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  • Expressionismus = Reformation

    Schließe kurz deine Augen. Wie sehen für dich LatinX Menschen aus? Wie reden sie untereinander? Wo leben sie und wie? Was ziehen sie an? Was machen sie aus? 

    Vor kurzem hatte ich Besuch von meiner besten Freundin Hanna. Zum ersten Mal zeigte ich jemanden aus meinem Freundeskreis mein Leben in Chile und zum ersten Mal stellte ich meiner chilenischen Familie jemanden aus meinen Leben in Berlin vor. Eine Besonderheit, die bestimmt lange eine bleiben wird. Denn ich könnte nicht jeden zu mir nach Chile einladen, solange ich mir nicht sicher bin, dass die eingeladene Person eine bestimmte Sensibilität und Toleranz zu meinem zweiten Heimatland, meinem Zuhause hat, und angemessen interagieren kann. Ich musste nämlich schon Erfahrungen mit europäischen Besuchern machen, die sich einfach „cringe“ und unangenehm verhalten haben.

    Als mein Vater mit seinen deutschen Arbeitskolleg*innen wegen eines Projekts nach Chile reiste, kamen uns banale Kommentare über das Essen bis hin zu Lebensweise entgegen.  Als eine Kollegin mitteilte „seitdem ich hier in Südamerika bin, liebe ich es zu teilen“, konnten mein Papa und ich kaum unser Lachen verkneifen. Hoffentlich werden meine Bedenken nach dieser kurzen Anekdote verstanden. Ein Besuch ist eine geteilte Erfahrung. Den Gastgebern wird sehr viel Repräsentation und Reiseerfahrung verantwortet. Eine Verantwortung, die ich gerne bewusst und ausgesucht tragen möchte. Denn durch mich bildet sich mein Besuch eine Meinung über Chile, über Südamerika.

    Durch meinen Besuch erfahre ich mehr über ihre Sicht auf die Welt, Chile, Südamerika und letztendlich auf mich

    Hanna und ich teilten uns diese Erfahrung. Ein Jahr zuvor besuchte ich sie in ihrer zweiten Heimat Äthiopien und jetzt war sie dran. Zusammen reisten wir durch Chile und Peru. In Chile lernte sie die Hauptstadt Santiago de Chile, die Küstenregion Valparaiso und den Norden – die Küstenperlen Arica, Iquique und Wüstenoase San Pedro Atacama – kennen. Unsere Reise in Peru war sehr aktiv: Wir wanderten durch den Dschungel zum Machu Picchu und balancierten am Ufer des Titicaca – Sees in sehr dünner Luft bei 3.812 Metern über dem Meeresspiegel.

    In einem Monat erlebten wir nicht nur die diversen Naturphänomene, sondern auch Sprachen, wie Quechua, Ckunza und Dialekte des Spanischen, sowie die Kulturreichweite der regionalen indigenen Bevölkerung und ihre Geschichte.

    Schnell erkannten wir, welche Gemeinsamkeit diese verschiedenen Orte miteinander teilten: den Drang zur Kommunikation durch Kunst

    Auf den Straßenwänden und auf ihrer Kleidung wurden kontinuierlich Identität, Ideologie, Sorge und Wünsche visualisiert. Dadurch lernten wir die bestimmten Standorte in Ihrer Vielfalt kennen. Wir verstanden ihre DNA. Woraus formt sich Cusco? Was pulsiert in Santiago? Welche Sprache spricht Valparaiso? Wir konnten es deutlich sehen.

    „Los Europeos hacen cosas lindas con mucho, los Latinos hacen cosas lindas con poco“, erklärt mir mein Kumpel Stick.

    Tätowierer, Musiker, Fashion- und 3D-Designer, Video-Direktor, Stylist und Juwelier? Ein wandelbarer Künstler mit stabilem Ruf in Santiagos Künstler*innen Szene. Stick hört nicht auf, neue Expressionen zu finden und darauf ist er stolz. „Eres Latina!“, schreit er mir ins Gesicht und ich verstehe, was er meint.

    Expressionismus ist unsere Sprache. Unsere Geschichte ist von Unterdrückung, Raub und Schweigen geprägt, unsere Generation bricht es bewusst und unbewusst. Es scheint so, als ob diese Notwendigkeit zum Ausdruck generationsübergreifend vererbt wurde, weil es unsere Vorfahren es nicht konnten. Wenn sie nicht wahrgenommen wird, ändert sich nichts.

    Der Mangel an Ressourcen hält uns nicht auf, sondern macht uns kreativer. Es ist kein Zufall, dass die musikalische und politische Bewegung Las Tesis in Chile entstanden ist. Hier entdeckt man eine Fundgrube an Kollektiven, Musiker*innen, Schriftsteller*innen, Kunstmacher*innen und scharrt, schöpft und transformiert Raum. Ihr geteilter Frust vereint sie, auch wenn ihre Kunst sehr unterschiedliche Endprodukte erzeugen. Während neue Musikgenres produziert werden, sind altes Busse Inspiration für Korsetts. Möchte ich vergleichen? Nein, aber ich kann es nicht vermeiden: Hier wirken die Menschen viel gewagter. Und es steckt mich an.

  • Festival Identidades – die Erinnerung umarmen

    Mir wurde gesagt: Das Tor der Sonne liegt im Norden Chiles. In einer Region, die nicht immer Teil Chiles war, sondern Boliviens. Antofagasta. Die Stadt formt für eine Vielfalt von Menschen ein Zuhause: den indigenen Bevölkerungen, wie den Aymara, Migrant*innen aus Peru und Bolivien und der sich selbst identifizierenden Chilen*innen. Die fremde Nähe gibt mir ein unerwartetes Gefühl von Zugehörigkeit. Ich aus Berlin, chilenische Migrantin zweiter Generation, auf einmal mitten in der trockensten Wüste der Welt. Erschreckend stelle ich fest, wie stark die Spuren des Kolonialismus der Engländer und Spanier deutlich in den Straßen zu erkennen sind und Ungleichheit die Stadt beherrscht. Da Antofagasta besonders für die Produktion von Kupfer und Lithiumcarbonat gekennzeichnet ist, findet der Großteil ihrer Bevölkerung Arbeit in den Mienen. Sie gehören dadurch zu den niedrigst gestellten sozioökonomischen Einwohner*innen Chiles. Kunst ist an diesem Ort Zuflucht.

    Das „Festival Identidades“ strebt danach, die Erinnerung zu bewahren und einen Raum für die regionale Gemeinschaft zu erschaffen, in dem sie Kultur genießen kann. Der Schmerz der Postdiktatur prägte das Programm der neunten Ausgabe des Festivals, das in „Las Ruinas de Huanchaca“ stattfand. Eine besondere Eigenschaft des Festivals ist die Anerkennung und Einbeziehung indigener Traditionen und Künstler*innen, was in Chile eine Rarität darstellt, da die eurozentrische Darstellung oft als Leitkultur betrachtet wird. Das Festival möchte die Erinnerung bewahren und einen Raum für die regionale Gemeinschaft erschaffen, in denen sie Kultur genießen können. Der Schmerz der Militärdiktatur Pinochets prägt das Programm der neunten Ausgabe.

    Trueque – Geben und Nehmen

    Dies möchte die Produktion unter der Leitung von Alejandra Rojas Pinto aktiv ändern. Selbst in Antofagasta aufgewachsen, wurde ihr früh bewusst, welche Bedeutung die lokalen Einflüsse für das Festival haben. Durch das Prinzip des Gebens und Nehmens wird im Rahmen des Mapuche-Synonyms Trueque ein kultureller Austausch zwischen eingeladenen und regionalen Künstlerinnen ermöglicht. In der einst englischen, deutschen Salpeterregion Chacabuco durfte ich erleben, wie Künstler*innen des Theaters Teatro Huellas, mit dem argentinischen Tanzkollektiv Noestango interagierten. Ckuris, Seelen des Windes, vollendeten eine Reinigungszeremonie mit Andeninstrumenten, Blumen und der Heilpflanze Ruda, bevor Noestango den Trueque mit einem stummen Tanz im Staub der Ruinen der ehemaligen Wohnsiedlungen der Salpeterarbeiter und des späteren Internierungslagers für Gegner der Militärdiktatur Pinochets, weiterführte. Seitdem brennen mir die Wörter Rojas im Kopf: „Die Wüste birgt viele Erinnerungen.“

    Als ich die Pampinas kennenlernen durfte, erinnerte ich mich sofort an meine abuelita, meine Großmutter. Am Strand La Rinconada traf ich auf zehn Frauen unterschiedlicher Altersgruppen beim Nähen und Besticken von bunten, glitzernden Stoffen – eine Tätigkeit, die meiner Mamá seit Generationen weitergegeben wurde. „Wenn wir uns treffen, haben wir Zeit, Ruhe zu finden. Unsere Werkstätten haben was ganz Meditatives und gedenken unsere Geschichten“, erzählt eine der Frauen den Künstlern Malicho Vaca Valenzuela und Analí Muñoz Dahm von der Performance „Reminiscencia“. Zwischen ihnen fand ein Trueque statt, was das Beibringen von Nähen und Flechten von Traumfängern gegen das Singen von Liedern austauschte. Beim Singen verspürte ich ein großes Zugehörigkeitsgefühl, weil die Lieder von Generationserfahrungen erzählten, die mir meine Eltern seitdem ich klein war beschrieben hatten. Ich fühlte mich Teil ihrer Geschichte.

    Eine Kultur des Schweigens

    Das Theaterstück „El traje de Novio“ stellte für mich eine weitere unausgesprochenen Realität Chiles dar. Sie behandelt die Wiedervereinigung von Mutter und Sohn, die von Geburt an voneinander getrennt wurden. Die Auswirkungen der über 200.000 Fälle von vermissten Kindern, die während der Militärdiktatur Pinochets mithilfe kirchlicher Gemeinschaften wie der Opus Dei systematisch entführt und europäischen Familien zur Adoption übergeben wurden, wird in diesem Drama repräsentiert. Regisseur Hektor Morales schafft durch ein detailreiches Zusammenspiel von Humor und Stille einen intimen Raum. Das Treffen entfremdeter Familienmitglieder wird mit Sarkasmus überspielt und Körperkontakt wird auf das Nötigste reduziert. Denn „der Schmerz soll nicht angeeignet werden“, erzählt mir Morales. Die Realität der Betroffenen wurde mit großem Respekt behandelt, da sie oft vom chilenischen Staat instrumentalisiert statt rehabilitiert wurden. Mir wird klar, was bleibt, ist eine Kultur des Schweigens, umgeben von Ignoranz. El traje de Novio will dieses Schweigen brechen und die Erinnerung an das Geschehene wachhalten.

    Während meines Aufenthaltes in Antofagasta schrie es mehrmals in meinen Kopf: „Das wusste ich nicht!” Als ich mit anderen über meine Erfahrung reden möchte, fange ich an zu verstehen: Viele wollen es nicht wissen. In einem Land, wo die Regierung Geschichte zu ihren Gunsten erzählt, vertuscht und keine Konsequenzen zieht, bleiben Erinnerungen verborgen. Bis sie vergessen werden. „Hay que abrazar la memoria”, denn ohne sie vergessen wir, was war und wer wir sind.

     

    Weitere Beiträge aus Consuelos Kolumne Auf der Suche nach Zugehörigkeit findest du hier.

    Bildcredits: Ricardo Rodríguez

kohero-magazin.com