Schlagwort: Polizeigewalt

  • Brasiliens verleugneter Rassismus

    Was an dem Abend geschah

    Es ist circa 20:30 Uhr am Donnerstag des 19. November, 2020, als Joao Alberto Freitas, 40 Jahre alt, zusammen mit seiner Frau Milena, den Supermarkt Carrefour in Porto Alegre, der südlichsten Hauptstadt Brasiliens, betritt. Es ist der Vorabend des „Tags des Schwarzen Bewusstseins“, ein Feiertag in Brasilien. Joao Alberto kann zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen, dass er diesen Abend nicht überleben wird.

    Aus ungeklärter Ursache entsteht eine Diskussion zwischen Joao und einer Mitarbeiterin des Supermarktes. Später sagt sie der Polizei „er wirkte extrem aufgeregt, ja wütend“, auch wenn es bisher keine Belege für diese Aussage gibt. Sie bittet zwei Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes um Hilfe, auch das ist nichts Außergewöhnliches in vielen brasilianischen Läden. Zwei Männer nähern sich Joao und zerren ihn weg, in Richtung des großen Parkplatzes. Dort hält einer Joao fest, während der andere auf Joao immer wieder einschlägt. Fünf Minuten lang.

    Ein Land demonstriert

    Während der Aggression hat Joao seine Frau Milena um Hilfe gebeten, es war aber alles zu spät. Einer der Sicherheitskräfte kniete sich auf den Hals des Opfers, bis es sich nicht mehr bewegte. Beide Sicherheitsmänner waren weiß. Joao war schwarz. Unzählige Zeugen sahen das Geschehen und taten das, was in Brasilien üblich ist: nichts.

    Einige filmten das Ganze mit ihren Smartphones. Kurze Zeit später waren diese Bilder auf verschiedenen Medien zu sehen. Die Täter, Giovane, ein Militärpolizist ohne Genehmigung für die Tätigkeit als Sicherheitskraft. Der andere, Magno, besaß zwar einen entsprechenden Schein, dieser war aber abgelaufen. Beide sagten später bei ihrer Vernehmung, „dass sie wohl übertrieben hätten“.

    Die gewalttätigen Reaktionen auf den Straßen erfolgten wenige Stunden später, zuerst in Porto Alegre und danach in einigen Hauptstädte Brasiliens. Vielleicht weil die brutale Tat am Abend vor dem Tag des Schwarzen Bewusstseins geschah oder vielleicht auch, weil das Thema Rassismus momentan zum Alltag in verschiedenen Ländern gehört. Es war Fall das erste Mal, dass so viele spontane Demonstrationen gegen Rassismus fast zeitgleich in Brasilien stattfanden und noch ein paar Tage nach dem Mord an Joao anhielten.

    Brasilien verleugnet seinen Rassismus

    Rassismus, vor allem gegen Schwarze und Indigene wird von breiten Schichten der Bevölkerung verleugnet. So auch der brasilianischer Vize-Präsident, Hamilton Mourao: „Es ist bedauernswert, diese Sicherheitsleute sind für deren Aufgabe nicht vorbereitet. Aber, meiner Meinung nach, gibt es in Brasilien keinen Rassismus. Jemand will dieses Thema zu uns importieren. Der Rassismus existiert nicht in Brasilien“.

    Eine ganz andere Meinung vertritt die UNO: „Unsere Organisation stellt fest, dass weiterhin Millionen schwarzer Bürger Opfer des Rassismus, rassistische Diskriminierung und Intoleranz sind. Wir fordern eine gründliche Untersuchung des Falls, die Bestrafung der Täter und ermuntern das brasilianische Volk, eine Gesellschaft zu bilden, die frei von Rassismus ist“.

    Rassissmus hat Geschichte

    Die soziale Diskriminierung und der offene Rassismus haben eine lange Tradition in Brasilien, die etwa 350 Jahre zurück geht. Die Autorin Ines Eisele fasst in einem Interview für die Deutsche Welle, erschienen am 11.12.2019, das Thema zusammen:

    „Gut die Hälfte aller Brasilianer hat afrikanische Wurzeln. Lange hielt sich der Mythos, dass es Rassismus wie etwa in den USA nicht gebe. Doch in Führungsetagen oder reichen Vierteln sucht man Schwarze meist vergeblich. Es gibt viele Bezeichnungen für dunkelhäutige Menschen genauso wie Farbschattierungen. Sie zeigen, wie sehr sich diese in dem Land vermischt haben.  Vor allem aber wurden über 350 Jahre lang Millionen afrikanische Sklaven ins Land geschafft, so dass sich heutzutage ungefähr 51 Prozent der Brasilianer selbst als schwarz oder „pardo“, also braun beziehungsweise gemischt bezeichnen.

    Auch viele der kulturellen Markenzeichen Brasiliens stammen ursprünglich von den afrikanischen Sklaven, wie der Samba, der Kampftanz Capoeira oder die Religion des Camdomble. All das lässt Brasilien schnell als harmonischen Schmelztiegel erscheinen, zumal es – nach dem Ende der Sklaverei – keine offizielle Rassentrennung wie in den USA oder Südafrika gab.“

    Ungerechtigkeit hinterlässt Spuren in der Gesellschaft

    Claudius Armbruster, frühere Präsident des Deutschen Lusitanistenverbands erklärt im selben Artikel der Deutschen Welle: „Nach dem Ende der Sklaverei im Jahr 1888 mussten sich die weißen Eliten die Frage stellen, wie sie mit den vielen neuen Bürgern afrikanischen Ursprungs umgehen. Die sogenannte „Rassendemokratie“ war ein ideologischer Entwurf, der es ermöglichte, auf der Oberfläche eine Integration anzudeuten, ohne diese ökonomisch und sozial tatsächlich vollziehen zu müssen.“

    Der Artikel berichtet weiterhin: „In der Realität erhielten die vollkommen mittellos in die Freiheit entlassenen Sklaven keinerlei Unterstützung vom Staat. Diese Ungerechtigkeit hinterlässt bis heute Spuren in der Gesellschaft. So sind laut der nationalen Statistikbehörde drei Viertel der ärmsten zehn Prozent Afrobrasilianer. Dem Gini-Index zufolge, der Ungleichverteilung anzeigt, ist Brasilien eines der Länder, in denen die Schere zwischen Arm und Reich besonders groß ist. Und Arm und Reich ist in diesem Land eben oft gleichbedeutend mit Schwarz und Weiß.“

    Der Artikel interviewt auch die Afrobrasilianerin Philosophin und Aktivistin Djamila Ribeiro. Sie hat persönliche Erfahrungen mit Rassismus im Alltag gemacht: „Wie viele Schwarze, die an Orten der Macht verkehren, etwa Universitäten, wurde ich schon verwechselt und etwa für eine Reinigungskraft gehalten. In einem Luxushotel dachte mal jemand, ich sei eine Prostituierte. Ich möchte die Würde dieser Beschäftigungen nicht anzweifeln, aber es sagt etwas, wenn man als schwarze Frau darauf reduziert wird“.

    Die Stimmen sind wieder verstummt

    Manche Wissenschaftler behaupten, Brasilien sei ein Land ohne Gedächtnis. Heute ist der 25.11.2020, nur sechs Tage nach dem Mord an dem Schwarzen Joao Alberto Freitas sind vergangen. Ich habe vergeblich in fast allen bekannten brasilianischen Zeitungen nach weiteren Nachrichten gesucht. Auch die landesweiten Proteste sind verstummt. Meine Erfahrung sagt mir, dass bald niemand mehr über den brutalen Fall reden wird. Ein ermordeter Schwarze mehr. Vergessen.

     

  • Polizeidebatte: Wer ist die Mitte der Gesellschaft?

    Junge Demonstranten in Hamburg

    Die Hamburger*innen waren auch auf der Straße und haben gegen die Polizeigewalt demonstriert. Mehr als 14.000  junge Teilnehmer*innen, die zwischen 16 und 22 Jahren alt waren.

    Ich war auch bei der Demo am 5. und 6.6. und ich stellte mir die Frage, warum die Jungen Menschen für dieses Thema aktiv waren? Obwohl die Corona-Gefahr noch da ist, haben viele junge Menschen demonstriert. 

    Deutung des Autors

    Meiner Meinung nach hat sich hier etwas gezeigt:

    Erstens: Ich glaube, viele junge Menschen waren demonstrieren, weil dieses Thema sehr stark auf den Social Media vertreten war und viele Influencer*innen darüber geschrieben haben. Dadurch bekamen die Jungen neue Infos, die sehr schlimm waren. Wie die amerikanische Polizei die People of colour behandeln, und in welche Gefahr man kommt, nur weil er oder sie People of color sind. 

    Zweitens: 50 Prozent der Hamburger Grundschüler*innen und mehr als 40 Prozent der Gymnasiast*innen haben einen Migrationshintergrund.

    Diese Fakten zeigen uns, dass viele junge Menschen in Hamburg Freund*innen mit Migrationshintergrund haben. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sie wissen, was Vorurteile und/oder Rassismus, den diese Leute und/oder ihre Familien in Hamburg und/oder in Deutschland erleben, bedeuten.

    Die Schüler*innen kennen wohl sehr viele Geschichten von Diskriminierung und von Polizeieinsatz gegen ihre Freund*innen. Deswegen waren sie dabei und wollten auch hier teilnehmen. Sie sind nicht wie ihre Eltern, die in ihrer Schule nur mit Deutschen ohne Migrationshintergrund waren. Diese haben vielleicht bis jetzt noch keine Deutschen mit Migrationshintergrund getroffen. Vielleicht lesen sie auch nur die konservativen Medien. Sie sehen vielleicht nur die negative Berichterstattung über Migrant*innen, ohne zu wissen, dass eine Minderheit auch Rassismus in Deutschland erlebt. 

    Anteile der Schülerinnen und Schüler mit und ohne Migrationshintergrund im Schuljahr 2019/20

    Anteile der Schülerinnen und Schüler mit und ohne Migrationshintergrund im Schuljahr 2019/20
    Quelle: Schuljahresstatistik 2019 Bild: © IfBQ

    Gewalt gegen die Polizei

    Diese Jungen demonstrieren nicht nur gegen das, was in den USA passiert, sondern auch gegen die Polizeigewalt und Diskriminierung gegen schwarze Menschen, und gegen Migrant*innen in Deutschland.

    Dieses Thema wird sich auf jeden Fall in Deutschland weiter entwickeln. Vor allem auch wegen der Ereignisse in Stuttgart oder Frankfurt im Juli 2020 und der Gewalt gegen die Polizei. Die Frage, die viele danach beschäftigt hat: wer hat das gemacht? Junge Leute, deutsch oder nicht deutsch, gemischt von allem?

    Die Polizei wird jetzt eine Forschung über den Stammbaum der Jungen durchführen, weil es für die Polizei sehr wichtig ist zu wissen, woher die jungen Menschen kommen. Das bedeutet also, wenn wir von “wir Deutschen” sprechen, müssten wir immer zuerst fragen, ob Deutschen ohne Migrationshintergrund oder Deutsche mit Migrationshintergrund gemeint sind. Andere Medien finden oft schönere Begriffe, aber am Ende meinen sie das gleiche: es gibt uns und es gibt sie. 

    Was bedeutet diese Stammbaumforschung für mich? Am Ende bestimmt sie auch die Diskussion darüber was passiert ist. Weil, wenn die Polizei nun sagt dass die Demonstrant*innen „Biodeutschen“ waren, dann führt uns das in eine Diskussion darüber, ob wir ein Generationsproblem haben. Das sollten wir miteinander diskutieren. Das bedeutet auch, dass wir das System angucken und verändern müssen. 

    Andererseits, wenn die Polizei nun sagt, dass die Demonstrant*innen Deutsche mit Migrationshintergrund waren, oder vielleicht gar keine deutsche Staatsbürgerschaft haben, dann ist es für die Gesellschaft leicht gemacht. Denn dann können wir vereinfacht sagen: „Guck mal, sie akzeptieren uns, unsere Werte und unsere Polizei nicht.“ Dann können wir weiterhin gegen sie sein und sie gegen uns. Es bleiben diese zweie Gesellschaften.

    Ist es wirklich so einfach?

    Wer ist die Mitte der Gesellschaft?

    In diesen Diskussionen hören wir die rechte und die linke Seite und meine Frage ist:  Wo ist die Mitte der Gesellschaft beim Diskutieren? Hier meine ich nicht nur die SPD, sondern auch die Grünen. Warum versuchen sie nicht, beide Seiten zu verstehen und auf einer gemeinsamen Ebene zu diskutieren? Warum könnten sie nicht ein paar Vorschläge dafür und dagegen machen? 

    Ja, es gibt Probleme für Migrant*innen in der deutschen Gesellschaft. Die Polizei ist ein Bild der deutschen Gesellschaft. Ja, wenn Menschen hier Diskriminierung auf der Straße erleben, dann erleben sie auch diese Diskriminierung bei der Polizei.

    Gleichzeitig ist die Polizei wichtig in der Gesellschaft und es hilft nicht, sie nur als schlecht oder Teufel zu zeigen. Wenn für eine Polizei der Zukunft sind, können wir sagen: Ja, wir müssen mehr Stellen bei der Polizei schaffen. Aber die neue und die alte Polizei sollten sehr gut ausgebildet sein, sie sollten lernen, wie sie ihre Vorurteile abbauen und wie sie mit bestimmten Gruppen der Gesellschaft umgehen soll. Und wir sollten auch einen neuen Behörde schaffen, die die Polzei beobachtet und über sie berichtet.

    Denn es gibt Misstrauen zwischen den jungen Menschen, vielen Migrant*innen und der Polizei. Die Frage ist wie wir neues Vertrauen aufbauen können und nicht, wer hat recht oder wer kann mit diesem Misstrauen am meisten Wählerstimmen sammeln. 

kohero-magazin.com