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  • roots & reels #12 : Wie lang ist der perfekte Film

    Wie lang sollte ein Film im Idealfall sein? Unter 90 Minuten? Oder genau 90 Minuten? Vielleicht doch eher zwischen 100 und 120 Minuten? Oder 180, nein, 240 Minuten??? Diese Frage ist vielleicht etwas unnötig. Ein Film sollte eben so lang sein, wie lang er sein muss. So lang wie das Drehbuch vorgibt, so lang wie der Regisseur für seine Vision benötigt (hier habe ich bewusst gegendert, Männer lieben es, lange Filme zu drehen).

    Auch wenn ich persönlich froh bin, wenn alles in anderthalb Stunden oder noch kürzer erzählt wird, habe ich nichts dagegen, wenn eine Geschichte drei oder vier Stunden braucht. Wenn mir von der ersten Sekunde an das Gefühl vermittelt wird, dass sich hier Zeit genommen wird. Und du? Magst du eher kurze oder lange Filme?

    Zum Thema Männer noch eine kleine Anmerkung: Das war natürlich Quatsch. Der vermeintlich beste Film aller Zeiten, der alle 10 Jahre durch das renommierte Filmmagazin „Sight and Sound“ ausgezeichnet wird, ist „Jeanne Dielman“ der belgischen Filmemacherin Chantal Akerman. Das Drama geht stolze 201 Minuten. Und drei der bekanntesten weiblichen Filmschaffenden in Indien, Zoya Akhtar, Farah Khan Kunder und Meghna Gulzar, produzieren regelmäßig Filme, die die 2,5- bis 3-Stunden-Marke knacken. Gut, Indien ist ein Fall für sich, dort gehen die Streifen so oder so sehr lang. Man hat sogar Glück, wenn man in 2 Stunden fertig ist.

    Der Grund, weshalb ich über die Länge von Filmen so im Detail nachdenke, ist unter anderem wegen ALFILM, dem arabischen Filmfestival in Berlin. Darüber hatte ich ja bereits in der vorherigen Ausgabe von „roots & reels“ geschrieben. Doch in dieser wurde nicht erwähnt, dass ich mir während des Festivals auch noch „The Gate of Sun“ (Bab el shams) des ägyptischen Regisseurs Yousry Nasrallah angeschaut hatte.

    Dieser Film gilt als Meisterwerk des arabischen Kinos und ist eine Verfilmung des gleichnamigen Romans von Elias Khoury (als „Das Tor zur Sonne“ auch auf Deutsch erhältlich). Geschildert wird eine Familiengeschichte von der Nakba in 1948 bis hin zu den Unruhen der 90er Jahre (und schaut man sich die heutige Nachrichtenlage in Palästina an, dann merkt man, wie aktuell dieser Film von 2004 ist).

    Ich konnte zum Glück beide Teile des Films sehen, die letztes Jahr vollständig restauriert wurden, The Departure sowie The Return. Der erste Teil geht 135 Minuten, der zweite Teil einen Tick länger mit 143 Minuten. Somit waren wir schon bei über 4,5 Stunden! Was ich aber sagen will und das ist eigentlich das Wesentliche: Es hat sich zu keinem Zeitpunkt danach angefühlt.

    Nasrallah ist so ein begnadeter Geschichtenerzähler, „The Gate of Sun“ so lebendig und schwungvoll inszeniert, mit all der Freude und Trauer der Materie. Einige 90-Minüter, ich werde hier keine Namen nennen, fühlen sich vergleichsweise länger an. Das ist sehr bemerkenswert. Ich hoffe, dass es nicht bei dieser einen Sonderveranstaltung in Berlin bleiben wird, sondern dass es in Zukunft weitere Screenings von diesem wichtigen und zeitgemäßen Film geben wird.

    BINGE-WATCHING: MINISERIEN

    Spricht man über Längen von Filmen, dann dürfen Miniserien natürlich nicht vergessen werden. Im Zeitalter des Binge-Watchings (befinden wir uns eigentlich immer noch in diesem Zeitalter?) ist es ja nicht unüblich, dass 6 bis 8 Folgen einer neuen Serie in einem einzigen Zug geguckt werden. Ich selbst habe das jüngst getan, bei der Netflix-Produktion „Baby Reindeer“ zum Beispiel. Aber auch „Ripley“ und „Heeramandi“ (auch beide bei Netflix) hatte ich jeweils in zwei, drei Tagen durch, „Mr & Mrs Smith“ (Prime) sogar in einer Nacht – ich bin nicht stolz drauf.

    Es gibt Memes und Witze darüber, wie Menschen, die sich vor langen Filmen scheuen, überhaupt kein Problem damit haben, mehrere Folgen einer Serie am Stück wegzubingen. Ich bin kein Psychologe und kann an dieser Stelle leider nicht sagen, woran das liegt, aber es ist trotzdem ein interessanter Aspekt der Frage, wie lang ein Film sein darf, oder noch genauer: Wie lange braucht es, eine gute Geschichte zu erzählen? Es gibt übrigens Menschen, die lange Filme, wie etwa „Killers of the Flower Moon“ von Martin Scorsese, wie eine Miniserie schauen, diesen also in mehrere Teile zerstückeln und über ein paar Tage gucken. Ich möchte nicht daran denken …

  • roots&reels #11: ALFILM und Hiam Abbass

    Immer, wenn die Rede von den besten Schauspielerinnen der Welt ist – und ich meine echte Legenden, und nicht die jüngere Riege (Sorry, Zendaya, Florence Pugh usw.) – dann werden meist dieselben Namen genannt: Meryl Streep, klar, Judi Dench, dann Juliette Binoche und Isabelle Huppert aus Frankreich, Viola Davis natürlich und so weiter. Alle zurecht – sie sind so gut in dem, was sie machen. Aber ein Name wird leider selten bis kaum genannt, obwohl diese Schauspielerin meiner Meinung nach auf jeden Fall in diese Aufzählung gehört: Hiam Abbass!

    Abbas wurde Anfang der 60er in Nazareth geboren, in einer Familie, die 1948 während der „Nakba“ (zu Deutsch: Katastrophe) aus ihrem palästinensischen Dorf vertrieben wurde. Als junge Frau verliebte sie sich in das Theater, beschloss aber recht früh, Israel zu verlassen, unter anderem weil sie nicht immer unter den schwierigen behördlichen Bedingungen arbeiten wollte. Ohne so wirklich den Segen ihrer Familie zu haben, verließ Abbass ihr Zuhause, schließlich wartete eine illustre Karriere auf sie, in Filmen von Regisseuren wie Julian Schnabel, Steven Spielberg, Jim Jarmusch oder Ridley Scott. Jüngst war Abbass im Blockbuster  „Blade Runner 2046“ zu sehen oder den Festival-Favoriten „Insyriated“ und „Gaza mon amour“.

    Auch im Binge-Watching-Programm ist Hiam Abbass voll und ganz angekommen: Sie hat eine wunderbare Rolle als Mutter von „Ramy“ (auf MGM+ bei Prime verfügbar) und auch als undurchsichtige Frau von Gründer und CEO Roy Logan in „Succession“ (alle Staffeln bei WOW). Abbass ist also in mehreren Prestige-Sachen zu finden, genauso wie in Arthouse-Stoffen und dabei immer eine Bereicherung für den Cast. Mehr Leute sollten sie auf dem Schirm haben.

    15 JAHRE ALFILM

    Es ist somit nur richtig, dass im Programm der 15. Edition von ALFILM Hiam Abbass mehrfach vertreten ist. ALFILM ist das jährlich stattfindende arabische Filmfestival Berlins und zeigt seit inzwischen fünfzehn Jahren die besten arabischen Geschichten in den Kinos der Hauptstadt. Der Eröffnungsfilm ist die einfühlsame und emotionale Dokumentation „Bye Bye Tiberias“ von Lina Soualem – Hiam Abbass Tochter. Mit diesem Film kehrt Soualem in das Dorf zurück, in dem Abbass aufgewachsen ist und letztendlich verlassen musste, um Weltstar zu werden.

    Mit einer intelligenten und sensiblen Kameraführung, gemischt mit sehr viel Archivmaterial und ehrlichen Gesprächen aller Beteiligten, zeichnet die junge Regisseurin ein Porträt ihrer Familie zwischen Palästina, Syrien, Frankreich und anderswo und nimmt insbesondere mehrere Generationen von Frauen in den Fokus, ihre Ängste und Hoffnungen, ihre Liebe und Trauer. Sie erzählt vom Verlust der eigenen Heimat, ein Thema, das sich durch die ganze Geschichte zieht.

    Um all das geht es auch im Kurzfilm „Sokrania 59“ von Abdallah Al Khatib. Hier spielt Hiam Abbass eine Geflüchtete aus Syrien (mit palästinensischer Herkunft), die mit ihrer Familie in Deutschland in einem Gemeinschaftshaus untergekommen ist. Willkommen fühlen sie sich nicht, vor allem weil sie täglich von einem Inspekteur schikaniert werden, der unangekündigt auftaucht und die Familie an alle – sehr deutschen – Regeln erinnert.

    Von einem Tag auf den anderen kommen dann auch noch zwei ukrainische Geflüchtete dazu, mit denen die Wohnung geteilt werden muss. Ab dieser Szene ist der Film vorhersehbar, mit typischen Culture-Clash-Komponenten, aber was soll’s, es ist ein Kurzfilm und die Message ist in diesen Zeiten der gesellschaftlichen Spaltungen wichtiger denn je. Dem Film gelingt es jedenfalls, nicht ins absurd Melodramatische abzudriften. Und die Kameraeinstellungen zum Ende hin machen auch Spaß.

    Weniger spaßig ist „Yellow Bus“ von Wendy Bednarz, doch die Performances sind hier sehr stark: Ananda und ihr Mann Gagan haben Indien in der Hoffnung auf ein besseres Leben verlassen, doch ihr Leben in einem ungenannten arabischen Golfstaat wird schnell zum Albtraum. Eines Tages wird ihre Tochter tot im Schulbus aufgefunden, sie wurde dort einfach vergessen und ist an der Hitze erstickt. Ananda schwört Rache, doch so einfach ist das nicht in einem Land, wo ihre Religion und Kultur auf hiesige Bräuche und Regeln prallt, wo niemand Verantwortung übernehmen möchte. Der Film ist vielleicht 15–20 Minuten zu lang, aber er lohnt sich für die aufrichtige Darbietung von Tannishtha Chatterjee als gebrochene Mutter.

    Das ALFILM-Festival läuft vom 24. bis 30. April in verschiedenen Berliner Kinos und zeigt u. a. Spiel-, Dokumentar- und Kurzfilme, Panels und Masterclasses mit Filmschaffenden. BYE BYE TIBERIAS, SOKRANIA 59, YELLOW BUS und viele weitere Titel sind alle noch zu sehen.

    Weitere Infos: https://alfilm.berlin/

     

    KONTAKT FÜR ANREGUNG, LOB (BITTE NICHT), KRITIK, BRIEFFREUNDSCHAFT USW.

    Du kannst mir natürlich auch jederzeit schreiben, wenn dir etwas auf dem Herzen liegt. Wenn du einen von mir empfohlenen Film nicht gut findest oder wiederum einen Film empfehlen möchtest, über den ich bei „roots & reels“ schreiben soll, melde dich. Mir ist wichtig, was du zu sagen hast! Ich antworte auch allen, versprochen:

    schayan@kohero-magazin.de

    Dein

    Schayan

  • roots & reels #10: Sieger Sein

    10 Ausgaben! Wow, was für ein Jubiläum. Wer hätte das gedacht vor ein paar Monaten, als ich angefangen habe, diesen Newsletter zu schreiben. Danke an jede*n einzelne*n von euch, vor allem an jene, die alle 10 Ausgaben gelesen und mir immer treu geblieben sind. Okay, es reicht …

    Zuallererst wünsche ich allen, denen es etwas bedeutet und die es diese Woche feiern oder gefeiert haben, ein herzliches Eid Mubarak! Das sogenannte „Zuckerfest“ diese Woche am Ende des Fastenmonats Ramadan bedeutet für mich in erster Linie, eine schöne Zeit mit der Familie zu verbringen. Und weil im Hause Riaz im Moment 3823 Kinder rumlaufen und bestimmen, was gemeinsam geschaut werden soll (Kung Fu Panda 3 …), ist es für mich irgendwie auch Zeit für Kinderfilme.

    Aber wenn mir das alles too much wird, mit den Animationen von Pixar und Dreamworks, dann werde ich einfach ins Kino gehen, für den fantastischen Kinderfilm „Sieger Sein“ von Soleen Yusef. Dabei ist „Sieger Sein“  mehr als „nur“ ein Kinderfilm. Die deutsch-kurdische Regisseurin erzählt in ihrem zweiten Spielfilm nach „Haus ohne Dach“ eine Story über Flucht und Migration, über Kriegstrauma und Zusammenhalt, über Schule und Perspektiven. Und Fußball!

    Mona (gespielt von Dileyla Agirman) muss mit ihrer Familie aus Syrien flüchten und landet in einer Grundschule in Berlin-Wedding. Sie spricht kaum Deutsch und wird als Außenseiterin von ihren Mitschülerinnen nicht auf Anhieb akzeptiert. Bis Herr Che (Andreas Döhler) auf ihre Skills auf dem Fußballfeld aufmerksam wird und sie ins Team befördert. Kann mit Mona etwas aus dieser chaotischen Mannschaft werden, kann sie einen Pokal für die Weddinger Schule holen?

    Das sehr persönliche und in Teilen autobiografische Drehbuch von Soleen Yusef hat viel Charme und noch viel mehr Herz. Der Film schafft es auf authentische Art und Weise, Humor und Trauer zu verbinden, was wirklich nicht jedem Film gelingt – geschweige einem im Genre des deutschen Kinderfilms. Meine Highlights waren die Szenen mit Monas Mutter und ihren Brüdern am Esstisch und auch die Fußballspiele selbst in der zweiten Hälfte können sich sehen lassen. Für Soleen Yusef ist „Sieger Sein“ eine „Hommage an meinen Lehrer, meine Eltern, meine Geschwister und meine Mädchenfußballmannschaft“. Schau dir den Film unbedingt an, mit deinen Kindern, deinen Eltern, alleine. Und lies auch mein Interview mit der Regisseurin weiter unten.

     

    Im Spotlight: Soleen Yusef

    Im Interview spricht die Regisseurin von „Sieger Sein“ über die autobiografischen Einflüsse ihrer Fluchtgeschichte auf den Film und wie sie große politischen Themen und Herausforderungen für Kinder erzählt.

     

    Liebe Soleen, dein neuer Film „Sieger Sein“ hatte Weltpremiere auf der Berlinale. Was war dein Highlight, ist dir eine Begegnung oder etwas anderes besonders in Erinnerung geblieben?

    Die Weltpremiere auf der Berlinale war sehr überwältigend. Nicht nur, weil wir der Eröffnungsfilm der Sektion „Generation“waren und ein großes Spotlight auf den Film und die Geschichte fiel, sondern aufgrund der vielen positiven Publikumsreaktionen. Ob groß oder klein, jung oder alt, bio-deutsch oder migrantisch, filmaffin oder gar nicht, der Film lässt niemanden kalt und hat eine emotionale, unterhaltende, aber auch politische Kraft in seiner Direktheit, Authentizität und Hoffnung, getragen auch durch einen großartigen Cast und ein Kreativteam, das „Sieger Sein“ viel Seele und Herz geschenkt hat.

    Warum eigentlich ein Kinderfilm?

    Ich wollte schon immer einen etwas anderen Kinderfilm machen, mit Lebenswelten, die es so noch nicht auf deutscher Kinoleinwand gab. Hier spreche ich nicht nur über Migrationshintergründe, sondern von allen Kids, die in ökonomisch, sozial und kulturell anderen Lebensrealitäten stattfinden müssen. Ihre Geschichten sind genauso heldenhaft und erzählenswert. Sie können genauso als Figuren inspirieren und Hoffnung schenken.  Das gespiegelt zu bekommen durch lachende, weinende und staunende Kinderaugen, die sich endlich in lebensnahen Heldensehen dürfen, war das Größte. Vielleicht mache ich nur noch Kinder- und Jugendfilme. So viel Ehrlichkeit und echte Emotionalität begegnet einem nämlich selten in dem Business.

    In dem Film geht es um das Ankommen in Deutschland und was das alles mit sich bringt. Wie viel steckt von deinem eigenen Leben in dem Film?

    „Sieger Sein“ ist sehr persönlich und eine Hommage an meinen Lehrer, meine Eltern, meine Geschwister und meine Mädchenfußballmannschaft. Viele der Begebenheiten sind echt und haben zu einem Großteil so stattgefunden. Ich habe es natürlich fiktionalisiert, überhöht und künstlerisch für Kinderherzen und -köpfe übersetzt. Der Kern der Geschichte hat jedoch gelebte und gespeicherte Erfahrungen, Bilder, Emotionen und Begegnungen. So auch die zwischen Mona (Dileyla Agirman) und Herrn Che (Andreas Döhler), die lebensverändernd wird und einen großen, positiven Einfluss auf ihren weiteren Lebensverlauf hat.

    Lehrkräfte können Kinder hoch- oder runterziehen. Natürlich gibt es schlechte und rassistische und ungeduldige Menschen in jedem Berufszweig. Ich hatte irgendwie großes Glück, immer auf Lehrkräfte zu treffen, die mich sahen und hörten. Vielleicht hatte ich aber auch sehr viel Respekt vor Lehrer und Lehrerinnen, weil ich die Schule im Irak, heute die autonome Region Kurdistan, ganz anders kannte. Mit Fahnenappell und Uniformen, Fingernägel zeigen und wenn die nicht sauber waren, dann gab’s den Stock auf die Hand. Deutsche Schulen waren ein Kulturschock dagegen. Mit Lehrern auf Augenhöhe? Laut oder respektlos antworten? Per ‚Du‘ auch noch? No way!

    Wie war denn dann das Verhältnis zwischen dem jungen Cast des Films und dir als Regisseurin? War es von Anfang an ein vertrautes Miteinander?

    Es ist ein Segen und Fluch zugleich gewesen. Die Kinder waren extrem engagiert, talentiert, berührend, klug, aufgeschlossen und mehr als der Film und die Geschichte sich wünschen können. Die Realität ist aber die, dass man nur fünf Stunden mit ihnen am Set stehen und davon lediglich drei Stunden mit Drehen verbringen darf.

    Rechtlich und zum Schutz der Kids ist diese Regelung ja auch genau richtig, die Konzentration und Kraft ist sowieso schneller hin, als man gucken kann. Dennoch stellt es die Produktion und damit die finanzielle Machbarkeit vor große Herausforderungen. Einfach gesagt brauchen Kinderfilme mehr Drehtage und mehr Drehtage bedeutet ein größeres Budget. Die Mitarbeit und das Miteinander waren aber wirklich pures Glück.

    Wie schafft man es, politische Themen wie zum Beispiel den kurdischen Befreiungskampf in einen Kinderfilm zu verpacken, damit die Message klar ist, aber es weiterhin eine Balance zwischen der Leichtigkeit und der Seriosität gibt?

    Die größeren politischen Themen, Traumata und Kriege waren ja Teil meiner Kindheit und ich habe nicht verstanden, warum es okay ist, wenn ein Kind das durchleben muss, aber nicht okay ist, das in einem Film, einem Buch oder Ähnlichem zu sehen? Wie absurd ist das bitte? Dann habe ich aber über meine Nichten und Neffen nachgedacht und wollte sie nicht durch einen Film traumatisieren, nur weil ich das als Kind durchmachen musste. Schließlich sind meine Eltern geflüchtet, damit die nächste Generation in Frieden und Freiheit leben kann.

    Gleichzeitig ist die politisch-faschistische Entwicklung hierzulande, aber auch in ganz Europa und den USA, erschreckend und betrifft die Zukunft. Daher sehe ich mich in der Verantwortung, den Kindern stets auf Augenhöhe und mit Wahrhaftigkeit zu begegnen, um ihnen das Gefühl von Verständnis und die Sichtbarkeit ihrer inneren und äußeren Konflikte zu spiegeln. Die Balance zwischen Leichtigkeit und Seriosität erreicht man durch Ernsthaftigkeit, die es mit Humor zu brechen gilt.

    Vor allem müssen andere, übersetzte Bilder und Sprachwelten entdeckt und geschrieben werden, die dazu einladen, einzutauchen und nicht vor den Kopf gestoßen zu werden. Die Hoffnung stirbt immer zuletzt und es gibt immer irgendwo ein Licht. Davon will ich erzählen; kurz bevor die Sonne aufgeht, ist die Nacht am dunkelsten.

    Welche Mannschaft supportest du eigentlich selbst beim Fußball?

    Immer die Underdogs. Die ohne viel Kohle. Ohne teure Player oder namhafte Trainer. Die sich trotz vieler Widrigkeiten nach oben kämpfen.

     

  • roots&reels #9: Dune 2

    Endlich! Aufmerksame Leser*innen werden bemerkt haben, dass der letzte Newsletter schon eine Weile zurückliegt, vor über einem Monat. Manchmal wird man eben vom eigenen Leben und der eigenen Gesundheit eingeholt. Jetzt aber geht es munter weiter mit „roots & reels“ und hoffentlich genauso erfolgreich wie mit „Dune“ (sorry für diese billige Überleitung):

    „Dune 2“, die Fortsetzung des Science-Fiction-Films von Denis Villeneuve aus dem Jahr 2021, regiert derzeit alle Film-Schlagzeilen und auch Social Media. Tiktok ist überflutet mit Content von Sandwürmern, von der Droge „Spice“, von der Liebesgeschichte zwischen Paul Atreides und seiner Geliebten Chani. Und von den vier jungen Talenten Timothée Chalamet, Zendaya, Austin Butler und Florence Pugh, die neben der älteren Schauspiel-Riege Stellan Skarsgård, Javier Bardem, Josh Brolin und weiteren das Ensemble des Films ausmachen. Es scheint, als hätte Hollywood in diesem Jahr noch keinen weiteren Film produziert.

    Die Geschichte von „Dune“ basiert auf Frank Herberts gleichnamigem Roman von 1965. Der junge Fürst Paul Atreides (Chalamet) verteidigt nach dem Tod seines Vaters (Teil 1) mithilfe der indigenen Bewohner*innen den Wüstenplaneten Arrakis gegen imperiale Truppen. Schon in den 80ern wurde Herberts Bestseller vom Filmemacher David Lynch verfilmt, doch nicht so bildgewaltig und episch wie vom Kanadier Villeneuve. Doch Lynch brauchte nicht zwei ganze Filme dafür.

    Ich war ehrlich gesagt kein großer Fan des ersten Dune-Films, den zweiten habe ich noch nicht gesehen. Was ich persönlich interessanter finde als die Filme selbst, sind die Analysen und Interpretationen drumherum. Wenn man den Roman gelesen hat, dann weiß man, wie sehr Herbert von monotheistischen Religionen wie dem Islam inspiriert wurde. Nachträglich Ramadan Mubarak an alle Leser*innen an dieser Stelle!

    Paul Atreides gilt für die Fremen, die indigenen Bewohner*innen des Wüstenplaneten, als langersehnter „Mahdi“, als „Lisan al Gaib“. Hier kann man sehen, dass Herbert ein Faible fürs Arabische, aber auch für das Muslimische hatte. Denn der Glaube an das Erscheinen eines Propheten, der in der Endzeit das Unrecht auf der ganzen Welt beseitigen wird, ist ein zentraler Bestandteil einiger islamischer Konfessionen.

    Man muss aber auch festhalten, dass im Koran selbst der sogenannte Mahdi und sein Kommen nicht ausdrücklich erwähnt werden. Und das zeigt, dass Herbert keine rein islamische Geschichte wiedergibt, sondern dass er sich eher von der Kultur hat inspirieren lassen, sich hier und da an Ideen und Wörtern vergriffen hat, die er spannend fand, vor allem bei den indigenen Ethnien Nordafrikas wie den Amazigh, und daraus seine Science-Fiction-Story geschrieben hat. Ihm geht es weniger um die Religion selbst, vielmehr schreibt er über falsche Propheten und wie sie Religion als Werkzeug nutzen, um Strategien zu formulieren und ihre Kriege zu führen.

    Ob man nun „Dune“ gesehen oder gelesen hat, hier noch eine Empfehlung in der ARTE-Mediathek (weil wir auch intellektuell unterwegs sind und nicht nur Hollywood-Blockbuster schauen): Die faszinierende Doku „Jodorowskys Dune“ über den misslungenen Versuch des chilenischen Filmemachers Alejandro Jodorowsky, Frank Herberts „Dune“ in den 70ern zu verfilmen, ist wirklich sehenswert. Der Film lehrt uns so viel über Kreativität, Kunst, Kommerz.

     

     

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  • roots&reels #7: Food Porn

    Ich habe mal eine Frage an dich: Wie stehst du eigentlich zum Begriff „Food Porn“? Du weißt schon, die „oftmals glamouröse und spektakuläre Darstellung von Speisen, um sie im Internet zu verbreiten“ (Danke, Wikipedia).

    Food Porn hat in Film und Fernsehen natürlich einen festen Platz. Es gibt eine ganze Reihe an Serien, auf Netflix zum Beispiel, die sich genau dieser Philosophie verschreiben und Food Porn als Marketing-Strategie nutzen: „Ugly Delicious“, „Chef’s Table“, „Somebody Feed Phil“, „Master of None“ und viele mehr. Dann gibt es auch Filmklassiker, darunter „Big Night“ oder „Tampopo“ (kann ich beide herzlichst empfehlen), die das Kochen und Essen zelebrieren und in aufwändig inszenierten Szenen einzelne Gerichte ehren.

    Das Ganze auf den Kopf stellt wiederum „The Menu“ (auf Disney+ verfügbar), hier wird sich nämlich über all das eher lustig gemacht, in sehr dunkler Art und Weise. Was ich auch verstehen kann, als „The Menu“- Fan, denn es hat schon etwas Prätentiöses, wenn eine menschliche Notwendigkeit wie Essen in manchen Fällen als etwas so Ungewöhnliches dargestellt wird.

    Nicht alles ist Food Porn. Aber sag das mal einer den vielen deutschen Food Vloggern auf YouTube oder Tiktok, die jede Woche einen anderen Döner oder Burger zum besten in Deutschland auszeichnen. Wir haben Fachkräftemangel! Nicht jeder von euch muss Food-Tester*in werden und sich durch alle NRW-Döner probieren. Nein, Spaß: Ich gucke mir wirklich jedes einzelne Video von euch an. Hört bitte niemals auf.

    Zurück zum eigentlichen: Ich habe mal David Gelb, den Produzenten von Chef’s  Table, für VICE interviewt und gefragt, wie er denn zum Begriff Food Porn steht. Seine Antwort hat mir gefallen: „Wir sagen ungern Food Porn, wir sagen viel lieber Food Romance. Weil es um Geschichten, um Charaktere und um den Kontext geht. Wenn man an Pornografie denkt, dann denkt man an grafische Bilder. Unsere Essensbilder sind keine Sexszenen, sondern allesamt romantisch.“

    Diese Aussage passt sehr gut zu „Geliebte Köchin“ des in Vietnam geborenen französischen Regisseurs Trân Anh Hùng. Der historische Liebesfilm, der gerade im Kino läuft, handelt von der Köchin Eugenie (gespielt von Juliette Binoche), die jahrelang für den reichen Gastronom Dodin und seine namhaften Gäste kocht. Viel wichtiger geht es in diesem Film um ihre Beziehung, und ob sie zwischen der ganzen Arbeit zueinanderfinden werden. Ob Food Porn oder Food Romance, ich konnte mit der französischen Küche in diesem Film nichts anfangen, deswegen war ich nicht besonders angetan von der Geschichte, aber das alles ist ja bekanntlich auch Geschmackssache. Vielleicht kann Hùng mal eine Version in Vietnam drehen?

  • roots&reels #6: Kida Khodr Ramadan

    Was haben die Serien „4Blocks“, „Asbest“ und „German Genius“ gemeinsam? Richtig: Kida Khodr Ramadan. Das Gangster-Drama „4 Blocks“ machte den im Libanon geborenen Schauspieler und Regisseur praktisch über Nacht zum Star in Deutschland. Mit „Asbest“ lieferte er der ARD mit über drei Millionen Streams den besten Mediathek-Start aller Zeit und in „German Genius“ durfte er Ricky Gervais Idee „Extras“ für den deutschen Markt adaptieren und sogar mit dem britischen Komiker drehen.

    Diese drei Projekte haben leider noch eine weitere Sache gemeinsam: Ich bin überhaupt kein Fan. „4Blocks“ fand ich unerträglich. Klar, es handelt sich hier um eine fiktive arabische Großfamilie in Berlin und die Macher, darunter auch Ramadan, haben niemals behauptet, eine Dokumentation zu drehen. Doch meiner Meinung nach werden konsequent rassistische Stereotypen über Araber und Muslime darin reproduziert. Die Drehbuchautoren von „4 Blocks“ sind alles weiße Männer.

    „Asbest“ ist da nicht viel besser, und im Gegensatz zu „4 Blocks“ wird in dieser Geschichte, die größtenteils im Gefängnis spielt, kaum Spannung erzeugt. „4 Blocks“ war trotz der vielen Klischees niemals langweilig – das kann Ramadan bei keiner einzigen Folge von „Asbest“ behaupten. Wem das alles doch gefallen hat, kann sich jetzt freuen: Eine zweite Staffel wird es auf jeden Fall geben. Deutschland liebt und belohnt eben Mittelmäßigkeit. Der deutsche Film und das deutsche Fernsehen sind Paradebeispiele dafür.

    „Und was ist dein Problem mit German Genius?“, höre ich dich jetzt fragen. Für eine Komödie waren die acht Folgen einfach nicht lustig genug. Das wäre das Mindeste gewesen …

    Warum aber erzähle ich hier so ausführlich über meine Antipathie gegenüber den Arbeiten von Kida Ramadan? Erstens, weil er meiner Meinung nach als Schauspieler zu talentiert ist, um solche schlechten Stoffe zu produzieren. Zweitens, weil er überall für Diversität und Repräsentation steht, als „Migrant, der es geschafft hat“, in der Praxis aber nur bestimmte Vorurteile bestätigt und Migranten hauptsächlich als Drogendealer und Gangster inszeniert. Und drittens, weil er jetzt bekannt gegeben hat, dass seine neue Serie „Testo“ ab dem 2. Februar in der ARD Mediathek starten wird.

    Er selbst nennt „Testo“ auf Instagram bereits eine „Kultserie“, über die „ganz Europa“ reden wird. Marketingtechnisch ist das sehr interessant: Erst vergangenen Sommer hatte Ramadan eine Auszeit angekündigt, nachdem er zugegeben hatte, Kolleg*innen am Set würden sein Verhalten „mitunter als bedrohlich“ empfinden. Gegen seine Wutausbrüche habe er eine Therapie gemacht. Doch das dazugehörige Statement ist auf Instagram nicht mehr zu finden. Ersetzt wurde das Ganze mit der Werbung für „Testo“. In der Serie geht es um einen „Banküberfall, um Geiseln, Adrenalin, Chaos, offene Rechnungen“.

    Ich mache mir da also keine allzu großen Hoffnungen … Oder, was denkst du?

  • roots&reels #5: Barbie vs Oppenheimer

    Was für ein Jahr. 2023 stand das Kino ganz im Zeichen von zwei Filmen, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. Barbie und Oppenheimer starteten im Sommer am gleichen Tag und lösten ein Popkultur-Phänomen aus, wie wir es selten erleben. Es schien eine Zeit lang so, als gäbe es nur noch schwarz und pink auf der Welt. Und weil beide Filme auch gut und erfolgreich waren, war das ein Gewinn für Kinobetreiber, die nach mehreren Jahren des Strugglens (erinnert ihr euch noch an Corona?) wieder volle Kinosäle zu melden hatten.

    Aber kurz etwas Transparenz: Ich habe geschrieben, dass Oppenheimer und Barbie beides gute Filme sind. Ich lüge. Ich fand nur Barbie gut. Gut gespielt, hatte was zu sagen, Ryan Gosling. Oppenheimer war … auch gut gespielt, aber auch unglaublich langweilig. Und unfokussiert. Ich bin mir bis heute nicht sicher, für was Oppenheimer wirklich steht und was der Film uns über diese komplexe Persönlichkeit sagen möchte. Bei Barbie wiederum fand ich – intellektueller Filmkritiker, der ich bin – alles klar und verständlich.

    2023 stand auch im Zeichen von Shah Rukh Khan. Der indische Megastar hatte sein großes Comeback mit gleich drei Projekten: der Spionage-Thriller „Pathaan“, der Actionfilm „Jawan“ und zuletzt das Migrationsdrama „Dunki“. Auch SRKs Tochter Suhana Khan feierte letztes Jahr ihr Debüt im Netflix-Film „The Archies“, neben Amitabh Bachchans Enkelsohn Agastya Nanda und Khushi Kapoor, Tochter der legendären Schauspielerin Sri Devi. Regie führt Zoya Akhtar, Tochter des berühmten Drehbuchautors Javed Akhtar und Schwester des Regisseurs, Schauspielers und Sängers Farhan Akhtar.

    Ist dir schon schwindelig? Der Begriff „Nepo-Baby“ ist inzwischen zum Meme geworden, aber als ich den Artikel darüber Ende 2022 im Vulture Magazine gelesen hatte, musste ich ehrlich gesagt nur schmunzeln. Nepotismus ist für mich nämlich der Inbegriff von Bollywood – und nicht Hollywood oder anderswo.

    Ich möchte an dieser Stelle gar kein Urteil fällen über „das Geschäft“, weil es irgendwo doch spannend ist, zu sehen, wenn Kinder von berühmten Schaupieler*innen selbst Schauspieler werden. Das weckt schon eine gewisse Neugierde. Aber – und das ist ein großes Aber – sowohl Amitabh Bachchans Enkelsohn, Sri Devis und leider auch Shah Rukh Khans Tochter sind grottenschlecht. Das macht „The Archies“ zu einem schrecklichen Filmerlebnis. Und sie lassen Shah Rukh Khan in seinen Filmen wie Daniel Day-Lewis aussehen.

    Ich bin gespannt, was uns dieses noch frühe Jahr zu bieten hat. Auf was freust du dich? Hast du einen Film, dem du besonders entgegenfieberst? Welche Filme hast du 2023 besonders gefeiert? Und welchen Film hast du gesehen, der deiner Meinung nach komplett untergegangen ist? Ich freue mich, wenn du deine Erfahrungen mit mir teilst.

  • roots&reel #4: Elaha

    Elaha, eindrucksvoll gespielt von Bayan Layla, tanzt unbekümmert auf einer kurdischen Hochzeit. Sie tanzt und tanzt mit ihrem Verlobten, die beiden packen ihre wildesten Moves aus. Als sie sich nach kurzer Zeit hinsetzt, wird sie von ihrer Mutter ermahnt. Sie soll sich doch bitte beherrschen und anständig sein.

    Diese anfängliche Szene aus „Elaha“, dem Debütfilm der Regisseurin Milena Aboyan, setzt den Ton für die nächsten zwei Stunden. Für wen leben Frauen eigentlich in patriarchalen Strukturen? Wer bestimmt ihr Leben? Und wie können sie sich davon befreien, ohne – wohlgemerkt – gegen ihre Familie zu gehen?

    Mich hat dieser Film wirklich beeindruckt. Zum einen aufgrund der unglaublich starken und mutigen Performance von Bayan Layla in der Hauptrolle. Ich hatte sie überhaupt nicht auf dem Schirm und hier liefert sie die schauspielerische Leistung des Jahres, zumindest im deutschen Film. Zum anderen haben mir die vielschichtige, differenzierte Erzählweise und das kluge Drehbuch gefallen. Milena Aboyan kommt gut ohne Kino-Klischees aus, weil sie, das behaupte ich jetzt einfach mal, nicht daran interessiert ist, eine ganze Kultur zu verteufeln. Vielmehr wünscht sie sich eine Auseinandersetzung mit Denkweisen, Systemen und eben dem Patriarchat, unter dem Frauen wie Elaha leiden, klar, aber auch Männer, die ihre Männlichkeit beweisen müssen.

    Die Themen dieses Filmes werden normalerweise mit einer Art Hysterie und Überemotionalität behandelt. Eine junge Frau steht kurz vor ihrer Hochzeit und muss ihre Unschuld wiederherstellen. Hier ist es aber eine feinfühlige, kultursensible Charakter- und Milieustudie geworden. Ich bin gespannt, was Milena Aboyan als Nächstes machen wird. „Elaha“ ist ab heute im Kino zu sehen.

     

    Im Spotlight: Fitore Muzaqi

    Hey Fitore, stell dich bitte einmal kurz vor.

    Ich bin deutsche Regisseurin und Drehbuchautorin mit Migrationsbiografie. Meistens erzähle ich noch dazu, dass ich Hauptschülerin war, weil ich bei Treffen der Filmbranche fast immer die einzige mit einer solchen Laufbahn bin. Früher habe ich mich dafür geschämt, heute bin ich aber froh darüber, meine Geschichte erzählen zu können. Indem ich zu meinem Werdegang stehe, kann ich hoffentlich für andere Menschen mit wenigen Privilegien ein Role Model sein.

    Was sind deine Themen als Autorin?

    Meine Themen, die ich als Autorin und Regisseurin erarbeite, drehen sich fast immer um Migrationsbiografien, Klassismus, Rassismus, Feminismus oder auch ganz einfach Ungleichheit. Ich bin mit meiner Familie vor dem Kosovo-Krieg geflohen. Wir haben nicht nur alles verloren, sondern sind auch noch ohne Ressourcen in Deutschland gelandet. Wir konnten die Sprache nicht und kannten auch das System nicht.

    Ich glaube, dass das einer der Gründe ist, weshalb meine Geschwister und ich direkt auf die Hauptschule geschickt wurden. Wir haben uns danach durchgekämpft, unser Abitur gemacht und studiert. Aber erstmal mussten wir auf die Hauptschule und das ist eine Ungerechtigkeit neben dem Verlust unserer Heimat, die mich mein Leben lang begleitet hat und begleiten wird.

    Warum Film?

    Ich wollte schon Filme machen, seitdem ich als Kind die erste Kamera in der Hand gehalten habe. Das ist eine Welt, in die du gut flüchten kannst, wenn die Realität zu viel wird, in der du aber auch eine verlorene Sprache in Bilder und Worte übersetzen kannst. Aber um in die Filmbranche reinzukommen, musste ich viele Umwege gehen und mir als Migrantin und als Frau meinen Weg hart erkämpfen. Ich würde sagen, dass ich resilient bin und das meine Themen auch umso stärker macht.

    Woran arbeitest du gerade?

    Gerade arbeite ich mit der Kölner Produktionsfirma eitelsonnenschein an meiner Serie FRIED DREAMS, aber auch an weiteren Stoffen. Dieses Jahr wurde der Kurzfilm TURTLE & ALBION von der Film- und Medienstiftung gefördert – mein erstes gefördertes Projekt – zu dem Malte Vogt das Drehbuch geschrieben hat und bei dem ich Regie führen werde. Nächstes Jahr steht auch ein Highlight für mich an: Ich werde meine eigene Produktionsfirma gründen. Das ist eine Arbeit, die schon einige Jahre auf mich gewartet hat und jetzt in die Realität umgesetzt wird. Darauf freue ich mich sehr.

    Was wünschst du dir für die Filmbranche?

    Am meisten wünsche ich mir Zusammenhalt, Vielfalt und Verständnis. Das kann nur durch Dialog passieren und für diesen Dialog setze ich mich gerne ein.

  • roots&reels #3: Joyland

    Meine Eltern kommen beide aus Pakistan und es gibt für mich nur zwei Momente, in denen ich mich besonders pakistanisch fühle. Zum einen, wenn die Cricket-WM läuft (aber bitte frag mich jetzt nicht, wie Pakistan dieses Jahr spielt) und wenn die Mango-Saison in vollem Gang ist.

    Neuerdings musste ich mir eingestehen, dass es noch einen dritten Moment gibt: Wenn ein pakistanischer Film auf einem internationalen Filmfestival läuft. Wenn das Programm eines Filmfestivals angekündigt wird, ist es oft das Erste, wonach ich suche. Ich rufe die Website auf, klicke auf „Country“, suche im Drop-Down-Menü nach … Polen, nein … Palästinensische Gebiete … cool, aber wo ist Pakistan? Warum gibt es schon wieder keinen pakistanischen Film?

    Jedes Jahr werden mehrere Filme aus Indien eingeladen, nach Berlin, nach Cannes, nach Venedig, aber pakistanische Filme konnten bisher nicht aus dem Schatten der benachbarten Filmindustrie austreten. Oft ist es eine Frage der Qualität und auch der Ressourcen. Natürlich produziert auch Pakistan viele Filme, doch das Land hat sich eher als großer Fernsehmarkt etabliert. Auch indische Sender kaufen pakistanische Fernsehserien für das indische Publikum ein und somit ist das Kino eher ein zweitrangiges Geschäft. Und ich habe noch gar nichts zur Zensurbehörde gesagt, die pakistanischen Filmemachenden das Leben zusätzlich erschwert.

    Aber das ändert sich jetzt alles so langsam. Saim Sadiqs „Joyland“ hat letztes Jahr in Cannes mehrere Preise gewonnen, darunter den Queer Palm. Ein Jahr davor hat sein Kurzfilm „Darling“ in Venedig den Preis für den besten Kurzfilm gewonnen. Diesen Monat wird die pakistanisch-kanadische Produktion „In Flames“ von Zarrar Khan auf dem Filmfest in Mannheim-Heidelberg deutsche Premiere feiern, nachdem der Film bereits in Cannes und Toronto gelaufen war. Gut, das sind jetzt nur zwei Filme, aber lass mich bitte optimistisch sein.

    Und all das wäre ja irrelevant, wenn die Filme nicht gut wären. Zum Glück ist „Joyland“ ein Meisterwerk. Heute startet der Film auch in den deutschen Kinos, mach dir also gerne ein eigenes Bild von diesem Gesellschaftsdrama, der von Mitgliedern einer Familie handelt, die inmitten einer patriarchalen Struktur versuchen, ihren eigenen Weg zu gehen. Allen voran Haider, der auf der Suche nach einem Job, um seine schwangere Frau zu unterstützen, in einem Burlesque-Theater zu arbeiten anfängt und sich in die Tänzerin Biba verguckt, eine Transfrau. Ein wirklich einfühlsamer, intelligenter Debütspielfilm von Sadiq.

    Im Spotlight: Esra und Patrick Phul

    Hallo Esra und Patrick, stellt euch bitte kurz vor.

    Wir sind deutsche Filmemacher mit Migrationsgeschichte. Letztes Jahr haben wir die Rap-Musical-Serie HYPE herausgebracht als Produzenten, Regisseure und Drehbuchautoren. Und dieses Jahr haben wir die Veranstaltung „Talent over Privilege“ ins Leben gerufen.

    Was genau ist „Talent over Privilege“?

    „Talent over Privilege“ ist eine Bewegung und Plattform, die sich für mehr Sichtbarkeit und Chancengleichheit von Filmschaffenden mit Migrationsgeschicht ein der deutschen Filmbranche einsetzt. Unser Ziel ist es, die Missstände in der Branche aufzuzeigen, die oft denjenigen die Zugänge erschwert, die nicht dem Mainstream entsprechen und oft keine Privilegien haben. Das wollen wir verändern. Wir glauben, dass Talent und Vielfalt über Herkunft und Privilegien stehen müssen. „Talent over Privilege“ arbeitet daran, diese Botschaft zu verbreiten und sorgt für eine inklusive, vielfältige Zukunft für die deutsche Filmbranche.

    Und was hat euch dazu bewegt, diese Veranstaltung ins Leben zu rufen?

    Wir würden uns als Quereinsteiger bezeichnen, wir sind erst seit 2 bis 3 Jahren in der Branche. Mit „Hype“ haben wir unser Debüt gegeben und wir haben gemerkt, wie ungerecht diese Branche ist. Viele Filmschaffende mit Migrationsgeschichte haben keinen Zugang, der deutsche Film ist ein elitärer Kreis, den wir durchbrechen wollen.

    Wir haben im letzten Jahr die deutschen Fernsehpreis- oder Filmpreisverleihungen beobachtet, das war alles sehr weiß, die ganzen Jurys sind weiß, das spiegelt die Gesellschaft gar nicht wider. Das hat uns wütend gemacht. Und wir verstehen das nicht, weil wir hier sind, wir sind da, wir sind talentiert und wir wollen auch ein Teil davon sein. Das war der Grund: Wenn wir nicht ein Teil davon sein können, dann müssen wir eben unsere eigene Preisverleihung, unsere eigene Veranstaltung auf die Beine stellen. Und aus dieser Motivation heraus ist das Ganze entstanden.

    Wie lief die erste „Talent over Privilege“-Veranstaltung im Oktober in Köln?

    Die Veranstaltung war ein voller Erfolg. Das ist alles viel besser, vielkrasser geworden, als wir uns das vorgestellt haben. Die Resonanz war durchwegpositiv. Menschen aus der Filmbranche, mit Migrationsgeschichte, sind auf unszugekommen und haben sich bei uns bedankt, weil sie sonst nicht gesehen werden. Dass es endlich so eine Veranstaltung gibt, wo wir die Entscheider sind, wir die Jury besetzen, wir bestimmen, wer auf die Bühne darf und so weiter. Das ist ein großer Meilenstein in der deutschen Filmbranche und wir freuen uns, dass das so gut angekommen ist.

    Was war euer Highlight?

    Unser Highlight, nicht nur für uns, sondern für die meisten Anwesenden, war der Opening-Song der Preisverleihung, den wir extra für die Veranstaltung produziert haben und den der Rapper Osiriz33 performed hat. Das war sehr geil!

  • roots&reels #2: Palestinian Stories

    200 Meter – das ist die Entfernung zwischen Mustafa und seiner Familie. Die israelische Grenzmauer trennt die beiden voneinander, sie sehen sich meist nur über ihre Balkone. Obwohl Mustafas Frau und drei Kinder die israelische Staatsbürgerschaft haben und er dadurch auch eine beantragen könnte, weigert er sich, als Palästinenser diesen Weg zu gehen. „Ich möchte keinen israelischen Ausweis!“, erwidert er eines Tages, als seine Frau ihn darauf anspricht. So bleibt es nur bei traurigen Telefonaten oder bei gelegentlichen, zeitlich begrenzten Besuchen.

    Eines Tages bekommt Mustafa einen Anruf. Sein Sohn hat sich verletzt und ist im Krankenhaus. Jetzt muss er dringend für seine Familie da sein. Doch sein Passierschein ist abgelaufen. Wie kommt er jetzt an der harten Grenzkontrolle vorbei? Hier verwandelt sich der Film vom banalen Alltagsdrama in ein spannendes Road Movie. Und die Entfernung zwischen Mustafa und seiner Familie weitet sich ins Unendliche aus.

    Ameen Nayfeh ist mit „200 Meters“ ein bemerkenswerter Debütfilm gelungen, mit einer bemerkenswerten schauspielerischen Leistung von Ali Suliman in der Hauptrolle. Du solltest dir diesen Film auf jeden anschauen, wenn du auf einer nuancierten und menschlichen Art und Weise erfahren möchtest, was Palästinenser*innen in den illegal besetzten Gebieten permanent durchmachen müssen und wie Aktionen, die für uns so alltäglich erscheinen, hier eine ganz andere Dimension der Unterdrückung annehmen.

    Der Film ist wie viele andere „Palestinian Stories“ auf Netflix verfügbar. Doch Achtung: Du solltest besser deine Spracheinstellungen auf Englisch umswitchen, es kann sein, dass die Filme in der deutschsprachigen Netflix-Version, trotz eines deutschen Netflix-Accounts, gar nicht angezeigt werden. Das war für viele der Fall, als Netflix diese Kollektion 2021 veröffentlichte.

    Ein paar weitere Filme, die ich empfehlen kann, neben den vielen sehenswerten Kurzfilmen wie „The Crossing“, „A Drowning Man“, „The Present“ oder „Ave Maria“ ist „3000 Nights“ von Mai Masri. Masri ist eine Regie-Legende, unter anderem ist sie auch für ihren Dokumentarfilm „Children of Shatila“ über Kinder im libanesischen Geflüchteten-Camp Shatila bekannt. In „3000 Nights“ porträtiert Masri das israelische Gefängnissystem als einen weiteren Ort der Entmenschlichung palästinensischer Individuen.

    Layal, gespielt von Maisa Abd Elhadi, wird verhaftet, nachdem sie sich weigert, gegen einen Jugendlichen auszusagen. Sie kennt diese Person gar nicht, hat ihr lediglich eine Mitfahrgelegenheit angeboten. Dass diese Person im Visier der israelischen Justiz war, wusste sie nicht, als sie von A nach B gefahren ist. Und das bringt sie für acht Jahre hinter Gittern. Im Gefängnis erfährt sie, dass sie schwanger ist. Dieser Film beruht auf wahren Begebenheiten.

    „3000 Nights“ funktioniert sehr gut als Double-Bill mit „Ghost Hunting“ von Raed Andoni. In diesem außergewöhnlichen Dokumentarfilm werden ehemalige palästinensische Gefangene gebeten, ihre Inhaftierung beziehungsweise Vernehmung durch die israelische Polizei nachzustellen und dadurch ihr Trauma einerseits wieder zu erleben, aber andererseits auch zu verarbeiten. Der Film ist in Teilen echt hart, aber auch absolut essentiell, wie ich finde, wie so viele in dieser Netflix-Kollektion, weil er aus einer dezidiert palästinensischen Perspektive heraus erzählt.

    Eine Perspektive, die in Deutschland leider viel zu oft viel zu kurz kommt. Erst recht in Film und Fernsehen und überhaupt in den Medien. Habt ihr schon mal einen palästinensischen Film oder Filme mit palästinensischen Geschichten gesehen? Habt ihr eigene Empfehlungen? Oder habt ihr andere Filme in den letzten Wochen und Monaten gesehen, die ihr erwähnen möchtet? Schreibt mir, ich würde eure Tipps gerne in nächsten Ausgaben teilen.

    Und ich weiß, dass ich in der letzten, der ersten Ausgabe von roots & reels geschrieben hatte, dass ab heute auch Rubriken wie „Streaming-Tipps“ oder „Gespräche mit Filmschaffenden“ erscheinen werden. Nun, alle genannten Filme sind auf einer Streaming-Plattform verfügbar. Den zweiten Punkt werde ich in der dritten Ausgabe nachholen – versprochen! Alle guten Dinge sind ja sowieso drei oder so. Danke für eure Geduld und fürs Lesen! Bis zum nächsten Mal.

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