Schlagwort: Politik

  • Ein dystopisches Deutschland im Jahr 2040

    Im Jahr 2040 ist Deutschland ein Land, das in den Schatten seiner einstigen Ideale gefangen ist. Der Herbst hat Einzug gehalten, doch die bunten Farben der Blätter werden von einer düsteren Melancholie überlagert. Es ist ein Bild, das das Land widerspiegelt: einst lebendig und vielfältig, nun isoliert und verachtet.

    Wie konnte es so weit kommen? Der schleichende Aufstieg rechtsradikaler Parteien wurde lange übersehen, ihre Botschaften fanden in der breiten Bevölkerung Gehör, während die Zivilgesellschaft die alarmierenden Zeichen ignorierte. 

    Zuerst waren es nur kleine Wellen, ein Raunen im Hintergrund der politischen Debatten, das von vielen als harmlos abgetan wurde. Doch mit der Zeit wuchsen diese Wellen zu einem unaufhaltsamen Tsunami. Demokratische Werte, die jahrzehntelang das Fundament der Gesellschaft gebildet hatten, begannen zu bröckeln. Es war ein schleichender Prozess, der durch Angst und Unsicherheit genährt wurde. Der große Albtraum wurde zur Realität, als die rechtsradikalen Kräfte unaufhaltbar wurden und ihre menschenverachtenden Pläne in die Tat umsetzten.

    Die Straßen, die früher von der Vielfalt ihrer Bewohner*innen geprägt waren, wurden nun von einer erdrückenden Stille beherrscht. Die einst pulsierende Demokratie, die das Land auszeichnete, existierte nicht mehr. Stattdessen erstreckte sich ein Schatten über die Köpfe der Menschen, der ihnen den Atem raubte und das Gefühl der Sicherheit und Zugehörigkeit zerstörte.

    Mitten in dieser dystopischen Realität steht eine Frau, die in ihren Gedanken die Geschehnisse der vergangenen Jahre reflektiert. Sie erinnert sich an eine Zeit, in der sie als junge Journalistin über die Gefahren eines erstarkenden Nationalismus geschrieben hatte. Damals waren ihre Warnungen noch hypothetisch, ein Versuch, die Gesellschaft zum Nachdenken anzuregen. In ehrlichen Gesprächen mit Freunden hatte sie scherzhaft angedeutet, dass sie sich eines Tages eine Fluchtheimat suchen könnte, falls Deutschland den Bach runterginge. Diese scherzhaften Gedanken, die sie damals in ihren Artikeln thematisierte, sind heute bitterer Ernst.

    Jetzt steht sie hier, umgeben von den Trümmern ihrer einst geliebten Heimat. Die Menschen um sie herum sind gefangen in der Resignation, die Augen voller Trauer und Enttäuschung. Es ist ein Land, das sich von seinen Idealen abgewandt hat und in dem die Sehnsucht nach Sicherheit und Frieden zu einem unerreichbaren Traum geworden ist. Die Frage, die sie sich stellt, ist nicht nur eine persönliche, sondern ein kollektives Dilemma: „Bleiben oder gehen?“

    In stillen Nächten, wenn die Welt um sie herum zur Ruhe kommt, wird der Gedanke an eine Ausreise immer drängender. Wo könnte sie hingehen, wenn Deutschland nicht mehr ihre Heimat ist? Die Suche nach einer neuen Heimat wird zu einer existenziellen Frage. Kann es einen Ort geben, der die Sehnsucht nach Sicherheit stillt? Und wenn ja, ist es nicht zu spät, um zu gehen? Der innere Kampf zwischen dem Bedürfnis, zu bleiben und zu kämpfen, und dem Drang, sich zu retten, wird zu einer ständigen Quelle der Unruhe.

    Trost schöpft die Frau daraus, dass sie weiß, dass sie nicht allein ist. Viele Menschen um sie herum kämpfen mit denselben Fragen, dem gleichen Schmerz und der gleichen Hoffnung auf Veränderung. Doch in einer Welt, die sich so drastisch gewandelt hat, bleibt die entscheidende Frage: Wie kann man eine Zukunft aufbauen, wenn die Gegenwart so düster erscheint? Und vor allem: Wo wird die Fluchtheimat sein, die ihr die Freiheit und den Frieden zurückbringen kann?

    Deutschland, einst ein Land, zu dem die Welt aufschaute. Ein Land, das bewiesen hat, dass Einigkeit, Recht und Freiheit obsiegen, ist heute ein Schatten seiner selbst. Die Höhen, die es erreicht hatte, sind längst vergessen; stattdessen ist es in die Untiefen des Hasses und der Intoleranz abgestürzt. Was bleibt, sind verstummte Stimmen, die all die Jahre zuvor so laut und dringlich gerufen hatten: „Deutschland, wach auf; dir läuft die Zeit davon.“

    Die Erinnerungen an eine glorreiche Vergangenheit verfliegen wie der Herbstwind, während die Realität gnadenlos offenbart, was aus der Hoffnung und dem Idealismus geworden ist. Inmitten dieser Dystopie fragt sich die junge Frau, ob es noch einen Weg zurück gibt, oder ob sie nun nur noch eine weitere verstummte Stimme in der Menge ist, die in den Schatten der Geschichte verloren ging.

     

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  • Abschiebung aus dem Kirchenasyl – wohin führt das?

    In Hamburg wurde jetzt ein afghanischer Geflüchteter aus einer Katholischen Kirche in Hamburg Bergedorf aus dem Schutz der Kirche abgeschoben.  2015 war der junge Afghane nach Schweden geflüchtet und stellte dort einen Asylantrag. Nachdem dieser abgelehnt wurde, kam er im März 2024 nach Hamburg und beantragte erneut Asyl. Das zuständige Bundesamt für Migration (BAMF) lehnte diesen jedoch ab, weil nach europäischem Recht Schweden für sein Verfahren zuständig ist nach der Dublin Verordnung. Daraufhin suchte der Mann Schutz im Kirchenasyl. Sein Antrag wurde erneut vom BAMF geprüft und abgelehnt.

    Der Betroffene leidet unter einer psychischen Erkrankung, für die er in Schweden keine Hilfe findet, da Schweden abgelehnten Asylsuchenden keine Hilfen mehr gewährt, sondern sie in die Obdachlosigkeit entlässt. Zudem wurde er mit der Abschiebung nach Afghanistan bedroht. Nach deutschen Rechtsmaßstäben wäre ihm dagegen höchstwahrscheinlich ein Aufenthaltsrecht gewährt worden. Er wurde nun von Mitarbeitern der Polizei und des BAMF aus dem Kirchenasyl nach Schweden abgeschoben.

    Kirchenasyl ist die zeitlich befristete Aufnahme von Geflüchteten, denen bei Abschiebung unzumutbare Härten drohen. Eine Kirchengemeinde entscheidet eigenständig, ob sie in einem individuellen Fall den Schutz gewährt. Sie kann dabei ein Netzwerk von Beratenden und Unterstützenden in Anspruch nehmen. Der kirchliche Rückhalt für das Kirchenasyl als christlich-humanitäre Menschenrechtsarbeit ist stark.  Das Kirchenasyl hat eine lange Tradition, die bis in die vorchristliche Antike reicht.

    Kirchenasyl hat in Deutschland keine rechtliche Grundlage, sodass Abschiebungen hier grundsätzlich möglich sind. In Deutschland basiert es auf einer informellen Vereinbarung zwischen Staat und Kirchen; Behörden verzichten in der Regel darauf, Personen im Kirchenasyl zwangsweise abzuholen. 1983 wurde es das erste Mal drei palästinensischen Familien in der Heilig-Kreuz-Kirche in Berlin gewährt. Seit 2015 besteht eine Vereinbarung zwischen den Kirchen und dem BAMF zum Umgang mit Kirchenasyl:

    • Kirchengemeinden, die Kirchenasyl gewähren, kontaktieren das BAMF.
    • Sie reichen ein Dossier ein, das die Gründe für das Kirchenasyl darlegen.
    • Das BAMF prüft daraufhin den jeweiligen Fall erneut auf das Vorliegen eines Härtefalls.

    Während des Prüfverfahrens werden in der Regel keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen durchgeführt. Nach einer negativen Mitteilung des BAMF über die erneute Einzelfallprüfung können Abschiebungen durchgeführt werden.

    Die Rolle des BAMF ist somit entscheidend für den Ausgang eines Kirchenasyls, wobei die genaue Handhabung zwischen den Bundesländern variiert.

     

    In jüngster Zeit gehen Behörden verstärkt gegen das Kirchenasyl vor:

    • Seit Sommer 2023 gab es sechs behördliche Stürmungen von Kirchen zur Beendigung des Kirchenasyls – mehr als in den zehn Jahren zuvor.
    • Zwischen Juli 2023 und Juni 2024 wurden sieben versuchte oder vollzogene Räumungen eines Kirchenasyls dokumentiert.

     

    Die Praxis der Abschiebung aus dem Kirchenasyl variiert stark zwischen den Bundesländern:

    • Niedersachsen verzichtet auf Abschiebungen aus dem Kirchenasyl.
    • Berlin sieht grundsätzlich von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen aus einem Kirchenasyl ab.
    • Andere Länder wie Bayern, Baden-Württemberg und Thüringen behalten sich Abschiebungen vor, sobald das BAMF eine Härtefallprüfung negativ beschieden hat.
    • Hamburg hat bisher einmal in 1983 Menschen aus dem Kirchenasyl abgeschoben.

     

    „Der Bruch des Kirchenasyls macht mich sehr betroffen“, sagte der Hamburger Erzbischof Stefan Heße, jede Räumung eines Kirchenasyls bedeutet für alle eine große Belastung. In Hamburg gibt es laut Innenbehörde aktuell 72 Fälle von Kirchenasyl.

    Neu an diesem Hamburger Fall ist nicht die Sichtweise des BAMF: Dass das Bundesamt sich einer Asyl gewährenden Kirchengemeinde nicht anschließt, ist inzwischen der Normalfall.  „2015/16 hat das BAMF noch ungefähr bei 80 Prozent der inhaltlich entschiedenen Härtefälle gesagt: Ja, das sehen wir auch so“, erzählt Dietlind Jochims, Pastorin und Flüchtlingsbeauftragte der evangelischen Nordkirche. Das aber geschehe „inzwischen so gut wie überhaupt nicht mehr“.

    Es bleibt nun abzuwarten, wie sich das Kirchenasyl weiter entwickelt in Deutschland.

     

  • Wer ist sicher mit dem Sicherheitspaket?

    Vor einiger Zeit habe ich einen Bekannten besucht, der damals zu seiner Frau sagte, sie solle nicht via WhatsApp über die Situation in Israel, den Krieg in Gaza, im Libanon und teilweise auch in Syrien reden. Seine Frau spricht auf diesem Weg mit ihrer Familie, die noch in Syrien lebt. Zuerst dachte ich, er habe Angst um die Sicherheit der Familie, da das syrische Regime möglicherweise die Gespräche überwachen könnte. Also habe ich ihn gefragt: „Hast du Angst vor der syrischen Regierung?“ Doch er meinte, nein, er fürchtet sich eher vor der deutschen Regierung.

    Er erklärte, dass er glaubt, die deutsche Regierung überwache das Internet und höre, was sie sagen. Ich habe lange mit ihm darüber gesprochen und meinte, dass die deutsche Regierung so etwas nicht einfach tun könne, da sie dafür eine Genehmigung von einem Gericht bräuchte. Daraufhin zeigte er mir ein Video eines syrischen YouTubers, der behauptete, dass die Überwachung in Deutschland stattfinde.

    Der YouTuber übersetzte deutsche Nachricht ins Arabische und veröffentlichte das Video, das von vielen Syrer*innen, die in Deutschland leben, angesehen wurde. Dieser YouTuber nimmt etablierte Medien als Quellen, aber das Problem ist, mit seiner Übersetzung wird nur die Halbwahrheit gesagt und die Hörer*innen werden verstehen, was sie möchten und nicht, was sie tatsächlich hören.

    Dieser YouTuber sprach über den Vorschlag für das „Sicherheitspaket“, das vor kurzem von der Ampel beschlossen und dann in Teilen im Bundesrat gescheitert ist. Das abgelehnte Gesetz sah vor, dass die Sicherheitsbehörden in bestimmten Fällen biometrische Daten wie Gesichter und Stimmen im Internet abgleichen dürfen. Diese automatisierten Suchen sollten jedoch nur mit einer gerichtlichen Genehmigung erfolgen, die vom Präsidenten des Bundeskriminalamts (BKA) oder dessen Stellvertreter beantragt wird. In dringenden Fällen hätte der BKA-Präsident oder einer seiner drei Stellvertreter die Genehmigung für maximal drei Tage selbst erteilen können.

    Einerseits ist es gut, dass dieses Gesetz gescheitert ist, aber es ist bedauerlich, dass es für die CDU nicht weit genug ging, da sie offenbar noch mehr Kontrolle über Geflüchtete haben möchte. Besonders in Berlin und Bayern, wo Vertreter der CDU und CSU das Gesetz als zu schwach bezeichneten. Der Bundesrat hat jedoch den anderen Teil des „Sicherheitspakets“ verabschiedet.

    Demnach sollen Asylbewerbende, deren Schutzgesuch nach den sogenannten Dublin-Regeln eigentlich in die Zuständigkeit eines anderen EU-Landes fällt, von staatlichen Leistungen ausgeschlossen werden, wenn ihre Ausreise rechtlich und praktisch möglich ist. Ausnahmen sollen gelten, wenn Kinder betroffen sind. Außerdem sollen Messerverbote im öffentlichen Raum ausgeweitet werden. Florian Herrmann, Chef der Bayerischen Staatskanzlei, kritisierte das Gesetz als unzureichend und symbolisch, weil es die irreguläre Migration seiner Meinung nach nicht effektiv bekämpfen würde und das Messerverbot nur symbolische Politik sei.

    Am Ende konnte ich meinen Bekannten überzeugen, dass der deutsche Staat uns als Migrant*innen oder Geflüchtete bisher nicht überwacht. Aber es hat mich viel Kraft und Zeit gekostet.

    Es wird aber deutlich, wie unsere Regierung aus Angst vor der Opposition und aufgrund des Drucks durch Medien wie von der Axel Springer Gruppe sowie im Hinblick auf die Bundestagswahlen im nächsten Jahr konservative Lösungen anbietet, die nur Probleme verursachen, anstatt liberale, progressive und kreative Lösungen zu suchen und umzusetzen.

     

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  • Warum sich Rechtsextreme gerade so sicher fühlen

    Am Sonntagabend kurz nach 18 Uhr saß ich vor dem Fernseher und verfolgte die Ergebnisse der Landtagswahl in Brandenburg. Meine Eltern leben in Brandenburg, ich habe viele Jahre meiner Jugend im Berliner Umland verbracht. Auch wenn ich schon lange nicht mehr dort lebe, kenne ich die Menschen und die Herausforderungen vor Ort. Als klar war, dass die SPD die Mehrheit der Stimmen für sich gewinnen und sich damit gegen die AfD durchsetzen konnte, habe ich kurz aufgeatmet. Aber das hat ehrlich gesagt nicht lange angehalten.

    Ich kenne einige, die bei dieser Wahl aus taktischen Gründen für die SPD gestimmt haben und nicht aus Überzeugung. Eine repräsentative Befragung von infratest dimap zeigt das ganz deutlich: 75 Prozent der SPD-Wählenden stimmt der Aussage zu: „Überzeugt mich zwar nicht, aber ich wähle sie, um eine starke AfD zu verhindern.“ Das hat zur Folge, dass Linke und Grüne nicht im nächsten Parlament vertreten sein werden und die AfD damit eine Sperrminorität erreicht.

    In der „Berliner Runde“ im Ersten diskutierten anschließend die Generalsekretär*innen der Parteien über die Wahlergebnisse. Bernd Baumann von der AfD sagte dort, dass die SPD die Inhalte der AfD aufgegriffen und sich insbesondere die Themen Migration und Asyl zu eigen gemacht habe. Dies zeige, dass die AfD eine bürgerliche Partei sei. Letzterem stimme ich natürlich nicht zu, schließlich gilt der Landesverband als rechtsextremistischer Verdachtsfall, aber die erste Aussage ist leider nicht ganz falsch.

    Die politischen Debatten der letzten Wochen haben mich fassungslos zurückgelassen. In drei Bundesländern konnten Rechtsextreme viele Wähler*innen für sich gewinnen. Und worüber redet die Nation? Über Grenzschließungen, die Abschaffung des Asylrechts und Abschiebungen.

    Die AfD muss gar nicht mitregieren. Ihre Themen, ihre Sprache und ihre Ideologie haben sich bereits erfolgreich in der sogenannten demokratischen Mitte etabliert. Sowohl Politiker*innen als auch Medien übernehmen diese Narrative, statt sich differenziert damit auseinanderzusetzen, was die Menschen auf lokaler und regionaler Ebene tatsächlich brauchen.

    Auf der Wahlparty der AfD feierten Parteimitglieder mit einem Schild, auf dem „Millionenfach abschieben“ stand, und sangen offen vor Journalist*innen ein umgedichtetes Lied mit dem Text „Hey, was geht ab? Wir schieben sie alle ab.“ Das letzte Mal, als solche Deportationspläne in Potsdam propagiert wurden, löste das eine riesige bundesweite Protestwelle aus. Wird sich dieser Aufschrei wiederholen? Die Polizei ermittelt jetzt wegen Volksverhetzung, aber wie geht es weiter?

    Rechtsextreme fühlen sich in Deutschland derzeit sehr sicher. Das haben die verschiedenen Aufmärsche bei den CSDs in Ostdeutschland gezeigt. Es braucht keine Geheimtreffen mehr, wenn extreme Positionen normalisiert werden. Mir graut es ehrlich gesagt vor den nächsten Monaten, wenn der Bundestagswahlkampf richtig Fahrt aufnimmt. Und so geht es auch vielen Menschen mit Migrations- und Fluchtgeschichte, die sich derzeit fragen, ob sie in Zukunft in Deutschland bleiben wollen.

    Es ist höchste Zeit, dass sich die demokratischen Parteien mit ihrer eigenen Themensetzung beschäftigen. Es braucht konkrete Lösungen und eine kritische Auseinandersetzung mit den Gründen, warum die Rechten konstant so erfolgreich sind. Doch dafür müsste man sich ja an die eigene Nase fassen.

     

    PS: Falls du dich fragst, wie Menschen mit Migrations- und Fluchtgeschichte aus Ostdeutschland auf den Aufstieg von migrationsfeindlichen Diskursen blicken, empfehle ich dir unsere aktuelle Printausgabe „SIEHST DU UNS?“.
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  • Wenn die Dämme brechen

    Die aktuelle Migrationsdebatte im Bundestag, insbesondere die scharfen Worte der Grünen-Fraktionsvorsitzenden Katharina Dröge, zeigt auf
    erschreckende Weise, wie tief gespalten und emotional aufgeladen die Diskussion um Migration, Asylpolitik und den Islam mittlerweile ist. Dröge sprach in ihrer Rede von „dem Gift des Islams“, eine Aussage, die selbst mit dem nachträglichen Hinweis, dass sie den Islamismus meinte, tiefsitzende Ängste und Vorurteile gegen Muslime befeuern kann. Was bedeutet es, wenn solch eine Rhetorik, die eine Religion mit Gewalt und Terrorismus gleichsetzt, selbst in den Bundestag Einzug hält?
    Im Zentrum dieser Debatte steht ein tragischer Anlass: der islamistische Terroranschlag in Solingen, bei dem ein ausreisepflichtiger Syrer drei
    Menschen tötete. Dieser schockierende Akt hat die Diskussion über die Gefahren von Extremismus und die Migrationspolitik erneut entflammt. Die Ermordung unschuldiger Bürger durch einen Anhänger des sogenannten Islamischen Staates ist zweifellos verheerend und lässt in der Bevölkerung große Ängste aufkommen. Doch inmitten dieser berechtigten Sorge dürfen wir eines nicht vergessen: Pauschalisierungen sind gefährlich. Sie verstellen den Blick auf die differenzierte Realität, der notwendig ist, um komplexe Probleme zu lösen.

    Der feine Unterschied: Islam vs. Islamismus

    Dass Dröge ihre Aussage nachträglich präzisierte und versuchte klarzustellen, sie habe den Islamismus, nicht den Islam gemeint, ist ein wichtiger Punkt. Doch leider kam diese Differenzierung zu spät. Worte haben Macht, und vor allem in solch angespannten gesellschaftlichen Zeiten, in denen die Debatte um Migration und Sicherheit so polarisiert ist, können sie wie Funken in ein bereits brennbares Umfeld wirken.
    Der Islamismus, eine radikale politische Weltanschauung, die religiöse Sprache instrumentalisiert, um politische Ziele zu erreichen, ist ohne Frage ein massives Problem, das bekämpft werden muss. Doch der Islam an sich ist eine der großen Weltreligionen, die von über 1,9 Milliarden Menschen weltweit praktiziert wird, darunter etwa fünf Millionen in Deutschland. Diese Menschen sind überwiegend friedlich, rechtschaffene Bürger, die sich nichts sehnlicher wünschen als in einem sicheren und stabilen Land zu leben, in dem ihre Religion nicht als Feindbild gilt. Dröges ungenaue Wortwahl spielt jedoch genau solchen Vorurteilen in die Hände, die den Islam und seine Anhänger pauschal mit Gewalt und Extremismus assoziieren.


    Gefahr des Dammbruchs

    Wenn Politiker*innen – und insbesondere diejenigen, die sich traditionell gegen rassistische und diskriminierende Rhetorik stellen – beginnen, eine ganze Religion in der öffentlichen Debatte negativ zu konnotieren, kann dies weitreichende Folgen haben. Die Grenze zwischen der berechtigten Kritik an radikalen Auslegungen des Islam und der Stigmatisierung aller Muslime verschwimmt. Einmal gesagt, ist es schwer, diese Grenze wieder zu ziehen, vor allem in einer Medienlandschaft, die gerne zugespitzte Aussagen aufgreift und vervielfältigt.
    Diese Art von Rhetorik führt nicht nur dazu, dass Muslime pauschal als verdächtig wahrgenommen werden, sondern sie kann auch zu einem
    Dammbruch führen, in dem immer mehr Ressentiments salonfähig werden.
    Was heute noch als Einzelmeinung oder Missverständnis abgetan wird, kann morgen schon in radikaleren Kreisen auf fruchtbaren Boden fallen. Hierin liegt die eigentliche Gefahr: Wenn die Grenzen des Sagbaren erst einmal verschoben sind, kann es schwer sein, die gesellschaftlichen Dämme wieder zu schließen.
    Wir dürfen nicht vergessen, dass der politische Diskurs in Deutschland auf dem Grundgesetz fußt. Artikel 4 garantiert die Religionsfreiheit und schützt die freie Ausübung des Glaubens. Wenn solche grundlegenden Rechte durch stigmatisierende Äußerungen ins Wanken geraten, kann das nicht nur die betroffenen Religionsgemeinschaften isolieren, sondern auch das gesellschaftliche Gefüge in seiner Gesamtheit schwächen.


    Verantwortung in der Politik

    Politiker*innen haben die Verantwortung, ihren Worten mit Bedacht zu wählen, gerade in solch heiklen Zeiten. Sie prägen die öffentliche Meinung und tragen zur Gestaltung des gesellschaftlichen Klimas bei. Eine Rede im Bundestag ist kein Stammtisch, und eine unüberlegte Äußerung hat hier ein anderes Gewicht. Wenn die Grünen als Partei der Vielfalt und Toleranz nicht in der Lage sind, differenziert über den Islamismus zu sprechen, wie können wir dann erwarten, dass weniger gemäßigte Kräfte dies tun?
    Die Migrationsdebatte muss geführt werden, das steht außer Frage. Deutschland steht vor großen Herausforderungen, und es gibt berechtigte Sorgen in der Bevölkerung, die nicht ignoriert werden dürfen. Doch diese Diskussion muss auf Fakten beruhen, nicht auf Angst und Vorurteilen. Wir dürfen nicht zulassen, dass der politische Diskurs in eine Richtung abdriftet, in der Menschen allein aufgrund ihrer Religion oder Herkunft stigmatisiert werden.

    Gesellschaftliche Folgen von politischen Aussagen

    Wenn die Rhetorik des „Gift des Islams“ Einzug in die Mitte der Gesellschaft hält, dann zerbrechen die Dämme, die unser demokratisches
    und pluralistisches Zusammenleben schützen. Ein gesellschaftliches Klima, in dem Misstrauen und Vorurteile gedeihen, führt unweigerlich zu einer Radikalisierung auf beiden Seiten. Muslime in Deutschland, die ohnehin oft unter den Auswirkungen von Islamophobie leiden, könnten sich weiter marginalisiert fühlen und das Vertrauen in den Rechtsstaat verlieren. Dies könnte wiederum extremistische Bewegungen stärken – sowohl islamistische als auch rechte.

    Dringend ist es erforderlich, dass wir als Gesellschaft wachsam bleiben und nicht zulassen, dass die Debatte über Migration und Sicherheit in eine pauschale Verurteilung von Religionsgemeinschaften abdriftet. Es muss uns gelingen, die Probleme zu benennen, ohne dabei den Respekt vor den Menschen zu verlieren, die friedlich und rechtschaffen in diesem Land leben und ihren Glauben ausüben. Nur so kann verhindert werden, dass die Dämme endgültig brechen.

  • Abschiebung – was du wissen musst

    Ich habe Angst, aus Deutschland abgeschoben zu werden. Was kann ich machen? Zunächst muss geprüft werden, ob überhaupt eine Ausreisepflicht besteht. In Deutschland erfolgt eine Abschiebung (zwangsweise Durchsetzung der Ausreisepflicht), wenn eine Person ausreisepflichtig ist. Die Voraussetzungen und der Ablauf einer Abschiebung sind im Aufenthaltsgesetz (AufenthG) geregelt. Zuständig sind die Bundesländer, die jeweils zuständige Ausländerbehörde sowie die Polizei.

    Jemand ist ausreisepflichtig, wenn:

     

    • kein Aufenthaltstitel vorhanden ist.
    • der Aufenthaltstitel erloschen ist (§ 51 AufenthG).
    • der Asylantrag durch das BAMF abgelehnt wurde, weil er unzulässig ist, da ein anderer EU-Staat zuständig ist (Dublin Fall),  oder unbegründet ist, wenn keine Asylgründe vorliegen. Dagegen ist innerhalb einer Woche nach Zustellung des Bescheids Klage beim zuständigen Verwaltungsgericht möglich. Die Klageinreichung allein verhindert nicht die Abschiebung, es muss zusätzlich ein Eilantrag an das Verwaltungsgericht gestellt werden (§ 34a AufenthG). Dieser Eilantrag kann damit begründet werden, dass der Betroffene reiseunfähig ist oder mit Familienangehörigen in Deutschland in familiärer Lebensgemeinschaft lebt. Möglich ist es auch, Gefährdungen im „Dublin-Staat“, wie die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der EU–Grundrechtecharta bzw. von Art. 3 EMRK, „systemische Schwachstellen“ des Asylverfahrens oder die Gefahr der Kettenabschiebung geltend zu machen. Die Überstellung in den anderen EU-Staat muss in einer Frist von 6 Monaten nach Zustimmung des Mitgliedstaates erfolgen. Bei Straf- oder Abschiebehaft beträgt die Frist 12 Monate, bei „Untertauchen“ 18 Monate (Art 29 Abs.2.S.2. Dublin III Verordnung).

    50 % der ausreisepflichtigen Personen sind abgelehnte Asylbewerber*innen.

    Bei der Ausweisung (§ 53ff AufenthG) wird das Aufenthaltsrecht entzogen und in der Regel ein Wiedereinreiseverbot erteilt. Dies ist ein Verwaltungsakt der Ausländerbehörde und richtet sich gegen Ausländer*innen, deren Aufenthalt in Deutschland die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder sonstige erhebliche Belange des Landes beeinträchtigt. Dies gilt bei rechtskräftiger Verurteilung bei bestimmten Straftatbeständen. Mit der Ausweisung erlischt der Aufenthaltstitel.

    Wenn keine Abschiebungsverbote festgestellt werden, wird die betroffene Person zur freiwilligen Ausreise aufgefordert. Gleichzeitig wird im Falle der nicht freiwilligen Ausreise die Abschiebung angedroht (34,35 AsylVfG). Die betroffene Person kann mit Klage und Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung dagegen angehen. Bei einem negativen rechtskräftigen Urteil kommt es zur Abschiebung, wenn die Frist zur Ausreise (ab Rechtskraft) abläuft. Ausländerbehörde und Polizei führen sie durch. Die Kosten trägt der Betroffene (Ausnahme ist eine Dublin Überstellungen), ein Einreise- und Aufenthaltsverbot wird angeordnet.

     

    Ablauf einer Abschiebung

    • Aufforderung vom BAMF, freiwillig auszureisen innerhalb einer Frist (kann auf Antrag verlängert werden)
    • Die Ausländerbehörde stellt nach Fristablauf fest, dass die betroffene Person noch in Deutschland ist und trifft eine Abschiebungsanordnung, die Akten gehen an die Zentrale Abschiebestelle des Bundeslandes
    • Organisatorisches wird erledigt (Flüge gebucht)
    • Ausländerbehörde und Polizei werden über beabsichtigte Abschiebung informiert
    • Durchführung durch Polizei meist frühmorgens ohne vorherige Mitteilung
    • Stempel im Pass „abgeschoben“
    • u.U. Abschiebehaft nach § 62 Abs.3 AufenthG

    Abschiebungsverbote

    Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot wird durch das BAMF festgestellt: 60 Abs.5,7 AufenthG.

    Wortlaut eines BAMF Bescheids:

    „1. Der Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter wird abgelehnt.
    2. Der Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wird abgelehnt.
    3. Der Antrag auf Anerkennung als subsidiär Schutzberechtigter wird abgelehnt.
    4. Das Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 5 oder 7 des Aufenthaltsgesetzes liegt hinsichtlich …….. (Afghanistan, Syrien, o.ä) vor.“

    Die betroffene Person erhält zunächst eine Aufenthaltserlaubnis für 1 Jahr.

    Inlandbezogenes Abschiebungshindernis wird durch die Ausländerbehörde festgestellt: 60a AufenthG

    „Es wird eine Duldung mit Aussetzung der Abschiebung erteilt.“ (Vollstreckungshemmnisse wie Passlosigkeit, fehlende Reisedokumente, mangelnde Transportmöglichkeiten, krankheitsbedingte Reiseunfähigkeit oder fehlende Übernahmebereitschaft des Zielstaates bei Staatenlosen)

    Was kann ich während einer laufenden Abschiebung machen?

    Das ist sehr schwer und man sollte unbedingt einen kundigen Rechtsbeistand hinzuziehen! Gründe, die gegen eine Abschiebung sprechen, können z. B. sein: außergewöhnlich schwierige oder lebensbedrohliche Situation für abzuschiebende Person, Gefährdung im Zielstaat, schwere Erkrankung, lange Trennung der Familie durch Abschiebung.

    Asylfolgeantrag, wenn neue Asylgründe vorliegen: Die Lage im Zielstaat hat sich verändert (z. B. Machtübernahme der Taliban in Afghanistan), eine Entscheidung des BAMF erfolgt in Minuten! Anträge haben keine aufschiebende Wirkung, daher auch Eilrechtsschutz beantragen. Bis der Betroffene den Transitbereich des Flughafens verlässt, ist noch Eilrechtsschutz gegen die laufende Abschiebung möglich.

    Andere Möglichkeiten:

    Härtefallantrag

    Petition

    Öffentlichkeit/Presse einbeziehen

    Auf dieser Seite von „aktion Bleiberecht“ sind Flüge, die zukünftig Abschiebungen durchführen sowie Notfallnummern veröffentlicht.

    An den Flughäfen Hamburg, Frankfurt, Berlin, Köln/Bonn, Düsseldorf und Halle/Leipzig gibt es Abschiebungsbeobachter*innen, die Transparenz in den Abschiebungsprozess bringen und Missstände aufdecken sollen.

    Abschiebungen in Zahlen:

    Im ersten Halbjahr 2024 wurden laut Mediendienst Integration 9.465 Personen aus Deutschland abgeschoben – rund 20 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum 2023. 3.043 Personen wurden im Rahmen der Dublin III Verordnung in ein anderes EU-Land überstellt. 2023 gab es 16.430 Abschiebungen und 5.053 Überstellungen im Rahmen der Dublin-III-Verordnung. Das sind rund 27 Prozent mehr Abschiebungen als 2022.

    Nicht immer werden Asylbewerber*innen, für die ein anderer Mitgliedsstaat zuständig ist, überstellt. 2023 gab es rund 74.600 Übernahmeersuche an andere Mitgliedstaaten – davon wurden drei Viertel von den Erstaufnahme-Staaten angenommen. Überstellt wurden rund 5.000 Personen.

    Im selben Zeitraum haben 4.095 Personen Deutschland über das Bund-Länder-Förderprogramm REAG/GARP freiwillig verlassen. Insgesamt gab es im ersten Halbjahr 2024 rund 15.800 freiwillige Ausreisen von ausreisepflichtigen Personen mit einer „Grenzübertrittbescheinigung“ (10 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum).

    Zurückweisungen an den Grenzen (EuGH rechtswidrig!)

    Im ersten Halbjahr 2024 hat die Bundespolizei etwa 17.000 Personen an den Grenzen zurückgewiesen. Etwa 1.400 Personen wurden zurückgeschoben. Im Gesamtjahr 2023 gab es 34.860 Zurückweisungen an den Grenzen. 4.776 Personen wurden zurückgeschoben.

     

    Es ist deutlich zu sehen und auch politisch gewollt, dass Abschiebungen von Menschen, die kein Aufenthaltsrecht in Deutschland haben, zunehmen. Es gibt immer noch rechtsstaatliche Mittel auch dagegen vorzugehen, aber es ist schwierig.

     

     

     

     

  • Abschiebung von kriminellen Geflüchteten?

    Steffen Hebestreit, Regierungssprecher, teilte zu den Abschiebungen mit: “Es handelte sich hierbei um afghanische Staatsangehörige, die sämtlich verurteilte Straftäter waren, die kein Bleiberecht in Deutschland hatten und gegen die Ausweisungsverfügungen vorlagen.“ Befürworter*innen und Gegner*innen dieser Abschiebungen äußerten sich in Stellungnahmen zu dieser Maßnahme.

     

    Befürworter*innen der Abschiebung

    Die Befürworter*innen der Abschiebung betonen, dass kriminelle Geflüchtete nicht in Deutschland bleiben sollten, und stützen ihre Ansicht auf die deutschen Gesetze. Abschiebungen werden als notwendiger Teil eines funktionierenden Asylsystems gesehen, um zwischen Schutzbedürftigen und nicht Schutzbedürftigen zu unterscheiden. Es wird betont, dass abgelehnte Asylbewerber*innen rechtlich verpflichtet sind, das Land zu verlassen.

    Laut einer aktuellen Umfrage in der deutschen Bevölkerung befürworten 93 % der Befragten Abschiebungen in gewissem Umfang, wobei 52 % für die Rückführung aller abgelehnten Asylbewerber*innen sind. Die Befürworter beziehen sich dabei auf die folgenden Gesetze:

    • Aufenthaltsgesetz (AufenthG): Dieses Gesetz bildet die rechtliche Grundlage für den Aufenthalt von nicht-deutschen Staatsangehörigen in Deutschland. Gemäß §§ 53 Abs. 1, 54 AufenthG kann ein Ausländer abgeschoben werden, wenn er wegen einer Straftat rechtskräftig verurteilt wurde und eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr erhalten hat. Die Befürworter der Abschiebung verweisen dabei auf die speziellen Befugnisse von Richtern und Einwanderungsbehörden gemäß den §§ 53 und 54 AufentG. Sie argumentieren, dass das deutsche Recht den Richtern und Einwanderungsbehörden bei der Entscheidung über Abschiebungen, insbesondere in Fällen schwerer Straftaten, erhebliche Ermessensspielräume einräumt. Die Behörden können auf der Grundlage einer Ermessensentscheidung die Abschiebung eines Ausländers anordnen, wenn sie der Meinung sind, dass die öffentliche Sicherheit oder Ordnung gefährdet ist. Dies gilt u.a. für Personen, die wegen Straftaten wie z.B. Vergewaltigung verurteilt wurden, bei denen ihre weitere Anwesenheit in Deutschland als Bedrohung für die Gesellschaft angesehen werden könnte. Es kann aber auch eine zwingende Ausweisung erfolgen: In schwereren Fällen kann die Abschiebung obligatorisch sein, insbesondere, wenn die Person eine Straftat begangen hat, die die öffentliche Sicherheit unmittelbar gefährdet, oder wiederholt an kriminellen Aktivitäten beteiligt war.
    • Asylgesetz (AsylG): Dieses Gesetz spielt ebenfalls eine Rolle bei Abschiebungen, insbesondere im Umgang mit „Flüchtlingen“ und Asylbewerber*innen. § 60 AsylG beschreibt das Abschiebungsverbot in ein Land, in dem die Person Verfolgung oder unmenschliche Behandlung zu befürchten hat. Allerdings enthält § 60 AsylG auch Ausnahmen von dieser Regel, die auf internationalen Verpflichtungen (einschließlich der Europäischen Menschenrechtskonvention, EMRK) beruhen, die Deutschland vor einer Abschiebung berücksichtigen muss. Dieser Abschnitt ermöglicht Abschiebungen auch dann, wenn ein allgemeines Verbot besteht, sofern die Anwesenheit der Person in Deutschland als erhebliche Bedrohung für die öffentliche Sicherheit angesehen wird.
    • Strafgesetzbuch (StGB): Obwohl das StGB sich nicht direkt mit Abschiebungen befasst, führen rechtskräftige Verurteilungen nach diesem Gesetz oft auch zu Abschiebungsverfahren nach dem Aufenthaltsgesetz. Schwere Straftaten, einschließlich Vergewaltigung, können zu rechtlichen Verfahren führen, die möglicherweise mit einer von den Einwanderungsbehörden oder Gerichten angeordneten Abschiebung enden.

     

    Gegner*innen der Abschiebung

    Die Gegner*innen der Abschiebung, darunter Organisationen wie ProAsyl und Amnesty International, zusammen mit anderen Menschenrechtsgruppen und Rechtsexpert*innen, haben erhebliche rechtliche und ethische Bedenken hinsichtlich der Abschiebung afghanischer Geflüchtete aus Deutschland geäußert, insbesondere unter den aktuellen Bedingungen in Afghanistan. Ihre Argumentation konzentriert sich auf mehrere zentrale rechtliche Punkte:

    • Verstoß gegen das Non-Refoulement-Prinzip
    • Völkerrecht und Non-Refoulement: Ein zentrales rechtliches Argument gegen die Abschiebungen ist, dass diese das Non-Refoulement-Prinzip verletzen, das sowohl im Völkerrecht als auch im europäischen Recht verankert ist. Artikel 33 der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 und Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verbieten die Rückführung von Personen in ein Land, in dem ihnen eine reale Gefahr von Verfolgung, Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung droht. Diese Organisationen argumentieren, dass die Abschiebung von Personen nach Afghanistan, angesichts der anhaltenden Gewalt, Instabilität und Menschenrechtsverletzungen, einschließlich Folter, willkürlicher Inhaftierungen und außergerichtlicher Tötungen direkt gegen dieses Prinzip verstößt.
    • Grundgesetz: Artikel 1 des Grundgesetzes schützt die Menschenwürde, und Artikel 16a garantiert das Recht auf Asyl für diejenigen, die aus politischen Gründen verfolgt werden. ProAsyl und Amnesty International argumentieren, dass die Abschiebung von Personen nach Afghanistan, wo sie wahrscheinlich ernsthaften Bedrohungen für ihr Leben und Wohlergehen ausgesetzt sind, mit diesen verfassungsrechtlichen Schutzbestimmungen unvereinbar ist. Sie behaupten, dass solche Abschiebungen die Verpflichtung der deutschen Regierung, die Menschenwürde zu schützen und Asylsuchenden Schutz zu bieten, untergräbt.
    • Verletzung der Menschenrechte in Afghanistan: Viele internationale Beobachter*innen, darunter die Vereinten Nationen und andere Menschenrechtsorganisationen, betrachten Afghanistan aufgrund anhaltender bewaffneter Konflikte, weit verbreiteter Gewalt und schwerer Menschenrechtsverletzungen als äußerst unsicher. ProAsyl und Amnesty International argumentieren, dass die Abschiebung von Personen in ein solches Umfeld nicht nur unverantwortlich, sondern nach deutschem und internationalem Recht illegal ist. Sie heben die Risiken von Verfolgung, gezielten Tötungen und dem mangelnden Zugang zu menschlichen Grundbedürfnissen wie Nahrung, Unterkunft und medizinischer Versorgung für abgeschobene Personen hervor.
    • Besondere Verwundbarkeiten: Diese Organisationen betonen auch das erhöhte Risiko für bestimmte Gruppen, wie Frauen, Kinder und ethnische oder religiöse Minderheiten, die unter dem Taliban-Regime besonders gefährdet sind. Sie argumentieren, dass die Abschiebung dieser Personen sie erheblichem Schaden aussetzt und möglicherweise zu einer Verletzung ihrer grundlegenden Rechte führt.
    • Unzureichende individuelle Risikobewertung: Kritiker*innen der Abschiebungen argumentieren, dass im Abschiebungsverfahren oft die individuellen Umstände der Betroffenen, wie persönliche Verfolgungserfahrungen, familiäre Beziehungen in Deutschland oder spezifische gesundheitliche Bedingungen nicht ausreichend berücksichtigt werden. Dies könnte zu einer Verletzung ihrer Rechte nach dem Grundgesetz und der Europäischen Menschenrechtskonvention führen. Das Fehlen einer gründlichen und individuellen Risikobewertung wird als ein wesentlicher rechtlicher Mangel in den Abschiebeentscheidungen angesehen. Menschenrechtsorganisationen haben auch Bedenken geäußert, dass die gerichtliche Überprüfung von individuellen Abschiebeentscheidungen möglicherweise nicht ausreichend gründlich ist, um die Einhaltung der rechtlichen Standards zu gewährleisten. Sie argumentieren auch, dass Richter*innen und Einwanderungsbehörden keinen vollständigen Zugang zu den Entwicklungen in Afghanistan haben und dass dies durch das Fehlen offizieller Verbindungen der deutschen Regierung zur Taliban-Regierung, die in diesem Land an der Macht ist, verschärft wird. Dies könnte dazu führen, dass Entscheidungen getroffen werden, die nicht mit den rechtlichen Verpflichtungen Deutschlands übereinstimmen.

    Über die rechtlichen Argumente hinaus führen diese Organisationen aber auch ethische Überlegungen an und argumentieren, dass Deutschland als demokratisches Land, das sich den Menschenrechten verpflichtet fühlt, eine moralische Verpflichtung hat, Menschen zu schützen, die vor Verfolgung und Gewalt fliehen. Sie betonen, dass die Abschiebung von Personen in ein vom Krieg zerrüttetes Land wie Afghanistan im Widerspruch zu den Werten steht, die dem deutschen Rechtssystem und den internationalen Menschenrechtsnormen zugrunde liegen. Es sei darauf hingewiesen, dass die Taliban in den jüngsten Entwicklungen in Richtung religiöser Radikalisierung letzte Woche ein Gesetz angekündigt haben, in dem die Stimme der Frauen als „Awrat“ anerkannt wird (das heißt, eine Frau darf mit niemandem außer ihren Familienmitgliedern sprechen). In einem anderen Absatz heißt es außerdem, dass das Haus einer Person in Brand gesteckt wird, wenn sie nicht in der Moschee betet.

    Im Ergebnis müsste noch das Bundesverwaltungsgericht feststellen, ob die Abschiebungen in Länder wie Afghanistan oder Syrien überhaupt rechtlich möglich sind. Bei den Abschiebungen nach Afghanistan sind sich die Oberverwaltungsgerichte derzeit noch uneins.

  • Landtagswahlen in Ostdeutschland: Was wäre wenn?

    Die Wahlen in den drei ostdeutschen Bundesländern sind die ersten, bei denen die Möglichkeit besteht, dass die AfD sie gewinnt. In Sachsen und Thüringen wurde am 1. September gewählt, in Brandenburg am 22. September. In den Umfragen der letzten Wochen liegt die AfD in allen drei Bundesländern auf Platz eins. Dabei muss man allerdings beachten, dass diese Daten häufig nicht repräsentativ sind. Ein Beispiel: INSA erhebt seine Daten teilweise online, die AfD schneidet dabei besonders gut ab. Auch wird immer wieder kritisiert, dass es eine ideologische Nähe zwischen INSA und der AfD gebe, wie zuletzt der Volksverpetzer berichtete

    Jetzt ist klar: Die AfD erzielt Erfolge – und das, obwohl sie in Sachsen und Thüringen als gesichert rechtsextrem und in Brandenburg als rechtsextremistischer Verdachtsfall gilt.


    Auszug aus dem Wahlprogramm der AfD-Sachsen 2024

    Im sächsischen Wahlprogramm der AfD wird ersichtlich, dass mit einem Framing der Angst gearbeitet, wird. Somit wird bei Menschen bewusst Angst geschürt, die Äußerungen von Politiker*innen blind vertrauen. So heißt es beispielsweise: „Die unkontrollierte Massenzuwanderung ist eine Gefahr für den sozialen Frieden in unserem Land, für unsere kulturelle Identität und unsere christlich-abendländische Werteordnung geworden. Wir wenden uns gegen die schleichende Etablierung islamischer Strukturen, in denen die Scharia gepredigt und parallel zu unserem Rechtssystem etabliert wird, und jede Form migrantischer Parallelgesellschaften.“

    Damit werden völkische und rassistische Narrative bedient. Im Wahlprogramm steht auch, dass die Partei Kindern und Jugendlichen mit geringer Bleibeperspektive den Zugang zum regulären Schulsystem verwehren will. Der Begriff der „Remigration“, welcher aus dem geheimen Treffen von Rechtsextremen in Potsdam an die Öffentlichkeit gelangte, taucht ebenfalls im Wahlprogramm der AfD Sachsen auf.

     

    Auszug aus dem Wahlprogramm der AfD-Thüringen 2024

    Ähnlich liest sich das Wahlprogramm der AfD in Thüringen, wo von einer “Einwanderungskrise” die Rede ist. Während zwar korrekte Zahlen über die Zuwanderung genannt werden, bleibt der Kontext unerwähnt. Am 24. Februar 2022 wurde die Ukraine von Russland angegriffen und seitdem herrscht dort Krieg. In diesem Jahr kamen über eine Million Menschen aus der Ukraine. In seriösen Statistiken wird die Nettozuwanderung berechnet, das bedeutet, dass die Fortzüge ebenfalls mit aufgeführt werden, damit handelt es sich um 1,2 Mio. Personen, die Deutschland verlassen haben. Zu den Zuwanderungen werden auch Menschen mitgezählt, die aus anderen EU-Ländern in unser Land einreisen, um hier beispielsweise zu arbeiten.  Da die AfD in erster Linie Propaganda gegen Asylsuchende macht, lässt sie diese Fakten jedoch bewusst aus.

     

    Was wäre wenn?

    Was wäre, wenn die AfD in allen drei Bundesländern stärkste Kraft wird, wie es in den Umfragen der Fall ist? Es ist nicht zu erwarten, dass die Partei überall die absolute Mehrheit erreichen wird, nur dann könnte sie allein ohne Koalitionspartner regieren. Bisher hat sich keine Partei dazu bereit erklärt, mit der AfD zu koalieren.

    Viele Änderungen, die die AfD in ihrem Programm propagiert, kann sie aber auf Landesebene gar nicht umsetzen. Die AfD Sachsen möchte, dass Abschiebungen konsequent durchgeführt werden und will es mit Nachdruck auf der Bundesebene einfordern und auch auf Landesebene hierzu alles Zweckdienliche unternehmen. Für Abschiebungen ist jedoch allein die Bundesebene zuständig, die sich wiederum an den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention orientieren muss. Wo sie es kann, wird sie das Leben der Geflüchteten erschweren, doch in vielen Bereichen gibt es noch andere Institutionen, die einer Landesregierung vorgeschaltet sind.


    Zivilgesellschaft stärken

    Entscheidend ist allerdings, wie zivilgesellschaftliche Strukturen weiter gefördert und unterstützt werden. Es gibt viele Menschen in Sachsen und anderen ostdeutschen Bundesländern, die sich für Asylsuchende einsetzen. So zum Beispiel der Sächsische Flüchtlingsrat e. V. (SFR), der 1991 gegründet wurde. Der Flüchtlingsrat berät geflüchtete Menschen zu allen Fragen, die mit ihrem Asylverfahren zu tun haben. Der SFR ist konfessionell ungebunden und überparteilich, er ist Teil der Bundesarbeitsgemeinschaft PRO ASYL.

    In Thüringen gibt es die Beauftragte für Integration, Migration und Flüchtlinge (BIMF). Sie hat im Schulterschluss mit Brandenburg unter dem Titel „menschlich bleiben“ zu einer sachlichen Migrationsdebatte aufgerufen. 

     

  • Two pages of a book: From Afghanistan to Germany

    Sunday, August 15, 2021 — Kabul, Afghanistan

    I slept for almost an hour. I looked at the clock; it was almost 5 in the morning. The police forces, which are normally equipped with light weapons, have lost their ability to resist the Taliban, who, by capturing the army bases, now possess heavy weapons, bulletproof vehicles, and are equipped with tanks and Humvees.

    The supply system is completely paralyzed, and it is not even possible to supply bread and water for the police. Despite the many years of talks between the officials of the Ministry of Interior and NATO to localize the supply and logistics system of the Ministry, our strategic partners have not agreed and have emphasized adapting the system experienced in America and Europe with a focus on the private sector. All the needs of the Afghan police, from weapons to nutrition, are provided by private companies, all of which have fled in recent weeks due to the increasing insecurity. The police now have no ammunition, their salaries have not been paid, and they don’t even have bread or water.

    „Reports from the Kabul city level indicate widespread disorder and confusion“

    The Taliban have reached the neighboring provinces of Kabul. The special procedure for situations like this will be activated in the office of the Minister of Interior, and the Minister of Interior will directly take the leadership of the war in the provinces of Kapisa, Nangarhar, Maidan Wardak, Laghman, and Logar.

    It is around 10 o’clock in the morning. Our contact with the leadership of the Ministry of Defense and the General Directorate of National Security has been disrupted. Reports from the Kabul city level indicate widespread disorder and confusion. It is decided that to prevent disorder in the city of Kabul, the police special forces will enter the police stations and be stationed in strategic points of the city, including diplomatic quarters.

    Reports from the NATO coordination office indicate that five thousand fresh American troops will arrive in Kabul by evening, and will create a buffer line between the government forces and the Taliban within a radius of 200 to 250 kilometers from Kabul to prevent the fall of the city. There have been direct clashes with Taliban forces in several places around Kabul.

    It’s about 11:15. The president’s secretary calls me as a chief of staff and says the president wants to talk to the interior minister. They talk for about 5 minutes. The president wants order to be maintained in Kabul.

    The minister returns to the leadership of the ministry, and he decides to declare martial law from this evening so that the security forces can identify the enemy and prevent disorder in the city.

    I call a family friend and ask him to take my wife and two children to their house. Reports from the NATO coordination office state that the commander of the American forces said that they have been informed to focus only on the transfer of diplomats to the airfield, and we cannot count on their support.

    „Reports state that the president and the national security adviser have left the country“

    It is reported that black smoke is rising from the headquarters of the US embassy in Kabul. We contacted the security unit of the diplomatic centers. They say that the US embassy is being evacuated, and they are burning documents and some embassy equipment.

    At 1:22 PM, reports state that the president and the national security adviser have left the country, the first vice president is missing, and the second vice president has gone to Kabul airport to leave the country.

    The hierarchy of command has been destroyed in the absence of the president and his deputies. There is no ammunition, and the national and military institutions have collapsed.

    At once, the last two decades’ flash in my mind, from all the efforts we have made to bring change in Afghanistan, wherever my generation and I have worked days and nights for change. I have lost dozens of my colleagues who were martyred in terrorist attacks, including my driver who was martyred, and when I entered their house, his family said that his wife had also died by suicide in his absence …

    Four hours later, two decades of progress crumbled.

     

    Tuesday, July 2, 2024- Barmstedt, Germany

    It has been 22 months since I arrived in Germany. On my first day here, at the age of 37, it felt as if the clock of my life was reset to zero, and I had to start learning to speak again like a child.

    Today, I am a part of two interconnected societies. My journey began by studying the principles of German foreign policy on the “refugee crisis,” which emphasized addressing crises at their origin to prevent the creation of refugees.

    Together with some friends, I established the “Afghanistan New Generation Experts Network”, bringing together hundreds of Afghan experts from around the world to transform Afghanistan’s future. This network aims to convey and share facts with the Afghan audience. We have now established the “Afghanistan Watch” news agency, which focuses on the situation in Afghanistan and strives to maintain freedom of expression and access to facts for the Afghan audience.

    We also initiated the “European Diversity Newsroom”, where the voices of refugees, the stateless, and the undocumented are integrated to influence policymaking in Europe.

    A month ago, alongside other Afghan organizations in Europe, we founded the Network of Civil Organizations for the Future of Afghanistan in Geneva, Switzerland. Here, Afghan girls and boys collaborate and strategize to shape the future of our country.

    „Togetherness is always preferable to confrontation“

    Humanity has always aspired to travel in pursuit of better living conditions, with the Earth as our shared home. Political borders should not hinder our mutual understanding and coexistence. Just as goods and ideas flow across the globe, fostering our survival and development, we must embrace positive human exchanges. Togetherness is always preferable to confrontation.

    I will forever be indebted to the German government and its people for saving my life and that of my family. I hope that the policy of protecting those at risk, rooted in human rights values, continues to garner widespread support in this country. Investing in border restrictions does not yield positive or lasting results; we must invest in creating a better life for all on this planet.

     

     

  • Zwei Seiten eines Buches: von Afghanistan nach Deutschland

     

     Sonntag, 15. August 2021 – Kabul, Afghanistan

    Ich habe fast eine Stunde geschlafen. Ich schaute auf die Uhr; es war fast 5 Uhr morgens. Die Polizeikräfte, die normalerweise mit leichten Waffen ausgestattet sind, haben ihre Widerstandsfähigkeit gegenüber den Taliban verloren, die durch die Eroberung der Armeebasen nun über schwere Waffen, gepanzerte Fahrzeuge und Panzer verfügen.

    Das Versorgungssystem ist komplett gelähmt, und es ist nicht einmal möglich, Brot und Wasser für die Polizei zu besorgen. Trotz der vielen Jahre der Gespräche zwischen den Beamten des Innenministeriums und der NATO, um das Versorgungs- und Logistiksystem des Ministeriums zu lokalisieren, haben unsere strategischen Partner nicht zugestimmt und haben darauf bestanden, das in Amerika und Europa erprobte System mit Fokus auf den Privatsektor anzupassen. Alle Bedürfnisse der afghanischen Polizei, von Waffen bis hin zur Ernährung, werden von Privatunternehmen bereitgestellt, die in den letzten Wochen aufgrund der zunehmenden Unsicherheit alle geflohen sind. Die Polizei hat jetzt keine Munition mehr, ihre Gehälter wurden nicht bezahlt, und sie haben nicht einmal Brot oder Wasser.

    Die Taliban haben die Nachbarprovinzen von Kabul erreicht. Das spezielle Verfahren für Situationen wie diese wird im Büro des Innenministers aktiviert, und der Innenminister übernimmt direkt die Führung des Krieges in den Provinzen Kapisa, Nangarhar, Maidan Wardak, Laghman und Logar.

    „Berichte aus der Stadt Kabul weisen auf weit verbreitete Unordnung und Verwirrung hin“

    Es ist gegen 10 Uhr morgens. Unser Kontakt zur Führung des Verteidigungsministeriums und der Generaldirektion für Nationale Sicherheit wurde unterbrochen. Berichte aus der Stadt Kabul weisen auf weit verbreitete Unordnung und Verwirrung hin. Es wird beschlossen, dass zur Verhinderung von Unruhen in Kabul die Spezialeinheiten der Polizei die Polizeiwachen betreten und an strategischen Punkten der Stadt, einschließlich der diplomatischen Viertel, stationiert werden.

    Berichte vom NATO-Koordinationsbüro deuten darauf hin, dass bis zum Abend fünftausend frische amerikanische Truppen in Kabul eintreffen und eine Pufferzone zwischen den Regierungstruppen und den Taliban in einem Radius von 200 bis 250 Kilometern um Kabul schaffen werden, um den Fall der Stadt zu verhindern. Es gibt an mehreren Orten rund um Kabul direkte Zusammenstöße mit Taliban-Kräften.

    Es ist etwa 11:15 Uhr. Der Sekretär des Präsidenten ruft mich als Stabschef an und sagt, der Präsident wolle mit dem Innenminister sprechen. Sie sprechen etwa 5 Minuten. Der Präsident will, dass in Kabul Ordnung herrscht.

    Der Minister kehrt zur Führung des Ministeriums zurück und beschließt, ab diesem Abend das Kriegsrecht zu erklären, damit die Sicherheitskräfte den Feind identifizieren und Unruhen in der Stadt verhindern können.

    Ich rufe einen Familienfreund an und bitte ihn, meine Frau und meine beiden Kinder zu sich nach Hause zu bringen. Berichte vom NATO-Koordinationsbüro besagen, dass der Befehlshaber der amerikanischen Streitkräfte erklärt hat, dass ihnen mitgeteilt wurde, sich nur auf den Transfer von Diplomaten zum Flugplatz zu konzentrieren, und wir können nicht auf ihre Unterstützung zählen.

    Es wird berichtet, dass schwarzer Rauch aus dem Hauptquartier der US-Botschaft in Kabul aufsteigt. Wir haben die Sicherheitseinheit der diplomatischen Zentren kontaktiert. Sie sagen, dass die US-Botschaft evakuiert wird und sie Dokumente und einige Botschaftsausrüstungen verbrennen.

    „Es gibt keine Munition, und die nationalen und militärischen Institutionen sind zusammengebrochen“

    Um 13:22 Uhr wird berichtet, dass der Präsident und der nationale Sicherheitsberater das Land verlassen haben, der erste Vizepräsident vermisst wird und der zweite Vizepräsident zum Flughafen von Kabul gefahren ist, um das Land zu verlassen.

    Die Befehlshierarchie wurde in Abwesenheit des Präsidenten und seiner Stellvertreter zerstört. Es gibt keine Munition, und die nationalen und militärischen Institutionen sind zusammengebrochen.

    Auf einmal blitzen die letzten zwei Jahrzehnte in meinem Kopf auf, von all den Bemühungen, die wir unternommen haben, um Veränderungen in Afghanistan herbeizuführen, wo auch immer meine Generation und ich Tag und Nacht für den Wandel gearbeitet haben. Ich habe Dutzende meiner Kollegen verloren, die bei Terroranschlägen ermordet wurden, darunter mein Fahrer, und als ich sein Haus betrat, sagte seine Familie, dass seine Frau in seiner Abwesenheit durch Suizid gestorben wäre …

    Vier Stunden später brachen zwei Jahrzehnte Fortschritt zusammen.

     

    Dienstag, 2. Juli 2024 – Barmstedt, Deutschland

    Es sind 22 Monate vergangen, seit ich in Deutschland angekommen bin. An meinem ersten Tag hier, im Alter von 37 Jahren, fühlte es sich an, als wäre die Uhr meines Lebens auf null zurückgesetzt worden, und ich musste wieder lernen zu sprechen, wie ein Kind.

    Heute bin ich Teil von zwei miteinander verbundenen Gesellschaften. Meine Reise begann damit, die Prinzipien der deutschen Außenpolitik zur „Flüchtlingskrise“ zu studieren, die betonen, Krisen an ihrem Ursprung anzugehen, um die Entstehung von Geflüchteten zu verhindern.

    Zusammen mit einigen Freunden habe ich das „Afghanistan New Generation Experts Network“ gegründet, das Hunderte afghanische Experten aus der ganzen Welt vereint, um die Zukunft Afghanistans zu gestalten. Dieses Netzwerk zielt darauf ab, Fakten an das afghanische Publikum zu vermitteln und zu teilen. Wir haben nun die Nachrichtenagentur „Afghanistan Watch“ gegründet, die sich auf die Situation in Afghanistan konzentriert und sich bemüht, die Meinungsfreiheit und den Zugang zu Fakten für das afghanische Publikum aufrechtzuerhalten.

    Wir haben auch den „European Diversity Newsroom“ initiiert, wo die Stimmen von Geflüchteten, Staatenlosen und Undokumentierten integriert werden, um die Politikgestaltung in Europa zu beeinflussen.

    „Gemeinsamkeit ist immer der Konfrontation vorzuziehen“

    Vor einem Monat haben wir zusammen mit anderen afghanischen Organisationen in Europa das Netzwerk der zivilen Organisationen für die Zukunft Afghanistans in Genf, Schweiz, gegründet. Hier arbeiten afghanische Mädchen und Jungen zusammen und entwickeln Strategien, um die Zukunft unseres Landes zu gestalten.

    Die Menschheit hat immer hoffnungsvoll nach besseren Lebensbedingungen gestrebt, wobei die Erde unser gemeinsames Zuhause ist. Politische Grenzen sollten unser gegenseitiges Verständnis und Zusammenleben nicht behindern. Genau wie Waren und Ideen um die Welt reisen, was unser Überleben und unsere Entwicklung fördert, müssen wir positive menschliche Austauschbeziehungen begrüßen. Gemeinsamkeit ist immer der Konfrontation vorzuziehen.

    Ich werde der deutschen Regierung und ihrem Volk für immer dankbar sein, dass sie mein Leben und das meiner Familie gerettet haben. Ich hoffe, dass die Politik des Schutzes gefährdeter Personen, die auf den Werten der Menschenrechte basiert, in diesem Land weiterhin breite Unterstützung findet. Investitionen in die Grenzsicherung führen nicht zu positiven oder dauerhaften Ergebnissen; wir müssen in eine bessere Lebensqualität für alle auf diesem Planeten investieren.

     

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