Schlagwort: Queerness

  • „Ich konnte mein Leben nicht leben“ – Wie queere Geflüchtete in Hamburg um Sicherheit kämpfen müssen

    Eine Regenbogenfahne weht auf einem Balkon im ersten Stock eines Hauses, im Stadtteil Jenfeld, am östlichen Stadtrand Hamburgs. Rot, orange, gelb, grün, blau, violett. Jede Farbe symbolisiert die Vielfalt der Geschlechter, sexuellen Orientierungen und Identitäten. Ein Symbol für die queere Community weltweit. Hier ist sie das einzige farbige Zeichen im Kontrast zu den weißen Wänden und den schwarz verglasten Balkonen der Häuser, die sich ähnlich aneinanderreihen. Hier, in der Wohnung im ersten Stock, in der die Fahne weht, lebt Abdelrahman Salem.

    An einem Frühlingsnachmittag im März sitzt Salem auf dem Bett seines Mitbewohners Imran, dessen Zimmer auch als Wohnzimmer der Dreier-WG dient, und erzählt mit ruhiger Stimme von seinem Leben in seiner Heimatstadt Gizeh in Ägypten, wo er als schwuler Mann mit seiner Familie lebte. Nur seiner Mutter habe er sich anvertraut, sagt er, dass er schwul ist.

    Wenn jemand lesbisch, schwul, bisexuell, trans*, inter* oder asexuell (LGBTQIA+) ist und verfolgt wird, ist das in Deutschland ein anerkannter Asylgrund – so sehen es die Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention und der EU-Richtlinien vor. „Verfolgung“ im Sinne des Gesetzes bedeutet, dass aufgrund der sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität im Herkunftsland massive Gewalt, Tod, Haft oder andere Formen unmenschlicher Behandlung drohen.

    Während das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) über Asylanträge entscheidet, kümmert sich die Kommunalverwaltung um die Unterbringung der Geflüchteten. In dem Fall von Salem ist das die Stadt Hamburg.

     

    Auf der schwierigen Suche nach Schutz

    Doch auch in den Sammelunterkünften hier in Deutschland werden queere Menschen, also Menschen, die der LGBTQIA+ Community angehören, aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität zur Zielscheibe von Diskriminierung und Gewalt – sei es durch das Personal oder durch andere Bewohner*innen. Deshalb haben sie das Recht, nach der Asylantragstellung in einer anderen Unterkunft untergebracht zu werden. So wie Salem heute. In einer Schutzwohngemeinschaft wegen besonderen Schutzbedarfs, wie es in der Sprache der Bürokratie heißt.

    Wie diese Unterkünfte für queere Geflüchtete in der Praxis aussehen, ist Sache der Bundesländer mit jeweils eigenen Schutzkonzepten. In Hamburg befinden sich die Plätze für queere Geflüchtete in verschiedenen öffentlichen Unterkünften. Außerhalb ihrer WGs teilen sich dort die queeren Bewohner*innen den Eingang, die Flure und das Außengelände mit anderen Geflüchteten, die nicht queer sind und im selben Haus untergebracht sind. Dezentrale Unterkünfte heißen diese, im Gegensatz zu zentralen Unterkünften, also Unterkünften, die insgesamt nur von queeren Geflüchteten bewohnt werden. Zentrale Unterkünfte gibt es in Hamburg trotz diverser Bemühungen bisher nicht. Eine geplante Unterbringung in Winterhude wurde im Januar gekippt – die Adresse wurde öffentlich bekannt, Anwohner*innen beschwerten sich.

    In den bestehenden dezentralen Unterkünften sind die queeren Bewohner*innen nicht immer sicher. Die Beratungsstelle für Flucht und Migration des Vereins Magnus-Hirschfeld-Centrum, eine Anlaufstelle für queere Menschen in Hamburg, verzeichnete 44 Fälle von Übergriffen, Beleidigungen und Anfeindungen im vergangenen Jahr, die sich gerade außerhalb dieser geschützten Wohngemeinschaften ereignet haben – das ist aber ein Problem, das nur diejenigen haben können, die überhaupt einen Platz in solchen Unterkünften bekommen.

    Denn der Weg zu einer Schutzwohngemeinschaft gleicht einem steinigen Parcours, einem komplizierten Puzzle, das nur gelingen kann, wenn mehrere Bedingungen zusammenkommen: geschultes Personal in den Einrichtungen, vertrauliche Gespräche mit geeigneten Dolmetscher*innen, das Einbeziehen externer Beratungsstellen und letztendlich freie Plätze in den geschützten Unterkünften. Gelingt das in Hamburg? Kommt die Stadt ihrer Schutzverpflichtung gegenüber queeren Geflüchteten nach?

     

    „Sie haben mich nicht ernst genommen“ – Salems Weg durch Europas Asylsystem

    Mit seinem runden Gesicht und dem schüchternen Lächeln wirkt Salem mit seinen 27 Jahren noch sehr jung. Trotz aller Gewalterfahrungen. Trotz Gefängnis, Flucht, Suizidversuch.

    Als Salem 2022 in Hamburg ankam, sei er bereits zweimal in Ägypten verhaftet worden. Polizisten hätten ihn verprügelt, weil er sich in einer Facebook-Gruppe über die Unfreiheit im Land beschwert habe, über die Situation der queeren Community, über die Homophobie.

    Als er ankam, habe er bereits eine Schlauchbootfahrt von der Türkei nach Griechenland, eine illegalisierte Durchreise nach Nordeuropa und einen Aufenthalt in einer Geflüchtetenunterkunft in Polen hinter sich gehabt. Dort habe er dem Personal von seiner Homosexualität erzählt, sagt er. Dafür sei er von ihnen beschimpft und von anderen Bewohnern angegriffen worden.“Dann wurde ich in ein anderes Camp gebracht, in einen geschlossenen Raum”, sagt er, “da war ich allein, konnte aber nicht raus, wie im Gefängnis.”

    Er habe versucht, sich das Leben zu nehmen, sei im Krankenhaus gelandet. Da ihm in Polen die Abschiebung nach Ägypten drohte, floh er weiter nach Deutschland.

    Seit eineinhalb Jahren wartet Salem nun auf die Entscheidung über seinen Asylantrag. In Hamburg sollte Salem bleiben dürfen. Aufgrund seiner queeren Identität sollte eine sogenannte Dublin-Abschiebung, also eine Rückführung innerhalb der Europäischen Union, in seinem Fall nach Polen, nicht in Frage kommen. Das ist aktuell der Fall, wenn die Abschiebung eine Gefahr für Leben, Gesundheit oder Würde darstellt, so das nationale Abschiebungsverbot im Aufenthaltsgesetz.

    In Hamburg bekam er erst einen Platz in einer Unterkunft in Farmsen-Berne, dann in Niendorf, dann in Harburg. Erst eine Sammelunterkunft, dann eine Sammelunterkunft und dann wieder eine Sammelunterkunft.

    In Niendorf habe er dem Personal von seiner Homosexualität erzählt, nach einer anderen Unterkunft gefragt, sagt er. “Sie haben mich nicht ernst genommen”. Das Personal in den Hamburger Flüchtlingsunterkünften ist nicht immer geschult, was Gewalterfahrungen von queeren Geflüchteten und den Umgang damit angeht. Solche Schulungen werden zwar von dem Unternehmen Fördern und Wohnen als Träger der Unterkünfte angeboten, sind aber nicht verpflichtend.

    In der nächsten Unterkunft in Harburg teilte sich Salem einen Container mit vier Zimmern mit sieben muslimischen Männern. Aus Angst vor möglichen Schikanen habe er seine queere Identität verheimlicht und sich als Muslim ausgegeben, mit ihnen fünfmal am Tag gebetet und im Ramadan gefastet. Er habe keinen Kontakt zu anderen queeren Menschen gehabt, sagt er. „Ich konnte mein Leben nicht leben.“

     

    Abdelrahman Salem, Foto: Amad Hamed

     

    Salem erzählt seine Geschichte im Detail. Er wolle alles teilen, sagt er. Als sei er froh, endlich gesehen zu werden, sich endlich so zeigen zu können, wie er ist.

    Im Internet habe er nach queeren Gruppen gesucht, nach Migrant*innenorganisationen, sagt Salem. So sei er auch auf die interkulturelle Beratungsstelle Lâle gestoßen. Die habe für ihn mit dem Hamburger Sozialamt eine Bleibe vermittelt. So bekam Salem im Januar 2024 von Fördern und Wohnen den Platz in seiner heutigen Wohngemeinschaft, in der die Regenbogenfahne weht.

    Um zu arbeiten oder eine Ausbildung zu machen, braucht Salem eine Sondergenehmigung der Ausländerbehörde. Im vergangenen Jahr habe er viermal die Chance verpasst, eine Ausbildung zum Altenpfleger zu machen, sagt er. Die Ausländerbehörde habe immer zu spät reagiert. Die meiste Zeit verbringe Salem zuhause.

     

    Queere Geflüchtete in Hamburg – eine Balance zwischen Sicherheit und Sichtbarkeit

    In Hamburg leben derzeit ca. 46.000 Menschen in öffentlicher Unterbringung, davon 67 in den Schutzwohngemeinschaften – fünf Personen stehen nach offiziellen Angaben auf der Warteliste. Der tatsächliche Bedarf an Unterkünften für queere Geflüchtete ist weit höher. Das Unterbringungsproblem ist aber nicht nur ein Platzmangel.

    Eine Regenbogenfahne hängt auch am Fenster des Lesbenvereins Intervention im Hamburger Karoviertel. In den Räumen bietet das Projekt Refugee Sisters*, ein Teil des Vereins, Beratung für lesbische und bisexuelle Frauen sowie nicht-binäre, inter*- und trans*Menschen an, die nach Hamburg geflohen sind. Darüber hinaus bietet der Verein Gruppentreffen, Workshops, Veranstaltungen — er ist ein Treffpunkt für eine ganze Community.

    An einem Freitagmittag sitzt Alissa von Malachowski im Beratungsraum des Projekts. An der Wand reihen sich Bücher– unter anderem über Sexualität, Coming-out, Transidentität. An der Wand neben der Tür hängt ein Kopf eines Einhorns. Von Malachowski, 37, ist Psycholog*in und leitet seit 2020 Refugee Sisters*.

    Beratungsraum Refugee Sisters*, Foto: Amad Hamed

    Aktuell begleitet von Malachowski etwa 30 Klient*innen. Dabei geht es um rechtliche Beratung und psychologische Unterstützung – vom Umgang mit dem Personal in den Unterkünften über den Asylantrag bis hin zur Vernetzung in der queeren Community Hamburgs. „Zugehörigkeit und sich verstanden fühlen sind immens wichtige Faktoren im Heilungsprozess nach – oft langjährigen – Gewalterfahrungen“, sagt von Malachowski.

    Alissa von Malachowski vom Projekt Refugee Sisters*, Foto: Amad Hamed

    Die sogenannte dezentrale Unterbringung, also queere Wohngemeinschaften in nicht-queeren Wohngebäuden, sei ein erster Schritt in diese Richtung, sagt von Malachowski. Darüber hinaus brauche die Stadt aber eine zentrale Unterkunft für queere Geflüchtete, in denen auch wirklich nur queere Personen leben. Was eine solche Unterkunft ausmacht?

    Von Malachowski kann es genau beschreiben: Es müsste eine Unterkunft sein, die sogenannte Folgeplätze und Erstaufnahmeplätze für queere Geflüchtete anbietet, damit die Menschen vom ersten Tag des Asylverfahrens an Zugang zu Schutz haben. Es müsste queer-sensibles und spezifisch geschultes Personal vor Ort sein. Sicherheitspersonal, Dolmetscher*innen, Sozialarbeiter*innen. Es sollte ein leicht zugänglicher Ort in der Stadt sein, an dem die Menschen das Gefühl haben, Teil der Gesellschaft und Nachbarschaft zu sein. Dazuzugehören, ohne Angst haben zu müssen, angegriffen zu werden, sagt sie. „Es muss ein Ort sein, der diese schöne Balance zwischen Sicherheit und Sichtbarkeit schafft.“

     

    Was aus der geplanten Unterkunft in Winterhude wurde

    Für ein solches Wohngebäude, in dem nur queere Geflüchtete ein Zuhause finden, stehen Alissa von Malachowski sowie Vertreter*innen des Magnus-Hirschfeld-Centrums und der Hamburger Queer-Community seit Monaten im Austausch mit der verantwortlichen Behörde für Soziales. Ein regelmäßiger Dialog, den beide Seiten, Community und Behörde, zu schätzen sagen. Er sei jetzt wichtiger denn je geworden, nachdem die geplante zentrale Unterkunft in Hamburg-Winterhude im Januar endgültig gekippt wurde.

    Gründe dafür gab es viele: Bereits in der Bezirksversammlung, die rechtlich notwendig war, um die Unterkunft errichten zu können, gab es erste kritische Stimmen. Dabei wurde auch die Adresse in der Sierichstraße öffentlich, die für eine Schutzeinrichtung eigentlich geheim bleiben soll. Auch Anwohner*innen, vertreten von einem Anwalt, sprachen sich gegen die Unterkunft für queere Geflüchtete aus.

    Zudem hätte der Bauantrag für die neue Nutzung des Wohngebäudes aufgrund mehrerer baurechtlicher Einwände vom Bezirk nicht genehmigt werden dürfen – so die Behörde. Schließlich zog Fördern und Wohnen als Betreiberin der geplanten Unterkunft den Bauantrag im Januar 2025 zurück.

    In einem Video-Call aus ihrem Büro wenige Tage später stellt Petra Lotzkat, Hamburgs Staatsrätin für Soziales, gleich zu Beginn klar: Sie wolle aus den Erfahrungen rund um die Sierichstraße die richtigen Schlüsse ziehen. Erstens: Eine öffentliche Diskussion über Standorte für besonders schutzbedürftige Geflüchtete sei nicht hilfreich.

    Nun verfolge die Staatsrätin gemeinsam mit dem Unternehmen Fördern und Wohnen eine neue Strategie. Man habe auch eine neue mögliche Unterkunft gefunden und wolle die Nutzung nun peu à peu umwidmen, sagt Lotzkat. Das Gleiche sei auch an bestehenden Standorten möglich. „Immer wenn eine Wohnung frei wird, könnte sie mit queeren Bewohner*innen neu belegt werden, so dass dafür gar keine neue Genehmigung notwendig ist.“ So hoffe die Staatsrätin, bald die gleichen Wohnmöglichkeiten schaffen zu können, die in Winterhude nicht realisiert wurden.

    Doch Petra Lotzkat ist am 7. Mai nach knapp sieben Jahren im Amt in den Ruhestand verabschiedet worden. Sie sagt, sie werde alles so hinterlassen, dass die Unterbringung von queeren Geflüchteten auch von ihrer Nachfolgerin Funda Gür gut vorangebracht werden kann.

    Abdelrahman Salem mit seinem Mitbewohner Imran, Foto: Amad Hamed

    In der Wohnung im ersten Stock, am östlichen Stadtrand Hamburgs, in der die Fahne weht, wirkt Abdelrahman Salem entspannt, so wie er mit seinem Mitbewohner Imran, einem schwulen Mann aus dem Irak, auf dem Bett sitzt. Sie seien mit der Zeit Freunde geworden, sagt er, kochen gerne zusammen. Seit ein paar Wochen wohnen sie zu dritt, mit einem neuen Mitbewohner. Der sei aber nicht queer, erzählt Salem. Die beiden haben kein Problem mit ihm, sie fühlen sich trotzdem sicher zu Hause. Aber wie kann das sein? Ein Mensch außerhalb der queeren Community in einer queeren Schutzwohngemeinschaft? Ein weiterer Fehler im System.

     

     

     

    ___________________________________________________________

    Schließe jetzt eine Membership ab!

    Damit wir auch in Zukunft solche Recherchen umsetzen und weiterhin einen Raum für Menschen mit Flucht- und Migrationsgeschichte schaffen können, sind wir auf deine Unterstützung angewiesen.

  • Besondere Schutzbedarfe im Asylverfahren – ein Überblick

    Geflüchtete Menschen befinden sich in einer besonders vulnerablen Situation, die durch Krieg, Verfolgung oder andere schwerwiegende Krisen ausgelöst wurde. In vielen Fällen benötigen sie nicht nur Asyl, sondern auch speziellen Schutz aufgrund ihrer individuellen Lebensumstände. Bestimmte Gruppen von Geflüchteten gelten daher als besonders schutzbedürftig.

    Die Europäische Union hat in ihrer Aufnahmerichtlinie 2013/33/ EU klar festgelegt, welche Gruppe von Geflüchteten besonderen Schutz erhalten müssen.

    Wer braucht besonderen Schutz?

    Unbegleitete minderjährige Geflüchtete: Kinder und Jugendliche, die ohne Eltern oder Sorgeberechtigte nach Deutschland kommen, sind besonders schutzbedürftig. Sie werden vom Jugendamt in Obhut genommen, erhalten einen Vormund und durchlaufen ein sogenanntes „Clearing-Verfahren“, bei dem geklärt wird, wie alt sie sind, wie es um ihre Gesundheit steht und ob sie Verwandte in Deutschland haben.

    Opfer von Menschenhandel: Betroffene Personen sind häufig schwer traumatisiert. Sie haben Anspruch auf eine sogenannte Stabilisierungsfrist – eine Zeit, in der sie sich erholen können, bevor über ihren Aufenthalt entschieden wird. Sie erhalten Zugang zu Beratungsstellen und ggf. eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen.

    Schwangere und alleinreisende Mütter mit Kindern: Sie benötigen nicht nur medizinische Versorgung, sondern auch eine sichere Unterbringung, Schutz vor Gewalt und Unterstützung im Alltag.

    Menschen mit Behinderungen oder schweren Krankheiten: Für diese Personengruppe ist der Zugang zu barrierefreien Unterkünften und spezialisierter medizinischer Versorgung besonders wichtig.

    Folteropfer und traumatisierte Personen: Diese Personen benötigen nicht nur physische Hilfe, sondern vor allem psychologische Betreuung. Ein sicheres Umfeld und spezialisierte Therapieangebote sind entscheidend, damit sie ihre Traumata verarbeiten können.

    Ältere Geflüchtete:  Ältere Personen haben oft erhöhte Pflegebedarfe, die nicht immer in den allgemeinen Unterkünften abgedeckt werden.

    Queere Geflüchtete: Personen, die auf Grund ihrer sexuellen und/oder geschlechtlichen Identität Asyl beantragen, haben ein Recht auf sichere Unterkünfte.

     

    Wie werden besondere Schutzbedarfe ermittelt?

    Wer besonderen Schutz braucht, soll möglichst frühzeitig erkannt werden – am besten schon bei der Ankunft. Dafür gibt es inzwischen Konzepte und Leitfäden, etwa vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) oder dem Projekt BeSAFE, das sich genau mit dieser Frage beschäftigt.

    Wird Schutzbedarf festgestellt, sollten passende Maßnahmen folgen: etwa eine geschützte Unterkunft, spezielle medizinische Angebote oder rechtliche Unterstützung. Doch zwischen Theorie und Praxis liegt oft ein weiter Weg.

     

    Wer ist zuständig?

    Zuständig sind viele: Das Jugendamt, wenn es um Kinder geht. Das BAMF im Asylverfahren. Beratungsstellen, Sozialdienste, Initiativen wie die BAfF (Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer). Auch Organisationen wie UNHCR oder NEST – Neustart im Team leisten wichtige Beiträge bei der Integration besonders verletzlicher Personen. Und nicht zuletzt engagierte Helfer*innen in der Zivilgesellschaft.

    Aber: Weil so viele Akteure*innen beteiligt sind, funktioniert die Zusammenarbeit nicht immer reibungslos. Wer was macht, ist nicht immer klar. Und manchmal bleibt daher niemand so richtig verantwortlich.

    Was erschwert den Zugang zum Schutz?

    Es sind nicht nur fehlende Ressourcen, die den Schutz erschweren. Es gibt auch eine Reihe von strukturellen Hürden. Bürokratische Verfahren sind komplex und unübersichtlich. Viele Betroffene wissen nicht, welche Rechte sie haben oder wissen nicht, wer für ihren Schutzbedarf zuständig ist. Sprachbarrieren verhindern, dass Menschen ihre Bedürfnisse äußern können. Professionelle Dolmetschdienste sind selten vorhanden, viele Informationen gibt es nur auf Deutsch. Diskriminierung und mangelnde Sensibilität im Umgang mit traumatisierten Personen verschärfen das Problem. Platzmangel in Unterkünften führt dazu, dass vulnerable Personen in ungeschützten Massenunterkünften leben – ohne Rückzugsraum, mit hohem Stresspotential.

    Was muss sich ändern?

    Beratungsstellen pochen immer wieder darauf, dass mehr dafür getan werden muss, um besondere Schutzbedürfnisse frühzeitig zu erkennen. In allen Erstaufnahmeeinrichtungen sollen gezielte Verfahren helfen, diese sofort zu identifizieren. Zudem braucht es mehr spezialisierte Unterkünfte, Beratungsstellen und psychologische Hilfe – und das flächendeckend und dauerhaft. Auch die Zusammenarbeit zwischen Behörden, sozialen Einrichtungen und medizinischen Stellen muss besser werden, damit echte Unterstützung angeboten werden kann. Es braucht mehr Geld, mehr Personal und mehr Schulungen.  Ein respektvoller und sensibler Umgang in jedem Abschnitt des Asylverfahrens ist notwendig.

    Zusammengefasst: Trotz der vorhandenen rechtlichen Grundlagen und Unterstützungsmöglichkeiten bestehen noch zahlreiche Herausforderungen. Um den besonders schutzbedürftigen Personen gerecht zu werden, sind eine verbesserte Identifikation ihrer Bedürfnisse, der Ausbau von spezialisierten Angeboten und eine bessere Zusammenarbeit der Akteure notwendig. Nur so kann der Schutz dieser vulnerablen Gruppen effektiv und nachhaltig sichergestellt werden.

     

     

    ___________________________________________________________

    Schließe jetzt eine Membership ab!

    Damit wir auch in Zukunft solche Recherchen umsetzen und weiterhin einen Raum für Menschen mit Flucht- und Migrationsgeschichte schaffen können, sind wir auf deine Unterstützung angewiesen.

  • „Wohnen ist ein Grundbaustein“ – QUEERHOME* für Geflüchtete

    Kathrin, was bedeutet queer-inklusives Wohnen?

    Queer-inklusives Wohnen meint vor allem Sensibilisierung und Berücksichtung der Lebensrealitäten von queeren Menschen. Queers müssen sich im Alltag, auf der Arbeit, aber eben auch auf der Wohnungssuche und in der Nachbarschaft immer wieder mit struktureller Diskriminierung auseinandersetzen. Daher ist das Risiko für LSBTIQ+ besonders hoch, Erfahrungen mit Armut und Wohnungslosigkeit zu machen. Wenn dann auch noch andere Diskriminierungsdimensionen wie zum Beispiel Rassismus, Ableismus oder Klassismus wirken, steigt das Risiko der Benachteiligung enorm. Deshalb ist es wichtig, einen intersektionalen Ansatz zu verfolgen, der diese Überschneidungen sichtbar macht. Nur so kann sichergestellt werden, dass LSBTIQ+-Personen in ihrer Vielfalt wahrgenommen und ihren unterschiedlichen Bedürfnissen entsprechend unterstützt werden.

     

    Was genau macht ihr bei QUEERHOME*?      

    In erster Linie beraten wir bei Wohnungsnotfällen und langfristiger Wohnungssuche in Berlin. Wir stehen aber auch bei Problemen wie Mietschulden oder Nachbarschaftsstreit zur Seite und bieten Fortbildungen, Infogespräche und Workshops an, um die sogenannte “Regenbogen-Kompetenz” in der Wohnungsnothilfe zu stärken. Unser Ziel ist es, Fachkräfte gezielt zu schulen und eine Schnittstelle zu anderen queeren Beratungsstellen und Initiativen herzustellen. Dabei arbeiten wir immer intersektional. Das heißt: Wir beraten alle queeren Menschen unabhängig von Nationalität, Aufenthaltsstatus oder finanzieller Situation.

     

    Vor welchen Herausforderungen stehen queere Geflüchtete, wenn sie eine Wohnung suchen?

    Überall in Deutschland ist der Wohnungsmarkt sehr angespannt. Doch Queers haben es aufgrund von Brüchen im Lebenslauf  oft besonders schwer – durch das Coming Out, weniger finanzielle Ressourcen und fehlende familiäre Strukturen. Viele Menschen müssen auch aufgrund ihrer Queerness aus ihren Heimatländern fliehen und wohnen in unzureichenden Unterkünften, manchmal sogar jahrelang in Mehrbettzimmern. Wenn dann auch noch die Sprachkenntnisse fehlen, gestaltet sich die Wohnungssuche als fast unmöglich.

     

    Wie löst ihr das Problem der Sprachbarriere?

    Wir haben ein großes internationales Team, das aus drei hauptamtlichen Personen, einigen Honorarkräften und vielen Ehrenamtlichen besteht. In unserem Team wird Deutsch, Englisch, Russisch, Ungarisch und Französisch gesprochen. Doch dank unserer Honorarkräfte können wir auf Anfrage auch in anderen Sprachen beraten. Das ist vor allem wichtig, wenn wir mit Geflüchteten arbeiten.

     

    Wie viele queere Geflüchtete suchen denn eine Wohnung?

    Die bislang einzige Studie zu Queers und Wohnungsnot in Deutschland spricht von 7000 bis 10.000 queeren Wohnungslosen in Berlin. Das ist der Stand von Dezember 2024. Insgesamt wird die Zahl der Wohnungslosen in Berlin auf 50.000 geschätzt, dazu kommen aber noch die Menschen, die in Geflüchteten- Wohnheimen leben. Und auch die Dunkelziffer von Menschen in verdeckter Wohnungslosigkeit ist sehr hoch. Es handelt sich bei der Studie also nur um grobe Schätzungen.

     

    Wie viele Menschen wenden sich an euch?

    QUEERHOME* hat jährlich 600 bis 700 Erstanfragen, davon haben mindestens 25 Prozent einen Migrations- oder Fluchthintergrund. Wir gehen davon aus, dass mindestens eine von zehn wohnungslosen Personen in Berlin zum queeren Spektrum gehört, doch nur fünf Prozent der Berliner Angebote sind queer- inklusiv aufgebaut.

     

    Von welchen Erfahrungen erzählen euch queere Geflüchtete?

    Wir hören sehr häufig von Situationen, in denen Queers aufgrund ihrer Geschlechtsidentität und/oder sexuellen Orientierung in den Geflüchteten- Wohnheimen diskriminiert werden – sowohl von Mitarbeitenden als auch von anderen Bewohner*innen. Aber auch wir von QUEERHOME* machen die Erfahrung, dass es beim Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten Berlin (LAF) in allen möglichen Bereichen an Aufklärung mangelt. Queerness ist wie so oft ein Randthema. Wir bitten seit Monaten um eine Ansprechperson für LSBTIQ+ – bisher leider erfolglos. Das LAF sieht dafür keine Notwendigkeit, da ihrer Meinung nach alle Mitarbeiter*innen im Bereich Queerness geschult seien. Uns erreichen jedoch sehr viele Beschwerden über die Zustände in Geflüchteten-Wohnheimen und den Umgang mit queeren Menschen.

     

    Bietet ihr auch selbst Wohnraum an?

    Bisher können wir leider noch keinen eigenen Wohnraum anbieten, aber wir arbeiten daran! Aktuell vermitteln wir als Koordinierungsstelle alle Ratsuchenden an die entsprechenden Stellen weiter und begleiten diesen Prozess auf Wunsch.

     

    Bislang ist QUEERHOME+ die erste und einzige Beratungsstelle für wohnungslose LSBTIQ+ im deutschsprachigen Raum. Warum ist es wichtig, dass andere Bundesländer nachziehen?

    Wohnen ist neben Essen, Trinken und gesundheitlicher Versorgung ein Grundbaustein im Leben. Ein weiterer wichtiger Baustein ist die Freiheit, seine sexuelle und geschlechtliche Identität frei ausleben zu können. Beratungsangebote, die die Themen Wohnraum und Queerness zusammendenken, sind daher nur logisch und wir würden es begrüßen, wenn es in Zukunft mehr solcher Projekte wie QUEERHOME* geben wird. Denn: Vernetzung ist das A und O – vor allem mit Blick auf den aktuellen Rechtsruck und die immer stärker werdende Queerfeindlichkeit.

     

     

    ___________________________________________________________

    Schließe jetzt eine Membership ab!

    Damit wir auch in Zukunft solche Recherchen umsetzen und weiterhin einen Raum für Menschen mit Flucht- und Migrationsgeschichte schaffen können, sind wir auf deine Unterstützung angewiesen.

  • GEAS-Reform: Europas Bruch mit queeren Menschenrechten

    Die Freude ist groß, als das Europäische Parlament und der Rat der EU im Mai letzten Jahres die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) beschließen. Ein Beweis „europäischer Handlungsfähigkeit“ sei dies, so das Bundesinnenministerium in einer kurz darauf veröffentlichten Stellungnahme. Ein „jahrelang überfälliger Schritt“, freut sich die ehemalige “feministische” Außenministerin Annalena Baerbock. Auch die neue Bundesregierung stellt sich hinter GEAS. Zwischen zähen Verteilungsdebatten und dem endlosen Sterben im Mittelmeer erscheint die Reform wie ein Meilenstein – nur leider in die falsche Richtung.

    Im Kern sieht die GEAS-Reform eine Neuausrichtung und Vereinheitlichung des europäischen Asylsystems vor: Asylverfahren sollen künftig an den EU-Außengrenzen stattfinden, mit Schnellverfahren für Menschen aus Ländern mit niedriger Anerkennungsquote. Alle Schutzsuchenden durchlaufen ein verpflichtendes Screening samt Identitäts- und Sicherheitsprüfung. Wer als risikobehaftet gilt oder aus einem vermeintlich „sicheren Herkunftsland“ stammt, wird in geschlossenen Zentren im Rahmen eines Grenzverfahrens festgehalten – auch Familien mit Kindern. Zudem werden Abschieberegelungen verschärft, Fristen für Rechtsmittel verkürzt und die Kriterien für sichere Drittstaaten ausgeweitet. Eine neue Verteilungsregel erlaubt es Mitgliedstaaten, sich durch Zahlungen – auch an Drittstaaten – von der Aufnahme Geflüchteter freizukaufen.

     

    Faire und individuelle Asylprüfung? Fehlanzeige!

    Diese weitreichenden Änderungen der Gesetze für Schutzsuchende gefährden insbesondere vulnerable Gruppen wie LGBTQIA*+. Weltweit spitzt sich die Lage für queere Menschen weiter zu. Angesichts globaler Krisen, Kriege und dem Aufstieg rechter und queerfeindlicher Ideologien suchen LGBTIQ+ vermehrt Schutz in Europa. Dank der GEAS-Reform finden sie künftig nicht etwa einen Schutzraum vor, sondern ein europäisches Grenzregime, das ihre Menschenrechte, ihre Unversehrtheit und ihr Recht auf Asyl ernsthaft gefährdet. Was für die einen Grund zum Feiern ist, bedeutet für die anderen eine reale Gefahr.

    Mit den geplanten Grenzverfahren setzt die EU auf Geschwindigkeit statt Gerechtigkeit. Statt individueller Prüfung zählt im Screeningprozess vor allem die Herkunft. Wer aus Ländern mit niedriger Anerkennungsquote kommt, wird pauschal abgefertigt. Gerade für queere Geflüchtete ist das fatal: Ihre Fluchtgründe – Unterdrückung, Verfolgung und Gewalt aufgrund einer Geschlechtsidentität oder sexuellen Orientierung – sind oft sensibel, schambehaftet und schwer offen darzulegen. Isolierende Bedingungen und Zeitdruck kommen erschwerend hinzu. Coming-outs sind hier keine realistische Option, sondern eine Hürde, die viele nicht überwinden können. Die Folge: Legitime Schutzbedarfe bleiben unerkannt, Asylanträge werden vorschnell abgelehnt. Doch damit nicht genug.

     

    Strukturelles Versagen vorprogrammiert

    Die GEAS-Reform überträgt ausgerechnet uniformierten Polizist*innen die Erkennung besonderer Schutzbedarfe im Grenzverfahren – ein folgenreicher Fehler. Schon jetzt weist die Bundespolizei Asylsuchende an Grenzen zurück. Viele queere Geflüchtete verbinden die Polizei mit Gewalt und Verfolgung, nicht jedoch mit Schutz. Ein vertrauensbasierter Umgang unter solchen Bedingungen ist kaum denkbar. So bleiben gerade diejenigen, die besonderen Schutz benötigen, unsichtbar. Das System scheitert – nicht zufällig, sondern strukturell. Von fairen Verfahren kann unter solchen Bedingungen keine Rede sein.

     

    Asylzentren als Orte der Gewalt

    Die EU will Geflüchtete im Grenzverfahren in geschlossenen Asylzentren unterbringen. Ein Blick nach Griechenland reicht, um zu verstehen, dass die Isolierung in überwachten Lagerkomplexen eine menschenunwürdige und gefährliche Form der Unterbringung ist. Für LGBTQIA*+ und andere vulnerable Gruppen besteht in solchen Lagern das Risiko, erneut Opfer von Diskriminierung und Gewalt zu werden.

    Zudem bleibt die unabhängige Asylberatung im Grenzverfahren für queere Schutzsuchende ein leeres Versprechen. Wer in isolierten, haftähnlichen Lagern untergebracht ist, hat kaum Zugang zu rechtlichem Beistand. Die drastisch verkürzten Fristen tun ihr Übriges: Wird ein Asylantrag vorschnell als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt, bleibt weder Zeit und Raum, die Entscheidung anzufechten. Besonders problematisch ist das für LGBTQIA*+, deren Fluchtgründe häufig nicht erkannt werden. Ohne spezialisierte, zivilgesellschaftlich organisierte Beratung bleiben sie allein – und damit schutzlos einem System ausgeliefert, das ihnen nicht zuhört.

     

    Das Fantasma sicherer Drittstaaten

    Letztlich treibt die GEAS-Reform die Externalisierung von Verantwortung auf die Spitze. Denn indem die EU künftig massenhaft Länder als sichere Drittstaaten einstuft, legt sie das Schicksal queerer Geflüchteter in die Hände von Verfolgerstaaten. Wer durch einen sogenannten sicheren Drittstaat gereist ist, kann künftig dorthin abgeschoben werden – selbst wenn dort Verfolgung und Diskriminierung drohen. In Marokko, Tunesien und Algerien – um nur einige wenige zu nennen – werden queere Menschen systematisch verfolgt und kriminalisiert. Trotzdem will die EU sie auch künftig in diese Staaten zurückschicken.

    Statt Schutz zu bieten, setzt die EU auf Abschottung. Damit verletzt sie ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen. Leidtragende sind jene, die am dringendsten Sicherheit brauchen. Dabei gilt im EU-Recht wie auch in der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention das Prinzip des Non-Refoulement: Schutzsuchende dürfen nicht in Staaten zurückgeschickt werden, in denen ihnen Verfolgung, Folter oder schwere Menschenrechtsverletzungen drohen. Genau dazu hat sich die EU eigentlich verpflichtet.

    Während die EU sich weiter ihrer Toleranz gegenüber sexueller Vielfalt rühmt, schafft sie das Asylrecht für queere Schutzsuchende in der Praxis ab. Mit der Reform werden LGBTQIA*+ in Europa künftig weniger Schutz erfahren als je zuvor, ihre Verfolgung wird sehenden Auges in Kauf genommen. Nein, GEAS ist kein Grund zum Feiern. GEAS ist die Offenbarung europäischer Scheinheiligkeit im Moment der größten Not.

     

     

    ___________________________________________________________

    Schließe jetzt eine Membership ab!

    Damit wir auch in Zukunft solche Recherchen umsetzen und weiterhin einen Raum für Menschen mit Flucht- und Migrationsgeschichte schaffen können, sind wir auf deine Unterstützung angewiesen.

     

  • Asylrecht für alle? – Diskriminierung von queeren Geflüchteten im Asylverfahren

    Queere Menschen sind von Konflikten, Kriegen und Menschenrechtsverletzungen unterschiedlich betroffen – selbst wenn sie aus den gleichen Gründen wie andere Geflüchtete fliehen. Verfolgung aufgrund sexueller Orientierung und geschlechtlicher Identität (SOGI) ist in Deutschland ein anerkannter Asylgrund. Dieser gilt für queere Menschen, also lesbische, schwule, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche (LSBTQIA*+), die in ihren Herkunftsländern Verfolgung und Gewalt erfahren mussten. Sie zählen zu besonders schutzbedürftigen Personen. 

    Häufig kommen sie aus einem soziokulturellen Umfeld und einem politischen Staatsgefüge, in dem die soziale, wirtschaftliche und rechtliche Situation eine Bedrohung für Menschen mit einer queeren Lebensweise darstellt. Mindestens 10 % der einreisenden Geflüchteten sind queer. Für viele von ihnen sind Diskriminierung und tätliche Angriffe leider immer noch alltägliche Realität – auch nach der Flucht, zum Beispiel in Deutschland.

     

    Warum viele queere Menschen ihren Asylgrund nicht angeben

    Bei Verfolgung aufgrund der sexuellen Orientierung und/oder geschlechtlichen Identität (SOGI) als Schutzgrund, gibt es spezifische Bedarfe und Herausforderungen. Queere Geflüchtete sind in Deutschland während ihres Asylverfahren allerdings mit diversen Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen konfrontiert – bei Asylanhörungen, Behörden und Ämtern, durch Übersetzer*innen, Sozialarbeiter*innen oder in Unterkünften. Es mangelt in der Regel an einem grundlegenden Verständnis für die Probleme und Herausforderungen einer queeren Lebensweise im gesellschaftlichen und juristischen Kontext.

     

    Übersicht für queere Terminologie im SOGI Asylverfahren, russisch

     

    Lilith Raza arbeitet beim LSVD⁺ – Verband Queere Vielfalt im Projekt “Fluchtgrund queer: Queer Refugees Deutschland”. Lilith erzählt, dass viele Asylsuchende gar nicht wissen, dass SOGI ein Asylgrund ist – oder sich schämen und deswegen nicht ihre queere Identität preisgeben. Stattdessen würden sie als Fluchtgründe hauptsächlich die politische Situation im Herkunftsland angeben. Dies geschiehe aus mangelndem Vertrauen, Unkenntnis der eigenen Rechte und Angst vor Repressionen. Queere Menschen könnten sich weder in Unterkünften und Behörden noch in der Rechtsprechung oder im direkten Kontakt mit Berater*innen und Unterstützer*innen sicher sein, dass ihre Belange ernst genommen und anerkannt werden. Deshalb seien viele betroffene Personen sehr zurückhaltend.

    Dies erschwert beim Erstkontakt und bei der Ankunft in den Unterkünften das Thema explizit anzusprechen. Dies gelte besonders, wenn eine nicht-heterosexuelle Lebensweise im Herkunftsland die körperliche und psychische Unversehrtheit bedroht hat – und die sich auch in den Unterkünften in Deutschland fortführt. Denn in Gemeinschaftsunterbringungen von Geflüchteten kommt es immer wieder zu Angriffen auf queere Personen. „Wir haben Messerangriffe auf queere Menschen in Asylunterkünften, wir haben Schlägereien, wir haben Täter-Opfer-Umkehr. Und es gibt keine zentrale Beschwerdestelle“, sagt Lilith Raza. 

    Hier wird deutlich, wie wichtig eine Auseinandersetzung mit queeren Themen im Bereich Asyl und Migration ist. Der Schutz queerer Geflüchtete muss in Deutschland sichergestellt werden. Dafür müsste es eine behördenunabhängige Asylverfahrensberatung vor der Anhörung geben. Denn „wenn man SOGI als Grund nicht benennt, dann wird dieser Grund auch nicht behandelt werden“, so Lilith Raza. 

     

    Beratung ist entscheidend für Asylantrag

    Aus einem Projektbericht zum Asylverfahren queerer Geflüchteter geht hervor, dass queere Personen, die bereits vor ihrer Anhörung Unterstützung und Beratung bekommen haben, mit einer höheren Wahrscheinlichkeit SOGI als Fluchtgrund angeben. Personen, die vorher eine Beratung in Anspruch nehmen konnten, haben außerdem eine höhere Anerkennungsquote. Sie wissen mehr über ihre Rechte. Dies wirkt sich direkt darauf aus, ob die Person sich im Stande fühlt und die nötigen Informationen hat, um einen Antrag aufgrund von SOGI zu stellen.

     

    Übersicht für queere Terminologie im SOGI Asylverfahren, türkisch

     

    Erfahrungsberichte und Studien zeigen, dass vor allem die Anhörung eine besondere Herausforderung darstellt: Die Gesprächsführung im Rahmen von SOGI Asylverfahren ist von klischeehaften Stereotypen geprägt, zum Beispiel darüber wie queere Menschen auszusehen oder sich zu verhalten hätten. Die Anhörer*innen würden in der Befragung einen starken Fokus auf die sexuelle Praxis und nicht auf eine queere Zugehörigkeit als selbstbestimmte Identität legen. 

    Die Fragen sind zum Teil sehr intim und arbeiten mit Stereotypen. Dazu kommen Fälle von Diskrimierung durch Übersetzer*innen. Obwohl sie laut Arbeitsauftrag jede Äußerung der Asylverfahrensbeteiligten vollständig und genau übertragen müssen und grundsätzlich eine integre und allparteiliche Haltung und ein ebensolches Verhalten vorlegen müssen, ist dies häufig nicht der Fall. Zum Beispiel wird von ihnen diskriminierende Sprache verwendet. 

    Lilith Raza berichtet, dass viele Übersetzer*innen nicht zu queeren Themen geschult sind. Es gibt mittlerweile eine Übersicht für queere Terminologie in zehn verschiedenen Sprachen (Arabisch, Dari, Englisch, Französisch, Paschtu, Persisch, Russisch, Tigrinya, Türkisch und Urdu), die vom LSDV mit dem BAMF gemeinsam veröffentlicht wurde. Es wäre notwendig, dass Übersetzer*innen in SOGI Asylverfahren die Übersicht kennen und nutzen, sagt Lilith Raza.

     

    Übersicht für queere Terminologie im SOGI Asylverfahren, arabisch

     

    Ablehnungen trotz gültiger Rechtslage

    Aufgrund der fehlenden Sensibilisierung und stereotypischer Auseinandersetzung mit dem Thema Queerness im Asylprozess, komme es zu häufig dazu, dass die Glaubwürdigkeit eines Vortrags von betroffenen Personen angezweifelt wird, und es dadurch zur Ablehnung des SOGI-Fluchtgrunds kommt. “Aus der Beratungspraxis und verschiedenen Studien wissen wir, dass genau dieser Punkt regelmäßig ein Ablehnungsgrund ist – gerade im Erstverfahren”, sagt dazu Lilith Raza. Dies kann an stereotypischen Annahmen der Entscheider*innen und Richter*innen liegen und an der Vorstellung, dass Betroffene ihre sexuelle oder geschlechtliche Identität in ihren Herkunftsländern verbergen können und nicht offen zeigen müssen, um sich vor Verfolgung zu schützen.

    Die eigene Identität zu leugnen oder zu verstecken, kann aber keine Möglichkeit zum Schutz gegen Verfolgung sein – zumindest sofern man sich an den Menschenrechtskonventionen orientiert und sexuelle und geschlechtliche Identität als ein universelles Menschenrecht versteht. Das sogenannte Diskretionsgebot, welches diskretes Leben im Herkunftsland erwartet, steht entgegen der geltenden Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes. 

     

    Abschiebung in die Unsicherheit – wenn Schutz versagt

    Lilith berichtet, dass sie momentan Meldungen von mindestens zwei Abschiebungen von queeren Menschen pro Woche erhalten, sie hätten auch schon eine Woche gehabt, in der es jeden Tag eine Abschiebung gab. „Wir haben seit Dezember bis jetzt fast über 60 Fälle in Abschiebehaft, in vielen Fällen wird die SOGI Identität angezweifelt“, berichtet Lilith in Bezug auf ihre Erfahrung in der Praxis. Offizielle Statistiken zu den Abschiebungen queerer Menschen gibt es nicht. Queeren Menschen wird in Deutschland somit Schutz verwehrt und sie werden in Länder abgeschoben, in denen ihnen Verfolgung droht.

    Momentan wird die Unterstützung geflüchteter queerer Personen bundesweit durch eine Reihe von Initiativen aus der queeren Szene, aber auch von anderen gesellschaftlichen Akteur*innen geleistet. Diese bieten psychosoziale Beratung, Raum für Begegnung und Begleitung während des Asylverfahrens und darüber hinaus an. In diesem Zusammenhang schließen sich auch immer mehr geflüchtete queere Personen diesen Initiativen an oder bilden erste eigene Strukturen der Selbsthilfe. Das LSVD-Projekt „Fluchtgrund queer: Queer Refugees Deutschland“, von dem Lilith ein Teil ist, arbeitet daran, die deutschlandweit bestehenden Vernetzungsstrukturen weiter auszubauen und Menschen, die mit Geflüchteten arbeiten für die besonderen Bedarfe von queeren Geflüchteten zu sensibilisieren. Durch die erlangten Fachkenntnisse können Mitarbeitende und Ehrenamtliche mit mehr Handlungssicherheit und Zielgenauigkeit auf die Bedürfnisse dieser besonders vulnerablen Geflüchteten eingehen. 

     

    Was sich ändern muss – für echte Sicherheit und Teilhabe

    Liliths Ziel ist es, dass queere Geflüchtete hier in Deutschland ohne Diskriminierung ihre Identität ausleben können. Das könne aber nur erreicht werden, wenn auch von staatlicher Seite in die Sichtbarmachung und Bildung zum Thema Queerness in Behörden, Gerichte oder Unterkünften investiert wird. „Queerness ist kein Sonderthema, sondern ein Alltagsthema“, so Lilith. Geflüchtete Personen müssen bei Ankunft und Antragstellung über SOGI als möglicher Asylgrund, ihre Rechte als queere Person und über Angebote für (geflüchtete) queere Personen informiert werden. Das umfangreiche Informationsmaterial muss dabei von staatlichen Strukturen an allen Stationen des Asylverfahrens zur Verfügung gestellt werden. Denn zivilgesellschaftliche Strukturen können das nicht allein stemmen.

     

    ___________________________________________________________

    Schließe jetzt eine Membership ab!

    Damit wir auch in Zukunft solche Recherchen umsetzen und weiterhin einen Raum für Menschen mit Flucht- und Migrationsgeschichte schaffen können, sind wir auf deine Unterstützung angewiesen.

     

  • Grasa Guevara über queere Lebensrealitäten aus Abya Yala

    In der Mitte der Pandemie beginnt Grasa Guevara damit, Drag zu machen. Im Drag findet sie Inspiration. Hier kann sie einen Teil von sich zeigen, der sonst hinter einer Maske bleibt. Dass sie in Deutschland wieder auf der Bühne steht, trägt auch dazu bei, dass sie sich hier irgendwie angekommener fühlt. Drei lange Jahre konnte sie nicht auftreten, weil sie kein perfektes Deutsch konnte. Inzwischen tritt Grasa Guevara auf Spanisch auf. Das macht sie nicht nur, weil es ihre Muttersprache ist, sondern ganz bewusst, weil ihre Zielgruppe die lateinamerikanische Community ist. Vor allem Personen, die noch nicht politisiert sind, will sie damit erreichen. 

    Auf die Frage, wieso Grasa Guevara sich für Drag als Kunstform entschieden hat, antwortet sie: „Diese Kunstform hat sich für mich entschieden.“ Um der alltäglichen Homophobie zu entfliehen, der sie begegnet, probiert sie das erste Mal Drag aus. Sie spürt sofort, dass sie ein mächtiges Werkzeug entdeckt hat. Denn es geht ihr nicht nur um die Kunst, sondern Drag war für sie schon immer auch politisch. 

    Ihre 60-minütige Comedy-Solo-Show „La Razón de mi Drag“ basiert auf dem Leben von Evita Perón. Die Ehefrau des argentinischen Präsidenten Juan Perón war eine wichtige Figur der politischen Szene des Landes in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Bis zu ihrem Tod mit nur 33 Jahren kämpfte sie für das Frauenwahlrecht. Erfolgreich. In westlichen Ländern wurde sie durch den Spielfilm „EVITA“ mit Madonna in der Hauptrolle und Madonnas Hit „Don’t Cry for me Argentina“ aus dem Film bekannt. Wenn westliche Drag Queens Evita Perón spielen, findet Grasa Guevara das meistens cringe. Sie selbst will es besser machen.  

    „Was wollen wir weniger als eine linke, migrantische, kommunistische Drag Queen?“

     Doch nicht nur mit ihrer Drag-Show ist Grasa Guevara politisch aktiv. Zusammen mit Drag-Schwester La Taura lädt sie auf YouTube als „Midragntas“ politisches Bildungsmaterial für andere Migrant*innen hoch. 2021 folgt der Instagram-Kanal und später die zweiwöchentlich erscheinende Podcast-Reihe „Grasa Saturada“. Besonders den Podcast hören auch viele Menschen in Lateinamerika. Grasa Guevara fühlt eine gewisse Verantwortung gegenüber den Menschen aus ihrer Heimat, auf Zustände aufmerksam zu machen und politische Bildungsarbeit zu leisten. Auch weil vor Ort vielen Menschen aktuell die Ressourcen fehlen, um politische Arbeit leisten zu können: Seit Dezember 2023 ist in Argentinien der rechte Präsident Javier Milei an der Macht.

    Auf Deutsch bedeutet Grasa „Fett“. Und Fett, das will die Gesellschaft gerne ausstoßen, so Grasa Guevaras Erfahrung. In Argentinien ist „grasa“ etwas, das billig ist, von schlechtem Geschmack. Durch die Wiederaneignung zeigt sie damit Schönheitsidealen den Mittelfinger. Sie weiß, dass sie unbequem ist: „Was wollen wir weniger als eine linke, migrantische, kommunistische Drag Queen?“ Die Anlehnung an Che Guevara entstammt ihren Teenagerzeiten. Noch in Buenos Aires ist sie in einer politischen Jugendorganisation aktiv. Ihr Ziel damals ist es, die queere und die linke Perspektive zusammenzubringen. Dafür kämpft sie auch noch heute. 

    „Die Gewalt erleben wir als queere Menschen zuerst“ 

     „Für mich bedeutet Freiheit nicht nur, dass ich mit meinem Körper machen kann, was ich will.“ Genauso wichtig ist Grasa Guevara der Zugang zu Bildung, Arbeit, Wohnraum und  Krankenversicherung. Die Gleichstellung mit anderen Menschen aus der Gesellschaft. Wenn diese Gleichstellung nicht vorhanden ist, gibt es für queere Menschen keine Perspektive, denn: „Die Gewalt erleben wir als queere Menschen zuerst.“ Es gehe darum, die Perspektive vom Individuum auf das Kollektiv zu lenken. Gegen aktuelle rechte Strömungen lasse sich nur ankämpfen, wenn Gesellschaft neu gedacht wird. “Viele Menschen unterstützen die rechten Bewegungen, weil sie denken, dass sie eine Antwort haben auf die Krisen, in denen wir heutzutage leben”, mutmaßt Grasa Guevara. 

    “Was die rechten Bewegungen sehr gut gemacht haben, ist, ein Narrativ zu entwickeln, in dem sie uns für die gesamten Probleme, die wir heutzutage haben, verantwortlich machen.” Das Problem der heutigen Krisen sieht Grasa Guevara vor allem im Kapitalismus. Queere Personen, migrantische Personen und Frauen* werden dabei, so Grasa Guevara, oft zu einem “inneren Feind” gemacht. Ein gefährliches Narrativ. Inflation und Kriege würden als Werkzeuge gegen marginalisierte Gruppen genutzt. “Um gegen dieses Narrativ zu kämpfen, sollten wir unser eigenes Narrativ entwickeln“, schlägt Grasa Guevara vor. “Ich glaube, es gibt viele nicht-politisierte Menschen, die in Deutschland leben”, sagt sie. Mit denen möchte Grasa Guevara als erstes reden. 

    „Weltweit ist das argentinische Gesetz zur Geschlechtsidentität das beste“ 

     Lohnarbeiten geht Grasa Guevara im Bildungszentrum Lohana Berkins in Berlin. Die 2016 verstorbene Lohana Berkins war eine der Leitfiguren der queeren Bewegung in Argentinien und ist Grasa Guevaras großes Vorbild. Sie kämpfte gegen patriarchale Strukturen und setzte sich selbst als Betroffene vor allem für die Rechte von trans* Personen ein. 2012 verabschiedete Argentinien als erstes Land weltweit das Selbstbestimmungsgesetz für trans* und nicht-binäre Personen. In Deutschland gibt es erst seit April 2024 ein Gesetz zur geschlechtlichen Selbstbestimmung, das aber noch nicht annähernd so fortschrittlich wie das in Argentinien ist. “Weltweit ist es das beste Gesetz zur Geschlechtsidentität”, findet Grasa Guevara, sichtlich stolz, dass gerade ihr Land einmal die Vorreiterrolle eingenommen hat. 

    Am 1., 2. und 3. November kann man Grasa Guevara als Evita Perón im Theater X in Berlin sehen. Vielleicht kommt sie mit ihrem Programm auch mal nach Hamburg. Fehlt nur noch die passende Bühne. 

  • Schutz ab Tag eins? – Queer im Asylverfahren

     

    „Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen. Über meinen Fall, während ich hier in Deutschland war und ins Asylverfahren gegangen bin“, fängt Amarantha ruhig an. „Über ein Mädchen wie mich. Ich hatte mich entschlossen, Asyl zu beantragen.“

    Während sie erzählt, schimmern ihre goldenen Ohrringe durch ihre langen blonden Haare hindurch. Ihre Lippen zieren eine helle Lippenstiftfarbe, ihre langen Wimpern sind mit schwarzer Mascara getuscht. Sie steht aufrecht, spricht deutlich und klar in die Kamera.

    „Erst war ich in einer Asylunterkunft, doch schnell wurde ich umverteilt. Das war komisch, denn trotz hoher Sicherheitsvorkehrungen, sollten Frauen wie ich nicht dorthin verlagert werden, so viel hatte ich schon mitbekommen“, verrät sie.

    Amarantha ist eine venezolanische trans Frau und erzählt im Rahmen einer Videoreihe ihre Geschichten, um auf die Missstände im Asylverfahren aufmerksam zu machen. Denn Amarantha wurde im Bad eines Asylheims attackiert. „Er hat mich gewürgt und auf den Boden geworfen, bis ich das Bewusstsein verlor“, schildert sie.

    Wer schafft Schutz?

    Es ist eine Geschichte, die sie eigentlich nie wieder erzählen wollte. Das änderte sich, als sie auf die Initiative „Projekt Artikel 21“ traf, einem Bündnis, was sich für umfassende Schutzmaßnahmen für LGBTQIA* Geflüchtete einsetzt. „Durch das Projekt vernetzen sich Menschen aus der queeren Community und teilen ihre Erlebnisse, aber auch Forderungen nach Veränderungen im Asylverfahren.“, erzählt Joe. Joe ist Teil des Projekts und der Videoreihe und kennt die Herausforderungen für queere Asylsuchende aus eigener Erfahrung. „Das hat meine Motivation geweckt, anderen Menschen zu helfen, die genauso unter der Situation leiden“, sagt Joe.

    In die Initiative fließen unter anderen die Perspektiven einer Rechtsanwältin für Migrations- und Aslyrecht, des Projekts Refugee Sisters*, der Koordinierungsstelle zur Integration von LSBT*I mit Migrations- und Fluchtgeschichte sowie der Initiative Queer Refugee Support mit ein.

    „Das Asylsystem sollte da sein, um Schutz zu gewährleisten“, betont Alissa von Malachowski, Psychologin mit Fokus auf Traumaforschung und Mitinitiatorin des Projekts. „Rein aus Traumaperspektive ist es unverantwortlich, Personen dazu zu bewegen, komplett unvorbereitet, tiefgreifende traumatische Erfahrungen in prekären Umständen wiederzugeben“, sagt sie.

    Die Initiative „Projekt Artikel 21“ fordert den Hamburger Senat unter anderem deshalb auf, queere Mi­gran­t*in­nen ab dem ersten Tag des Asylprozesses Schutz zu gewährleisten, unter anderem durch Unterbringung in einer spezifischen Unterkunft.


    Ist-Zustand in Hamburg

    Dabei berufen sie sich auf die Aufnahmerichtline der EU, die in Artikel 21 die Bedürfnisse „besonders schutzbedürftiger“ Menschen regelt. In Deutschland ist der besondere Schutzbedarf von LSBTQIA* anerkannt. Das Projekt kritisiert die fehlende Umsetzung, denn in den Erstaufnahmen gibt es keine gesonderten Schutzunterbringung für LSBTQIA*-Geflüchtete.

    „Erst, wenn sie in Folgeeinrichtungen umziehen, können Betroffene mit Gleichgesinnten zusammenwohnen“, berichtet Joe aus eigener Erfahrung. „Das sind Schutz-WGs, die als kleine Wohneinheiten konzipiert sind, die sich in der Regel innerhalb von regulären Unterkünften befinden.“ Alissa ergänzt: „Zudem bestehen in den Unterkünften kaum psychosoziale und keine gesundheitlichen Angebote, die auf queere Menschen ausreichend zugeschnitten sind.“

    Eine Schriftliche Kleine Anfrage von der Linksfraktion im Juli 2022 bezüglich der Unterbringungssituation von LSBTQIA*-Geflüchteten in Hamburg ergab, dass in 16 Wohnungen insgesamt 35 Plätze für LSBTQIA*-Personen angeboten werden. Es heißt: „Die Menge angebotener Plätze richtet sich in erster Linie nach den hierzu bestehenden Bedarfen“. Wie viele LSBTQIA*-Geflüchtete seit 2017 über den Königsteiner Schlüssel, also nach Gewichtung von Steueraufkommen und Bevölkerungszahl der Bundesländer, umverteilt worden oder in Hamburg verblieben sind, wird jedoch nicht erfasst.

    Forderungen nach mehr Sicherheit

    Die Aktivist*innen von Projekt Artikel 21 fordern mehr Schutz für Betroffene. Dafür starteten sie im letzten Jahr eine Petition, die bisher rund 2250-mal unterzeichnet wurde und dem Innen- und Sportsenator Andy Grote als auch der Senatorin für Arbeit, Gesundheit, Soziales, Familie und Integration Melanie Schlotzhauer vorliegen.

    Konkret geht es um eine zentrale Unterkunft in Hamburg, die ausschließlich Plätze für LGBTQIA*-Geflüchtete zur Verfügung stellt. Besonders wichtig seien dabei Plätze in der Erstaufnahme, um Schutz vom ersten Tag des Asylverfahrens zu gewährleisten sowie speziell auf die Bedürfnisse von LGBTQIA* zugeschnittene psychosoziale und gesundheitliche Angebote. An der Liste der Erstunterzeichnenden wird deutlich, dass das Anliegen von verschiedenen Akteur*innen der queeren Community und Zivilgesellschaft geteilt wird.

    Amarantha beendet ihre Geschichte im Video wie folgt: „Wenn wir hier sind, sollen wir uns sicher und keine Angst fühlen, oder? Ich erzähle meine Geschichte, auch wenn sie nicht schön ist, weil ich will, dass sich etwas verändert.“

  • Empfehlungen zum Thema Queerness im Kontext von Migration & Flucht

     

    Podcast „BBQ – Der Black Brown Queere Podcast“ von Cosmo

    In diesem Podcast setzen die Hosts Dominik Djialeu und Zuher Jazmati das Ziel, verstärkt Perspektiven von Schwarzen, Brauen und queeren Menschen zu beleuchten. Alle zwei Wochen widmen sie sich mit unterschiedlichen Gäst*innen aktuellen Themen aus Politik und Popkultur, sei es der weiße Feminismus, die Sichtbarkeit queerer Menschen in der Öffentlichkeit, intersektionale Diskriminierung oder auch das Thema Barbie – dies und vieles mehr erwartet die Hörer*innen in den bereits produzierten 45 Folgen.

     

     

    Podcast Maangai von Abilaschan und Aathithya Balamuraley

    Im Podcast Maangai, der seit 2021 produziert wird, setzt sich damit auseinander, was es bedeutet, im deutschsprachigen Raum sowohl südasiatisch als auch queer zu sein. Abilaschan Balamuraley ist Host und führt aufschlussreiche und empathische Gespräche mit Gäst*innen zu Themen wie Geschwisterlichkeit, queere Elternschaft oder sogar tamilische Poesie und Popkultur. Hierbei steht im Mittelpunkt, die Geschichten, Beweggründe und die inspirierende Stärke der Mitglieder der südasiatischen Communities zu teilen.

     

     

    Buch „Mehr als Binär“ von Alok Vaid-Menon

    In „Mehr als binär“ eröffnet Künstler*in und Performer*in ALOK eine Perspektive, die weit über die herkömmlichen Geschlechterkategorien hinausreicht. Alok Vaid-Menon setzt sich mit dem binären Geschlechtersystem auseinander, bietet einen Einblick in den persönlichen Weg zur Entfaltung der eigenen Identität und thematisiert die Vorurteile sowie die Herausforderungen, mit denen nicht-binäre Menschen im Alltag konfrontiert sind. „Mein Körper war der Ort, an dem die Scham wohnte, deshalb zog ich mich in meinem Kopf zurück.“ Das Buch umfasst 108 Seiten und wird von einer Illustration-Sammlung von Julius Thesing begleitet.

     

     

    Spielfilm „JOYLAND“

    Haider, der jüngste Sohn einer konservativen pakistanischen Großfamilie, bricht mit den Erwartungen seiner Familie. Als er unerwartet einen Job als Background-Tänzer in der Show der charismatischen Tänzerin Biba – eine trans Frau – bekommt, gerät sein Leben in eine unerwartete Wendung. Trotz der familiären Erwartungen und moralischen Dilemmas entwickelt sich eine tiefe Beziehung.

    „JOYLAND“ ist das Spielfilmdebüt von Regisseur Sami Sadiq und erzählt eine komplexe Liebesgeschichte, die Tradition, Familie und persönliche Freiheit in den Fokus stellt. Der Film wurde bei den Filmfestspielen von Cannes 2022 aufgeführt und erhielt bedeutende Auszeichnungen. Darüber hinaus schaffte er es auf die Oscar-Shortlist in der Kategorie „Bester Internationaler Spielfilm“. Ab 9. November kommt er in die deutschen Kinos.

     

     

    Dokumentarfilm „Mr. Gay Syria“ 

    https://www.youtube.com/watch?v=yeXlq5oPzyE

    Mr. Gay Syria erzählt die Geschichten von zwei schwulen syrischen Geflüchtete, die bestrebt sind, ein neues Leben aufzubauen. Husein lebt in Istanbul und arbeitet als Friseur. Er führt ein Doppelleben, da er seine konservative Familie und seine schwule Identität voneinander getrennt halten muss. Mahmoud ist der Gründer der LGBTI-Bewegung in Syrien und hat in Berlin Zuflucht gefunden. Das, was sie miteinander verbindet, ist ein gemeinsamer Traum: die Teilnahme an einem internationalen Schönheitswettbewerb, um ihren eingeschränkten Lebensbedingungen zu entkommen und ihrer Unsichtbarkeit eine Antwort entgegenzusetzen.

     

     

    Sammelband „Refugees & Queers“

     

     

     

     

     

     

     

     

     

    Der Sammelband „Refugees & Queers“ behandelt Forschung und Bildung an der Schnittstelle von LSBTTIQ, Fluchtmigration und Emanzipationspolitiken. In Deutschland können Menschen Asyl beantragen, wenn sie aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität verfolgt werden. Etwa fünf Prozent der aktuellen Geflüchteten gehören zur LSBTIQ-Community. Diese Gruppe erlebt spezielle Diskriminierungen.

    Das Buch bietet vielfältige Ansichten und behandelt die Herausforderungen sowie Chancen und Möglichkeiten, die diese Erfahrungen mit sich bringen. Die Autor*innen sprechen über Forschungsethik, mediale Darstellungen, intersektionale Erfahrungen und die Bedürfnisse von LSBTTIQ-Geflüchteten in verschiedenen Lebenssituationen.

     

     

    Plattform „thehealingkhan

    Ahmed ist ein Aktivist und Coach, der in Berlin lebt. Er ist queer und muslimisch. Seine persönliche Geschichte hat ihn dazu bewegt, sich intensiv mit sich selbst auseinanderzusetzen, und seine Reisen haben ihm wertvolle Erkenntnisse gebracht. Heute unterstützt er andere Menschen, die ähnliche Herausforderungen bewältigen müssen, und leitet monatlich einen „Queer & Muslim Healing Circle“. Darüber hinaus ist er auf Instagram aktiv und bietet Workshops an verschiedenen Bildungseinrichtungen an.

     

    • Plattform, thehealingkhan
    • Ahmed im Profil bei kohero

     

    Plattform „SOFRA Queer Mirgants“

    Der Verein „SOFRA Queer Migrants e.V.“ aus Köln engagiert sich für Personen mit Flucht- und Migrationsgeschichte, die sich selbst als lesbisch, schwul, bisexuell, trans*, intergeschlechtlich oder queer identifizieren. Der Name „SOFRA“ stammt aus dem Arabischen und bedeutet „Esstisch“. Der Verein bemüht sich einen geschützten Raum, in dem queere Geflüchtete und Migrant*innen Unterstützung finden zu können. Die angebotenen Leistungen umfassen Einzelfallbetreuung, Beratung, regelmäßige Treffpunkte und Bildungsangebote. Das Projekt zielt darauf ab, das Bewusstsein für queere Themen, Belange und Bedürfnisse bei Migrant*innen-Selbstorganisationen (MSO) zu stärken und sie als Verbündete zu gewinnen.

     

  • Healing Circles, Religion und Identität

    In Berlin leben viele Menschen arabischer und muslimischer Herkunft, darunter auch queere Personen mit muslimischem Hintergrund, die aus ihren Heimatländern ins Exil geflohen sind. Ahmed war aufgefallen, dass es in Berlin keinen sicheren Ort für queere Menschen mit diversen kulturellen Hintergründen gab. Diese Situation führte dazu, dass viele queere Muslim*innen in engen Normen und Traditionen gefangen waren. Die Inspiration zur Veränderung kam aus Ahmeds Freundeskreis, in dem einige von ihnen ein Doppelleben führten. Ahmed beschloss, etwas dagegen zu unternehmen, indem er die „Queer & Muslim Healing Circles“ ins Leben rief.

    Ahmed kennt dieses Problem aus erster Hand. Er ist in Berlin aufgewachsen und identifiziert sich sowohl als queer als auch als Muslim. Seine Wurzeln reichen bis in den Irak, wo sein Vater herkommt, und den Libanon, der die Heimat seiner Mutter ist. Infolgedessen musste er selbst mit Identitätskrisen kämpfen. Als er schließlich seine sexuelle Orientierung offen lebte, sah er sich gezwungen, Berlin zu verlassen, da die Stadt für ihn bedrohlich wurde.

    Infolgedessen unternahm Ahmed eine Selbstentdeckungsreise, die er als „Heilungsjourney“ bezeichnet. Nachdem er viele Länder bereist hatte, kehrte er nach Berlin zurück und begann als Coach, Aktivist und Heilarbeiter zu arbeiten. Ahmed erklärt: „Meine eigenen Erfahrungen helfen mir dabei, diese Verletzungen zu verstehen, und da ich diesen Weg gegangen bin, kann ich besser zuhören, ohne dass es mich herunterzieht.“

    „Trotz dieser Vielfalt teilen alle die gleiche Wunde“

    Die „Healing Circles“ werden durch den Liberalen Islamischen Bund und Spenden finanziert, wobei Ahmed als der Hauptorganisator fungiert. Die Teilnehmenden dieser Kreise sind entweder in Berlin geborene Araber*innen oder Geflüchtete, die nach Berlin gekommen sind. Jede Person hat ihre eigene Vorstellung von Religion und Identität, die sich von anderen unterscheiden kann. „Einige Teilnehmende entfernen sich von Gott, während andere versuchen, ihm näherzukommen, und wieder andere nennen ihn anders. Trotz dieser Vielfalt teilen alle die gleiche Wunde. Jeder von uns geht auf seine eigene Art und Weise damit um, und das respektieren wir alle. Denn darum geht es hier“, betont Ahmed.

    Nach jedem Gespräch gibt es bestimmte Regeln, die befolgt werden sollen. Im ersten Fall hebt man beide Hände, um zu zeigen, dass die sprechende Person für jeden Tipp dankbar ist. Im zweiten Fall hebt man eine Hand, um anzuzeigen, dass man einen Ratschlag sucht, jedoch sollte dabei Sensibilität gewahrt werden. Im letzten Fall schließt man die Hände, um anzuzeigen, dass man nur etwas mitteilen möchte, ohne Kommentare dazu zu erwarten. Fragt man ihn, ob Queerness und Islam zusammenpassen, dann antwortet er: „Bevor ich diese Frage beantworte, ist es wichtig zuerst zu wissen, dass es bei uns vor allem um Menschenrechte geht“, sagt Ahmed und fährt fort:

    „Ich kann diese Frage beantworten und meine Meinung äußern, aber ich muss diese Frage nicht beantworten. Ich möchte nicht über meine Rechte als Mensch verhandeln.“

    „Wir haben unsere Identität nicht gewählt, wir sind damit geboren“

    In diesen Kreisen behaupten einige, dass Islam und Queersein nicht zusammenpassen. „Das System zwingt uns, eine Entscheidung zu treffen. Entweder verstecken wir unsere Queer-Identität oder geben unseren Glauben auf. Und in diesem Fall scheint es einfacher zu sein, den Glauben aufzugeben“, fährt Ahmed nach einer Pause fort, „viele übersehen jedoch eine wichtige Tatsache: Wir haben unsere Identität nicht gewählt, wir sind damit geboren.“

    Ahmeds Gedanken zeigen, dass diese Sitzungen der „Healing Circles“ nicht dazu dienen, „Obszönität zu fördern“, wie einige befürchten, sondern vielmehr als Treffpunkt dienen, um die Wunden zu heilen, die durch das System, den Glauben und die Traditionen verursacht wurden. Es ist lediglich eine Plattform, um Sicherheit zu gewährleisten. Er sagt: „Ich hoffe, dass diese Sitzungen zu sozialen Beziehungen und einer Bindung zwischen den Teilnehmenden führen, um ihre Gefühle von Verlust und Einsamkeit zu verringern – insbesondere da man sich in Berlin manchmal einsam fühlt.“

     

     

  • zu.flucht Podcast: Zu Queerness

    In dieser Folge vom zu.flucht Podcast haben wir Elnaz Farahbakhsh zu Gast. Elnaz ist Dichter*in, Künstler*in und Aktivist*in und erzählt uns von Erfahrungen, die mehrfach marginalisierte Menschen machen. Lilith Raza und Ina Wolf vom Projekt „Fluchtgrund Queer: Queer Refugees Deutschland“ geben uns einen Einblick darin, welche Hürden LGBTQ+ Asylsuchende überwinden müssen. Außerdem haben wir mit Han Kahrizi vom Magnus Hirschfeld Centrum Hamburg darüber gesprochen, welche Unterstützung Betroffene benötigen.
    Abonniere ⁠unseren Newsletter⁠, um alle Infos zum Thema Queerness und vielen weiteren Themen gebündelt in dein Postfach zu bekommen.
    Du findest unsere Arbeit gut? Dann unterstütze und mit einer Spende.
    An dieser Produktion mitgewirkt haben: Valeria Bajaña Bilbao, Jonas Graeber, Anna Seifert, Anne Josephine Thiel, Sarah Zaheer
    Sounddesign: Christian Petzold
    Infos zur Folge:
    Unsere Folge mit der afghanischen Dragqueen Najib Faizi
    Unsere Folge mit Ballroom-Performerin ZOE
    Unsere Folge zu Behinderung und Flucht
    Hier findest du alle Artikel zum Thema Queerness beim kohero Magazin.
    Foto (von links nach rechts): Han Kahrizi, Lilith Raza (©Caro Kadatz), Elnaz Farahbakhsh (©Yergalem Taffere)

kohero-magazin.com