Verwandte in den Ereignissen von 2011 verloren hat, sagt: „Syrien braucht echte Einheit zwischen allen seinen Bürgern. Wir hoffen, dass der Frieden kommt, aber wir haben Angst, dass ausländische Mächte das Chaos ausnutzen könnten, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen.“ Die Aktivistin Fatima (32) spricht über die Herausforderungen, die den Wiederaufbau der syrischen Gesellschaft betreffen werden: „Wir brauchen echte demokratische Strukturen. Die größten Herausforderungen wird es sein, die Denkweise der Menschen zu verändern, die unter diesem autoritären Regime aufgewachsen sind. Es wird schwieriger sein, den Menschen die Werte von Freiheit und Gerechtigkeit näherzubringen, als die zerstörten Städte wieder aufzubauen.“

    Aleppo: Zerstörung und der Traum von einem Neuanfang

    In der am stärksten zerstörten Stadt des Krieges Aleppo –, zeigt sich eine Mischung aus Hoffnung und Verzweiflung. Abdulrahman (26), ein Bewohner Aleppos, der nach Jahren des Exils in seine Heimatstadt zurückgekehrt ist, sagt: „Obwohl die Zerstörung groß ist, sehen wir eine große Chance, unser Leben wieder aufzubauen. Wir haben die Hoffnung auf ein gerechteres Syrien. Aber wir haben auch Angst, dass sich verschiedene Gruppen die Kontrolle über strategische Gebiete sichern und so die politische Lage weiter destabilisieren.“

    Doch Mariam (28), eine Einwohnerin der Stadt, die jahrelang in Kriegsgebieten lebte, fühlt sich sowohl hoffnungsvoll als auch besorgt. „Ich hatte Angst, alles zu verlieren. Aber heute glaube ich, dass wir in einem Land leben können, das sich von Grund auf neu aufbaut. Die Angst vor der Zukunft bleibt, aber ich denke, wir können ein neues Syrien aufbauen, wenn wir sicherstellen, dass es fair und inklusiv wird“, sagt sie.

    Al-Hasaka: die Vision einer geeinten Nation

    Auch in Al-Hasaka, im Nordosten Syriens, wo viele Kurd*innen leben, träumen die Bürger*innen von einer Zukunft, in der das friedliche Zusammenleben aller syrischen Gruppen im Mittelpunkt steht. Bei Rima (30), Lehrerin aus Qamischli, ist die Rede von der Notwendigkeit, alle syrischen Gemeinschaften in den politischen Prozess einzubeziehen. „Der zukünftige Staat muss die Rechte aller Gruppen respektieren. Wir wollen nicht, dass eine ethnische oder religiöse Gruppe von der politischen Beteiligung ausgeschlossen wird. Unsere größte Angst ist, dass das Land erneut in eine Diktatur oder in neue Konflikte abgleitet.“

    Essen, Deutschland: Hoffnungen auf Rückkehr

    Sowohl im Exil als auch im Heimatland spiegeln die Stimmen aus Deutschland die gemischten Gefühle vieler Syrer*innen. In Essen, einer Stadt im Ruhrgebiet, die viele syrische Geflüchtete beherbergt, teilen viele Syrer*innen die Hoffnung auf eine Rückkehr in ihre Heimat. Yusuf (33), der vor Jahren nach Deutschland geflüchtet ist, sagt: „Ich bin optimistisch, was den Sturz des Regimes betrifft und hoffe, eines Tages nach Syrien zurückzukehren. Aber wir haben Angst, dass das Land nach dem Sturz des Regimes erneut von Interessengruppen in externe Konflikte verwickelt wird, was eine Rückkehr unmöglich macht.“

    Die größte Angst: das Risiko von Chaos

    Trotz der weit verbreiteten Hoffnung auf einen Neuanfang bleibt die größte Sorge der Syrer*innen das potenzielle Chaos nach dem Sturz des Regimes. Viele, die sich über das Ende der Diktatur freuen, befürchten, dass das Land in einem politischen Vakuum versinkt, in dem verschiedene Gruppen um die Macht kämpfen. „Wir haben Angst, dass das Land in völliges Chaos stürzt und wieder zur Spielwiese für ausländische Mächte wird“, sagt Hossam (25), ein Student aus Dortmund. „Die größte Sorge ist, dass die Fehler der Vergangenheit wiederholt werden und das Land in neue Kriege und Konflikte verwickelt wird.“

    Nach dem Sturz des Assad-Regimes herrscht in Syrien eine Atmosphäre des Optimismus, aber auch der Besorgnis. Die Hoffnung auf ein freies und gerechtes Syrien wächst, doch gleichzeitig gibt es Ängste, dass die politische Transition in Chaos und Konflikte umschlagen könnte. Die syrischen Bürger*innen stehen vor einer gewaltigen Herausforderung: Die Einheit des Landes, der Wiederaufbau der Gesellschaft und die Schaffung eines demokratischen Systems sind entscheidend, aber auch die größte Herausforderung. Nur durch Zusammenarbeit und einen inklusiven politischen Prozesses kann Syrien wieder zu einer stabilen und gerechten Nation werden.

     

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  • Wie das Assad-Regime Syrien zerstörte

    Das Assads Regimes ist besiegt, aber wie geht es weiter? Wer verstehen will, wie es zu dem Sturz des Assad-Regimes in Syrien kam, muss die Geschichte ab dem Jahr 1970 betrachten. Damals übernahm Hafez al-Assad durch einen Putsch die Macht. Im Jahr 2000 trat sein Sohn Baschar al-Assad die Nachfolge an und erbte die Herrschaft.

    Es geht jedoch nicht nur um eine einzelne Person, sondern um ein ganzes System, das seit Jahrzehnten Massaker an der syrischen Bevölkerung verübt hat. Die Unterdrückung politischer Gegner, die brutale Niederschlagung von Protesten und die systematische Anwendung von Folter haben das Assad-Regime geprägt.

    Ein Wendepunkt war der Arabische Frühling: Dieser brachte die Ideen von Freiheit und Demokratie in die Köpfe vieler arabischer Völker. Auch in Syrien forderte die Bevölkerung grundlegende Veränderungen. Doch anstatt auf die Forderungen einzugehen, antwortete das Regime mit extremer Gewalt.

    Seit 2011 hat sich Syrien in ein Schlachtfeld internationaler Konflikte verwandelt. Die syrische Bevölkerung litt unvorstellbar: Flugzeugangriffe und Bombardierungen zerstörten Städte und Dörfer, Foltergefängnisse und willkürliche Verhaftungen verbreiteten Angst und Schrecken und Millionen Menschen mussten fliehen und leben heute unter oft unwürdigen Bedingungen in Lagern oder verstreut in der ganzen Welt. Die Flucht bedeutete für viele jedoch nicht das Ende des Leidens. In ihren neuen Heimatländern kämpfen sie häufig mit Rassismus und Diskriminierung. Das Ausmaß dieses Leids lässt sich kaum in Worte fassen.

    Assad selbst machte seine Haltung deutlich: „Ich oder das Land wird verbrannt.“ Dieser Satz ist zum Sinnbild seiner Politik geworden. Tatsächlich hat er das Land zerstört und die Hälfte der Bevölkerung vertrieben. Lange konnte Assad sich auf die Unterstützung von Russland und Iran verlassen. Doch die internationale Lage hat sich verändert: Der Angriffs-Krieg in der Ukraine und der Krieg in Gaza haben die Ressourcen Russlands und Irans stark beansprucht. Dadurch sind sie weniger in der Lage, Assad militärisch und wirtschaftlich zu unterstützen. Diese Schwächung des Regimes hat es der syrischen Opposition ermöglicht, erneut offensiv zu handeln.

    Für die Zukunft Syriens sind folgende Punkte für mich wichtig:

    1. Israel muss die Bombenangriffe sofort beenden. Die aktuelle Situation darf nicht ausgenutzt werden, um neue Gebiete in Syrien zu besitzen.
    2. Syrien muss ein einheitlicher Staat bleiben. Jede Form der Teilung nach ethnischen oder religiösen Kriterien lehne ich entschieden ab. Daher müssen alle Gruppen ihre Waffen niederlegen, egal auf welchem syrischen Gebiet sie sich befinden.
    3. Syrien gehört allen seinen Bürger*innen – von West nach Ost und von Nord nach Süd.

    Was weiterhin unklar bleibt, ist die aktuelle Lage im Osten Syriens. Dort sind verschiedene Kräfte aktiv, darunter kurdische Gruppen und internationale Akteur*innen, die eigene Interessen verfolgen, die nicht im Interesse der Mehrheit der Menschen in Syrien liegen. Nicht zuletzt wurde 2015 oft gefragt, warum wir nach Deutschland geflüchtet sind. Doch schon einen Tag nach dem Sturz des Regimes kam direkt die Frage, wann wir Syrer*innen Deutschland wieder verlassen werden.

    In Deutschland leben etwa 1,3 Millionen Syrer*innen. In den letzten zehn Jahren sind sie Teil der deutschen Gesellschaft geworden. Viele von ihnen haben sogar die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen. Ob sie zurückkehren oder nicht, ist eine persönliche Entscheidung, die jede*r für sich selbst treffen muss. Was man nicht vergessen sollte: Das deutsche Grundgesetz sichert die Rechte aller Menschen in Deutschland – selbst wenn sie die deutsche Staatsangehörigkeit nicht besitzen.

     

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  • Truppen in der Pufferzone: So hat Israel das Entflechtungsabkommen zu Fall gebracht

    Während Israels Premierminister Benjamin Netanjahu am Montag offen erklärte, dass die syrischen Golanhöhen, die einen Überblick über die Hügel Galiläas und den See Genezareth bieten, „für immer israelisch“ bleiben würden, drangen seine Streitkräfte in die Pufferzone ein, die an den von Israel besetzten Teil der Golanhöhen grenzt. Dabei erreichten sie nach Angaben einiger Quellen sogar Qatana. Drei Sicherheitsquellen bestätigten zudem gegenüber Reuters, dass das israelische Militär rund 25 Kilometer nach Südwesten in Richtung Damaskus vorgedrungen sei.

    Ebenso wiesen sie darauf hin, dass israelische Streitkräfte sich zehn Kilometer in die Stadt Qatana im südwestlichen Umland von Damaskus vorarbeiteten, welche zehn Kilometer innerhalb des syrischen Territoriums liegt, östlich einer entmilitarisierten Zone, die die besetzten Golanhöhen von Syrien trennt. Andere Quellen von Al-Arabiya/Al-Hadath betonten allerdings, dass es nicht stimme, dass israelische Kräfte in die Region Qatana eingedrungen seien.

    Israelisches Dementi

    Der Sprecher der israelischen Armee, Daniel Hagari, wies ebenfalls zurück, dass das Vordringen bis auf 25 Kilometer an Damaskus herangereicht habe, und betonte, dass die israelischen Kräfte die Pufferzone nicht überschritten hätten. Allerdings bestätigte er, dass Israel in die Pufferzone eingedrungen sei. Das bedeutet, dass Israel das 1974 zwischen syrischer und israelischer Seite geschlossene Waffenstillstands- und Trennungsabkommen missachtet hat.

    Was ist dieses Abkommen?

    Die Vereinbarung, die nach dem Oktoberkrieg von 1973 am 31. Mai 1974 in Genf (Schweiz) geschlossen wurde, stoppte das Feuer zwischen beiden Seiten und trennte syrische und israelische Truppen in dem Gebiet entlang der besetzten Golanhöhen an der Grenze der beiden Länder. Das unter dem Namen „Trennungsabkommen“ bekannte Dokument sah zudem die Einrichtung einer Pufferzone zwischen den beiden Seiten auf beiden Seiten der Grenze. Diese Pufferzone erstreckt sich entlang der Grenze (75 Kilometer) von Dschabal asch-Scheikh bis zur jordanischen Grenze und wurde als „verbotene Zone“ bezeichnet, in der Militäreinheiten beider Seiten nicht erlaubt sind. Die UN-Truppe (UNDOF) übernahm die Aufgabe, die Einhaltung dieses Entflechtungsabkommens zu überwachen.

    Die Vereinten Nationen verurteilten das israelische Vordringen und betonten, dass es einen Verstoß gegen das vor 50 Jahren unterzeichnete UN-Abkommen darstelle. UN-Sprecher Stéphane Dujarric erklärte, die für die Überwachung des Waffenstillstandsabkommens zuständige UN-Truppe (UNDOF) habe der israelischen Führung mitgeteilt, dass diese Handlungen einen Verstoß gegen das Entflechtungsabkommen von 1974 darstellt. Er wies zudem darauf hin, dass die israelischen Kräfte, die in die Pufferzone eingedrungen sind, weiterhin an drei Orten präsent seien.

     

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