Schlagwort: Rassismus

  • Wir sind nicht gleich

    In einem kleinen, kaum besuchten Café saßen sich zwei Männer gegenüber. Der eine, ein junger Geflüchteter, hielt die Tasse mit beiden Händen fest umklammert, als wollte er sich an der Wärme festhalten. Sein Gegenüber, ein schweigsamer älterer Mann mit grimmigem Gesichtsausdruck, starrte ihn an, ohne ein Wort zu sagen.

    Der Jüngere von den beiden begann zu sprechen, seine Stimme leise, aber klar: „Wir sind nicht gleich, weil ich meinen Nachnamen falsch ausspreche, damit du ihn verstehst.“ Er sah, wie der Mann ihm gegenüber mit einer Augenbraue zuckte, blieb aber ungerührt.

    „Wir sind nicht gleich, weil meine bloße Präsenz dir Angst macht.“ Seine Augen suchten die des anderen, fanden aber keine Reaktion, nur Kälte.

    „Wir sind nicht gleich, weil du die Straßenseite wechselst, wenn du mich siehst und ich nicht.“ Er schnaubte leise, die Absurdität der Situation erdrückte ihn.

    „Wir sind nicht gleich, weil dein Akzent als charmant gilt und meiner nicht.“ Der Geflüchtete lehnte sich ein Stück nach vorne, als wollte er die Distanz überbrücken, die sie trennte.

    „Wir sind nicht gleich, weil ich mich klein machen muss, damit du groß sein kannst.“ Seine Worte waren mit Bitterkeit getränkt, aber seine Stimme blieb ruhig.

    „Wir sind nicht gleich, weil dein Reisepass rot ist, während meiner dunkelblau ist und zwei schwarze Streifen hat.“ Er trank einen kleinen Schluck aus seiner Tasse, die Wärme des Tees war kaum noch spürbar.

    „Wir sind nicht gleich, weil ich meine Religion verstecken muss, während du deine teilen kannst.“ Der Geflüchtete schüttelte leicht den Kopf, als ob die Worte ihm schwer auf der Seele lagen. „Weil deine religiösen Feste gefeiert werden und meine nur für Ärger sorgen.“

    „Wir sind nicht gleich, weil mein Medizinstudium hier nur ein Hauptschulabschluss ist und deines nicht.“ Ein kurzes, bitteres Lächeln erschien auf seinen Lippen, verschwand aber schnell wieder.

    „Wir sind nicht gleich, weil du den Job bekommst und ich nicht.“ Seine Augen wurden für einen Moment leer, dann fand er seine Entschlossenheit wieder.

    „Wir sind nicht gleich, weil ich für das Image jedes Menschen, mit dem ich zu tun habe, geradestehen muss und du nicht.“ Er spürte die Last dieser Wahrheit auf seinen Schultern.

    „Wir sind nicht gleich, weil ich für einen Like meinen Job verlieren kann und du nicht.“ Er legte die Hände auf den Tisch und blickte auf seine Finger, als ob er dort die Narben der Vergangenheit sehen könnte.

    „Wir sind nicht gleich, weil ich bei Gewalt an die Opfer denke und du an die Täter.“ Der Geflüchtete hob den Kopf, seine Augen fixierten den Mann ihm gegenüber, als würde er eine Reaktion herausfordern.

    „Wir sind nicht gleich, weil ich bei einem Anschlag hoffen muss, dass der Täter kein Geflüchteter war während du es dir wünschst.“ Ein schwerer Seufzer entrang sich seiner Brust.

    „Wir sind nicht gleich, weil ich bei jedem Anschlag ins Visier genommen werde und du nicht.“ Er fasste sich an den Hals, als ob er sich gegen die schneidende Klinge der Realität an seiner Kehle schützen wollte.

    „Wir sind nicht gleich, weil ich mich von allem distanzieren muss und du von nichts.“ Er sah den anderen an, sein Blick war fest, aber müde.

    „Wir sind nicht gleich, weil ich ein Terrorist wäre und du ein geistig Verwirrter.“ Er schüttelte den Kopf, als ob er nicht glauben konnte, wie tief die Kluft war.

    „Wir sind nicht gleich, weil deine Wut als Patriotismus betrachtet wird und meine als Gefährdung.“ Die Worte kamen langsam, mit Gewicht.

    „Wir sind nicht gleich, weil meine Unterkunft brennen wird und dein Einfamilienhaus nicht.“ Er schnaubte erneut, die Härte dieser Realität ließ ihn kaum noch atmen.

    „Wir sind nicht gleich, weil du die Polizei rufst und ich sie fürchte.“ Ein Schatten legte sich über sein Gesicht, als die Erinnerungen zurückkehrten.

    „Wir sind nicht gleich, weil ich beweisen muss, dass ich hier sein darf und du nicht.“ Der Schmerz in seiner Stimme war nun nicht mehr zu überhören.

    „Wir sind nicht gleich, weil deine Kinder in die Zukunft blicken, während meine damit kämpfen, die Vergangenheit zu vergessen.“ Er fuhr sich durch die Haare, als wollte er die Erinnerungen wegwischen.

    „Wir sind nicht gleich, weil deine Geschichte als Heldentum gefeiert wird und meine eine Last ist.“ Ein trauriges Lächeln spielte auf seinen Lippen, bevor es verschwand.

    „Wir sind nicht gleich, weil du deine Worte frei äußern kannst und ich meine sorgfältig abwägen muss.“ Seine Stimme zitterte leicht, aber er hielt den Blickkontakt.

    „Wir sind nicht gleich, weil du überall hingehörst und ich nirgends.“ Er sah dem anderen fest in die Augen, seine Worte wie ein Urteil.

    „Wir sind nicht gleich, weil du du bist und ich ich.“ Seine Stimme war nun kaum mehr als ein Flüstern, aber jeder Buchstabe trug das Gewicht der ganzen Welt.

    „Wir sind nicht gleich. Wir sind nicht gleich. Und wir werden es auch nie sein.“

    Eine lange Stille folgte, das Café um sie herum wurde fast gespenstisch ruhig und die Welt schien sich für einen kurzen Moment nicht mehr zu drehen.

    Der Jüngere nahm einen letzten Schluck aus seiner Tasse, setzte sie ab und blickte dem Älteren tief in die Augen. „Aber“, sagte er schließlich, „wir sind gleich, weil unsere Herzen beide dunkel und hart sind – meins, weil ich gehasst werde, und deins, weil du hasst.“

    Die Worte hingen in der Luft, schwer und unausweichlich. Der Mann am anderen Ende des Tisches blieb still, sein Gesicht versteinert. Keine Antwort kam, nur die unendlich tiefe Stille, die ihre unausgesprochene Wahrheit bestätigte und ein Blick, in dem alles gesagt war.

     

     

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  • Rassismus gegen Sinti*zze und Rom*nja – wie du dich wehren kannst

    Vorurteile gegen Sinti*zze und Rom*nja gibt es zahlreiche – oftmals herrscht in der Gesellschaft das Vorurteil, dass sie kriminelle und heimatlose Nomaden seien, die nicht bereit seien, sich in die Gesellschaft zu integrieren. Rassismus gegen Sinti*zze und Rom*nja reicht bis ins deutsche Kaiserreich zurück und mündete schließlich in der Ermordung von rund 500.000 Sinti und Roma während des NS-Regimes. Eine wirkliche Aufarbeitung dieses Völkermordes habe noch immer nicht stattgefunden, kritisiert auch Dr. Mehmet Daimagüler, welcher 2022 als erster Antiziganismus Beauftragter durch die Bundesregierung berufen wurde.

    Wie kann ich mir Hilfe suchen, wenn ich Opfer von antiziganistischer Gewalt werde?

    Wenn du Opfer von gewalttätigen Attacken geworden bist, egal ob diese verbal oder körperlich waren, hast du die Möglichkeit, diese auf der Homepage der MIA (Melde – und Informationsstelle Antiziganismus) zu melden. MIA ist eine Anlaufstelle für Sinti*zze und Romn*ja, die Diskriminierung erleben. Der Fokus liegt darauf, die Rechte von Betroffenen zu stärken und sich für Chancengleichheit einzusetzen.

    Die MIA-Bundesgeschäftsstelle führt außerdem Sensibilisierungsmaßnahmen und Empowerment-Angebote wie Workshops und Regionalkonferenzen durch. Diese richten sich sowohl an zivilgesellschaftliche Organisationen als auch an Betroffene und staatliche Akteure. Wenn du dich generell für die Arbeit der MIA interessierst und wissen willst, wie der Zentralrat der Deutschen Sinti & Roma arbeitet und vielleicht selbst sogar aktiv werden möchtest, kannst du hier vorbeischauen.

    Auch die Berliner Jugendselbstorganisation Amaro Foro e.V. engagiert sich gegen diese Form von Rassismus und für Teilhabe und Chancengerechtigkeit. Das Team besteht aus Romn*ja und Nicht-Romn*ja, aus Politolog*innen, Sozialwissenschaftler*innen, Pädagog*innen und Sozialarbeiter*innen.  Ihr Ziel ist es, durch Bildungsarbeit die Gesellschaft für antiziganistisch motivierte Vorfälle zu sensibilisieren und Betroffenen eine Plattform zu geben. Wenn du in Berlin lebst, dich informieren und an Projekten teilnehmen und/oder unterstützen möchtest, kannst du hier vorbeischauen.

    Örtliche Beratungsstellen für Rassismus und Diskriminierung können gute erste Anlaufstellen sein, die dich zur Not weiterverweisen. Natürlich solltest du, wenn du Opfer oder Zeuge eines solchen Vorfalls geworden bist, auch immer überlegen, ob du diesen nicht auch bei der örtlichen Polizei oder Staatsanwaltschaft melden möchtest. Auch kannst du dir anwaltliche Hilfe suchen, wenn du Unterstützung für den Gang zu den Strafermittlungsbehörden benötigst.

     

    Wir orientieren uns am Glossar der Neuen Deutschen Medienmacher*innen, die die Bezeichnung „Rassismus gegen Rom*nja und Sinti*zze“ empfehlen.  Es gibt jedoch auch weitere Begriffe, die Betroffene zum Teil selbst nutzen, wie zum Beispiel „Antiziganismus“, „Antiromaismus“, „Antisintiismus“ oder „Gadjé-Rassismus“. 

  • Diskussion um WDR-Umfrage zu Rassismus im Kontext der EM – die migrationsnews von kohero

    Vorgestern habe ich die Dokumentation „Einigkeit und Recht und Vielfalt“ gesehen, für die der WDR auch eine repräsentative Umfrage in Auftrag gegeben hat. Autor Philipp Awounou untersucht darin die Entwicklung des Migrationsanteils in der deutschen Nationalmannschaft und was dies über die deutsche Gesellschaft aussagt.

    Die Fragen der Umfrage waren:

    – Ich fände es besser, wenn wieder mehr weiße Spieler in der deutschen Nationalmannschaft spielen.

    – Ich finde es gut, dass in der deutschen Mannschaft mittlerweile viele Fußballer spielen, die einen Migrationshintergrund haben.

    – Ich finde es schade, dass der derzeitige Kapitän der deutschen Nationalmannschaft türkische Wurzeln hat.

    Ich war sehr überrascht. Wer hat sich diese Umfrage ausgedacht? Warum sollte man dafür stimmen oder nicht stimmen? Deutschland ist ein Einwanderungsland und kann nicht nur mit Menschen ohne Migrationsgeschichte eine gute Mannschaft aufbauen.

    Im Sport, besonders im Fußball, geht es darum, die besten Spieler*innen zu haben und zu gewinnen – egal, wer sie sind. Und die Fans jeder Mannschaft sind zufrieden, wenn sie gewinnen – egal, wer spielt. Natürlich gibt es Herausforderungen, besonders wenn die Mannschaft verliert. Aber am Ende geht es eigentlich nur um den Sieg.

    Viele Spieler*innen, darunter auch Nationalspieler Joshua Kimmich, haben sich für Vielfalt in der deutschen Fußball-Nationalmannschaft ausgesprochen und klare Kante gegen Rassismus gezeigt. „Der Fußball ist ein sehr gutes Beispiel dafür, wie man verschiedene Nationen, Hautfarben und Religionen vereinen kann. Darum geht es“, sagte Kimmich im EM-Trainingslager in Herzogenaurach.

    66 % der Befragten finden es gut, dass viele Spieler der Nationalmannschaft einen Migrationshintergrund haben. 21 % bevorzugen hingegen mehr weiße Spieler. Diese Meinung ist besonders bei Anhänger*innen der AfD (47 %) und des Bündnisses Sahra Wagenknecht (38 %) verbreitet, während sie bei Anhänger*innen der Union (18 %), SPD (14 %) und Grünen (5 %) weniger Zustimmung findet.

    Darüber hinaus bedauern 17 % der Befragten, dass der derzeitige Kapitän der Nationalmannschaft, Ilkay Gündoğan, türkische Wurzeln hat, während 67 % dieser Aussage nicht zustimmen.

    Obwohl dieses Ergebnis zeigt, dass die Mehrheit kein Problem mit dem Migrationshintergrund der Spieler hat, berichten die Medien oft sensationell: „Jeder Fünfte für mehr weiße Nationalspieler“.

    Die Frage ist: Wie sprechen wir in dieser Art und Weise über Rassismus?

    Lorenz Narku Laing, Professor für Sozialwissenschaften und Rassismusforschung an der Evangelischen Hochschule Bochum und zertifizierter Diversitytrainer, sagt im Deutschlandfunk: „Den Wunsch, Rassismus unsichtbar zu machen, kann ich nachvollziehen. Das Thema ist schwer, es ist unangenehm, und es ist auch konfliktreich. Aber wenn wir Rassismus wirklich überwinden wollen, müssen wir ihn bearbeiten. Das kostet viel Energie und Zeit und die wollen die Leute vielleicht nicht immer reinstecken.“

    Die Dokumentation beleuchtet auch die Erfahrungen von Spielern wie Gerald Asamoah, der von Rassismus in deutschen Stadien berichtet, und Shkodran Mustafi, der über die Erwartungen an die Integration der Spieler spricht. Nationalspieler Jonathan Tah betont die Einheit und Vielfalt der Mannschaft, die gemeinsam für den Erfolg bei der EURO kämpfen will.

    Ich bin der Meinung, wir sollten auf eine andere Weise darüber sprechen. Es sollten diejenigen spielen, die es verdient haben, in der Mannschaft zu sein. Und die Mannschaft ist ein Spiegelbild der Gesellschaft. Wenn die Gesellschaft vielfältig ist, dann ist auch die Mannschaft vielfältig – ganz realistisch gesehen.

  • Hat Deutschland aus Hanau gelernt?

    Am 19. Februar 2020 tötete ein Rechtsextremist in Hanau neun Menschen mit Migrationshintergrund, seine Mutter und sich selbst. Vier Jahre nach dem rassistischen Anschlag in Hanau erinnern sich Menschen deutschlandweit an die Todesopfer: Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov.

    Der Gedenktag an die Opfer in Hanau fällt dieses Jahr mit Demonstrationen gegen Rechtsextremismus zusammen, die zeigen, dass ein großer Teil der Gesellschaft etwas aus der Vergangenheit gelernt hat: dass Rechtsextremismus keinen Platz hat. Das ist ein gutes Zeichen. Doch der Anschlag in Hanau hat gezeigt, dass Rassismus und Rechtsextremismus effektiv bekämpft werden müssen. Ob in der Schule, auf der Straße, in Shisha-Bars oder sogar beim Fußballspielen: Es ist wichtig, dass die Gesellschaft entschlossen gegen jede Form von Rassismus und Diskriminierung vorgeht.

    Angriffe gegen Geflüchtete: Alarmsignal für die Gesellschaft

    Vorläufige Zahlen des Bundesinnenministeriums zeigen allerdings ein anderes Bild auf: Die Zahl der Angriffe auf Geflüchtete und deren Unterkünfte ist in Deutschland offenbar im vergangenen Jahr deutlich gestiegen. Die Sicherheitsbehörde registrierten insgesamt 2.378 mutmaßlich politisch motivierte Straftaten gegen Migrant*innen – fast doppelt so viele wie im Jahr zuvor: Die Politik hat versagt, als Politiker*innen der demokratischen Parteien die Stimmung gegen Asylsuchende aufgehetzt haben. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) selbst will „im großen Still abschieben“. Finanzminister Christian Lindner (FDP) und CDU-Chef Friedrich Merz haben mit ihren Aussagen auch den Eindruck erweckt, dass Asylbewerber*innen im Vergleich zu anderen Bürger*innen mehr staatliche Leistung erhalten würden. Deshalb ist es kein Wunder, dass Rassisten sich mit so eine gehetzte Atmosphäre bestärkt fühlen und geflüchtete Menschen sowie Migrant*innen angreifen.

    Nun ist es nötig, eine konsequente Verfolgung dieser Straftaten sowie bessere Schutzkonzepte für Unterbringungsunterkünfte einzuführen. Doch allein diese Sicherheitsmaßnahmen und die Demonstrationen gegen Rechtsextremismus werden das Problem nicht lösen. Es bedarf einer gesamtgesellschaftlichen Anstrengung, um die Wurzeln des zunehmenden Extremismus zu bekämpfen.

    Daher ist es wichtig, dass die Politik, die Gesellschaft sowie die Medien eine klare Haltung gegen jede Form von Volksverhetzung, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus einnehmen. Und zwar: durch die Stärkung von Bildungsprogrammen für Toleranz und Vielfalt, um Vorurteile zu überwinden und Respekt gegenüber anderen Kulturen zu entwickeln. Dazu kommt auch die Beschaffung eines Raums für Betroffene, um ihre Ängste und Erfahrungen zu teilen und damit Unterstützung von Fachleuten und anderen Betroffenen zu erhalten.

    Die nun veröffentlichten Zahlen sind eine Warnung für die Gesellschaft und die Politik, dass Menschen mit Migrations- und Fluchtgeschichte nicht sicher sind und sich zunehmend bedroht fühlen. Wer die Auswirkungen des Zuspruchs rechtsradikaler und rechtsextremer Gruppierungen wie der AfD verringern möchte, muss dieses Alarmsignal wahrnehmen. Denn die gehetzte Debatte über Migrant*innen lässt die AfD und andere Rechte und Rechtsextremisten hoffen, dass ihre „Deportationspläne“ eines Tages umgesetzt werden können.

    Es reicht nicht aus, dass wir nach solchen schrecklichen Ereignissen die Taten verurteilen, sondern wir müssen aktiv daran arbeiten, eine Kultur der Akzeptanz und Toleranz zu fördern. Damit schaffen wir eine Atmosphäre des Respekts und der Solidarität, in der jeder Mensch unabhängig von seiner Herkunft oder Hautfarbe sicher und willkommen ist. „Erinnern heißt verändern“, deshalb muss, wer verhindern will, dass so etwas wieder geschieht, die Erinnerungskultur wachhalten. Damit kämpfen wir gegen die Normalisierung von Rassismus und Diskriminierung sowie Antisemitismus.

  • Sheeko Ismail: Empowerment durch Kinderbücher

    „Kinder sind Menschen wie wir. Und Kinder sind mindestens so schlau wie wir“, sagt Sheeko Ismail (keine Pronomen) überzeugt. Sheeko gründete gemeinsam mit Maimuna Sallah (sie/ihr) im Mai 2022 die Schwarze Kinderbibliothek in Bremen. Davor hat Sheeko viel Aktivismus-Erfahrung gesammelt: Kuration des „Black Art Fashion Festival“, Gründung der Initiative „Zukunft ist bunt“, Herausgeber*in der Buchreihe „Look at Us! Gallerie der Schwarzen Vorbilder & Held*innen in Deutschland“. „Manchmal erinnere ich mich selbst gar nicht mehr daran, was ich alles gemacht habe“, erklärt Sheeko lachend.

    „Wir arbeiten auf Vertrauensbasis“

    Inspiriert zur SchwaKiBi wurde Sheeko 2021 während einer Bildungsreise in Frankreich. Seit Januar 2023 hat die Bibliothek ihre eigenen Räume im Bremer Viertel. Heute ist die Schwarze Kinderbibliothek nicht nur ein Ort zum (Vor)lesen, sondern auch für Workshops, Vernetzung und Lesungen. Die Bücher können vor Ort gelesen oder kostenlos ausgeliehen werden – „Wir arbeiten auf Vertrauensbasis“, erklärt Sheeko. Einen Ausweis braucht man nicht, nur ein Kontaktformular. So soll auch Menschen ohne Papiere ermöglicht werden, Bücher mit nach Hause zu nehmen. „Das funktioniert bisher auch super so“, sagt Sheeko lächelnd.

    Und warum braucht es eine Schwarze Kinderbibliothek? „In einer weißen Mehrheitsgesellschaft war diese Notwendigkeit schon immer da und sie wird auch immer da sein“, betont Sheeko. Das zeigt sich auch an den Besucher*innen der SchwaKiBi: Es kommen überwiegend von Rassismus betroffene Kinder mit ihren Eltern, Kinder, die mehrsprachig aufwachsen oder weiße Eltern von Schwarzen Kindern. Am schönsten sei es, wenn Kinder sich in einem Buch wieder erkennen, erklärt Sheeko: „Die Kinder strahlen übers ganze Gesicht, wenn in einem Buch jemand so aussieht wie sie.“

    Die Schwarze Kinderbibliothek (Credit: SchwakiBi)

    „Kinder wissen, was Rassismus ist“

    Die SchwaKiBi bietet neben Literatur auch Kinder-Workshops an: „Selfcare for Black & Indigenous Kids“, „Black Hair Action“ oder Lesungen – Veranstaltungen, die sonst eher für Erwachsene stattfinden. „Ich war anfangs auch nicht sicher, wie Kinder und Selfcare zusammenpassen“, erklärt Sheeko. Den Workshop führt eine Erzieherin durch, die mit den Kindern über Gefühle und Vorfahren spricht. Als sie fragt, ob sie das Wort Rassismus kennen, nicken alle Kinder. Doch keines der Kinder möchte darüber sprechen. Sheeko erinnert sich: „Da bin ich total emotional geworden. Kinder wissen, was Rassismus ist. Sie wissen auch, wie sich Othering anfühlt.“

    Die Aufgabe der Kinderbibliothek werde manchmal falsch verstanden, erzählt Sheeko. „Wir machen keine Integration. Oft werden Begriffe wie Integration, Rassismus, Diversität und so weiter einfach in einen Topf geworfen. Dabei verdient jedes dieser Themen einzeln Aufmerksamkeit.“ Stattdessen wollen Sheeko und Maimuna Aufklärungsarbeit leisten, eine solidarische Gesellschaft mit kreieren und die Darstellung Schwarzer Menschen in Kinderbüchern dekolonisieren. Diese Veränderungen brauchen Geduld, sagt Sheeko: „Ich verlange nicht von Menschen, von heute auf morgen total woke und aufgeklärt zu sein. Sich seiner Privilegien bewusst zu werden, ist ja ein Lernprozess.“

    Veränderungen auf dem Kinderbuchmarkt

    Ein Lernprozess, den auch Sheeko selbst durchlaufen hat: Durch das Aufwachsen in einem afrikanischen Land musste Sheeko sich lange nicht mit dem eigenen Schwarz-Sein auseinandersetzen. Sheekos Umfeld als Kind und Sheekos Eltern sind bis heute inspirierend und empowerend. „Natürlich ist das auch ein Privileg von mir gegenüber BIPoCs, die in Europa aufgewachsen sind.“

    Vorbilder und Bücherecke in die Schwarze Kinderbibliothek (Credit: SchwakiBi)

    Und langsam bewegt sich wirklich etwas auf dem Kinderbuchmarkt: zum Beispiel verlegt der gratitude Verlag aus Hamburg ausschließlich Kinder- und Jugendbücher mit BIPoC Held*innen. Auch die Bücher des zuckersüß Verlages in Berlin machen Schwarze oder queere Lebensrealitäten sichtbar. Die eigene Stimme hörbar zu machen, sei wichtig für BIPoCs, ob Kinder oder Erwachsene, erklärt Sheeko: „Denn wir haben einen Mund und können reden. Wir wissen, wie man spricht.“

     

    Credit Beitragsbild: Nicole Benewaah

  • Krieg in Israel und Palästina: Gedanken zum deutschen Diskurs

    Aber was versteht man im deutschen Diskurs unter „Hamas“? Seit Beginn des jüngsten Kriegs am 7. Oktober hat sich die Lage auch in Deutschland zugespitzt. Einige Solidaritätsdemonstrationen für Palästinenser*innen wurden verboten und einige Pro-Palästina-Aktivist*innen festgenommen. Denn sie haben den Angriff gefeiert. Das gilt als Antisemitismus und sowas muss bestraft werden. Mit solchen antisemitischen Äußerungen werden Palästinenser*innen keine Solidarität gewinnen.

    Gleichzeitig zeigen die deutschen Behörden ihre uneingeschränkte Solidarität mit Israel, unabhängig von den Maßnahmen, die die israelische Armee als Reaktion auf die Hamas-Angriffe in Gaza unternimmt. Ob Frauen oder Kinder getötet werden. Ob Häuser, Schulen oder Krankenhäuser zerstört werden: „Israel hat das Recht, sich selbst zu verteidigen“, heißt es.

    Auch die Medien haben es geschafft, diese Botschaft zu vermitteln, ohne die palästinensische Perspektive bisher angemessen zu berücksichtigen. Es wurde kaum ein Unterschied zwischen den Palästinenser*innen und der Hamas gemacht, was impliziert, dass die Palästinenser*innen – auch in Deutschland – als Hamas-Anhänger*innen betrachtet werden. Dies scheint den medialen und politischen Diskurs zu rechtfertigen. Und dieser verstößt offensichtlich gegen die Menschenrechte der Palästinenser*innen.

    Palästinensische Perspektive nicht berücksichtigt

    Politiker*innen setzen sich auch in Talkshows seit Samstag dafür ein, Israel und sein Verhalten zu verteidigen, und fordern die Vernichtung der Hamas, auch wenn das nicht mit schönen Bildern verbunden sein könne. Das Problem bei diesem Diskurs ist, dass die Menschen in Palästina bisher kollektiv als Hamas-Anhänger*innen, Terrorist*innen und Barbar*innen dargestellt wurden.

    Solange dies so bleibt, werden wir in den kommenden Tagen vermehrt auf anti-palästinensischen Rassismus stoßen. Eine Freundin schrieb mir: „Sie haben jetzt das grüne Licht bekommen, um uns alle auszulöschen.“ Sie ist keine Hamas-Anhängerin. Sie verurteilt die Hamas-Angriffe auf Zivilist*innen und ist der Meinung, dass solches Verhalten nichts mit legitimem Widerstand zu tun hat. Dennoch befürchtet sie, dass diese Angriffe dazu führen könnten, dass mehr als 13 Millionen Palästinenser*innen weltweit bestraft werden. Dass sie keine Möglichkeit mehr haben, ihre Haltung zu ihrem eigenen Konflikt zu zeigen, ohne als antisemitisch, terroristisch oder barbarisch bezeichnet zu werden.

    Diese Befürchtung scheint nachvollziehbar zu sein. Daher ist es dringend erforderlich, dass Politik und Medien den Unterschied aufzeigen, um zu verhindern, dass Palästinenser*innen kollektiv bestraft werden. Denn dies dient nicht dazu, die Lage zu beruhigen oder Antisemitismus zu bekämpfen, sondern trägt dazu bei, den Konflikt weiter zu eskalieren – auch in Deutschland.

     

     

    Für die Berichterstattung zum Krieg in Israel und Palästina haben wir uns entschieden, mehrere Perspektiven in einen Kontext einzuordnen. Aufgrund der komplexen Vorgeschichte und den schnellen Entwicklungen werden wir in den nächsten Wochen also verschiedene Beiträge zu diesem Thema veröffentlichen. Durch die Veröffentlichung verschiedener Perspektiven und Beobachtungen wollen wir mehr Klarheit schaffen und zeigen, welche Zusammenhänge und Sichtweisen es gibt.

    Weitere Beiträge zu diesem Thema findest du hier.

  • An inventory of racism in health care

    Racism manifests itself in different ways in the health care system. But there is a lack of reliable numbers and data. An inventory of colonial assumptions, misdiagnosis and lack of sensitivity in medical education.

    In 2021, a research team commissioned by the German Federal Anti-Discrimination Agency presented the research project Diskriminierungsrisiken und Diskriminierungsschutz im Gesundheitswesen (Discrimination Risks and Discrimination Protection in Health Care). The result: Discrimination risks exist both in access to and in the use of health care. Discrimination such as racism manifests itself not only in the form of discriminatory behaviour on the part of medical staff, but much more in the form of institutional practices and processes that favour unequal treatment of patient groups.

    Racism in healthcare is multi-faceted and affects people on many levels. Sometimes racism is directed at health care workers, sometimes at patients, and sometimes racism costs lives when it prevents diseases from being detected early and treated properly.

    In Germany, however, there is hardly any research on the topic. Due to a lack of data, the debate is often one-sided, and institutional practices and structural inequalities stay unaddressed. It is therefore worth taking a look at the USA, Canada and the UK, where there are far more reliable figures.

    Institutional racism in medicine

    According to the Human Rights Watch study „We Need Access“ in conjunction with the “Southern Rural Black Women’s Initiative of Economic and Social Justice”, Black women are diagnosed with cervical cancer much later than white women. They are also more likely to die from it, although cervical cancer is preventable and highly treatable if caught early enough. In the U.S. state of Georgia, Black women are twice as likely to die from cancer as white women. This is, for example, because they are less likely to be screened for cervical cancer, less likely to be informed about preventive measures, or less likely to have their pain taken seriously.

    Although cervical cancer is preventable in most cases, institutional racism, or factors such as socioeconomic background, ensure the opposite. This excludes BIPoC from the health care system and cuts them off from important information and services that can be crucial to life and death.

    In Germany, too, accusations of racism in the health care system are piling up, primarily as a result of the corona pandemic. The proportion of foreign nationals among all deaths increased during the pandemic at an above-average rate. Between January and August 2021, 4500 foreign nationals died – more than in 2019 during the same period.

    Causes of the increased mortality could include on average poorer housing and working conditions, limited access to healthy nutrition, and more frequent use of public transportation. But again, there is a lack of data that could validly reflect structural discrimination.

    A short history lesson – colonial-historical assumptions

    People with a history of migration and flight often receiving inadequate medical care is also due to a research and knowledge gap in medicine. Many pathologies such as skin rashes, neurodermatitis or Lyme disease are difficult to recognise for the untrained eye on dark skin – which is due to the fact that corresponding textbooks predominantly refer to white patients. In 2020, Malone Mukwende, a Black medical student from the UK, published the textbook „Mind the Gap“, where symptoms are shown on different skin colours to counteract this problem.

    In addition, there are still colonial-historical presumptions that need to be dismantled. Other studies from the USA, for example, show that heart attacks in Black women are more often overlooked and therefore only treated half as often. In Great Britain, it was found that the mortality of Black mothers due to birth complications is five times higher than that of white mothers.

    An intersectional perspective is needed

    What is striking: Black women are particularly often affected. This is due to a combination of anti-Black racism and sexism, which has its roots in colonial times. In order to trivialise slavery, Black bodies were said to be more physically capable. This is still evident today in the stereotype of the „strong Black woman“, who is supposed to be more resistant and allegedly less sensitive to pain.

    The so-called „southerner’s syndrome“ (morbus bosporus) is also still widespread today. According to this, patients whose origin is assumed to be Mediterranean are said to have an exaggerated sensitivity to pain and an exaggerated expression of pain, although it has been known for a long time that people perceive pain individually and independently of gender and origin. Black people often report being confronted with stereotypes by medical professionel or not being taken seriously with their complaints.

    The result: trust in the health care system is declining. This can lead to those affected visiting medical facilities less often – and thus their health is increasingly at risk.

    This article was also published in German.

  • Rassismus in Kitas: Selbstreflexion als Schlüssel

    Dr. Seyran Bostancı arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) in Berlin. Dort ist sie für die wissenschaftliche Begleitung der „Demokratie leben!“-Projekte zum Thema Vielfalt zuständig. Zudem forscht sie zu institutionellem Rassismus in Kitas im Rahmen des Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitors (NaDiRa) und arbeitet als Referentin für vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung bei der Fachstelle Kinderwelten, die Kitas auf dem Weg zu einer inklusiven Organisationsentwicklung begleitet.

     

    Dr. Seyran Bostancı, warum widmen Sie sich in Ihrer Forschung Themen wie Rassismus, Diversität, Migration und Inklusion?

    Durch mein Praktikum bei der Fachstelle Kinderwelten begann ich, mich mit diesen Themen auseinanderzusetzen. In meiner Schulzeit oder in meinem Bachelorstudium der Sozialwissenschaften wurden diese Themen nie behandelt. Es war für mich aufwühlend, zu verstehen, dass es für dieses Bauchgefühl und Unbehagen, was ich während meiner Ausbildung oft hatte, Konzepte und Begriffe gibt.

    Die Fachstelle Kinderwelten beschäftigt sich mit Diskriminierungsverhältnissen im Kitabereich. Das hat mich begeistert und ich hatte die romantische Vorstellung, dass eine Veränderung im Kitabereich gesamtgesellschaftliche Synergieeffekte haben könnte.

    Beim Thema Rassismus denken viele Menschen, dass es ausschließlich um Vorurteile oder Diskriminierung gehe. Wie definieren Sie Rassismus?

    Ich begreife Rassismus nicht nur auf der Ebene der individuellen Vorurteile. Ich verstehe Rassismus vielmehr als gesellschaftliches Strukturprinzip, das dazu führt, dass Menschen, die aufgrund von Rassismus benachteiligt werden, der Zugang zu gesellschaftlich relevanten Ressourcen wie Bildung, Arbeitsmarkt oder Gesundheit erschwert oder sogar verwehrt wird. Rassismus kann sich durch Normalitätsvorstellungen, Routinen und Verfahrensweisen auch innerhalb von Organisationen einschreiben, sich institutionell verankern und so zu einem Alltagsphänomen werden.

     

    Kaum Vermittlung interkultureller Kompetenzen in der Erzieher*innenausbildung

     

    In Deutschland besteht ein Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz. Allerdings gibt es viel zu wenig Kitaplätze. Spielt bei der Vergabe von Kitaplätzen Rassismus eine Rolle?

    Es gibt Studien, die Segregationsprozesse beleuchten. Bisher wurde jedoch oft der Fokus auf die elterlichen Wahlentscheidungen gelegt. Es wurde also argumentiert, dass migrantische Familien ihre Kinder entweder zu spät anmelden oder vielleicht gar nicht den Wunsch haben. Interessanterweise wurde in den bisherigen Studien kaum untersucht, wie sich Rassismus in diesen Zugangsprozessen einschreibt.

    Genau dazu forsche ich gerade mit meinem Kollegen Benedikt Wirth. Wir befinden uns allerdings erst in der Erhebungsphase. Auf Basis des bisherigen Forschungsstandes lässt sich aber bereits sagen, dass es Hinweise darauf gibt. Statistisch wird deutlich, dass Kinder mit Migrationshintergrund seltener in Kitas anzutreffen sind, vor allem bei den unter Dreijährigen. Gleichzeitig ist der Betreuungswunsch dieser Familien höher als die Anzahl der tatsächlich vergebenen Kitaplätze.

    Inwiefern werden bei der Ausbildung von Erzieher*innen interkulturelle Kompetenzen vermittelt und Rassismus thematisiert?

    Viel zu wenig! Ich gebe Fort- und Weiterbildungen für pädagogische Fachkräfte. Da stelle ich immer wieder fest, dass sie kaum professionelle Kompetenzen im Umgang mit Vielfalt und Diskriminierung haben. Viele wissen nicht, wie sie mit Beschwerden umgehen sollen.

    Meine Studie hat ergeben, dass Familien, die sich wegen rassistischer Diskriminierungserfahrungen beschweren, Glück haben müssen, an eine pädagogische Fachkraft zu geraten, die das Thema für wichtig erachtet und dem nachgehen möchte. Es gibt leider keine etablierten Beschwerdeverfahren. Der Umgang mit Migration und Vielfalt müsste eigentlich in der Ausbildung als Querschnittsthema gedacht werden, das ist bislang aber nicht der Fall. Es bleibt ein Sonderthema und deshalb empfinden es wahrscheinlich viele pädagogische Fachkräfte als zusätzliche Aufgabe, sich damt auseinandersetzen zu müssen.

     

    „Vor allem mit der jüngeren Generation, die jetzt in die Kitas einsteigt, verändert sich der Diskurs allmählich“

     

    Neben Ihrer Arbeit als Wissenschaftlerin sind Sie seit 2010 Praxisberaterin und Coachin für Diversity und Inklusionsprozesse in frühkindlichen Bildungseinrichtungen tätig. Lassen sich pädagogische Fachkräfte darauf ein, sich kritisch zu reflektieren?

    Natürlich gibt es manchmal ein Irritationsmoment bei den pädagogischen Fachkräften: Auf der einen Seite ist das dieses Selbstverständnis, ein guter Mensch zu sein und das Beste für die Kinder zu wollen, auf der anderen Seite müssen sie sich plötzlich ihrer eigenen Prägung durch Vorurteile und rassistisches Wissen bewusst werden. Das kann Unbehagen auslösen, das sich gelegentlich in Form von Widerständen äußert.

    Pädagogische Fachkräfte sind zudem oft der Ansicht, dass sie alle Kinder gleich behandeln und es für sie keine Rolle spielt, wie jemand aussieht. Es kommt jedoch nicht auf ihre persönliche Meinung an. Kinder werden aufgrund ihres Aussehens und ihrer gesellschaftlichen Positionierung gesamtgesellschaftlich unterschiedlich bewertet und dadurch auch benachteiligt. Das aufzubrechen, ist nicht immer einfach, aber es gelingt zunehmend. Vor allem mit der jüngeren Generation, die jetzt in die Kitas einsteigt, verändert sich der Diskurs allmählich.

     

    Warum Vielfalt in Kitas sichtbar sein muss

     

    Wieso ist es wichtig, diversitätsbewusste Bücher und Spielsachen in Kitas zu verwenden?

    Das ist vor allem für die Identitätsentwicklung der Kinder von großer Bedeutung. Aus der Lerntheorie wissen wir, dass Lernprozesse dann besonders gut in Gang gesetzt werden, wenn sich Kinder wohl fühlen und sich in ihrer Identität widergespiegelt sehen. Erhalten Kinder dagegen immer wieder die Botschaft, dass sie nicht „normal“ sind, nicht dazugehören und in Spielmaterialien oder Büchern nicht dargestellt werden, dann entwickeln sie ein Gefühl der Nichtzugehörigkeit – das hemmt Lernprozesse.

    Können sich Kleinkinder bereits rassistisch äußern?

    In der Praxis ist zu beobachten, dass Kinder rassistische Wissen, das sie umgibt, in Interaktionen und bei der Durchsetzung ihrer Spielinteressen durchaus anwenden und auch Abneigungen gegenüber bestimmten sozialen Gruppen zeigen. Kinder können Vorformen von Vorurteilen haben. Das mag positiv klingen, weil es sich um Vorformen und nicht um manifeste Urteile handelt.

    Umso wichtiger ist es jedoch, dass pädagogische Fachkräfte intervenieren und auf die Unzulässigkeit von Diskriminierung hinweisen. Bei Kleinkindern kann Rassismus noch dekonstruiert werden. Erwachsenen fällt das Verlernen weitaus schwieriger.

     

    „Kinder können Vorformen von Vorurteilen haben“

     

    Welche weiteren Tipps geben Sie Erzieher*innen mit auf den Weg?

    Es gibt keine Checkliste, aber es hilft, sich immer wieder in einen Prozess der Selbstreflexion zu begeben. Dieser ganze Prozess ist als lebenslange Reise zu verstehen, die nie endet, weil sich Gruppen, Eltern- und Familienschaften verändern. Das, was man vielleicht einmal als gutes Verfahren oder pädagogische Methode etabliert hat, ist bei der nächsten Gruppe möglicherweise nicht mehr fruchtbar.

    Deswegen ist es wichtig, für sich selbst und im Team regelmäßig Räume zu schaffen, um in diese kritische Selbstreflexion zu kommen. Eine Leitungskraft, die diese Themen andauernd auf die Tagesordnung setzt und das Team dazu anregt, die eigene Praxis kritisch zu hinterfragen, hat eine hohe Wirkungskraft.

     

    Wie Eltern Rassismus in der Kita begegnen

     

    Sie haben kürzlich eine qualitative Pilotstudie zum Umgang mit institutionellem Rassismus in Berliner Kitas durchgeführt und hierfür 16 Eltern interviewt. Welche Rassismuserfahrungen haben diese gemacht?
    Klassische Beispiele sind die Nicht-Repräsentation in den Spielmaterialien, das Singen von rassistisch konnotierten Liedern oder das Etikettieren von Kindern. Eltern haben unterschiedliche Strategien, um Rassismus in der Kita zu thematisieren.

    Wie sehen diese Strategien aus?
    Eine Strategie ist das sogenannte „Hacking“: Weil Familien antizipieren, dass Rassismus vorkommen könnte, versuchen sie die Diskriminierung zu umgehen. Zum Beispiel wird die Herkunft bei der Kitaanmeldung verschwiegen. Andere wiederum setzen auf Intervention.

    Oft sind Eltern jedoch nicht in der Lage, Veränderungsprozesse anzustoßen, da ihre Beschwerden zum Teil blockiert oder nicht ernst genommen werden. Die Familien versuchen dann eher, außerhalb der Kita ihre Kinder zu stärken, um eine Art Schadensbegrenzung zu betreiben. Manche Familien spielen Diskriminierungserfahrungen in der Kita auch herunter, weil sie befürchten, dass die Beziehung zwischen der pädagogischen Fachkraft und ihrem Kind Schaden nehmen könnte. Es besteht ja ein Abhängigkeitsverhältnis.

    Es kommt vor, dass Familien sich von Beginn an nicht trauen, etwas zu sagen, aus Angst, als nervige Eltern abgestempelt zu werden und den Kitaplatz zu gefährden. Die vielleicht logischste Strategie ist die Exit-Strategie, also das Kind abzumelden. Allerdings geschieht das selten, zum einen aufgrund des Mangels an Kitaplätzen und zum anderen aufgrund der Ungewissheit, ob es in einer anderen Kita besser laufen würde.

     

    „Diskriminierungserfahrungen werden zum Teil von den pädagogischen Fachkräften heruntergespielt“

     

    Wie reagieren Kitas auf Beschwerden von Seiten der Eltern?

    Diskriminierungserfahrungen werden zum Teil von den pädagogischen Fachkräften heruntergespielt. Um zu zeigen, dass sie Vielfalt feiern, weisen manche darauf hin, dass sie mit den Kindern Lieder wie „Drei Chinesen mit dem Kontrabass“ singen, was an sich schon rassistisch ist. Nicht selten werden die verschiedenen Diskriminierungsdimensionen auch gegeneinander ausgespielt – man wolle sich beispielsweise auf das Thema Gender konzentrieren und habe keine Zeit für das Thema Rassismus. Die krasseste Strategie bei Beschwerden von Eltern ist die Kündigung seitens der Kita mit der Begründung, das Vertrauensverhältnis sei gestört.

    Warum gibt es bisher so wenig Forschung zu dem Themengebiet Rassismus in Kitas?

    Zum einen aufgrund der Vorstellung, junge Kinder hätten mit dem Thema Rassismus nichts am Hut, und zum anderen kommt hier der Adultismus – also das ungleiche Machtverhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern – zum Tragen. Das konnte man verstärkt während der Corona-Pandemie beobachten. Wenn es um das Bildungssystem ging, dann stand immer nur die Schule im Fokus. Der Kitabereich wird leider häufig vernachlässigt.

     

     

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  • Antimuslimischer Rassismus – Gefahr von Rechts

    Rückblickend auf den Juni ist eine beängstigende politische Entwicklung aus der rechten Szene zu sehen. Im ARD-Deutschlandtrend ist die AfD auf 18 Prozent der Stimmen gekommen und ist damit gleichauf mit der SPD. Der Trend wird zur bitteren Realität im thüringischen Sonneberg. Hier gewinnt die AfD erstmals eine Landratswahl.

    Das rechtspopulistischen Stimmen zunehmend an Bühne gewährt wird, zeigt der jüngste Auftritt von Claudia Pechstein auf dem CDU-Konvent. Das sie mit ihrem rechten Gedankengut nicht allein ist, bestätigt das zustimmende Publikum während ihres Auftritts.  Die Verbreitung von rassistischen Ressentiments geht im Alltag der Menschen nicht spurlos vorbei. Menschenverachtende und demokratiefeindliche Äußerungen im öffentlichen Diskurs wie „…die Anwesenheit von nichtabgeschobenen Asylbewerber stellt ein deutliches Sicherheitsproblem dar“, befeuern rassistische und rechtsextreme Handlungen. Dies hat womöglich fatale Folgen für Muslim*innen oder muslimisch gelesene Personen in Deutschland.

    Die Normalisierung von antimuslimischen Äußerungen bringt im Umkehrschluss einen Freifahrtschein für rechtsextreme und rassistische Handlungen. Das jüngst veröffentlichte Lagebild der Allianz gegen Muslim und Islamfeindlichkeit Claim belegt, dass für das Jahr 2022 insgesamt 898 antimuslimische Vorfälle dokumentiert wurden. Im Schnitt sind das zwei antimuslimische Vorfälle pro Tag. Claim ergänzt hierzu, dass die Dunkelziffer noch viel höher sei. Hinzu kommt, dass schonungsloser Vandalismus und Angriffe auf Moscheen in Deutschland keine Seltenheit mehr sind.

    Übergriffe werden kleingeredet

    Seien es die Schüsse auf einer Moschee in Halle oder die Brandstiftung auf einer Chemnitzer Moschee, eins haben sie gemeinsam, über die Vorfälle auf die Safe-Places der etwa 5,6 Mio Muslim*innen in Deutschland wird überwiegend geschwiegen. Auch die täglichen rassistischen Übergriffe auf Muslim*innen werden kleingeredet. Brachen wir uns darüber noch wundern?

    Eher nein. Denn ob die Religion des Islams und die Muslim*innen zu Deutschland gehören oder nicht, wird nicht erst seit gestern ausdiskutiert. Muslim*innen oder den Islam als „Problem“ zu deklarieren, verstärkt nur das Narrativ einer fremden Bedrohung im eigenen Land. Selten übernehmen Muslim*innen in den Medien die Rolle eines wichtigen Akteurs, eher werden sie zum Gegenstand einer Diskussion. Stereotypisierungen und die Zuschreibung von negativen Merkmalen gehören zur Agenda. Antimuslimischer Rassismus ist in Deutschland kein Randphänomen mehr und gehört nicht tot geschwiegen. Was definitiv fehlt ist eine zivilgesellschaftliche Solidarität auf offenen Straßen.

    Körperliche und verbale Angriffe gegen Muslim*innen und muslimisch gelesene Personen finden zu 25 Prozent im öffentlichen Raum statt. Welches Ausmaß Rassismus annehmen kann, haben die Anschläge von München, Halle und Hanau deutlich aufgezeigt. Das Erstarken der rechtspopulistischen Macht schürt Ängste für die kommende Zukunft in Deutschland. Um das Gespräch über antimuslimischen Rassismus salonfähig zu machen, bedarf es nicht erst der Veröffentlichung von Zahlen und Statistiken. Betroffene Stimmen muss die aktuell fehlende Bühne geboten werden um auf die Missstände in der Gesellschaft aufmerksam zu machen.

  • Rassistische Pflichtlektüre in BaWü: Setzen, 6

    Ab 2024 soll der Roman „Tauben im Gras” in Baden-Württemberg Pflichtlektüre für das Deutsch-Abitur an berufsbildenden Schulen werden. Dagegen hat Jasmin Blunt eine Petition gestartet, denn das Buch ist voller rassistischer Stereotype und Begriffe wie dem N-Wort.

    „Wenn ich mit dem N-Wort konfrontiert werde, dann hält für mich für einen Moment die Welt an. Ich fühle mich sofort hineingezogen in historische Kontexte und stelle meine Beziehungen zu anderen Menschen in Frage (…) Und mir dann vorzustellen, dass Schwarze Schülerinnen und Schüler all diese Emotionen und Gedanken im Unterricht aufarbeiten sollen – das war für mich unvorstellbar”, sagt die Schwarze Lehrerin im Interview mit ZDFheute.

    Die Politik hat darauf eine klare Antwort: Jasmin Blunt solle ihren Job richtig machen, es gebe Fortbildungen und Methoden zur Unterrichtsgestaltung und generell sei das Buch anti-rassistisch. Baden-Württembergs Kultusministerin Theresa Schopper sagt: „Es geht darum, deutlich zu machen, wie Rassismus Gesellschaften prägt: damals in den 50er-Jahren, als der Roman entstanden ist, aber auch heute. Das zu behandeln, finde ich sehr wichtig.“ Gut zu wissen, dass unseren ach so aufgeklärten und diskriminierungssensiblen weißen Politiker*innen die Bildung der Schüler*innen so wichtig ist…

    Wem wird zugehört?

    BIPoC, Lehrer*innen sowie Schüler*innen, zu zwingen, sich dem N-Wort im Unterricht wochenlang auszusetzen, ist nicht so anti-rassistisch wie die Kultusministerin es verkauft. Die Argumentation der Politik ist gaslighting at it’s best. Jasmin Blunt vorzuwerfen, sie würde Rassismus im Unterricht nicht behandeln wollen, dreht die Debatte mit Absicht in eine andere Richtung.

    Das Problem ist nicht der Roman an sich. Jede Person, die möchte, kann sich den Koeppen ins Bücherregal stellen. Das Problem ist, dass mal wieder das Werk eines weißen Mannes ausgewählt wurde, um über ein Thema aufzuklären, von dem diese Person überhaupt nicht betroffen ist. Das Problem ist auch, dass eine Debatte entstanden ist, in der weiße Menschen in der Politik und den Kommentarspalten diverser Medien das Rassismus-reproduzierende Werk eines weißen Autors verteidigen, nachdem eine Schwarze Lehrerin auf die Auswirkungen dieser Reproduktionen aufmerksam gemacht hat. Auch hier fällt ein Muster auf: Mal wieder ist es eine betroffene Person, die auf Diskriminierung hinweisen muss und der dann nichtmal zugehört wird.

    Wie soll der Unterricht ablaufen? Sollen die Schüler*innen, unter ihnen selbst Betroffene, nacheinander die Zeilen vorlesen und auf 300 Seiten 100 Mal das N-Wort aussprechen? Sollen die Schüler*innen die Lektüre zuhause lesen und sich der Gewalt alleine aussetzen? Lehrt sie das über Rassismus?

    Was man nicht in der Schule lernt

    Ich kann Goethe zitieren, Funktionen gleichsetzen und den Aufbau eines Laubblattes auswendig, aber mein Wissen über Rassismus und dass man Dinge, die andere Menschen verletzen, nicht sagt – das habe ich nicht in der Schule gelernt. Und was ist eigentlich so schwer daran, das Werk einer Schwarzen Person in den Pflichtlektüren-Katalog zum Thema Rassismus aufzunehmen?

    Die Politik hat ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Wenn ein weißes Kultusministerium auf Hinweis einer Schwarzen Lehrerin eine Pflichtlektüre, die Rassismus reproduziert, nicht hinterfragt und sogar verteidigt, hinterfrage ich grundsätzlich die Aufarbeitung von Rassismus in der Schule – zu Schoppers Zeiten wie auch heute. Die Debatte um die Wahl von „Tauben im Gras” als Pflichtlektüre zeigt, dass der Lehrplan die Ziel-Thematik Rassismuskritik weit verfehlt. Und sie zeigt, dass die Schule kein sicherer Ort für alle ist. Bildung muss anti-diskriminierend werden. An dieser Stelle möchte ich auf den Account @my.poc.bookshelf.de verweisen, der Literatur von BIPoC-Autor*innen vorstellt. Das hat mich mehr gelehrt als 12 Jahre Schulunterricht.

     

    Mehr zum Thema Bildung erfahrt ihr in unserer nächsten Printausgabe, die im Juni erscheinen wird.

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