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  • Afghanistan im November 2024

    International:

    • Der afghanische Konsul in Bonn, Lutfullah Sadat, hat aufgrund der Beschränkungen und Forderungen des Gastlandes seinen Rücktritt eingereicht; das deutsche Außenministerium hat sich bisher nicht zu der Angelegenheit geäußert. Quellen haben bestätigt, dass auch andere Länder im vergangenen Monat den Druck auf die afghanischen Botschafter erhöht haben, um zu übermitteln, sich mit den Taliban zu arrangieren oder ihre diplomatische Mission zu beenden. Die taz berichtete.
    • Sunday Guardian hat berichtet, dass Indien erwägt, Ikramuddin Kamal als Taliban-Vertreter zu akzeptieren, mit einer möglichen Ernennung zum zweiten Sekretär im afghanischen Konsulat in Mumbai.

     

    Humanitäre Krise

    • Nach dem Erdbeben: Die verheerenden Erdbeben vom Oktober in der Provinz Herat haben die Ressourcen, insbesondere für Unterkünfte und medizinische Versorgung, weiter strapaziert und die bereits bestehenden Schwachstellen noch verschlimmert.
    • Humanitäre Krise: Der wirtschaftliche und humanitäre Bedarf Afghanistans ist nach wie vor groß. Ungefähr 23,7 Millionen Menschen benötigen Hilfe, wobei 15,8 Millionen von Ernährungsunsicherheit betroffen sind. Es werden Anstrengungen unternommen, um diesen Bedarf zu decken. Weiterhin besteht eine erhebliche Finanzierungslücke im 3-Milliarden-Dollar-Plan der UN für humanitäre Hilfe.

     

    Frauenrechte und soziale Fragen

    • Erhöhte Anfälligkeit: Von Frauen geführte Haushalte berichten über höhere Raten von Ernährungsunsicherheit, frühen Eheschließungen und Kinderarbeit, was die allgemeinen gesellschaftlichen Kämpfe, vornehmlich für Frauen, unter der Taliban-Herrschaft widerspiegelt.
    • Rechte der Frauen: Afghanische Frauen und Mädchen werden unter der Taliban-Herrschaft systematisch unterdrückt, unter anderem durch das Verbot von Sekundar- und Hochschulbildung und Einschränkungen im öffentlichen Leben. Die weltweite Kampagne „16 Days of Activism against Gender-Based Violence“ (16 Tage des Aktivismus gegen geschlechtsspezifische Gewalt) hat auf ihre Notlage aufmerksam gemacht und die Notwendigkeit internationaler Unterstützung und Anerkennung der geschlechtsspezifischen Apartheid, der sie ausgesetzt sind, betont.
    • Taliban peitschen 10 Menschen aus, darunter drei Frauen: Die Taliban haben in den Provinzen Khost, Balkh und Ghor weiterhin drei Frauen und sieben Männer öffentlich ausgepeitscht. Im vergangenen Monat haben die Taliban in verschiedenen Provinzen 111 Personen, darunter 18 Frauen, körperlich bestraft. Die Bestrafungen umfassten öffentliche Auspeitschungen für Verbrechen wie Diebstahl, Ehebruch und moralische Korruption. Die Provinzen Jawzjan und Chost meldeten die meisten öffentlichen Auspeitschungen: 22 Fälle wurden in Jawzjan und 19 in Chost verzeichnet.
    • Rainbow Afghanistan hat einen Bericht veröffentlicht, wonach LGBTQIA+-Personen in Taliban-Gefängnissen gefoltert und sexuell missbraucht werden. In den letzten drei Jahren wurden mindestens 98 LGBTQIA+-Personen in 14 Provinzen Afghanistans aufgrund verschiedener Anschuldigungen bestraft.

    Entwicklungen in Wirtschaft und Handel

    • Inländische Investitionen: Die Taliban kündigten Investitionen in Bergbauprojekte im Wert von 415 Milliarden Afghanis an, um die inländische Wirtschaftstätigkeit zu stärken.
    • Wirtschaftliche Entwicklungen: Afghanistan verzeichnet wirtschaftliches Engagement und zunehmende Handelsaktivitäten mit den umliegenden Ländern, darunter Usbekistan und die Türkei. Die allgemeine Armut ist jedoch nach wie vor hoch, und viele Familien sind weiterhin auf Notfallstrategien angewiesen.

    Medien und Kultur

    • Das afghanische Ministerium für Information und Kultur richtete einen Fond zur Unterstützung von Journalist*innen ein und betonte die Bedeutung des Schutzes und der Stärkung der lokalen Medien. Anlässlich des Weltfernsehtags setzten sich die Journalist*innen für einen besseren Zugang zu Informationen und Schutzmaßnahmen ein.
    • Am Weltfernsehtag erklärte die AJSO (Organisation zur Unterstützung afghanischer Journalisten), dass die Medien und das Fernsehen in Afghanistan von einer schweren Krise bedroht seien. Die Taliban hätten das Recht auf freie Meinungsäußerung und den freien Informationsfluss stark eingeschränkt, indem sie die Zensur durchgesetzt, die Medien geschlossen und eine Atmosphäre der Angst und Bedrohung gegen Journalist*innen geschaffen hätten.

    Klima- und Umweltbelange

    • Klima und Naturkatastrophen: Die schwerwiegenden Auswirkungen des Klimawandels, einschließlich der Wasserkrise und der anhaltenden Ernährungsunsicherheit, verschärfen die bestehenden Probleme weiter. Darüber hinaus sind die Folgen der verheerenden Erdbeben vom Oktober in Herat nach wie vor ein dringendes Problem, das den Bedarf an Unterkünften und Infrastrukturen noch vergrößert.
  • Was wird aus der Beziehung von Religion und Staat in Syrien?

    „Es fühlt sich an, als wären wir neu geboren.“ Diese Worte hörte ich immer wieder von Menschen in Syrien, mit denen ich in den letzten Tagen Kontakt aufgenommen habe. Nach über fünf Jahrzehnten autoritärer Herrschaft und Unterdrückung durch das Assad-Regime beginnt in Syrien ein neues Kapitel. Doch wie bei jeder Geburt ist der Prozess schmerzhaft und langwierig. Die größte Herausforderung besteht nun nicht nur darin, die Überreste des alten Regimes zu beseitigen, sondern auch in der Transformation hin zu einem modernen, pluralistischen und demokratischen Staat, der die kulturelle und religiöse Vielfalt seines Volkes respektiert.

     Der schwierige Übergang von Autoritarismus zur Demokratie

     Autoritäre Systeme wie das Assad-Regime hinterlassen nach ihrem Fall eine zerstörte gesellschaftliche und institutionelle Infrastruktur. Sie schwächen systematisch die Zivilgesellschaft, zerstören politische Oppositionen und schaffen Sicherheits- und Verwaltungsapparate, die nicht der Gesellschaft, sondern der Sicherung ihrer Macht dienen. Der demokratische Übergang in Syrien wird daher kein einfacher Weg sein. Er erfordert den nahezu vollständigen Wiederaufbau staatlicher Institutionen und eine neue Beziehung zwischen Staat und Bürger*innen.

     Ein zentraler Schritt in diesem Prozess wird die Ausarbeitung einer neuen Verfassung sein, die Rechte und Freiheiten garantiert und sicherstellt, dass alle gesellschaftlichen Gruppen in den politischen Prozess einbezogen werden. Doch diese Transformation wirft auch eine der zentralen Fragen für Syriens Zukunft auf: Wie soll die Beziehung zwischen Religion und Staat gestaltet werden?

     Religion und Staat: Eine komplexe Gleichung

     Eine der größten Herausforderungen für das neue Syrien ist die Neudefinition der Beziehung zwischen Religion und Staat. Das Assad-Regime nutzte Religion häufig als politisches Werkzeug, um Spaltungen zu schüren und seine Herrschaft zu festigen. Mit dem Sturz des Regimes bleibt dieses Thema äußerst sensibel, insbesondere in einem Land mit einer reichen Vielfalt an religiösen und konfessionellen Gruppen.

     Syrien hat historisch gesehen eine Gesellschaft, die sich durch Offenheit und religiöse Toleranz auszeichnet. Dieses kulturelle Erbe kann eine Grundlage sein, um eine ausgewogene Beziehung zwischen Religion und Staat aufzubauen – eine, die auf der Trennung von religiösen Ideologien und Politik beruht, ohne dabei bestimmte Gruppen oder Glaubensgemeinschaften auszugrenzen.

     Ein moderner syrischer Staat sollte sich auf nationale Identität und Bürgerrechte konzentrieren, anstatt Religion als Mittel politischer Dominanz zu nutzen. Eine neue Verfassung muss diese Prinzipien widerspiegeln, indem sie sowohl individuelle als auch religiöse Freiheiten schützt. Die Herausforderung besteht darin, ein inklusives und ausgewogenes System zu schaffen, das die Vielfalt und das Wesen der syrischen Gesellschaft respektiert und verkörpert.

     Die syrische Gesellschaft: Stärke durch Offenheit und Toleranz

     Trotz der langanhaltenden Unterdrückung hat die syrische Gesellschaft eine bemerkenswerte Resilienz gezeigt. Historisch ist sie geprägt von Koexistenz und kultureller Vielfalt, mit Muslim*innen, Christ*innen und anderen Gemeinschaften, die überwiegend harmonisch zusammenlebten.

     Dieses gesellschaftliche Fundament kann als Brücke dienen, um ein neues, pluralistisches und demokratisches Syrien zu erbauen. Doch dies erfordert, dass die tiefen Wunden des Krieges und die durch das Assad-Regime geschürten Spaltungen geheilt werden. Nationale Dialoge, die alle syrischen Gemeinschaften einbeziehen, sind entscheidend, um Vertrauen wiederherzustellen und eine gemeinsame Vision für die Zukunft des Landes zu entwickeln.

     Grundpfeiler eines neuen Staates

     Neben einer neuen Verfassung werden künftige Gesetze und Institutionen eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung des neuen Syrien spielen. Diese Gesetze müssen Gleichheit und soziale Gerechtigkeit gewährleisten und jede Form von Diskriminierung aufgrund von Religion, Geschlecht oder Herkunft ausschließen. Ein unabhängiges Justizsystem und die Wahrung der Meinungsfreiheit sind ebenfalls unabdingbar. Demokratie kann nur dann gedeihen, wenn es Institutionen gibt, die die Rechte der Bürger*innen schützen und sicherstellen, dass keine Rückkehr zu autoritärer Herrschaft möglich ist.

      Der demokratische Wandel in Syrien wird schwierig sein, aber er ist unvermeidlich. Der Weg mag voller Hindernisse sein, doch das syrische Volk hat immer wieder seine Fähigkeit zur Anpassung und Widerstandsfähigkeit bewiesen. Das neue Syrien muss ein Staat für alle seine Bürger*innen sein – ein Staat, der Pluralismus respektiert, Freiheiten schützt und Religion von der Politik trennt, ohne die kulturellen und religiösen Werte seiner Gesellschaft zu gefährden.

     „Es fühlt sich an, als wären wir neu geboren.“ Dieser Satz, der heute von vielen Syrern geäußert wird, ist nicht nur Ausdruck von Freude über das Ende des Regimes, sondern auch ein Zeugnis der Hoffnung auf eine bessere Zukunft – trotz der Schmerzen und Herausforderungen des Übergangsprozesses.

     

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  • Syrien spürt immer noch Sanktionen

    Der Sturz des Assad-Regimes hat eine neue politische Ära in Syrien eingeläutet. Doch trotz des Machtwechsels bleibt das Land gefangen im Erbe internationaler Sanktionen, die in den letzten fünf Jahrzehnten das Leben der Syrer*innen in vielen Bereichen massiv beeinträchtigt haben. Ahmad al-Sharaa, HTS-Anführer und Generalkommandant der Kräfte, die das Assad-Regime stürzten, fordert nun die Aufhebung dieser Sanktionen, die er als Relikt des „Tyrannen, der gegangen ist“, beschreibt.

     Stillstand und Rückschritt

    Rückständig zeigt sich die Lage in Aleppo deutlich. „Wir hängen technologisch mindestens 20 Jahre hinter dem Rest der Welt zurück“, erzählt Nour (24), eine Studentin an der Universität Aleppo. „Die meisten hier nutzen immer noch uralte Mobiltelefone, während andere Länder über 5G und künstliche Intelligenz sprechen.“ Die Preise für moderne Geräte sind aufgrund von Importbeschränkungen und wirtschaftlichem Verfall unerschwinglich.

    Nicht besser ist die Lage in anderen Städten. Auch in der Hauptstadt Damaskus ist das Bild ähnlich düster. „Unsere Laptops schaffen gerade mal die nötigsten Aufgaben“, sagt Samer, ein Händler für Elektronik. „Die Reparatur wird durch den Mangel an Ersatzteilen, der durch die Sanktionen verursacht wurde, zur Herausforderung.“ Auch die Situation im Automobilsektor im Herzen Syriens ist desolat. Fadi (33), ein Mechaniker in Homs, beschreibt, wie Werkstätten immer noch mit Fahrzeugen aus den 1980er- und 1990er-Jahren arbeiten. „Neue Autos gibt es hier nicht, und selbst alte Modelle zu reparieren, ist durch den Mangel an Ersatzteilen unglaublich teuer geworden.“

     Ein halbes Jahrhundert Sanktionen

    Die internationalen Sanktionen gegen Syrien begannen 1979, als die USA das Land auf die Liste der Terrorstaaten setzten. In den folgenden Jahrzehnten wurden die Maßnahmen immer weiter verschärft – ob nach Anschlägen, politischen Konflikten oder wegen der Unterstützung terroristischer Gruppierungen.

    2003 verhängten die USA mit dem „Syria Accountability Act“ ein Handelsverbot, das nur Nahrungsmittel und Medikamente ausnahm. Nach der Ermordung des libanesischen Premierministers Rafiq Hariri im Jahr 2006 sowie Vorwürfen der Geldwäsche 2008 wurden weitere Sanktionen erlassen. Den entscheidenden Bruch brachte jedoch die syrische Revolution 2011. Die USA und die EU verhängten strenge Maßnahmen, die sich direkt gegen Baschar al-Assad, seine Familie und seine Unterstützenden richteten. Neben der Blockade von Vermögenswerten wurden der Handel mit Öl und andere wirtschaftliche Aktivitäten stark eingeschränkt, was das Land weiter in die Isolation trieb.

     Das „Caesar-Gesetz“: Höhepunkt der Isolation

    Mit dem 2020 verabschiedeten Caesar-Gesetz verschärften die USA die Sanktionen nochmals deutlich. Dieses Gesetz kriminalisierte jede Zusammenarbeit mit dem Assad-Regime, insbesondere bei Wiederaufbauprojekten ohne internationale Zustimmung. Es traf wichtige Wirtschaftssektoren wie Energie, Bauwesen und Ölproduktion und führte zu einer weiteren Verschlechterung der Lebensbedingungen.

     Trotz des politischen Wandels bleibt die Aufhebung der Sanktionen eine enorme Herausforderung. Expert*innen weisen darauf hin, dass es Jahre dauern könnte, wie es bereits in anderen Ländern wie Irak und Libyen der Fall war. Von Aleppo bis Damaskus und Homs zeugen die Geschichten der Menschen von den tiefen Wunden, die Sanktionen und Krieg hinterlassen haben. Doch während die Syrer*innen unter den Einschränkungen leiden, wächst auch die Hoffnung auf einen echten Neuanfang.

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  • Wohin steuert Syrien?

    Was passiert derzeit in Syrien? Die Lage ist komplex, und es ist nicht einfach, sie vollständig zu durchschauen. Gleichzeitig sollten wir aber auch nicht übertreiben oder ein verzerrtes Bild zeichnen, wie es manche ausländische Berichterstattung tut. Ein Beispiel dafür ist ein Artikel der „Tagesschau“ mit dem Titel „Warum sich Christen in Syrien fürchten“. Darin wurden drei Christ*innen befragt, die ihre Ängste und Sorgen äußerten. Diese Ängste sind sicherlich berechtigt, spiegeln jedoch nur einen Teil der Gesamtsituation wider.

    Minderheiten wie Christ*innen haben ähnliche Sorgen wie alle anderen Syrer*innen: Fragen nach der Zukunft, nach Sicherheit und nach wirtschaftlicher Stabilität beschäftigen die gesamte Bevölkerung. Im genannten Artikel wird dieser Zusammenhang jedoch nicht ausreichend deutlich, sodass der Eindruck entsteht, es ginge vornehmlich um religiöse Minderheiten. Dies zeigt, wie manche Korrespondent*innen ohne tiefere Verbindung zu Syrien nur einzelne Facetten des Gesamtbildes vermitteln.

    Gestern habe ich mit meinem Vater telefoniert. Ich fragte ihn, wie er sich nach dem Sturz Assads fühle. Seine Antwort: „Großartig, denn jetzt können wir euch endlich wiedersehen!“ Diese Freude, dass Familien zusammenfinden, ist für viele Eltern unbeschreiblich. Zwar verbessert sich die Lage langsam, doch ist längst nicht alles gut. Die Kosten für Gas zum Kochen oder Diesel zum Heizen bleiben hoch, und viele Familien sind weiterhin auf Hilfe angewiesen.

    Die entscheidende Frage lautet: Wann werden humanitäre Hilfen und ein Ende der Sanktionen Syrien endlich erreichen? Zahlreiche Länder knüpfen die Aufhebung von Sanktionen an Bedingungen: Ein politischer Prozess soll gestartet, eine gemeinsame Übergangsregierung gebildet und eine neue Verfassung ausgearbeitet werden. Die HTS (Hayat Tahrir al-Scham), eine einflussreiche Miliz in Syrien, ist dabei ein wichtiger Faktor. Ihr Anführer, al-Dschoulani (al-Shar‘a), scheint nicht mit ganzen politischen Gruppen zusammenarbeiten zu wollen, sondern bevorzugt Verhandlungen mit einzelnen Politiker*innen. Ziel ist es offenbar, die HTS schrittweise in staatliche Strukturen zu integrieren, um dann die Kontrolle über ganze Städte übernehmen zu können.

    Vergangenes Wochenende trafen sich in Akaba (Jordanien) die Außenminister mehrerer arabischer Länder (Jordanien, Saudi-Arabien, Irak, Libanon, Ägypten) sowie der Generalsekretär der Arabischen Liga und internationale Partner, darunter die USA, die Türkei, die Vereinigten Arabischen Emirate, Bahrain, Katar, Frankreich, Großbritannien, Deutschland und die EU, um über die Zukunft Syriens zu beraten. Das sogenannte „Arabische Kontaktkomitee“ sprach sich für einen inklusiven, von den UN und der Arabischen Liga begleiteten politischen Übergang aus, der auf der UN-Resolution 2254 basiert. Diese legt einen Fahrplan für einen politischen Prozess fest, der alle gesellschaftlichen Gruppen berücksichtigt, eine Übergangsregierung bildet und schließlich freie, faire, von den UN überwachte Wahlen vorsieht.

    Aus Sicht der HTS ist die UN-Resolution 2254 jedoch nicht mehr aktuell, da sie noch auf die Zeit der Assad-Regierung zurückgeht. Die HTS fordert eine Anpassung an die heutige Situation. Arabische und internationale Akteur*innen wollen jedoch an der Resolution festhalten und knüpfen humanitäre Hilfe sowie ein Ende der Sanktionen weiterhin an deren Umsetzung. Es finden viele diplomatische Gespräche und gegenseitige Besuche statt, doch wie sich die Lage weiterentwickelt, ist ungewiss.

    Gleichzeitig bereiten sich die Türkei und von ihr unterstützte Milizen offenbar auf eine Militäroperation gegen die von Kurden dominierten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) in Ain al-Arab (Kobanê) im Norden Syriens vor. Ankara strebt einen 30 Kilometer breiten Sicherheitsstreifen entlang der syrisch-türkischen Grenze an und hat erste bauliche Barrieren bereits beseitigt. Während US-Beamt*innen ihre Besorgnis über ein Eindringen der Türkei in die kurdisch kontrollierten Gebiete äußern, sind US-Vermittlungsbemühungen für einen Waffenstillstand offenbar gescheitert, weil die Türkei zentrale Bedingungen nicht akzeptiert hat.

    Darüber hinaus weitet Israel offenbar seine Kontrolle über Dörfer im Süden Syriens aus und greift das Land fast täglich an. Am Montag etwa gab es Angriffe auf syrische Militärstützpunkte in der Stadt Tartus. Sieben Einwohner*innen wurde verletzt, es gab außerdem erhebliche Sachschäden.

    Die Zukunft Syriens bleibt somit weiterhin ungewiss. Es steht ein komplexes Geflecht aus internen Machtkämpfen, internationalen Interessen, humanitären Fragen und schwierigen Verhandlungen an. Viele Hoffnungen ruhen auf einem politischen Prozess, der tatsächlich alle Syrer*innen einbezieht und ihnen eine friedlichere und stabilere Zukunft ermöglicht.

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    Eine kurze Zusammenfassung der Lage

    • Die Syrische Zentralbank verfügt über Reserven von etwa 200 Millionen US-Dollar in ihren Tresoren. Die Goldreserven des Landes werden zum aktuellen Marktpreis auf rund 2,2 Milliarden US-Dollar geschätzt.
    • Unterdessen warnen deutsche Betriebe, dass eine mögliche Rückkehr vieler in Deutschland lebender Syrer*innen den Fachkräftemangel verschärfen könnte. Zudem fordert die britische Organisation „Halo Trust“ internationale Anstrengungen zur Räumung von Minen und Kriegsaltlasten, da Rückkehrer sonst erheblich gefährdet sind.
    • Die EU plant, einen hochrangigen Diplomaten nach Damaskus zu entsenden, um den Umgang mit der neuen syrischen Führung auszuloten. Dabei sollen künftige Beziehungen von konkreten Taten abhängen.

    Syrien: Ahmed al-Shar‘a (al-Dschoulani) ruft zu einem „Gesellschaftsvertrag“ zwischen dem Staat und allen Konfessionen auf

    Ahmed al-Sharʿa (al-Dschoulani), Leiter der neuen militärischen Operationsführung in Syrien, fordert nach dem Sturz des Assad-Regimes einen umfassenden Gesellschaftsvertrag zwischen Staat und allen Konfessionen, um soziale Gerechtigkeit sicherzustellen. Er betont die Einheit Syriens, will keine besonderen Regelungen oder Machtverteilung nach Quoten, die zur Abspaltung führen könnten, und strebt ein institutionelles sowie rechtliches Vorgehen im Interesse des gesamten syrischen Volkes an.

    Alle bewaffneten Fraktionen sollen aufgelöst und ihre Kämpfer in das Verteidigungsministerium integriert werden, damit alle dem Gesetz unterstellt sind. Zudem fordert er die Aufhebung der gegen Syrien verhängten Sanktionen, da der Grund für ihre Einführung – das Assad-Regime – nicht mehr bestehe. Die drusische Gemeinschaft bekräftigte ihre Zugehörigkeit zu Syrien.

    UN warnt vor verfrühter Rückkehr nach Syrien

    Nach dem Sturz von Baschar al-Assad rät das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) den syrischen Geflüchteten weltweit, vor einer Rückkehr in ihre Heimat Geduld zu bewahren. Es sei zu früh für eine freiwillige Rückkehr, da noch keine Rahmenbedingungen für Sicherheit und Stabilität vorliegen.

    Unterdessen diskutiert die Europäische Union ihre Rolle in Syrien. Die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas betont, dass weder Extremismus noch Russland oder Iran in der zukünftigen Ordnung Syriens Platz haben sollten. Die EU erwägt Sanktionslockerungen, falls die neue syrische Führung klare positive Schritte zeigt. Russische Militärstützpunkte und die Einbeziehung aller Bevölkerungsgruppen in die Regierung sind dabei Kernthemen.

    Hochrangige französische Quellen warnen vor einem möglichen Zerfall des syrischen Staates, sollten politische Lösungen zur Wahrung der Einheit und der Institutionen ausbleiben. Zudem sehen sie türkische und israelische Einflussnahmen als Gefahr für die Stabilität.

    Deutsche Diplomat*innen führen erste Gespräche mit der Übergangsregierung in Damaskus, um Möglichkeiten für eine diplomatische Präsenz auszuloten und sich für Minderheitenschutz und einen politischen Übergang einzusetzen. Die Bundesregierung beobachtet dabei auch die Rolle von Hayat Tahrir al-Sham (HTS) wegen ihrer extremistischen Wurzeln genau.

    Insgesamt konzentrieren sich die internationalen Bemühungen auf einen inklusiven politischen Prozess, die Verhinderung erneuter extremistischer Aktivitäten sowie die Sicherstellung von Stabilität und Einheit im Nachkriegs-Syrien.

    Massengrab mit 100.000 Leichen, die vom syrischen Regime im Umland von Damaskus getötet wurden, entdeckt

    Ein syrischer Menschenrechtsaktivist berichtet von einem Massengrab in al-Qatifah, etwa 40 Kilometer nördlich von Damaskus, in dem mindestens 100.000 Leichen liegen sollen. Der Standort ist nach seinen Angaben einer von mindestens fünf solcher Massengräber, in denen Opfer des ehemaligen Assad-Regimes verscharrt wurden, darunter auch ausländische Staatsbürger*innen.

    Die Leichen stammten laut diesen Informationen aus Militärkrankenhäusern, in denen Gefangene gefoltert und getötet wurden, bevor man sie durch Geheimdienste und die städtische Bestattungsbehörde zum Massengrab transportierte. Schweres Gerät und Zwangsarbeiter mussten die Gräber ausheben und die Leichen verschwinden lassen. Unabhängige Überprüfungen der Angaben liegen nicht vor.

    Seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs 2011 sollen Hunderttausende Menschen getötet worden sein. Das ehemalige Assad-Regime wird von Menschenrechtsorganisationen und anderen Staaten für weitreichende Verbrechen verantwortlich gemacht, darunter Massenexekutionen in Gefängnissen. Die Sicherung der Massengrabstellen als Beweismittel für künftige Ermittlungen ist nach Ansicht des Aktivisten dringend erforderlich.

     

  • Bescherung mit Hindernissen

     

    Mit mehreren Kulturen aufzuwachsen, ist eine Übung in diplomatischer Geduld. Die eigentliche Zerreißprobe beginnt jedoch jedes Jahr im Dezember, wenn das Fest der Liebe in meiner Welt vor allem ein Fest der Frontlinien wird. Weihnachten – dieses seltsam universelle Ereignis, das eine Hälfte der Menschheit für die Verkörperung des Konsumwahns hält, während die andere es als spirituelle Festung gegen den Verfall der Werte verteidigt – hat in meinem Haushalt eine ganz eigene Dynamik.

    Während in den Supermärkten Marzipankartoffeln und Lebkuchen das letzte Drittel des Jahres regieren, bricht für mich der wahre Wahnsinn erst in der Adventszeit aus. Nicht nur, weil man sich plötzlich überlegt, ob man wirklich schon wieder Plätzchen backen muss, sondern weil alljährlich die großen Moralhüter*innen der Nation aus ihren Löchern kriechen und meinen, ihre Weihnachtsbelehrung verteilen zu müssen.

    Draußen tobt der jährliche Kulturkampf: „Warum feiern Nicht-Christ*innen Weihnachten?!“ schreien die einen, während die anderen mürrisch mit hochgezogenen Augenbrauen kontern: „Es ist doch nur ein bisschen Lichterkette und Plätzchenduft, entspannt euch.“

    „Denn was diese Prediger*innen nicht wissen, ist, dass ich mehr Kulturen und Religionen in mir trage, als ihnen lieb sein dürfte“

    Jedes Jahr bekomme ich durch irgendeinen algorithmischen Zufall diese Predigten in die Timeline gespielt: Mahnungen, dass Nicht-Christ*innen gefälligst die Finger von Weihnachtsbäumen und Adventskränzen lassen sollten. „Das ist Heuchelei!“, rufen sie. „Das ist Sünde!“ Manche gehen noch einen Schritt weiter und prophezeien, dass Andersgläubige, die Weihnachten feiern, zusammen mit den Kerzen auf dem Adventskranz in der Hölle brennen würden. Ehrlich gesagt: Es belustigt mich mehr, als es mich ärgert.

    Denn was diese Prediger*innen nicht wissen, ist, dass ich mehr Kulturen und Religionen in mir trage, als ihnen lieb sein dürfte. Ich bin kein wandelndes Klischee und doch die Verkörperung dessen, was sie fürchten: ein Mensch, der irgendwie alles und nichts ist, der Weihnachten feiert, ohne je zur Kirche zu gehen, und der seine eigene Identität in einem kunterbunten Chaos vereint.

    Inmitten dieser hitzigen Diskussion sitze ich da, Handy in der Hand, den Daumen über der „Story teilen“-Taste schwebend, und frage mich, ob ich dieses Jahr den Weihnachtsbaum im Wohnzimmer öffentlich machen kann. Nicht, dass jemand falsch versteht, wie der Baum dahin gekommen ist – oder warum er überhaupt da steht.

    Denn dieser Baum, so scheint es, hat eine Symbolik, die über die reine Dekoration hinausgeht. Zwischen den Zweigen schimmern nicht nur Kugeln und Lichter, sondern auch die stillen Kompromisse einer interkulturellen Familie, die versucht, alles und jeden unter einen Stern – oder besser gesagt, eine Lichterkette – zu bringen. Unser Weihnachtsbaum ist dabei weder minimalistisch noch dezent. Nein, er ist ein Monolith der Festlichkeit: geschmückt bis zur Grenze des guten Geschmacks, ein Spektakel, das gleichermaßen an russische Opulenz wie an die Pracht eines kurdischen Hochzeitssaals erinnert. Wäre dieser Baum ein Mensch, er hätte mindestens drei goldene Armbänder und eine funkelnde Tiara.

    Der Weihnachtsbaum, der da in unserem Wohnzimmer steht, ist jedoch kein Verrat an irgendeiner Religion. Er ist ein Symbol meines Lebens – ein leuchtender, überladener Kompromiss zwischen Ost und West. Dieser Baum ist so wenig „nur“ christlich, wie ich es bin.

    Es ist erstaunlich, was Weihnachten in unserer Familie bedeutet. Mein Vater, ein kurdischer Mann, der Weihnachten erst über die Ehe mit meiner russischen Mutter kennengelernt hat, könnte sich dieses Fest inzwischen nicht mehr wegdenken. Für ihn ist es längst mehr als ein religiöses Ritual, sondern eine Zeit, in der die Familie zusammenkommt, die Welt kurz stillzustehen scheint und man sich in all dem Glanz und Chaos ein bisschen fallen lassen kann.

    „Wenn ich ehrlich bin, habe ich diesen berühmten Weihnachtsgeist seit Jahren nicht mehr gespürt“

    Dagegen hat meine Mutter ihre russisch-orthodoxen Traditionen, die sie in ihrer Jugend mit so viel Hingabe gepflegt hat, irgendwann gegen die katholischen Weihnachtstraditionen getauscht – wahrscheinlich nicht aus Überzeugung, sondern aus Pragmatismus. Der 24. Dezember war einfacher für alle, und irgendwann wurde er zum neuen 7. Januar. Und obwohl ich mir sicher bin, dass sie manchmal ihre orthodoxen Wurzeln vermisst, ist sie glücklich. Für sie zählt nicht das genaue Datum oder die Art des Gottesdienstes, sondern, dass wir zusammen sind.

    Und ich? Wenn ich ehrlich bin, habe ich diesen berühmten Weihnachtsgeist seit Jahren nicht mehr gespürt. Vielleicht liegt es daran, dass Schnee in unseren Breitengraden inzwischen so selten ist wie stille Feiertage. Vielleicht auch daran, dass der Gedanke an ein religiöses oder kulturelles „Fest“ bei mir unweigerlich mit dieser absurden inneren Fragerei verbunden ist: „Wird das jemand falsch verstehen? Und wenn ja, warum kümmert mich das überhaupt?“

    Ob Bayram oder Weihnachten – religiöse Feste waren für mich schon immer eine Herausforderung. Ich schätze sie für das, was sie an Gemeinschaft schaffen: das Zusammenkommen, das Essen, die Gespräche. Doch sobald es konkret um Religion geht, setzt bei mir eine innere Unruhe ein, fast wie ein leichter Knoten im Magen. Es spielt keine Rolle, um welche Religion es sich handelt. Ich möchte nicht mitten im Gespräch aufstehen müssen, um zu beten, und gleichzeitig widerstrebt es mir, allein sitzen zu bleiben, während alle anderen sich in der Mitte des Raumes zum Gebet versammeln.

    „Wäre die Hölle tatsächlich so voll von Leuten, die Weihnachten feiern, hätte ich wenigstens gute Gesellschaft“

    Die Frage, ob ich dieses Jahr den Baum in meiner Instagram-Story zeige, ist deshalb zugleich auch die Frage, ob ich mich noch einmal von Menschen tadeln lassen will, die nichts von mir oder meiner Welt wissen. Ja, ich könnte die Story posten – und mich danach wieder mit Kommentaren wie „Hast du deine Wurzeln vergessen?“ oder „Das ist doch haram!“ auseinandersetzen. Doch genau in diesen Momenten denke ich daran, wie absurd es ist, dass Menschen mit einer Selbstsicherheit predigen, die ich nicht mal hätte, wenn ich einen Master in Theologie oder Islamwissenschaft hätte.

    Um ganz ehrlich zu sein, amüsiert es mich, wenn sich selbsternannte Prediger*innen aufregen. Tief in mir denke ich jedes Mal: Wäre die Hölle tatsächlich so voll von Leuten, die Weihnachten feiern, hätte ich wenigstens gute Gesellschaft. Aber nein, für mich ist Weihnachten kein religiöser Verrat, sondern eine Gelegenheit, das Unmögliche zu vereinen. Der Weihnachtsbaum wird bei uns zum Friedensangebot, stärker geschmückt als jede Braut an ihrem Hochzeitstag, bewundert und belächelt, aber immer da.

    Während draußen die großen Kulturkämpfe toben, bleibt es in meinem Wohnzimmer seltsam still. Der Baum glitzert, der Tee dampft, und ich entscheide mich, die Story doch zu posten. Nicht, weil ich muss, sondern weil ich kann.

    In diesem Sinne, fröhliche Weihnachten und einen guten Rutsch in das neue Jahr!

     

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  • Erste Zeichen des wirtschaftlichen Aufschwungs in Syrien

    Seit dem Sturz des Assad-Regimes scheint in Syrien ein neues Kapitel der wirtschaftlichen Entwicklung zu beginnen. Die syrische Lira hat binnen weniger Tage spürbar an Wert gewonnen und sich gegenüber dem US-Dollar deutlich erholt. Zeitgleich sinken auf den lokalen Märkten merklich die Preise für Lebensmittel – ein Novum, das bei vielen Menschen vorsichtige Hoffnung aufkeimen lässt.

    Nach Jahren strikter Kontrollen und repressiver Maßnahmen ist der Umgang mit ausländischen Währungen nun deutlich freier. Wo einst schon das Aussprechen des Wortes „Dollar“ riskant war, dürfen Händler*innen und Verbraucher*innen inzwischen offen handeln. Auch bei Grundnahrungsmitteln wie Zucker oder Mehl machen sich die veränderten Umstände bemerkbar: Ihre Preise liegen auf einem Niveau, das man zuletzt vor Jahren gesehen hat.

    Diese neue Offenheit spiegelt sich in einer dynamischen Marktszene wider, in der Wechselstuben und Geschäfte von einer bereits im Ansatz spürbaren Stabilität profitieren. Zwar übertragen manche Händler*innen die günstigeren Konditionen nur langsam auf ihre Waren, doch der allgemeine Trend ist unverkennbar: Syrien atmet wirtschaftlich etwas freier – und viele hoffen, dass es sich dabei nicht nur um ein kurzes Luftholen, sondern um den Beginn eines nachhaltigen Aufschwungs im Nachkriegs-Syrien handelt.

    Unterdessen haben die Vereinten Nationen grünes Licht erhalten, um enger mit der neuen syrischen Übergangsregierung zusammenzuarbeiten. In einem Interview mit der Zeitung „Asharq al-Awsat“ erklärt Dr. Abdullah al-Dardari, stellvertretender UN-Generalsekretär und Leiter des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP) für die arabischen Staaten, dass Syrien unter dem alten Regime rund 24 Jahre an Entwicklungsfortschritt eingebüßt habe. Die Zahlen sprechen für sich: Das Bruttoinlandsprodukt schrumpfte von 62 Milliarden US-Dollar im Jahr 2010 auf nur 8 Milliarden US-Dollar im Jahr 2023. Die Armut ist förmlich explodiert, von 12 auf über 90 %, und mehr als 65 Prozent der Syrer*innen sind von Hunger betroffen.

    Angesichts der weitgehenden Zerstörung von Wohnraum und Infrastruktur rückt nun vor allem die institutionelle Stärkung in den Fokus. Al-Dardari macht deutlich, dass es ohne handlungsfähige, effiziente staatliche Strukturen kein echtes Vorankommen geben kann – keine Entwicklung, keinen Wiederaufbau. Genau hier will das UNDP ansetzen: Neben dem Aufbau starker Institutionen steht die Förderung des Privatsektors im Mittelpunkt, der trotz Jahren der Krisenlage standhaft geblieben ist. Diese Maßnahmen zeigen bereits erste Auswirkungen: Allein die Aussicht auf eine freiere Wirtschaftsordnung wirkte sich belebend auf die syrische Lira aus, deren Kurs zuletzt deutlich anstieg.

    Langfristig sieht Dr. al-Dardari den Weg zur Erholung Syriens in weitreichenden Reformen der Regierungsführung, einer Stärkung des Rechtsstaats, einem offenen nationalen Dialog und einem klaren ökonomischen Fahrplan. Die Einbindung des Privatsektors, gepaart mit einem verlässlichen sozialen Sicherungssystem, soll die Basis dafür legen, dass Syrien wieder zu einem Ort wird, an dem investiert, produziert und gehandelt werden kann – zum Wohle der gesamten Bevölkerung.

    Diese Entwicklung, so vorsichtig sie sich derzeit noch abzeichnet, vermittelt zumindest einen ersten Eindruck davon, in welche Richtung sich das Land nach den dunklen Kapiteln des Assad-Regimes bewegen könnte: hin zu mehr Offenheit, mehr Stabilität und damit zu einem ersten Schritt in Richtung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Genesung.

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    Eine kurze Zusammenfassung der Lage:

    • Der ukrainische Präsident Selenskyj kündigte nach dem Sturz des Assad-Regimes humanitäre Hilfe für Syrien an, darunter Getreide und Öl. Gleichzeitig erschütterten israelische Luftangriffe Küstengebiete bei Tartus, wobei militärische Stellungen und Raketenlager getroffen wurden. Palästinensische Flüchtlinge beginnen nach dem Regimewechsel, in das Camp Jarmuk zurückzukehren, was unter Beobachtung der neuen syrischen Verwaltung erfolgt.
    • Unterdessen warnen deutsche Betriebe, dass eine mögliche Rückkehr vieler in Deutschland lebender Syrer*innen den Fachkräftemangel verschärfen könnte. Zudem fordert die britische Organisation „Halo Trust“ internationale Anstrengungen zur Räumung von Minen und Kriegsaltlasten, da Rückkehrer sonst erheblich gefährdet sind.
    • Die EU plant, einen hochrangigen Diplomaten nach Damaskus zu entsenden, um den Umgang mit der neuen syrischen Führung auszuloten. Dabei sollen künftige Beziehungen von konkreten Taten abhängen.

    Assad dementiert heimlichen Fluchtplan und widerspricht Reuters-Bericht

    Baschar al-Assad, der nach dem Sturz seines Regimes entmachtete syrische Machthaber, bestreitet in einer am 16. Dezember veröffentlichten Erklärung, heimlich aus Damaskus geflohen zu sein. Er behauptet, bis zum Fall seines Regimes in der Hauptstadt geblieben und seiner Verantwortung nachgekommen zu sein. Anschließend sei er nach eigenen Angaben in Abstimmung mit Russland nach Latakia gegangen, um die Kämpfe weiterzuverfolgen. Dort habe sich jedoch herausgestellt, dass die syrischen Truppen bereits zurückgewichen und die letzten Stellungen gefallen seien, was zu einer schnellen Evakuierung nach Russland geführt habe.

    Laut Assad sei zu keinem Zeitpunkt von Asyl oder Rücktritt die Rede gewesen; er habe sich stets als Vertreter eines nationalen Projekts verstanden, gestützt auf den Willen des syrischen Volkes. Da der Staat nun in die Hände des „Terrorismus“ gefallen und nichts mehr zu leisten gewesen sei, habe das Amt für ihn an Bedeutung verloren.

    Diese Darstellung widerspricht einem „Reuters“-Bericht von vor zwei Tagen, wonach Assad heimlich einen Fluchtplan vorbereitet hatte, ohne die meisten Regierungsverantwortlichen oder Familienmitglieder einzuweihen. Nach Angaben der Nachrichtenagentur soll Assad kurz vor seinem Sturz mithilfe von Täuschung und Geheimhaltung versucht haben, unbemerkt das Land zu verlassen.

    Israel erweitert Siedlungspläne auf dem Golan: Scharfe Kritik aus der Region

    Die israelische Regierung hat einen 40-Millionen-Schekel-Plan beschlossen, um die Zahl der israelischen Siedler*innen auf den besetzten syrischen Golanhöhen nach dem Sturz von Baschar al-Assad zu erhöhen. Laut Premierminister Netanjahu soll damit die israelische Präsenz gestärkt sowie Bildungsprojekte, erneuerbare Energien und Infrastruktur ausgebaut werden. Der Regionalrat des Golans begrüßt diesen Schritt und betont die Bedeutung von Wohnraum, Infrastruktur und Wirtschaftsförderung, um mehr Siedler*innen anzuziehen.

    Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate verurteilen den israelischen Beschluss scharf, sehen darin einen Verstoß gegen internationales Recht und eine Gefährdung von Syriens Souveränität und Stabilität. Sie fordern die internationale Gemeinschaft auf, diesen Schritt zu verurteilen.

    Die Golanhöhen sind seit 1967 von Israel besetzt und 1981 annektiert, was international weitgehend nicht anerkannt ist. Nach dem Sturz des Assad-Regimes griff Israel verstärkt in Syrien an, unter anderem mit Luftangriffen. Der syrische Kommandeur Ahmad al-Schara meint, Israels Argumente für solche Interventionen seien hinfällig, und warnt vor weiteren Spannungen in der Region.

    Arabische Kontaktgruppe setzt auf UN-gestützten Friedens- und Wiederaufbauprozess in Syrien

    Die „Arabische Kontaktgruppe“ hat sich nach dem Sturz des Assad-Regimes für einen von den UN begleiteten, friedlichen politischen Übergangsprozess in Syrien ausgesprochen. In ihrer Abschlusserklärung vom 14. Dezember in Aqaba bekräftigt sie die Unterstützung des syrischen Volkswillens, fordert eine inklusive, von allen gesellschaftlichen Gruppen Syrien getragene Übergangslösung und verweist auf die UN-Resolution 2254 als Grundlage für freie, faire und von der UN beaufsichtigte Wahlen. Zudem sollen humanitäre Hilfe und der Schutz der staatlichen Institutionen gesichert, Terrorismus bekämpft sowie Rahmenbedingungen für eine freiwillige Rückkehr von Geflüchteten geschaffen werden.

    Die Kontaktgruppe fordert einen sofortigen Stopp aller militärischen Handlungen und betont den Bedarf an nationalem Dialog, Versöhnung und Rechtsstaatlichkeit ohne Vergeltung. Sie verurteilt zudem jede fremde Besatzung, insbesondere das israelische Vordringen in syrische Gebiete, und macht deutlich, dass die Golanhöhen syrisches, von Israel besetztes Land sind.

    Unter den Teilnehmenden befanden sich hochrangige Vertreter*innen arabischer Staaten, der Vereinten Nationen, der EU sowie internationale Partner wie die USA, die Türkei und europäische Staaten. Nach dem Sturz des Assad-Regimes übernahm eine Übergangsregierung unter Mohammed al-Bashir die Amtsgeschäfte. Die Kontaktgruppe strebt nun eine enge Abstimmung mit internationalen Partner*innen an, um den Wiederaufbau Syriens im Sinne einer geeinten, sicheren und stabilen Zukunft für das syrische Volk voranzutreiben.

  • Gemeinsam für mehr migrantische Stimmen in den Medien

    Die letzte Zeit war für uns sehr angespannt. Nicht nur wegen der Lage in Syrien, über die ich stetig im „syrien update”-Newsletter berichte ( hier zu Anmelden), sondern auch wegen der Finanzierung von kohero.

    Vor Kurzem gehörte kohero zu den 10 von insgesamt 136 Medienprojekten, die Ende November beim Media Forward Fund in Berlin vor einer Jury um eine große Förderung pitchen durften. Wir haben hart dafür gearbeitet und das gesamte Team war sehr aufgeregt. Wir hatten große Pläne: Wir wollten mit dieser Förderung eine nachhaltige und stabile finanzielle Grundlage schaffen, sodass wir uns noch mehr auf die Qualität unserer redaktionellen Inhalte konzentrieren und für diese eine größere Reichweite erzielen können.

    Mit dem Geld wollten wir uns auch auf das Marketing und den Vertrieb unserer Formate fokussieren sowie weitere Lücken im Markt schließen. Eines dieser neuen Formate ist „hamburg mit k“, der erste lokale migrantische Kultur-Newsletter.

    Die Entscheidung, wer eine Förderung bekommt, hatte mehrere Runden. Jede neue Runde, in die wir gekommen sind, hat uns gezeigt, dass wir den richtigen Weg eingeschlagen haben. Darauf sind wir stolz. Doch leider haben wir in der vergangenen Woche, am Dienstag, die Rückmeldung erhalten: Wir bekommen keine Förderung.

    Dabei hatten wir uns so viel von dieser Förderung erhofft, weil dieser Fond der erste im deutschsprachigen Raum ist, der gemeinwohlorientierte und gemeinnützige Medien wertschätzt. Bedauerlicherweise bekamen wir eine Absage. Wir hatten so sehr auf diese finanzielle Unterstützung gehofft, da sie uns Zeit gegeben hätte, unsere finanzielle Stabilität weiter auszubauen. Nun fehlt uns diese Zeit.

    Dabei ist unsere Arbeit jetzt so wichtig wie nie zuvor. Politische Hetze gegen Menschen mit Flucht- und Migrationsgeschichte ist allgegenwärtig – und wird auch im kommenden Wahlkampf Teil der Kampagnen sein. Nur mit einem starken migrantischen Journalismus können wir dagegenhalten und mehr Verständnis schaffen.

    Da wir mit der Absage des Media Forward Fundes die letzte Chance auf eine externe finanzielle Unterstützung verloren haben, bleibt uns nur noch unsere Community, um kohero weiterzuführen! Wir brauchen dringend 1.000 Member, die uns regelmäßig finanziell unterstützen. Wenn dir unsere Arbeit gefällt und du möchtest, dass wir weiterhin Repräsentation und Vielfalt in die deutsche Medienlandschaft einbringen, unterstütze uns als Member. Mit dir als Teil unserer kohero kommunity können wir es schaffen!

    Gerade jetzt, in der Weihnachtszeit – der Zeit des Gebens – würden wir uns sehr freuen, wenn du Member bei uns wirst. Das geht schon ab 5 € im Monat oder 60 € im Jahr. Als Dank bekommst du dafür unsere Printausgabe und den Migrantischen Kalender. Wenn du 10 € monatlich (oder 100 € jährlich) beiträgst oder im dritten Modell 35 € monatlich (oder 365 € jährlich), erhältst du neben der Printausgaben und dem Migrantischen Kalender weitere Goodies. Hier kannst du Member werden.

    Wir bitten dich herzlich, mit dem Abschluss einer Membership oder aber einer kleineren oder größeren einmaligen Spende (IBAN DE 61 2005 0550 1502 1714 89) kohero zu helfen, weiterhin migrantischen Journalismus fortzusetzen und so zu mehr Zusammenhalt in der Gesellschaft beizutragen.

    Danke, dass du da bist und an kohero glaubst.

    Das kohero-Team und ich wünschen dir eine fröhliche, unbeschwerte Weihnachtszeit und einen guten Start in ein friedliches und buntes neues Jahr.

    Herzliche Grüße
    Hussam und das Team von kohero

     

    Außerdem haben wir aktuell ein besonderes Angebot für dich: 25 % Rabatt auf unser aktuelles Printheft und unseren Migrantischen Kalender 2025.

    Natürlich auch gemeinsam als Bundle! Verwende einfach den Code Shukran bei deiner nächsten Bestellung in unserem Shop: https://kohero-shop.de/discount/Shukran.


    3 Tipps aus dem kohero-Shop: Kinder- und Elternbücher

     

    Lina Atfah – Das Buch von der fehlenden Ankunft. Gedichte Arabisch-Deutsch.

    Sie gleichen einem traumwandlerischen Tanz auf einer Rasierklinge: Hier Verse, die in präziser Bildhaftigkeit wie Schnappschüsse ihren Fokus auf die zerrissene Heimat Syrien richten, auf Flucht, Vertreibung und Verbrechen.

    Dort sinnliche Gedichte, die vollgesogen sind von allerlei arabischen Mythen und Geschichten. Und über alldem: eine junge poetische Stimme, die in ihrem Anspielungsreichtum ihresgleichen sucht.

    Lina Atfah wurde 1989 in Syrien geboren und studierte in Damaskus arabische Literatur. 2014 erhielt sie die Erlaubnis, das Land zu verlassen und kam nach Deutschland. 2019 wurde ihr erster Gedichtband auf Deutsch veröffentlicht: »Das Buch von der fehlenden Ankunft«, auf das 2022 der Band »Grabtuch aus Schmetterlingen« folgte. 2020 wurde sie im Rahmen der Frankfurter Buchmesse mit dem LiBeraturpreis ausgezeichnet. Seit 2014 lebt Lina Atfah in Wanne-Eickel in NRW.

     

    Luna Al-Mousli – Um mich herum Geschichten

    Wenn Luna Al-Mousli sich ihre Kindheit inmitten einer chaotischen Großfamilie in Erinnerung ruft, dann läuft sie in Gedanken die Wohnungen der Großeltern, Tanten und Onkel in Damaskus ab. Viele Details haben sich unwiderruflich in ihr Gedächtnis gebrannt. Geräusche, Gerüche und Gegenstände. Kleine Schätze und bedeutungsvolle Dinge – auf den ersten Blick nicht immer als solche zu erkennen.

    Doch Luna Al-Mousli lauscht und hört ganz genau hin, bis die Gegenstände ihr ihre Geschichten erzählen. Da ist die Promotionsurkunde, die, statt für alle sichtbar, versteckt hinter der Tür hängt. Oder die Oud, die arabische Laute, die so lange nicht gespielt wurde. Da sind ein Schrank mit einem abgetragenen Anzug und ein Schlüssel, der zu keiner Tür mehr passt. Oft wissen die unbewegten und unbelebten Gegenstände am besten von den bewegenden und lebendigen Geschichten zu erzählen, die sich tagein und tagaus um sie herum abspielen und denen ein großer Zauber innewohnt.

    Lina Atfah – Grabtuch aus Schmetterlingen. Gedichte Arabisch-Deutsch

    Deine geschlossenen Lider, Engel, bedeckt ein Grabtuch aus Schmetterlingen.

    »Da der Schmetterling uns als das metamorphische Wesen par excellence vor Augen flattert, ist er im Titel des Buches gut aufgehoben: Grabtuch aus Schmetterlingen – ein Bild, das so verstörend wie unwiderstehlich ist. Bedenkt man jedoch, dass der Schmetterling seit der Antike als Verkörperung der Seele gilt, dass Verpuppung und Wiederauferstehung zu seinem Wesen gehören, so birgt dieses Grabtuch zugleich Trost, weil es Hoffnung auf ein neues Erwachen macht, wenn auch in anderer Gestalt.«

    Lina Atfah wurde 1989 in Syrien geboren und studierte in Damaskus arabische Literatur. 2014 erhielt sie die Erlaubnis, das Land zu verlassen und kam nach Deutschland. 2019 wurde ihr erster Gedichtband auf Deutsch veröffentlicht: »Das Buch von der fehlenden Ankunft«, auf das 2022 der Band »Grabtuch aus Schmetterlingen« folgte. 2020 wurde sie im Rahmen der Frankfurter Buchmesse mit dem LiBeraturpreis ausgezeichnet. Seit 2014 lebt Lina Atfah in Wanne-Eickel in NRW.

  • Bitterorangen-Marmelade – ein Gericht, das 12 Jahre Sehnsucht überwindet

    Wann hattest du deine Familie das letzte Mal gesehen? Bei meinem Kollegen Amad, der seine Geschichte in dieser Ausgabe von nelken & nostalgie teilt, waren es 12 Jahre. Er ist 2012 aus Syrien geflüchtet.

    In den letzten Tagen hat er nicht nur (verzweifelt) versucht, die Mengenangaben für die Bitterorangen-Marmelade seiner Mutter zu bekommen — eine kollektive Herausforderung aller Autor*innen bisher, da viel nach Gefühl gekocht wird — sondern auch ständig mit seiner Familie in Syrien wegen der aktuellen Entwicklungen telefoniert. Und während ich Tränen in den Augen hatte, als ich Amads Text Korrektur gelesen habe, war Amad die ganze Woche am Strahlen. So positiv, hoffnungsvoll und energiegeladen habe ich Amad noch nie erlebt. Seit dem Sturz des Assad-Regimes in seiner Heimat scheint ein erneuter Besuch seiner Familie greifbar wie nie zuvor. Es werden hoffentlich keine weiteren 12 Jahre sein.

    Wenn du verstehen möchtest, warum die Lage in Syrien derzeit so außergewöhnlich ist und wie Menschen aus Syrien den Sturz des Regimes erleben, empfehle ich dir übrigens den Newsletter „syrien update.

    Ich wünsche dir viel Spaß beim Lesen von Amads Beitrag und beim Nachkochen!

    Deine Natalia

    PS: Inzwischen haben schon so einige Menschen aus unserem kohero Team und der Community ihre Geschichten und Lieblingsrezepte geteilt. Wenn auch du deinen Beitrag für diesen Newsletter schreiben möchtest, schick mir deine Idee gerne hier.


    Anfang des Jahres hatte ich die Gelegenheit, meine Mutter nach fast 12 Jahren Trennung wiederzusehen. Die Reise war für den Juni geplant, aber die Vorbereitungen für unser Treffen begannen schon Monate vorher.

    „Was wünschst du dir am meisten im Exil? Sag es mir, wünsch dir etwas“, sagte meine Mutter immer wieder. Doch trotz ihrer wiederholten Versuche bat ich sie um nichts. Ich wollte sie nicht belasten und dachte, dass mir das gelungen sei. Eines Tages fragte ich sie schließlich, ob es möglich sei, Marmelade aus Bitterorangen vom Markt zu besorgen – nur, um sie nicht zu überfordern.

    Am nächsten Morgen schickte sie mir detaillierte Bilder, die alle Schritte der Marmeladenzubereitung zeigten, in sehr guter Qualität. Ich dachte, sie hätte sie in sozialen Medien gefunden. Verwundert fragte ich sie: „Was für ein Zufall! Woher hast du diese Bilder? Wir haben doch erst gestern Abend über Bitterorangen-Marmelade gesprochen, und heute schlagen sie dir das auf Facebook vor.“ Die überraschende Antwort war, dass sie früh am Morgen direkt Orangen gekauft und die Marmelade selbst zubereitet hatte.

    Ja, das ist eine Mutter, die ihren einzigen Sohn seit elf Jahren nicht gesehen hat. Hätte ich mir das Unmögliche gewünscht, sie hätte es mir gebracht – wie wir in Syrien sagen: „Selbst die Milch eines Vogels würde sie holen.“

    Die Sprache der Liebe in meiner Heimat ist das Essen. Viele Syrer*innen haben andere Sprachen der Liebe nicht gelernt; Essen ist zur primären Ausdrucksform der Zuneigung geworden. Die beste Art, Liebe zu zeigen, ist es, das Lieblingsgericht der geliebten Person zuzubereiten. Um Gäst*innen zu ehren, würde der*die Gastgeber*in sogar Schulden aufnehmen, nur um ein angemessenes Mittagessen anbieten zu können. So zeigte meine Mutter ihre Sehnsucht und ihr Verlangen, mich zu sehen, indem sie diese aufwendige Marmelade zubereitete. Sie ließ mich spüren, wie sehr sie mich vermisste.

    Als ich meine Mutter dann endlich wiedergesehen habe und die Marmelade zum ersten Mal probierte, war ich wieder ein kleines Kind. Ich legte meinen Kopf in den Schoß meiner Mutter, küsste ihre Hände, die die Orangen geschält hatten, und spürte den Duft der Früchte an ihren vertrauten Fingern. Ich erinnerte mich an die Momente, in denen ich an regnerischen Wintertagen von der Schule nach Hause kam, unter dem sanften Regen der Mittelmeerküste.

    Viel Spaß beim Ausprobieren!

    Dein Amad


    Das Rezept: Bitterorangen-Marmelade

    Zutaten:

    • Bitterorangen
    • Zucker
    • Wasser

    Für ein Glas brauchst du ungefähr 4–5 Orangen. Die Menge des Zuckers ergibt sich aus dem Volumen der Orangen. Sobald du die Orangen verarbeitet hast (siehe Zubereitung), bemisst du das ungefähre Volumen (nicht das Gewicht!) der Orangen und nimmst den gleichen Anteil an Zucker für die weitere Verarbeitung.

    Zubereitung:

    1. Orangen waschen, die Schale abreiben, Orangen halbieren und auspressen (den Saft kannst du für andere Rezepte nutzen) und das Innere entfernen.
    2. Die Schalenhälfte mit Kochfäden zusammenbinden. 2-3 Tage in Wasser einlegen. Dieses regelmäßig wechseln, bis es nicht mehr bitter ist.
    3. Anschließend Zucker im Volumen der eingelegten Schalen bemessen und mit den Orangenschalen und dem Wasser in einem Topf kochen lassen, bis die Schalen weich werden und der Sirup dickflüssig wird. Falls du zu wenig Wasser genommen hast und die Masse zwar dickflüssig, die Schalen aber noch nicht weich sind, einfach mehr Wasser dazugeben.
    4. In Gläser abfüllen.

    Das Geheimnis

    Diese Art von Orangen findet man nur in den Küstenregionen des Mittelmeers, was es außerhalb dieser Regionen schwierig macht, sie zu bekommen. Ihr Geschmack ist sauer, mit einem Hauch von Bitterkeit, weshalb sie sich besser für Säfte und das Kochen eignen, als zum „rohen“ Essen. Meine Mutter bewahrte den Saft auf, um damit Gerichte wie Molokhia oder Spinat-Eintöpfe mit Radieschen zu säuern. Auch die Schale hat einen intensiven Duft, weshalb meine Mutter sie geriebene für Süßspeisen und Gebäck verwendet.

    Da Bitterorangen hier in Deutschland schwer zu bekommen sind, kannst du auch „normale“ Bio-Orangen für die Zubereitung nutzen. Diese musst du nicht mehrere Tage lang einlegen.




  • Mehr Freiheit im Tod – Rheinland-Pfalz reformiert Bestattungsgesetz

    Wusstest du, dass in Rheinland-Pfalz Totenasche bald nicht mehr zwingend auf Friedhöfen beigesetzt werden muss? Das hat der Ministerrat Anfang Dezember in einer neuen Regelung des Bestattungsgesetzes beschlossen. Mit der Zustimmung der verstorbenen Person können Privatpersonen die Urne nun zu Hause aufbewahren oder die Asche unter bestimmten Bedingungen, z. B. in einem Fluss, verstreuen. Außerdem werden Erdbestattungen ohne Sarg für alle möglich – nicht mehr nur aus religiösen Gründen.

    Zwar stehen die endgültige Entscheidung des Landtags im Frühjahr und eine Anhörung des Bundesverbands der Bestatter*innen sowie der Kommunen noch aus, doch bis Sommer 2025 könnte das neue Gesetz in Kraft treten.

    Warum ist das wichtig?

    Das bisherige Bestattungsgesetz in Rheinland-Pfalz, wie auch in anderen Bundesländern, ist über 40 Jahre alt und spiegelt die Bedürfnisse einer veränderten Gesellschaft kaum wider. Angesichts des steigenden Wunsches nach vielfältigen Bestattungsformen und der wachsenden Beliebtheit der Feuerbestattung (80 % der Fälle) war eine Reform dringend notwendig. In anderen europäischen Ländern sind diese neuen Bestimmungen bereits üblich.

    Die sogenannte „Beisetzungspflicht“ ist in Deutschland stark umstritten. Tatsächlich wird die Nichteinhaltung „nur“ als Ordnungswidrigkeit behandelt und kaum kontrolliert, da die Regelungen von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich sind. Es ist also über komplizierte Umwege heute schon möglich, die Asche mit nach Hause zu nehmen, und manche Bundesländer erlauben die Mitnahme und Verstreuung der Asche unter bestimmten Voraussetzungen bereits. Doch nur wenige Menschen wissen davon. Für viele, insbesondere für marginalisierte Gruppen, fehlen oft die notwendigen Kontakte, um ihre Bestattungswünsche umzusetzen.

    Das ist einer der Gründe, warum viele ihre Verstorbenen nach wie vor (wenn möglich) in ihre Heimat überführen oder sie reisen ins europäische Ausland (Niederlande, Schweiz), um ihren Angehörigen eine Bestattung gemäß ihren kulturellen und spirituellen Wünschen zu ermöglichen. Von Politiker*innen und in den Medien wird das abfällig als „Bestattungstourismus“ bezeichnet, obwohl es für viele Menschen eine absolute Notwendigkeit ist und viele Probleme schafft.

    Hinzu kommt, dass in Deutschland Seebestattungen nur in bestimmten Gebieten und unter militärischem Protokoll durchgeführt werden. Für Geflüchtete, die vor militärischer Gewalt flohen, ist das ein großer Affront. Doch für Religionen, wie den hinduistischen, in denen Flussbestattungen praktiziert werden, ist diese Reform eine große Erleichterung, sowohl spirituell und emotional als auch organisatorisch und finanziell.

    Abgesehen von individuellen Präferenzen und spirituellen Bedürfnissen, bietet die Tuchbestattung eine kostengünstige und umweltfreundliche Alternative. Man muss aber beachten, dass bei Tuchbestattungen weiterhin Holz verwendet (Stichwort: Verwesungsprozess) und meistens ein Sarg für die Aufbewahrung und Transport zum Grab benötigt wird. Hier gibt es also noch Optimierungsbedarf.


    Herausforderungen und Chancen

    Die Reform ist damit nicht nur eine gesetzliche Anpassung, sondern auch ein Akt der Anerkennung individueller Lebensrealitäten und der Gleichberechtigung, insbesondere marginalisierter Gruppen. Damit respektiert das neue Bestattungsgesetz die Vielfalt der Bestattungsrituale und -bedürfnisse, die in Deutschland längst schon Realität ist.

    Gleichzeitig entstehen neue Herausforderungen: Wie werden Urnen zu Hause sicher aufbewahrt? Wo und wie entstehen gemeinsame Orte des Gedenkens? Kommunen müssen sich auf sinkende Einnahmen einstellen.

    Eine Hoffnung ist, dass diese Entwicklung und Diversifizierung der Bestattungspraktiken neue Formen des Gedenkens und Begegnens schaffen, zum Beispiel auf den Friedhöfen, die sich jetzt schon auf die veränderten Bedürfnisse der Gesellschaft einstellen müssen (siehe letzter Newsletter).

    Stimmen zur Reform

    In den sozialen Medien wird die Reform überwiegend positiv aufgenommen. Viele begrüßen die Abschaffung der Bestattungspflicht als überfällig, betonen die Bedeutung von Friedhöfen als Trauerorte und/oder fordern Wahlfreiheit bei der Bestattungsform. Die Hoffnung ist groß, dass andere Bundesländer nachziehen.

    Die Kirche kritisiert die Gesetzesänderung als Bruch mit der bisherigen Bestattungskultur. Sie sieht den Schutz der Totenruhe gefährdet, dass Angehörige die Asche „in Besitz nehmen“ könnten und gemeinsame Gedenkorte verloren gehen.

    Umweltschützer*innen bemängeln, dass bei der Einäscherung Schwermetalle wie Chrom freigesetzt werden können, die hochgiftig, wasserlöslich und umweltschädlich sind. Diese Stoffe kommen aus Materialien wie Zahnfüllungen, Implantaten, Schmuck oder chromgegerbtem Leder in Särgen und Kleidung. Obwohl deutsche Krematorien strengen Umweltauflagen unterliegen und moderne Filter die Risiken reduzieren, können sich nicht alle Krematorien solche Filter leisten. Die Filter müssen zudem als Sondermüll gelagert werden. Ein komplexes Thema, das mehr Aufmerksamkeit benötigt.


    Viele feiern die Neuerungen als „liberalstes Bestattungsrecht Deutschlands“ und ich teile die Freude über diese überfälligen Lockerungen. Es gibt aber immer noch viel zu tun, damit alle Menschen würdevoll und selbstbestimmt in Deutschland bestattet werden können.

  • Syrien: Bei vielen kehrt langsam wieder mehr Realismus ein

    Nach der unglaublichen Erleichterung und dem Gefühl von Hoffnung, die wir durch den Sturz Assads in den letzten Wochen erlebten, kehrt bei vielen Syrer*innen langsam wieder mehr Realismus ein. Bei mir ist es jedenfalls so – besonders, wenn ich an die aktuellen politischen Entwicklungen, die wirtschaftliche Not und die ungewisse Zukunft vieler Syrer*innen denke. Die lange Herrschaft des Assad-Clans und die Schrecken der Diktatur und des Krieges haben tiefe Wunden hinterlassen. Dieses schmerzhafte Erbe hat bei vielen, auch bei mir, ein starkes Misstrauen gegenüber neuen Systemen und Führungen erzeugt. Es wächst die Sorge, dass ein neues Regime die Muster der Vergangenheit wiederholt.

    Diese Sorgen werden ehrlich gesagt auch verstärkt von den vielen Berichten, die mich aus Syrien erreichen. Es sind sehr viele internationale Journalist*innen im Land, zum ersten Mal seit über einer Dekade, und sie fangen an alles zu durchleuchten. Gestern habe ich einen Artikel in der Financial Times gelesen, in dem zwei Journalist*innen ein Meeting zwischen ehemaligen Assad Bürokraten und einem Technokraten der neuen, HTS-geführten Regierung.

    Die Schilderungen geben einen Einblick in die tiefe Korruption, Hierarchie der Angst und vor allem der Sinnlosigkeit des alten Regimes. Dieser Artikel hat mir einmal mehr vor Augen geführt, wie viel Arbeit auf die Syrerinnen und Syrer zukommt. Syrien braucht extreme Bemühungen, um überhaupt die Grundlage für einen funktionierenden Staat zu schaffen.

    Eine zentrale Frage bleibt auch die Rolle der islamistischen Rebellengruppen, insbesondere der HTS. Bis jetzt wirkt ihr Verhalten in Damaskus zu schön, um wahr zu sein. Werden sie wirklich ein freieres System erbauen, oder entwickeln sie sich ähnlich wie die Taliban in Afghanistan, oder das iranische Regime in den 1980 Jahren? Ihre Führung spricht von Hoffnung, Vertrauen und Ruhe für das syrische Volk … aber wie viele dieser Versprechen werden sie halten können?

    Syrien ist heute ein Land in Hoffnung und in Trümmern. Neben der wirtschaftlichen und physischen Zerstörung des Landes und des Staates gibt es auch die gesellschaftliche Zerstörung. Hier in Deutschland gibt es ein Verständnis davon, was viele Jahre Diktatur und Regime der Angst mit einer Gesellschaft machen. Der Begriff „gespalten“ kommt da zu kurz. Der Sturz von Assad hat bei vielen Menschen neue Zuversicht entfacht, viele wiederholen Sprüche der Revolution wie „Syrien ist eins“, oder „Wir haben gewagt, zu träumen“. Gleichzeitig sind die Herausforderungen auch enorm.

    Die Zukunft Syriens ist ungewiss. Wird es ein autoritäres Modell mit Fokus auf Wirtschaft wie in Saudi-Arabien, eine instabile Demokratie wie in der Türkei, oder ein repressives Regime wie im Iran? Es liegt an uns allen, gemeinsam den Wiederaufbau zu gestalten. Die nächsten Schritte werden zeigen, ob Hoffnung oder Chaos unser Schicksal bestimmen.

    Da die Entwicklungen in Syrien jetzt nicht mehr so rasant kommen, werden wir den Rhythmus dieses Newsletters ab dieser Folge etwas verlangsamen. Wir planen, dir jetzt 2–3 x pro Woche das „syrien update“ zu schicken.

    Danke und shukran, dass Du dabei bist! Falls Du neu dazu gekommen bist, fülle bitte diese kurze Umfrage aus.

     

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    Eine kurze Zusammenfassung der Lage

    Binnenvertriebene und humanitäre Lage:

    • UN-Bericht: Über eine Million zusätzliche Binnenvertriebene wurden seit dem Anfang der militärischen Operationen in Syrien registriert.
    • Internationales Rotes Kreuz: Forderung an alle Konfliktparteien, wichtige Dokumente wie Listen von Gefangenen und Verstorbenen zu schützen, um Familien von Vermissten Antworten zu ermöglichen.

    Proteste und Sicherheitslage:

    • Unruhen in Raqqa: Proteste gegen die kurdischen Einheiten führten zu Todesopfern. SDF-Kommandeur Mazloum Abdi versprach Transparenz und Rechenschaft, um die Lage zu beruhigen.

    Politische und militärische Entwicklungen:

    • Waffenstillstandsabkommen in Manbidsch ist in Kraft: Die Syrischen Demokratischen Kräfte (engl.: SDF) streben eine Integration in die syrische Armee an.
    • Neue Übergangsregierung in Syrien: Die Regierung plant die Aussetzung von Verfassung und Parlament für drei Monate. Aber sie verspricht die Errichtung eines Rechtsstaats.
    • Russland sichert seine militärische Präsenz auf ihren Stützpunkten in Hmeimim und Tartus.
    • Internationale Gespräche: Jordanien richtet ein Treffen mit Außenministern aus den USA, der EU, der Türkei und arabischen Staaten aus, um die Lage in Syrien zu erörtern.

    Ermittlungen und Rechenschaft:

    • UN-Untersuchungen: Geheime Listen mit 4.000 hochrangigen Tätern des Assad-Regimes wurden erstellt, um die Verantwortlichen für schwere Verbrechen vor Gericht zu bringen.
    • „Caesar“-Dossiers: Enthüllung der Identität von Osama Othman, der maßgeblich bei der Dokumentation der Folterverbrechen mitgeholfen hat. Die Bilder sind zentrale Beweismittel gegen das Assad-Regime.

    Internationale Reaktionen:

    • Asylpolitik: Mehrere europäische Länder, darunter Deutschland, Frankreich und Schweden, haben die Bearbeitung von Asylanträgen syrischer Flüchtlinge ausgesetzt.
    • Russische Getreidelieferungen: Lieferungen wurden gestoppt, während die Ukraine ihre Bereitschaft signalisierte, Syrien mit Lebensmitteln zu versorgen.

    Assads Flucht:

    • Flucht nach Moskau: Baschar al-Assad verließ Syrien heimlich, ohne selbst engste Vertraute wie seinen Bruder Maher zu informieren.
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