Schlagwort: Rassismus

  • Wann ist man ein Deutscher?

    Vielleicht hat er einen Fehler gemacht, als er sich mit dem türkischen Präsidenten Erdogan fotografieren ließ. Die Folge waren jedenfalls, sowohl von Seiten der Politik, als auch in den sozialen Netzwerken, viele rassistische Kommentare. Diese seien, wie Özil angab, die Gründe für ihn, das deutsche Trikot in Zukunft nicht mehr zu tragen.

    Was bedeutet Integration?

    Seit 2015 hören wir fast täglich in den Medien, im Bundestag oder bei den Gesprächen mit Ehrenamtlichen, die geflüchteten Menschen helfen, in Deutschland sei klar: Wer hierbleiben möchte, solle sich in die deutsche Gesellschaft integrieren.

    Was aber bedeutet Integration? Wann gilt ein Mensch als integriert?

    Bedeutet es, die Sprache zu lernen, Arbeit zu finden, Freundschaft mit Deutschen zu schließen oder sich die Kenntnis der deutschen Kultur anzueignen? Für mich ist sie die Summe von all dem. Außerdem beinhaltet sie gegenseitige Toleranz und Respekt zwischen beiden Seiten: Auf Seiten der Deutschen und der Neubürger. Nur so kann eine gesunde Gesellschaft ein richtiges gemeinsames Leben hier in Deutschland aufbauen.

    Mesut Özil als Vorbild

    Ich denke, Mesut Özil war ein Vorbild für viele geflüchtete Menschen. Er entstammt einer Einwandererfamilie und hat sich nicht nur gut integriert, sondern ist 2014 sogar mit der deutschen Nationalmannschaft Weltmeister geworden.

    Viele wünschen sich, diesem Vorbild folgen zu können. Özil hat vielen Menschen, die Integration einfordern, einen schmerzhaften Schlag versetzt, als er sagte, er sei in den Augen vieler ein Deutscher, wenn er ein Spiel gewinne, aber ein Einwanderer, wenn er verliere.

    Viele geflüchtete Menschen könnten sich nun fragen, welchen Sinn Integration hat.  Welchen Sinn hat es, die Sprache schnell zu lernen, wenn sie sich gut integrieren, wenn sie sogar Weltmeister werden oder wenn jemand von ihnen sogar Bundeskanzler/-in wird – solange muslimische Geflüchtete nach wie vor in erster Linie als Menschen mit dunkler Haut, schwarzen Haaren oder als Kopftuchträger gelten. Diese Fragen sollten erlaubt sein und auch die Besorgnis, die mit ihnen verbunden ist.

    Geflüchtete Menschen in den Medien

    Geflüchtete Menschen werden in den Medien zu einem Hauptthema. Es wird von ihnen gesprochen als seien sie Aliens oder eine Epidemie. Das ist eine Entwicklung, die alarmierend ist. Als Folge lässt die Frage, ob geflüchtete Menschen zur Gesellschaft gehören oder nicht, viele Deutsche zweifeln, und das ist auch ihr Recht.

    Die Politik, die bei vielen Menschen in der deutschen Bevölkerung Ängste auslöst, sollte so schnell wie möglich beendet werden. Stattdessen sollten produktive Ideen umgesetzt werden, z. B. zur Schaffung von Arbeitsplätzen auf dem deutschen Arbeitsmarkt, die den geflüchteten Menschen ein menschenwürdiges Leben ermöglichen. So können sie sich in ihrem neuen Leben wohlfühlen und einen produktiven Beitrag zum Wohle der ganzen Gesellschaft leisten.

    Dieser Artikel wurde in „Hagen Grenzenlos“ Blog im Mai 2019 veröffentlicht.

  • Was ist die Lösung für die Rassismus-Pandemie?

    Negative Aspekte

    Ab und zu hören wir über und erleben wir rassistische Angriffe aufgrund von Religion oder Hautfarbe, von Neuseeland bis Deutschland, von Frankreich bis in die USA. Der Rassismus hat seine negativen Aspekte. Natürlich spiegeln sich diese Aspekte, sowohl für den Einzelnen als auch für die Gesellschaft, wider. Jeder Einzelne ist der Baustein der Gesellschaft. Wenn der Zustand der Gesellschaft stark wäre, wäre die gesamte Gesellschaft sehr gut verbunden. Rassismus macht die Gesellschaft unzusammenhängend und inkohärent. Dies führt zwischen den Mitbürger*innen wegen der Atmosphäre des Hasses und der Angst zu Konflikten.

    Wann ist das Land GREAT?

    Inzwischen bezeichnet sich der Rassist als ein Patriot, der sein Land liebt und sich bemüht, es GREAT zu machen. Und er setzt sich in eine höhere Stufe als andere. Allerdings kann man sein Land auch lieben, ohne andere Mitbürger*innen wegen ihrer kulturellen, sozialen und religiösen Unterschiede zu diskriminieren. Außerdem wäre das Land GREAT, wenn dessen Bürger*innen unterschiedlicher Herkunft gemeinsam leben würden, weil wir ein Volk und eine Familie sind. Daher ist unser Unterschied die Grundlage, um Bewusstsein zu wecken und neue Gedanken zu erschaffen, um die Entwicklung des Lebens zu erweitern.

    LIEBE statt Hass

    Nelson Mandela sagte: „Niemand wird mit dem Hass auf andere Menschen wegen ihrer Hautfarbe, ethnischer Herkunft oder Religion geboren. Hass wird gelernt. Und wenn man Hass lernen kann, kann man auch lernen zu lieben. Denn Liebe ist ein viel natürlicheres Empfinden im Herzen eines Menschen als ihr Gegenteil“.

    Rassismus stammt aus dem menschlichen Geist. Daher wäre die Lösung für rassistische Diskriminierung und Abneigung gegen die anderen und anderen Manifestationen von Ungleichheit in erster Linie mentale Wahnvorstellungen ansprechen. Solche Gedanken haben falsche Vorstellungen von der Überlegenheit mancher Menschen gegenüber anderen hervorgebracht.

    Dabei spielen die Regierungen eine wichtige Rolle. Sie müssen den Rassismus durch die Anwendung des Grundsatzes der Gerechtigkeit und Gleichheit unter den Mitgliedern der Gesellschaft verhindern. Außerdem muss die Familie auch ihre Rolle im Kampf gegen Rassismus und Diskriminierung gegen die anderen spielen. Die Familie gilt als Kern der Gesellschaft. Daher muss sie die besten Werte in den Herzen ihrer Kinder pflegen, sie erziehen um andere zu lieben, und Stolz und Verachtung für andere ablehnen.

    Wut

    Die Wut in Minneapolis und anderen amerikanischen Städten zeigt uns erneut die Tiefe der weit verbreiteten „Anti-blackness“ in den meisten US-Institutionen und -Praktiken und die Gefühle der Menschen dort. Diese Wut zeigt uns auch, wie Regierungen auf der ganzen Welt dieser Pandemie nicht entschieden genug begegnen. Deswegen leben wir, nicht nur in Amerika sondern auch in verschiedenen anderen Ländern der Welt, mit einem Wachstum von Anti-Auslandsbewegungen, Fremdenfeindlichkeit, Islamophobie und Antisemitismus. Dafür reicht es nicht, über die Opfer von Rassismus in den Medien zu diskutieren. Und es reicht nicht nur Hashtags zu veröffentlichen, um mit ihnen unsere Solidarität zu zeigen. Stattdessen müssen wir mit den Opfern sprechen um ihnen das Gefühl zu geben, dass sie keine Menschen zweiter Klasse sind, sondern ein Teil unserer Gesellschaft. Sie haben Rechte und Pflichten, die nicht ignoriert werden können.

    Also, wenn wir ein Mittel gegen die Rassismus-Pandemie finden, würden wir ein richtig gesundes gemeinsames Leben in unserer Gesellschaft aufbauen. Eine Gesellschaft, in der alle Mitbürger*innen mit gleichen Rechten und Pflichten leben, und die Exzellenz nicht einer bestimmten Gruppe gehört. Nur so wäre unser Land GREAT.

  • zu.flucht-Podcast: Rassistische Gewalt

    Nach dem rassistischen Anschlag vom 19. Februar in Hanau, bei dem neun Menschen mit Migrationshintergrund ermordet wurden, möchten wir in der dritten Folge von Multivitamin über rassistische Gewalt sprechen. Dafür haben wir Ibrahim Arslan getroffen, er ist Überlebender der rassistisch-motivierten Brandanschläge von Mölln 1992. Arslan setzt sich für Opfer und Betroffene von rechter Gewalt ein und fordert, weniger über Täter zu sprechen und die Perspektive der Opfer in den Vordergrund zu stellen. Im Interview mit uns sagt er:

    „Wenn man sich mit Tätern beschäftigt, dann fällt man in ein Ohnmachtsgefühl. Aber wenn man sich mit Opfern und Überlebenden beschäftigt, dann entwickelt man Solidarität. Das ist ein großer Unterschied.“

     Außerdem sprechen wir über den NSU-Komplex. Die Anschläge des sogenannten nationalsozialistischen Untergrundes zeigen das Versagen des Staates bei der Aufarbeitung von rassistischer Gewalt. Darüber haben wir mit Katrin Kirstein gesprochen. Sie ist Rechtsanwältin in Hamburg und hat Angehörige im Rahmen des NSU-Komplexes vertreten. Wir widmen uns außerdem dem Thema Alltagsrassismus und haben dafür Geschichten von Menschen gesammelt, die ihre Erfahrungen mit uns und euch teilen.

    Ihr hört uns auf Spotify, Youtube, Soundcloud und i-Tunes! Wenn ihr Fragen, Anmerkungen oder Themenvorschläge für die nächsten Folgen von „Multivitamin“ habt, schreibt uns gerne unter podcast@fluechtling-magazin.de!

    Das Multivitamin-Team: Lilli Janik, Natalja Starosta, Steffen Kahl, Lena Wilborn, Yuliya Grechukhina, Kim Eckert, Marie Lina Smyrek, Anne Thiel, Sally Wichtmann

    Wir danken Harvest Moon für die finanzielle Unterstützung!

     

  • Bitte erklärt mir nicht, was ich selber erlebt habe! Zum Umgang mit Rassismus

    Das Thema Rassismus beschäftigt mich seit vielen Jahren. Als ich in meiner Heimat war, war ich der Ansicht, dass Rassismus zwischen weißen und schwarzen Menschen passiert. Allerdings hatte ich diese Meinung, ohne es selber erlebt zu haben. Erst als ich mein Land verließ, aber immer noch in Afrika war, habe ich das Gefühl bekommen, dass ich diskriminiert wurde. Ich versuchte oft, nicht darüber zu reden, weil ich dann zeigen würde, dass ich schwach bin. Und manchmal dachte ich, das ist bestimmt, was sie wollen, und ich würde ihnen nicht geben, was sie wollen. Mindestens nicht durch mich.

    Seit meiner Zeit außerhalb meines Landes und seit meiner Flucht nach Europa hat sich meine Definition von Rassismus weiterentwickelt. Nicht nur schwarze Menschen, sondern viele Flüchtlinge (unterschiedlicher Hautfarbe) erleben Rassismus. Ich wusste: Wenn ich in Afrika diskriminiert werde, ist es nicht merkwürdig, dass ich es auch in Europa erlebe. Da ich aber nach Freiheit und Bildung suchte und mir sicher war, dass ich diese in Europa finden kann, habe ich mir gesagt, dass es sich lohnt, das in Kauf zu nehmen.

    Sie haben im Bus den Platz gewechselt

    Ich habe verschiedene Erfahrungen in verschiedenen Teilen von Deutschland gemacht: In der ersten deutschen Stadt, in der ich gewohnt habe, war es schon genug, eine Straße entlang zu gehen, um Rassismus zu erleben. Die Blicke, die mich getroffen haben war einfach hart. Manche Männer zeigten mir und meinen Freunden den Mittelfinger. Manche Menschen gingen mir aus dem Weg, wenn ich nach einer Adresse gefragt habe.

    Ich habe mir dort abgewöhnt, den Bus zu nehmen. Das erste Mal Bus gefahren bin ich mit sechs anderen Männern aus Eritrea und einem Afghanen auf dem Weg zu unserem A1-Deutschkurs. Zwei von uns haben sich neben zwei jugendliche Männer gesetzt. Die beiden haben sich die Nase zugehalten, so dass wir es sehen sollten, sind aufgestanden und haben den Platz gewechselt. Ich bin danach nie wieder Bus gefahren.

    Meine Kollegen haben damals gesagt, ich sollte mir eine „dickere Haut“ zulegen. Viele haben gefragt, warum ich ihretwegen nicht mehr Bus fahre. Aber für mich war es wichtig, mich auf das Lernen zu konzentrieren, nicht auf solche Leute. Ich wollte nicht ausprobieren, ob es nochmal passiert. Es war ein Erlebnis, was zu vielen anderen dazu gekommen ist und ich konnte es nicht einfach ignorieren.

    Meine Definition von Rassismus hat sich verändert

    Seitdem ich in Deutschland lebe, hat sich meine Definition von Rassismus vergrößert. Es sind ein paar Themen dazugekommen wie z.B., dass unsere Religion, Bildung und Kultur negativ bewertet werden. Ich versuchte darüber mit Deutschen, die mir nahe stehen, zu reden. Sie halfen mir sehr, mein Leben in Deutschland besser zu verstehen.

    Aber auch von ihnen habe ich ab und zu rassistische Wörter gehört, die ich nie vergessen werde. Das bedeutet für mich nicht, dass meine deutschen Freunde Rassisten sind. Das sind sie nicht! Aber sie haben ihre Meinung über mich/uns (als Afrikaner und Flüchtlinge) gezeigt und diese hat mich verletzt und mich traurig gemacht. Manchmal ist es schwieriger, zu vergessen was Menschen sagen, denen wir vertrauen, weil sie Freunde oder Familie sind. Ich möchte damit auch zeigen, dass man gleichzeitig rassistische Sachen sagen kann, wenn man Flüchtlingen hilft und ein guter Mensch ist. Es gibt Unterschiede zwischen „ein Rassist sein“ und „rassistische Sachen sagen“.

    Hier in Hamburg hat mich zum Beispiel ein Türsteher aus einer Disko rausgeworfen, weil andere Gäste sich beschwert hatten, dass es einen Diebstahl gab. Vielleicht war der Türsteher kein Rassist. Aber sein Vorurteil, sofort den jungen schwarzen Mann zu verdächtigen, ist rassistisch. Als er vor allen zu mir sagte „RAUS!“ war mir das peinlich. Ich war verletzt und fühlte mich unfair behandelt. Warum bin ich eher verdächtig, als die (weißen) deutschen Freunde, mit denen ich tanzen war? Die Freunde, mit denen wir unterwegs waren, wollten trotzdem weiter tanzen. Ich sollte lächeln und einfach weitermachen. Als ich gesagt habe, dass ich lieber nach Hause will, versuchten sie, mich zum Bleiben zu überreden.

    Und das ist eine wichtige Frage, wenn wir über Rassismus und Diskriminierung reden: Warum glauben mir andere meine Erfahrungen nicht?

    Bitte erklärt mir nicht, was ich selber erlebt habe!

    Für diesen Artikel hat Lilly mich bei unserem Treffen gefragt, welche Reaktionen helfen und welche nicht. Also: Wie sollten andere Menschen reagieren, wenn ich sage, dass ich Rassismus erlebt habe? Ganz klar: Die Antwort „sei nicht so sensibel“ ist keine Hilfe. Manche Menschen denken, sie helfen mir, wenn sie die Erklärung für eine Situation bei mir suchen. Wenn sie z.B. sagen „ja, aber vielleicht hast du in diesem Moment X oder Y gemacht“. Bitte erklärt mir nicht, was ich selber erlebt habe! Dann kann es passieren, dass ich gar nicht mehr erzählen möchte.

    Eine Erklärung kann helfen, wenn sie die Situation einordnet, z.B. wenn mir Menschen sagen „ich habe davon gehört, dass das schon mal passiert ist“. Das ist aber nicht das gleiche. Am meisten hilft es mir, wenn mir zugehört wird. Vielleicht ist die Situation schneller vorbei, wenn ich das Gefühl habe, man hört mir zu.

    Meiner Meinung nach ist Rassismus das Niedermachen von anderen Menschen wegen ihrer Religion, Hautfarbe, Herkunft oder ihrem Bildungshintergrund. Das alles würde ich auch als Vorurteile bezeichnen. Daher sind  diese Vorurteile meines Wissens nach ein Teil von Rassismus.

    Dieser Text entstand im Rahmen unseres Schreibtandem-Projekts. Idris schrieb den Artikel in Zusammenarbeit mit Lilly Murmann

  • Sogenannte Gäste, eine schwarze Maria: Gedanken zur Toleranz

    Das Thema „Toleranz“ war im November das Monats-Thema beim Flüchtling Magazin. Vor uns haben sich schon ganz andere mit dieser Thematik auseinandergesetzt. Einer davon war John Locke. Im Jahr 1683 wurde der philosophische Aufklärer zum Flüchtling. Er, der Vater des Liberalismus, floh, da er im Verdacht stand, beteiligt gewesen zu sein am Rye-House-Plot, einer Verschwörung zum Mord am König von England sowie dessen Bruder wegen ihrer prokatholischen Politik.

    Umdenken kann nicht erzwungen werden

    In die Niederlande geflohen, schrieb er einige Jahre später einen Brief an seinen Freund, den Theologieprofessor Philipp van Limborch mit dem Titel „A Letter Concerning Toleration“. In diesem stellt er seine Meinung klar dar: Es muss größere Toleranz gegenüber religiöser Vielfalt geben. Damals ging es um Atheisten, Protestanten und Katholiken aber auch Quäker, Unitaristen, Armenier, Baptisten etc.

    Diejenigen, die andere mit Gewalt dazu zwingen, ihren Glauben und ihre Kultur zu ändern, können nicht aus christlichem Antrieb handeln. Ein Umdenken unter Androhung von Gewalt kann nicht funktionieren, so die These von Locke.

    Er selbst aber war auch nicht vollständig tolerant oder hegte zumindest begründete Zweifel: Katholiken war nicht zu trauen, da sie nur die Marionetten des Papstes waren. Und Atheisten konnten auf keine Bibel schwören und mussten daher keine göttliche Vergeltung befürchten. Aber hat diese Unterscheidung bei begründeten Zweifeln schon mit Intoleranz zu tun?

    Von Locke zu uns: Toleranz geht von jedem aus – und hat seine Grenzen. Kaum jemand, der etwas selbstreflektiert ist, würde sich selbst intolerant nennen. Der eine ist dem anderen gegenüber tolerant. Ob er der Mehrheit angehört oder der Minderheit, spielt dabei kaum eine Rolle. Hetero- und Homosexuelle müssen gegenseitig Toleranz zeigen.

    Wo stößt die Toleranz am ehesten an ihre Grenzen?

    Wird es für uns schwierig mit der Toleranz, wenn jemand Unverständnis zeigt? Wieso essen Hindus kein Rind-, Moslems kein Schweinefleisch und Veganer gar keine tierischen Produkte? Bin ich so tolerant und nehme darauf Rücksicht?

    Das sollten wir. Aber die Toleranz hört auf, wenn jemand die anderen überreden statt überzeugen will. Ohne Argumente und womöglich unter Androhung von negativen Folgen oder gar Gewalt jemanden in seiner Meinung zu beeinflussen, ist nicht zu tolerieren.

    Toleranz wirkt zuerst nach innen. Es entsteht ein Innen-Außen-Denken: Ich identifiziere mich mit dem einen und erdulde das andere. Die Themen und Schwellen sind dabei überall anders. Auch wie direkt oder unterschwellig Meinungen geäußert werden. Am ehesten merkt man diese Unterschiede auf Reisen in andere Länder. Es „herrschen andere Sitten“. Man ist anderer Meinung.

    Kürzlich war ich im fernen, fremden Bayern. Die Wahlen waren noch nicht lange her. Während meines Aufenthaltes einigten sich CSU und Freie Wähler auf eine Koalition. Bereits bei meiner Anreise musste ich tolerant sein. Im Zug beschwerte sich ein Fahrgast bei seinem Sitznachbarn über die Zugverspätung. Die Ansage des Zugpersonals meldete: „Personen im Gleis“.

    Ich dachte mir nur: Da rennt wieder wer auf den Gleisen rum und alle haben Verspätung. Die Beschwerde des Mitfahrers lautete: „Hob g‘hört, desch wa‘ a Araber. G’wiss wieda ana unsrer sogennanten Gäschte“ (Habe gehört, dass war ein Araber. Gewiss wieder einer unserer sogenannten Gäste).

    Sogenannte Gäste

    Nicht an der Unterhaltung beteiligt, in einer anderen Reihe sitzend, war ich etwas schockiert. In Hamburg hatte ich solch eine oder ähnliche Aussage noch nicht gehört. So direkte Äußerung von Vorurteilen waren mir bisher nur in Comedy Shows begegnet, entsprechend amüsiert war ich zuerst. Dies aber war ernst gemeint.

    Sage ich etwas oder erdulde ich seine Vorurteile? Bin ich tolerant? Hat das überhaupt etwas mit Toleranz zu tun? Ich bin auch nur ein sogenannter Gast hier in Bayern. Eine Diskussion erspare ich mir und denke an Mark Twains Zitat: „Streite niemals mit dummen Leuten, sie werden dich auf ihr Niveau ziehen und dich dort mit ihrer Erfahrung schlagen“.

    Während meines Urlaubs komme ich durch Altötting. Hier wird meine Toleranz auf eine ganz andere Probe gestellt. In dieser Kleinstadt mit 12.000 Einwohnern gibt es 12 katholische Kirchen (und eine evangelische am Stadtrand). Mehrere Päpste waren hier. Benedikt XVI ist hier geboren und war 2006 zu Besuch. Die Pilgerstadt ist Zentrum für viele Pilgerwege, auch der Jakobsweg verläuft hier entlang.

    Das Geschäft mit den Devotionalien

    Kommen in Hamburg auf ca. 6.000 Einwohner je eine Kirche, Moschee oder Tempel sind es hier nur 1.000 Einwohner auf ausschließlich Kirchen. In Hamburg gibt es Muslime, Christen, Juden, Hindus, Buddhisten und noch viele weitere. In Altötting gibt es Geschäfte für Devotionalien. Überall kann man Kreuze, Kruzifixe, Marienfiguren, Jesusbildnisse und vieles mehr kaufen. Vor den Kirchen stehen Körbe, in die man die in den Geschäften gekaufte Kerzen geben kann, welche dann durch geistliche in den Kirchen entzündet werden.

    Und davon reichlich. Es ist ein Samstagnachmittag im November. Weihnachtszeit ist noch nicht. Allerheiligen war gerade erst. Am Hauptplatz sind mehr Kirchtürme und Devotionalien-Geschäfte zu sehen als Menschen. Ein Geschäft für Devotionalien reiht sich an das nächste. Nur unterbrochen durch einige wenige Cafés und Restaurants. Ich bin versucht, eine der Nonnen anzusprechen und nach dem Weg zur Moschee zu fragen. Doch ich bin tolerant. Ich toleriere diese exzessive Zurschaustellung des katholischen Glaubens. Noch nie hatte ich solch eine Fülle an einem Ort erlebt. So muss es in Mekka sein, dachte ich – nur voller.

    Bilder aus Alt Ötting. Foto von Moritz Plambeck
    Bilder aus Alt Ötting. Foto von Moritz Plambeck

    Maria mit schwarzer Hautfarbe

    Wir besuchen die wohl kleinste aber gleichzeitig auch bedeutendste Kirche in Altötting, die Gnadenkappelle: Außen übersät mit Bildern und Glaubenssprüchen hoch bis unter die Decke, im Innern gut besucht. Und da ist der stolz von Altötting: das 64 cm große Bildnis der heiligen Maria. Sie ist schwarzer Hautfarbe, aus Lindenholz gefertigt und über 500 Jahre alt. Sie ist der Grund, warum Altötting Wallfahrtsort ist. Ein Knabe soll erst ertrunken und zu Füßen der Maria gelegt und dann wieder erwacht sein.

    Ausgerechnet hier im tiefsten Bayern, wo die Menschen in Tracht ihren Tätigkeiten nachgehen, wo man das Deutsch kaum versteht und es katholischer wohl nur im Vatikan zugehen kann, ist man schon seit Jahrhunderten tolerant gegenüber einer Maria, die schwarzer Hautfarbe ist.

    Bayern ist also toleranter als gedacht. Man fühlt sich als Tourist nicht immer willkommen, vor allem weil jeder Bayer davon ausgeht, man müsse ihn klar und deutlich verstehen können. Aus Protest grüße ich jeden mit „Moin“ der mir begegnet.

    Toleranz ist überall

    In den Alpen erfordert es von geübten Führern von Wandergruppen aber auch noch eine ganz andere Form der Toleranz: die gegenüber der Ablenkung und Selbstdarstellung. Beim Wandern durch die Alpen begegnet uns ein kleines Grüppchen mit Führer. Die Aussicht ist herrlich. Die Sonne scheint. Schleierwolken zieren den Himmel und der Ausblick in nebelverhangene Täler ist unglaublich.

    Ebenso unglaublich die Vielzahl der Menschen, die pro Schritt mindestens ein Selfie schießen. Nicht falsch verstehen, ich mache auch viele Bilder, versuche aber dabei selten mich selbst in Szene zu setzen. Der kommende Wegabschnitt ist etwas tückisch, weil steil, glatt und rutschig. Der Führer weist seine Gruppe an: „Use your hands, not your phone“. Endlich spricht einer aus, was ich oft denke. Unsere Wege trennen sich.

    Toleranz ist überall. Jeder hat seine Meinung, sein Weltbild und seine Identität. Solange man den anderen die ihre lässt, ist man tolerant. Man erduldet andere Ansichten und erkennt andere Weltanschauungen an. Auch wenn sie einem nicht gefallen mögen.

  • Maria José – die Heldin der Vergessenen

    „Mama, kann ich mit Lola draußen spielen?“ fragte die zehnjährige Maria José ihre Mutter Soraya. Würden sie in einer der sicheren Wohnhäuser von Rio de Janeiro wohnen, hätte Soraya sofort „ja“ gesagt. Aber hier, in der Favela da Maré, einer der größten Siedlungen in der Nähe des Flughafens, musste die Antwort auf diese simple Frage genau überlegt werden.

    Eine Kindheit mitten im Straßenkrieg

    Am Morgen hatte es eine wilde Schießerei zwischen den Polizisten des BOPE (portugiesisch für „Bataillon für spezielle Polizeioperationen“) und Mitgliedern einer Drogenfraktion gegeben. Wie alle anderen Kindern konnte Maria José, wie schon häufig, mal wieder nicht zur Schule gehen an diesem Morgen. Und jetzt langweilte sie sich, während Soraya sich ums Essen kümmerte. „Ok, Maria, du kannst rausgehen, aber bleib in der Nähe, da wo ich dich sehe.“ „Danke Mama“, und schon war Maria José aus der Tür gehuscht, mit ihrer Lieblingspuppe unter dem Arm.

    Soraya schaute aus dem Fenster und konnte sehen, wie ihre Tochter an der Tür eines benachbarten, schäbigen Hauses klopfte. Sekunden später kam Lola raus und beide Mädchen fingen sofort an, mit ihren Puppen Krankenhaus zu spielen. Sie kicherten und lachten laut, als sie darüber abstimmten, wer jetzt die Ärztin spielt.

    Diese Erinnerungen kamen jetzt hoch, getragen von sehr vielen Tränen der Trauer, als Maria José bei der Beerdigung ihrer alten Freundin Lola am Grab stand. „Das ist eine Schande“, sagte Maria José mit leiser Wut in der Stimme. „Wofür hat sie so lang gekämpft?“. Ihre Worte gingen im Wimmern und Heulen der Umstehenden unter. „Sie hat sich so auf die Uni gefreut, und jetzt haben die sie umgebracht“.

    Kampf dem alltägliche Wahnsinn

    Lola starb im Kugelhagel, während einer Schießerei zwischen Polizisten und Drogendealern. Ein weiteres Opfer der ausufernden Gewalt und dem sinnlosen Krieg zwischen den Guten und Bösen, je nachdem, auf welcher Seite man stand. Vielleicht war es dieser Tag, als Maria José anfing, sich Gedanken darüber zu machen, was sie machen könnte, um den alltäglichen Wahnsinn zu bekämpfen. Oder zumindest zu versuchen, dass diese Menschen aus ihrer Gegend selbst für deren Rechte kämpfen würden.

    Es waren immer wieder die Legionen von Vergessenen und Unsichtbaren, die auf der Strecke blieben. „Der harte und zum Teil undankbare Kampf für die Grundrechte der Armen hat mein Bewusstsein für die Welt geweckt“, sagte Maria José in Gesprächen mit anderen Studenten. „Ich bin eine Frau, schwarz und komme aus der Favela da Mark, und jetzt bin ich eine Verteidigerin der Menschenrechte“. Sie sprach und erinnerte sich, dass sie vor Jahren nicht einmal hätte davon träumen können, jemals einen Studienplatz an einer renommierten Universität in Rio de Janeiro zu bekommen.

    Eine junge Frau macht sich stark

    Nach vielen anstrengenden Jahren hat sie ihre Doktorarbeit in Sozialwissenschaften abgeschlossen. Sie und eine Kommilitonin waren die einzigen schwarzen Frauen der Abteilung. Maria José wurde eine sehr junge Mutter – im Alter von 19 bekam sie eine Tochter, Luisa. „Sie hat mir die Kraft gegeben, für die Rechte der Frauen zu kämpfen und dieses Thema in den Favelas zu diskutieren“. Mit ihrer Dissertation „UPP (Einheit der Befriedungspolizei): Die Reduzierung der Favela auf drei Buchstaben“ erlangte sie ihre Professur.

    Maria José bekam eine Stelle in der Kommission der Menschenrechte im Landtag von Rio de Janeiro. „Ich weiß, dass dieses Thema sehr viele Empfindlichkeiten hervorruft, aber angesichts der eklatanten Verletzungen muss ich aktiv werden und Gesicht zeigen. Mir ist bewusst in welchem Schlangennest ich mich bewege“. Sie hat hart dafür gearbeitet, um die Notwendigkeit der Bekämpfung des Rassismus klar zu stellen.

    Sie musste zeigen, dass eine schwarze Frau aus einer Favela die Stellen der Macht besetzen kann und soll. „Es interessiert mich nicht, ob sich kleine und große Mafiosi an meiner Arbeit stören“. Sie kandidierte als Landtagsabgeordnete und wurde zur fünft meist gewählten Kandidatin.

    Es war ihre erste Wahl. Maria José hat mit verschiedenen Vertretern der einzelnen Favelas in Rio de Janeiro zusammen gearbeitet und die sozialen Foren als Kanal benutzt, um die Rechtsbrüche seitens der Polizei in den Elendsvierteln sichtbar zu machen. „Es reicht, dass die Bevölkerung terrorisiert wird! Wie viele junge Leute sind schon erschossen worden? Das war schon immer so und seit der Militärintervention ist schlimmer geworden“.

    Ich bin, weil wir alle sind.

    Maria José hat in ihren Aktionen ein Motto auf Ubuntu verwendet, eine afrikanische humanistische Philosophie: „Ich bin, weil wir alle sind“. Maria José hat begründete Vorwürfe gegen das 41. Kommando der Militärpolizei erhoben. Die Beamten sollen mit äußerster Brutalität gegen die Bewohner der Armenviertels von Acari, weit im Norden der Stadt, vorgegangen sein.

    An einem Mittwochabend, gegen 21:30 Uhr, verließ Maria José eine Veranstaltung im Haus der Schwarzen Frauen in Papa – das Ausgehviertel mitten in der Altstadt von Rio. Sie war eine der Initiatorinnen dieses Treffpunkts für Frauen aus den verschiedenen Favelas. Dort entwickelten sie Projekte und Programme, um ihre Präsenz in der Gesellschaft zu stärken. Und, um eine gemeinsame Stimme gegen die Gewalt, Armut und staatliche Vernachlässigung laut zu äußern. Maria José wurde von ihrer jungen Sekretärin, Marlene, begleitet. Im Auto wartete der Fahrer, Armando. Ein ehemaliger Polizist, der den Korruptionssumpf innerhalb der Polizei nicht mehr ertragen konnte und den Job deshalb quittierte.

    Er war ein junger Vater und hatte Angst, eines Tages nicht mehr sicher zu seiner fast einjährigen Tochter nach Hause zurückzukommen. Marlene bat Maria José, neben sich auf dem Rücksitz Platz zu nehmen. „Ich will dir die Fotos der Veranstaltung zeigen. Du kannst sie auf der Homepage benutzen“. Beide Frauen stiegen hinten ein, Armando flachste in seiner lockeren Art „ Na Chefin? Wirst du mir jetzt untreu?“. „Du bist ja schon vergeben“, antwortete Marlene lachend.

    Der Wagen startete, es war schon recht dunkel. Ein anderes Auto rollte langsam hinter dem Wagen von Maria José. „Die Bilder sind wirklich schön“ sagte sie, „Es wird schwer sein, nur ein paar davon zu nehmen“. „Ich helfe dir gern dabei, Chefin“, sagte Armando mit einem kurzen Blick nach hinten. „Pass lieber auf die Strasse auf“, antwortete Marlene. Armando drehte seinen Kopf nach vorne und konnte im letzten Moment einen Wagen wahrnehmen, der sich direkt vor ihm quer gestellt hatte. „Was soll das?“ schrie Armando, während er das Auto scharf bremste.

    Das Ende kam aus dem Nichts

    Alle drei schauten jetzt auf den Wagen und konnten die Männer nicht sehen, die aus dem hinteren Wagen ausgestiegen waren. Einer davon stellte sich direkt neben den Rücksitz des Wagens und feuerte neun Mal. Fünf Kugeln trafen Maria José. Armando wollte aussteigen – aber es war zu spät. Der zweite Mann erwischte ihn noch am Steuer mit vier Kugeln. Und jede davon ein Volltreffer.

    Das Ganze dauerte nicht länger als zehn oder fünfzehn Sekunden. Die Männer stiegen wieder ins Auto und fuhren los. Die dunkle Strassen waren nicht sehr belebt um diese Uhrzeit, fast direkt neben dem Rathaus von Rio de Janeiro. Es brauchte einen Augenblick, bis ein Pförtner von einem der umliegenden Hochhäusern die Polizei alarmierte. Aber es war ohnehin nichts mehr zu machen …

    Die Nachricht über die Bluttat schoss wie ein Pfeil durch die Straßen und Netzwerke, und brachte wenigen Stunden danach Tausende von Menschen in Protestmärschen zusammen. Maria José wurde zwei Tage später am Hauptfriedhof von Rio de Janeiro zu Grabe getragen. Es war ein seltener Anblick, als ein Meer von Trauergästen applaudierte, während der Sarg seinen langsamen Weg an der Menschenmenge vorbei rollte.

    Sie gab den Vergessenen und Unsichtbaren eine Stimme

    An ihrem Grab stand auch eine schwarze Polizeibeamtin neben einiger ihrer männlichen Kollegen. „Wir kommen aus dem gleichen Viertel, Maria. Aber du warst diejenige, die mit Mut den Vergessenen und Unsichtbaren dieser Gesellschaft eine Stimme gegeben hat. Wir danken dir, du hast wie eine Heldin gelebt hast und wie eine gestorben bist“, sagte sie laut unter Tränen. Ein Polizist legte seinen Arm auf ihre Schulter, um Trost zu spenden. Die Umstehenden hörten bedächtig zu.

    Maria José wurde 36 Jahre alt.

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