Schlagwort: Roman

  • „Mein Onkel, den der Wind mitnahm“- eine wundersame Reise

    Bachtyar Ali ist ein kurdisch-irakischer Schriftsteller, der seine Romane auf Sorani, einer kurdischen Sprache, schreibt. Seine traumhafte poetische Sprachumsetzung macht die Lektüre seiner Bücher zu einem sprachlichen Hochgenuss. Sie sind Solitäre in der Buchlandschaft. Seine Sprache ist leise, sich nicht in den Vordergrund drängend, nicht marktschreierisch. Er fabuliert im Stile orientalischer Märchenerzähler in scheherazadischen Bildern.

    Djamschid, die tragende Person

    Der Roman ist in Ich-Form geschrieben, von Salar, dessen Onkel Djamschid die tragende Person neben dem Element des Windes ist. Und wir als Lesende fliegen mit auf diese Reise als „blinde Passagiere“ wie auf einem fliegenden Teppich.

    Djamschid war vor seiner Verhaftung wegen kommunistischer Umtriebe mit seinen 17 Jahren fast eine barocke Gestalt. Während der Haft, in der er allen Folterfinessen widerstanden hatte, war er zu einem Strich in der Landschaft, zu dem pergamentenen Schatten eines Menschen geworden. Als er wieder einmal zu einem Verhör abgeholt worden war, wurde er bei der Durchquerung des Gefängnishofes von einem starken Wind erfasst und sein federleichter Körper entschwebte in himmlische Sphären. Erst nach Stunden landete er auf dem Dach des großväterlichen Hauses mit einem ausgelöschten Gedächtnis.

    Ein Abenteuer beginnt

    Und damit begann eine unfreiwillige Odyssee durch die Lüfte und ein biographisches Abenteuer. Djamschid schwebte durch die himmlischen Gefilde über die Landesgrenzen hinweg. Er war eine menschliche Drohne im ersten Golfkrieg zwischen Irak und Iran, ein „Schlachtenbummler“ mit einem Spezialanzug, der sich wie ein Chamäleon den Farben des Himmels anpasste. Er beweinte sein eigenes Schicksal und das der Frauen: Durch ihn verloren Mütter ihre Söhne oder wurden zu Witwen. In Gefangenschaft wurde er von den Iranern als verkleideter Imam mit dem Kampfruf „Die Seele des Imam Hussein ist mit Euch“ missbraucht. Bei seiner Rückkehr hatte er Angst vor den Winden und der Weite des Himmels und verkroch sich mit seinen Neffen Salar und Smail in den Höhlen eines verlassenen Dorfes.

    Mit Safinaz, der er vom Himmel aus seine Liebe gestand, begegnete er der Liebe und es begann für ihn ein neues, ein sesshaftes Lebenskapitel. Doch Frauen sind unberechenbar und mitunter auch berechnend. Safinaz ließ zu, dass Djamschid von einem Sturm davon gewirbelt wurde, denn sie hatte schon seit Jahren einen heimlichen Liebhaber. Der Schicksalswind trieb ihn zu den Peschmerga, die ihn gegen die türkische Armee einsetzten. Er stürzte ab, verlor abermals sein Gedächtnis und seine Persönlichkeit und sah sich selbst als göttliches Wunder. Das nutzte der Imam der Zwei-Kuppel-Moschee geschickt zu seinen Gunsten und setzte Djamschid jeden Freitag hoch oben im Luftraum der Moschee als Prediger ein. Eines Tages fiel er, angeschossen von den gegnerischen Imamen, auf die Erde und nach tagelangem Koma hatte er Gott völlig vergessen.

    Nach langer Odysee über die Weiten der Welt kehrt er als lebender Toter heim

    Djamschid wurde vom Gottesprediger zum reichen und gut beleumdeten Flüchtlingshelfer im türkisch-griechischen Grenzgebiet. Aber widrige Umstände wehten ihn über das Meer und diesmal tauchte er erst nach zehn langen Jahren wieder auf. Er hatte eine lange Reise mit Stippvisiten auf Malta, Kreta und Zypern hinter sich, ohne Identität, Pass und ohne Geld. In einem Sarg, gut vor den tückischen Winden geschützt, kehrte er als „lebender Tote“ heim.

    Die Landung auf einer der Latifundien eines einflussreichen Politikers machte ihn zum sklavischen Eigentum und zu einer Zirkusattraktion und Gästebelustigung: Die Flugshow war der Höhepunkt der ausgelassenen Abende. Sein Neffe konnte ihn befreien und ließ Djamschids Lebensgeschichte, um dem ewigen Gedächtnisverlust ein Schnippchen zu schlagen, auf seine pergamente Haut tätowieren. Buchstabe für Buchstabe, Satz für Satz, so, dass er aussah wie eine mesopotamische Schrifttafel. Djamschid sehnte sich an einen Ort ohne Wiederkehr und ohne verwehende Winde. Nach Jahren erhielt Salar ein blaues Kuvert mit einem Dankesbrief für die langjährigen Dienste, die er ihm als Seilhalter treu gedient hatte und mit Fotos, die einen rundlichen Mann im Bambushain zeigten.
    Und Salar begann Djamschids Geschichte aufzuschreiben. Eine Geschichte vom Sichtreibenlassen und Getriebenwerden und von der alten Mär „Jeder ist seines Glückes Schmied“. Eine Geschichte mit einem runden Ende.

    Ist das nicht eine der Aufgaben der Literatur? Zum Vordenken, zum Nachdenken anzuregen?

    Was Bachtyar Ali hier erzählt, ist ein Potpourri an Einfällen, fast eine monomythische Reise eines Helden. Die Geschichte hat auch etwas vom „Ritter von der traurigen Gestalt“. Dass, obwohl Djamschid nicht gegen Windmühlenflügel kämpft, so doch gegen ein vom Winde verwehtes Schicksal. Und natürlich erinnert es nicht mehr ganz junge Deutsche an die „Geschichte vom Fliegenden Robert“ aus dem Struwwelpeter von Heinrich Hoffmann.

    Für mich ist das fliegende und wehende Narrativ des Djamschid wie ein magisches Collier. Es ist wie ein kurioser Reigen, die die eigene Phantasie anregen und träumen lassen. Was wäre wenn… Und ist das nicht eine der Aufgaben der Literatur? Zum Vordenken, zum Nachdenken anzuregen? Das ist Bachtyar Ali auf meisterliche Weise gelungen und ihm gebührt mein innigster Dank.

    Weiterer Rezensionen von Almut Scheller-Mahmoud findest du z.B. hier und hier.

  • Asmaa al-Atawna: Keine Luft zum Atmen – eine Rezension

    Das Buch gliedert sich in zwei Teile: Der Weg hinaus und das Leben dort. Beides in Ich-Form geschrieben. Es ist flüssig zu lesen, in schnörkellosem Stil, fast ein bisschen „schulaufsatzmäßig“.

    Abstammung

    Als Tochter einer palästinensischen Mischfamilie, väterlicherseits von Beduinen aus der Negev und dem Sinai abstammend, mütterlicherseits von wohlhabenden Bauern, bricht Asmaa al- Atawna schon früh die sittlichen Spielregeln ihrer Gesellschaft. Sie spielt lieber mit den „Jungs“ als mit den Mädchen und wird entsprechend ständig von ihrer Mutter ermahnt, muss sich also ständig verbiegen und kleine Lügen und Ausflüchte erfinden, auch um dem gewalttätigen Vater zu entkommen. Sie ist aufsässig und rebellisch, also fast wie ein „normales“ Mädchen in unseren Breiten. Aber ihr Gefühl des Eingesperrtseins ist nicht nur den gesellschaftlichen (und religiösen) Riten geschuldet, sondern potenziert sich durch die Tatsache, dass sie im Gaza-Streifen aufgewachsen ist, unter israelischer Besatzung, ohne die Freiheit des Kommens und Gehens nach eigenem Belieben

    Aufwachsen im „Schwarzen Viertel“

    Anschaulich schildert sie das Viertel, in dem sie aufwuchs, das sog. „Schwarze Viertel,“ weil das Flüchtlingslager an das Viertel der „Schwarzen“ (ehemaligen Sklaven aus arabischen und osmanischen Zeiten) grenzte. Ein Viertel ohne Straßennamen, Hausnummern oder Namensschilder, ein Labyrinth für jeden Fremden. Plastisch und lebendig erleben wir den Alltag mit seinen fest gefahrenen Strukturen und seiner sozialen Kontrolle. Namen bekommen ein menschliches Antlitz: die Großeltern und Geschwister, die Nachbarn. Angesprochen wird der innerpalästinensische Rassismus: auch hier gilt weiß, weißer, am weißesten als menschliches Schönheitsideal mit den Konsequenzen der Ausgrenzung und Verachtung gegenüber dunkelhäutigen, schwarzen Menschen.

    Jugendfreunde

    Die Brüder Râmi und Abdallah waren ihre Jugendfreunde. Mit Abdallah verband sie eine leise Liebesbeziehung. In der Schule Streiche und Strafen (erstaunlich, dass in einer Schule der UNRWA – ein Hilfswerk der Vereinten Nationen – körperliche Züchtigung gestattet war). Aber Strafen dieser Art kannte sie zur Genüge von zu Hause: die Mutter benutzte ein schmales Bambusrohr oder einen schwarzen Schlauch, der Großvater seinen Gehstock und der Vater seinen Ledergürtel.

    Der Vater

    Ihr Vater ging in die Vereinigten Arabischen Emirate, um Arbeit zu suchen. Die Familie folgte ihm wenig später und es blieb Asmaa nicht einmal Zeit, weder von ihren beiden Freunden noch von ihrem Heimatland Abschied zu nehmen. Sie kehrten zurück, weil der Vater seine Arbeit verloren hatte und weil er ihre Schwester Amal verheiraten wollte. Asmaa bekam Wutanfälle, dass ihre jüngere Schwester mit einem älteren Mann verehelicht wurde.

    Studium in Gaza

    Fünf Jahre später brachte ihr Vater sie nach Gaza und sie schrieb sich mit 18 Jahren an der neuen Al Fatah-Universität ein. Sie lebte bei ihrer Schwester Amal und deren Mann und fühlte sich zum ersten Mal frei in Gaza. Die Intifada war zu Ende, das Oslo-Abkommen in Kraft und Vaters Kontrolle und Wut waren weit entfernt. Sie las und las und entdeckte andere Schicksale, fühlte sich dadurch nicht mehr allein. Die Literatur rettete sie.

    Da sie wegen unbotmäßigen Verhaltens einem Professor gegenüber von der Uni verwiesen wurde, suchte und fand sie Arbeit: als Reporterin bei einer spanischen Nachrichtenagentur. Sie schrieb über die überfüllten Lager und ihre Bewohner, über Besatzung und Armut, Arbeitslosigkeit und Kriminalität und die naiv-bevormundende UNRWA: „sie behandelt uns wegen Kopfschmerzen, obwohl wir eigentlich Krebs haben.“

    Durch Zufall hatte sie in der Zeitung vom Märtyrertod Abdallahs gelesen und die triste Begegnung mit Râmi auf dem Friedhof ließen Trauer und Kummer und zugleich Wut in ihr aufsteigen.
    Es war Zeit zu gehen, zu fliehen, der Hölle zu entrinnen. „An einen ruhigeren und grüneren Ort.“

    Aufsässigkeit und Anderssein

    Wir lesen, wie sich Aufsässigkeit und Anderssein entwickeln und artikulieren und mitunter fragt man sich, warum nicht alle rebellieren: gegen die Unmündigkeit in einer patriarchalischen Gesellschaft, gegen die Strangulierung des eigenen Ichs. Aber wahrscheinlich muss man das Gen der Aufsässigkeit und der Rebellion in sich haben. Vielleicht war schon Asmaas Geburt ein Vorzeichen: fast erstickt an der Nabelschnur, der Fluch des Vaters, dass sie nun die vierte „Braut“ war und nicht der ersehnte Stammhalter. Vielleicht spielte ihr hier das Unterbewusste einen Streich: sich Freiheiten wie ein Junge nehmen zu wollen. Ganz wichtig ist ihr zu betonen, dass es ihr primär um die persönliche Freiheit ging. Die politische Unfreiheit spielte hintergründig eine tragende Rolle und war nicht unbeteiligt an dem Gefühl der Enge, war aber nicht der ausschlaggebende Punkt ihres Ausbruchs.

    Und gewiss gilt dieser Wunsch nach Ausbruch auch für junge Männer. Denn auch sie unterliegen den ungeschriebenen sozialen Gesetzen und der Herrschaft ihres Umfeldes.

    Der eigene Raum

    Asmaa al -Atawna wollte nicht als Widerstandskämpferin abgestempelt werden, sondern sie wollte nur wie Virginia Woolf: A Room of One’s Own. Und dieser ganz eigene Raum, im architektonischen wie im seelischen Sinn, ist wohl die Essenz dieses Buches und vielleicht auch ein Lösungspunkt: sich der familiären und sozialen Kontrolle entziehen zu können. Um frei zu atmen, Kraft zu schöpfen, tagträumerisch an die Decke zu starren oder aus dem Fensterchen zu schauen, ungestört zu lesen und zu denken, Tagebuch zu schreiben……

    Weitere Rezensionen unserer Autorin findest du z.B. hier und hier.

  • „Wir sind voller Geschichte, von der wir nichts wissen“

    „Außer sich“ beginnt mit einem Zitat von James Baldwin aus seinem Buch „Eine Straße und kein Name“. Es geht so: „Die Zeit vergeht schnell. Sie bewegt sich nach vorn und zurück und trägt dich weit fort, und keiner weiß mehr über sie als das: sie trägt dich durch ein Element, das du nicht verstehst, in ein anderes, an das du dich nicht erinnern wirst. Aber etwas erinnert sich – wenn man es so will, kann man sagen, daß etwas sich rächt: die Falle des Jahrhunderts, der Gegenstand, der nun vor uns steht.“ Im Interview sprechen Sasha und ich über Identität, das Schreiben an sich, die Schlüsselthemen des Romans und auch über das Zitat, über das ich noch lange nachgedacht habe.

     

    Warum hast du dieses Zitat gewählt und welche Rolle spielt es auch im Hinblick auf den Inhalt des Buches?

    Baldwin war und ist so eine Art literarisches Vorbild von mir. Ich habe exzessiv Baldwin gelesen, zu der Zeit, als ich „Außer sich“ geschrieben habe. Ich gehöre zu den Menschen, die viel lesen, wenn sie schreiben. Manche Leute haben eine Bibel dabei, ich hatte immer das Buch „Eine Straße und kein Name“ dabei. Manchmal ist es so, wie mit der Liebe: Es trifft dich und du kannst es dann rationalisieren und später erklären warum, aber eigentlich ist es egal.

    Es war ein Gefühl. Ich habe es gelesen und ich wusste: DAS IST ES! Ich glaube, wenn ich jetzt versuchen würde das in Worte zu fassen, warum ich dieses Zitat ausgewählt habe, ist es, weil mein ganzes Denken darum kreist, dass wir voller Geschichte sind, von der wir nichts wissen. Wir sind im Zusammenhang mit dieser Geschichte voller Schuld, die wir nicht einsehen wollen oder können.

    Darum kreist sich – eher als Wunde, nicht als Gedanke – alles, wozu ich arbeite. Ich glaube, dass mich Baldwins Worte da einfach trafen. Dass ich dachte, der Gegenstand, der vor uns liegt, ist der, der am schwersten auszuhalten ist. Deswegen gucke ich überall anders hin und wir erzählen uns nette Geschichten über unsere Leben und unsere korrekten Handlungen und wir gehen nie in die Tiefe. Weil es weh tut. Weil man es manchmal nicht aushalten kann und sich das auch nicht leisten kann, es auszuhalten. Bei „Außer sich“ war das einfach so, dass ich dachte, ich bin so sehr verstrickt in so viele unterschiedliche wilde Historien. Was ich mit diesem Buch versuche zu tun ist, mir den Gegenstand, der vor mir liegt, anzuschauen.

     

    Du hast schon ein wenig über deinen Schreibprozess erzählt, dass du dabei viel gelesen hast. Wie war die Zeit der Recherche und des Schreibens für dich?

    Ja, das war irre aufregend, weil es eine Art Identitätskrise war. Du musst dir vorstellen, ich war bis dahin Dramatikerin und wenn man mich gefragt hat, wo ich herkomme, dann habe ich gesagt: Vom Theater! Also einfach alles was ich war, war Theater. Alle wichtigen Erfahrungen, die ich gemacht habe, waren im Theater. Und mein Denken ist sehr dramatisch, also im stilistischen Sinne.

    Ich denke in Dialogen, in Bühnenhandlungen und Licht. Ich war mir sicher, ich würde niemals Prosa schreiben. So wie ich jetzt übrigens sicher bin, dass ich keine Lyrik schreiben werde. Ich liebe Lyrik zu sehr, um mir das zuzutrauen und ich glaube, das hat viele Gründe. Vor allem ein internalisiertes Hochstaplersyndrom. Was Leute wie ich immer haben werden. Als ich „Außer sich“ in den Händen hielt und es einfach nicht fassen konnte. Nicht fassen konnte, dass ich ein Buch geschrieben habe. Und dann dachte ich: Warum eigentlich nicht?

     

    Das Hochstaplersyndrom zeigt sich, wenn jemand die eigenen Fähigkeiten und herausragenden Leistungen nicht anerkennt. Im Extremfall bedeutet es, sich selbst als Hochstapler*in zu fühlen und Angst davor zu haben, andere könnten den vermeintlichen eigenen Mangel an Befähigung bemerken und entlarven. Sasha sagt, Leute wie sie werden das immer haben. Es ist wichtig zu erkennen, dass dieses Phänomen eine strukturelle Ebene hat. Gesellschaftlich marginalisierte Gruppen sind besonders davon betroffen. Rassismus, Diskriminierung und mangelnde Anerkennung prägen das Selbstbild und sorgen dafür, dass sich Menschen weniger zutrauen.

     

    Hast du irgendeine neue Erkenntnis aus dem Schreiben an deinem Roman gewonnen?

    Ich habe nicht das Rad neu erfunden. Ich habe nicht über Literatur plötzlich anders nachgedacht. Aber ich glaube, ich habe selbst angefangen, dem Schreiben eine andere Bedeutung beizumessen. Das es eine Rolle spielt. Ich war auch ein bisschen abgeturnt von Prosa, weil ich dachte, das ist mir zu unpolitisch.

    Ich dachte, Theater ist im Gegensatz per se eine politische Form, weil du immer im Dialog mit dem Außen bist. Romane kannst du auch für die Schublade schreiben – im schlimmsten Fall. Ich wurde dann eines Besseren belehrt. Ich glaube, mein größtes Glück im Unglück war, dass mein Roman rauskam, als die AfD in den Bundestag gewählt wurde. Das heißt, meine Lesereihe wurde zu einer Politik-Talk-Reihe und allein, dass mein Körper in diesen Literaturhäusern saß, hat die Leute aufgestachelt. Ich kam gar nicht dazu, über das Buch zu reden. Das ist doch politischer als ich dachte und es hat mich so bestärkt, dass ich dabeigeblieben bin.

     

    Sasha und ich sprechen auch über die Rolle der Autor*innen. Mich interessiert beim Lesen oft, was sich die schreibende Person wohl dazu gedacht hat. Sasha hat da eine klare Haltung zu:

    Es ist egal, was ich mir dabei gedacht habe. Es könnte nicht unwichtiger sein. Kunst und Bücher, auch deswegen bin ich so begeistert vom Schreiben, funktionieren über einen Dialog. Das Buch entsteht mit dem Lesen genauso wie mit dem Schreiben und deswegen darf die schreibende Person das nicht den Lesenden aufdröseln oder oktroyieren.

     

    Im Kontext des Buches hast du Folgendes gesagt: „Es gibt keine Identität ohne Migration.“ Wie meinst du das?

    Jedes Leben entwickelt eine bestimmte Identität oder bewegt sich innerhalb von bestimmten Identitäten. Weiß, heterosexual, cis-männlich ist auch eine Identität. Ich glaube, der sehr bewusst gemachte Fehler ist, dass Leute wie du und ich Identitäten haben und dann gibt es eine Norm, die hat keine. Der ganze Skandal um alte weiße Männer ist, dass denen klar wird, auch sie sind nur eine Kategorie. Willkommen in der Wirklichkeit! Das ist eine schmerzhafte Erfahrung. Wir werden ihnen keine Taschentücher schicken.

    Aber das ist der eigentliche Skandal. Wenn wir über Identität sprechen, dann sprechen wir natürlich über Bewegung. Identität ist ein mobiles Konstrukt. Identität ist so eine Art Raumschiff. Deswegen bin ich so vorsichtig mit Labels, wie z.B. Migrationshintergrund, weil es natürlich sein kann, dass du mal auf einem anderen Planeten absteigst. Das muss einfach erlaubt sein.

    Identität bedeutet automatisch Migration. Du migrierst von der einen Meinung zur anderen, migrierst von einem Körper zum anderen. Zwischen Ländern, zwischen Sprache, zwischen Denken. Ich würde es gerne ent-exotisieren, diese Migrationsbewegungen, weil ich glaube, dass es den Leuten sehr wichtig ist zu sagen: Jaja, ihr habt ja wilde Geschichten, aber ich war schon immer da. Das ist das eigentliche Exotikum.

     

    Im Buch „Außer sich“ werden die Leben von mehreren Generationen einer Familie erzählt. Ich wünschte mir manchmal, ich könnte auch die Geschichte meiner Eltern, derer Eltern und derer Eltern nachlesen. Sasha erklärt, wie wichtig es ist, sich mit der eigenen Familiengeschichte auseinanderzusetzten, Fragen danach zu stellen, um sich selbst besser zu verstehen.

    Ich kann nicht richtig sagen, dass ich es Leuten vorwerfe, wenn sie das nicht tun. Es ist aber die Essenz meines Denkens und deswegen verstehe ich nicht, warum Leute durch die Gegend laufen und sich diese Fragen nicht stellen. Ich hüte mich vor dem Wort, zu sagen es ist Pflicht, weil ich verstehe, dass sich das nicht alle leisten können – Zeit haben, das Privileg oder Leute, die sie fragen können. Trotzdem finde ich es gerade in der Zeit, in der wir uns befinden, seltsam, das nicht zu tun. Ich finde, dass es eine ständige Suche sein muss.

    Durch eine Frage weiß man erst, was man noch alles fragen könnte. Und ich glaube, dass wir nichts fragen, weil wir Angst vor den Antworten oder keine Lust auf die Antworten haben. Das gilt auch für mich: Ich habe sehr lange gebraucht, um meine Mutter zu fragen, wer von unseren Verwandten im Gulag (Straf- und Arbeitslager der Sowjetunion) war und ich habe offen nach beiden Seiten gefragt. Es muss ja nicht sein, dass sie Internierte waren, denn es kann auch sein, dass sie Henker waren. Natürlich hatte meine Mutter diese Frage noch nie gehört. Es war verboten, das zu denken.

    Denken ist ein Muskel, den man trainieren muss. Bei mir gehört das zum Berufsbild. Ich akzeptiere es nicht, wenn Schreibende das nicht machen. Wir sind alle verstrickt und wir haben eine Verpflichtung, zumindest das anzuerkennen. Es ist nicht egal, dass wir Lager an Europas Außengrenzen haben, das hat etwas mit meinem Lebensstyle zu tun.

     

    Das bringt mich zum Nachdenken. Ich finde es nicht einfach, mit meiner Familie über die Vergangenheit zu sprechen. Wie kann man sowas angehen?

    Ich habe Bücher aus der Zeit gelesen, bevor ich wusste, was ich meine Mutter fragen kann. Also woher sollst du wissen, was alles passiert sein könnte. Das habe ich jetzt für meinen zweiten Roman gemacht. Das war eine abgefuckte Geschichte, kann ich dir sagen. Ich habe exzessiv Bücher von anderen gelesen, um zu wissen, was ich eigentlich wissen will. Meine Mutter und meine Familie wissen überhaupt nichts über die Zeit, in der sie gelebt haben. Aber Schriftsteller*innen wussten das und wenn ich davon gelesen habe, dachte ich, wenn es bei denen so war, wie war das eigentlich bei uns.

     

    Sasha kuratierte mit Max Czollek einen Desintegrationskongress zeitgenössischer jüdischer Positionen. Der Kongress will einen Raum der Selbstreflexion schaffen, um die Frage nach einer jüdischen Identität in der dritten Generation neu zu verhandeln. Dazu führt er sehr unterschiedliche, in Deutschland lebende Gruppen von Jüden*innen zusammen: die sowjetischen Migrant*innen, die Einwanderer*innen aus Israel sowie die Jüd*innen aus der Gruppe deutscher Überlebender oder Rückkehrer*innen. Durch das Motto Desintegration lösen sich die Organisatoren bewusst von gesellschaftlichen Zuschreibungen und distanzieren sich von den Fremdkonstruktionen in Deutschland nach 1945. Jüdische Perspektiven werden meistens an die Shoah geknüpft. Viele Menschen wissen nicht, dass 90% der in Deutschland lebenden Jüd*innen aus der ehemaligen Sowjetunion stammen.

     

    Ich spreche mit Sasha über sein politisches Engagement für jüdisches Leben in Deutschland.

    Deutsche können Juden nur im Zusammenhang mit ihrer Vernichtung denken. Das ist das Problem und ich möchte nicht über den Versuch meiner Vernichtung definiert werden. Ich bin Jude auch außerhalb der Shoah. Das bedeutet nicht, dass die Shoah keine oder eine kleine Rolle spielt. Aber es gab uns schon vorher und es gibt uns auch nachher. Das ist etwas, was für ein deutsches Hirn sehr schwer zu verstehen ist.

    Mein Background ist tatsächlich die Rote Armee. Also wortwörtlich haben meine Urgroßeltern, der Mann, nach dem ich benannt bin, die Scharfschützen von Stalingrad zusammengefegt. Ich bin geboren in der Stadt der Helden, in Stalingrad. Es ging auch anders, Jude zu sein, wenn man in dieser Zeit in einem anderen Landstrich war.

    Wir haben 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland und ich bin voll mit diesem völlig behämmerten Anfragen, dass ich ihnen erzählen soll, wie schlimm es mir geht. Ich habe es satt, danach gefragt zu werden. Wie bei allen Minderheiten und das weiß ich auch als queerer Körper, gehört zu der eigenen Geschichte ein enormer Stolz, der gefeiert werden muss. Stolz wird mit viel Alkohol und zu lauter Musik gefeiert. Das ist das, was ich in Deutschland versuche zu verankern.

     

    Es ist oft so, dass betroffene Personen Mehrarbeit leisten, indem sie nicht nur alltäglichen und strukturellen Rassismus oder Diskriminierung erfahren, sondern auch zusätzlich Bildungsarbeit in diesen Bereichen leisten. Wenn du mehr dazu wissen möchtest, kannst du das zum Beispiel online im Literarischen Tagebuch „Dem Hass kein Echo“ nachlesen. Hier schreiben Max Czollek, Esther Dischereit, Sasha Marianna Salzmann und Levi Israel Ufferfilge.

     

    Zum Abschluss möchte ich noch über Queerness sprechen. Die Hauptperson Ali in „Außer sich“ durchläuft eine geschlechtliche Transition und fühlt sich von den eigenen Eltern nicht gesehen. Viele queere Personen machen die schmerzhafte Erfahrung, von der eigenen Familie verstoßen, nicht verstanden und akzeptiert zu werden. Was würdest du jüdischen und/oder queeren Personen, aber vielleicht auch deren Eltern mitgeben, um mit diesem Konflikt besser umgehen zu können?

    Ich bin mir nicht sicher, ob es in Worte fassbar ist, weil das so komplexe Prozesse sind. Es ist ja nicht so, dass du den Leuten sagen kannst „Akzeptiert eure Kinder“ und dann tun sie das. Ich erzähl dir einfach eine Story, die das enthält, woran ich glaube. Außerhalb des direkten politischen Aktivismus, außerhalb dieser Szene gibt es für mich eine Sache, von der ich weiß, dass sie die Welt verändert und das ist: das Umschreiben der Geschichte

    . Es gab solche Geschichten nicht oft in der Literatur, aber es gab sie. Mich gab es trotzdem schon immer und ich glaube, dass mit dem Einschreiben meiner Realität in einem bestimmten Kanon, das mehr und mehr Leute lesen und verstehen. Erstens verstehen die queeren Personen selbst, dass sie vielleicht ok oder zumindest nicht allein sind. Und was noch wichtiger ist, dass die Eltern das auch verstehen.

    Ich bin nicht auf Social Media. Ich boykottiere Social Media. Aber meine Mutter ist dort. Wir sind einen sehr langen Weg gegangen, aber meine Mutter ist jetzt Erste-Reihe-Aktivistin und kämpft für queere Rechte. Ich bekomme immer wieder E-Mails von jungen Frauen mit einem ähnlichen Hintergrund wie ich. Meistens sind es lesbische, jüdische Ex-Sowjets, die sich bedanken.

    Die bedanken sich dafür, dass ich am Leben bin, weil die sagen, ihre Eltern haben gesehen, dass meine Mutter ein Post abgesetzt hat, und jetzt reden sie anders mit ihren Kindern oder fragen sie mal was. Denn allein die Tatsache, dass es diese Geschichte gibt, verändert etwas in ihrem Leben.

    Die Tatsache, dass es Leute wie Judith Butler gab, hat mir das Leben gerettet, an einem bestimmten Punkt. Das meine ich mit umgeschriebene Geschichte. Es dauert, es ist kein Prozess, bei dem du auf Erfolge hoffen kannst. Aber das ist das, was ich weiß, was funktioniert. Wenn wir unsere Geschichten erzählen, werden es andere lesen und andere Fragen werden gestellt. Das ist was ich beobachte und was ich Leuten mitgeben kann. Sie müssen unbedingt weiterlesen und weitererzählen.

     

    Ich bin beeindruckt von Sashas langem Atem. Mir fällt es manchmal schwer, positive Veränderungen anzuerkennen, weil ich sehe, wie viel sich noch nicht verändert hat. Mich hat Sasha inspiriert, indem sie mir einen Umgang mit diesen Gefühlen vorgeschlagen hat.

    Vielleicht kannst du das parallel laufen lassen. Alles was wir haben, reicht überhaupt nicht aus. Wir sind immer noch nicht gleichwertige Menschen in dieser Gesellschaft. Das heißt aber nicht, dass man Erfolge nicht anerkennen kann. Wenn du Fortschritt siehst, kannst du es einfach benennen. Ich sehe den Fortschritt bei meiner Mutter.

    Wir haben damit angefangen, dass ich geisteskrank bin, und jetzt postet sie Regenbogen auf Facebook. Angela Davis sagt: „Wir müssen damit leben, dass wir die Früchte unserer Arbeit nicht selbst pflücken werden“. Ich denke da sehr oft dran. Ich arbeite für eine Welt, die ich wahrscheinlich nicht erleben werde. Aber du weißt, dass jemand sie erleben wird und dann ist es nicht umsonst. Queere Autor*innen haben ein paar Leuten den Arsch gerettet. Ich finde das ist das, was man maximal von einem Buch erwarten kann.

     

    In wenigen Tagen, diesen September noch, veröffentlicht Sasha den zweiten Roman mit dem Titel „Im Menschen muss alles herrlich sein“ im Suhrkamp Verlag.

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