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  • roots&reels #3: Joyland

    Meine Eltern kommen beide aus Pakistan und es gibt für mich nur zwei Momente, in denen ich mich besonders pakistanisch fühle. Zum einen, wenn die Cricket-WM läuft (aber bitte frag mich jetzt nicht, wie Pakistan dieses Jahr spielt) und wenn die Mango-Saison in vollem Gang ist.

    Neuerdings musste ich mir eingestehen, dass es noch einen dritten Moment gibt: Wenn ein pakistanischer Film auf einem internationalen Filmfestival läuft. Wenn das Programm eines Filmfestivals angekündigt wird, ist es oft das Erste, wonach ich suche. Ich rufe die Website auf, klicke auf „Country“, suche im Drop-Down-Menü nach … Polen, nein … Palästinensische Gebiete … cool, aber wo ist Pakistan? Warum gibt es schon wieder keinen pakistanischen Film?

    Jedes Jahr werden mehrere Filme aus Indien eingeladen, nach Berlin, nach Cannes, nach Venedig, aber pakistanische Filme konnten bisher nicht aus dem Schatten der benachbarten Filmindustrie austreten. Oft ist es eine Frage der Qualität und auch der Ressourcen. Natürlich produziert auch Pakistan viele Filme, doch das Land hat sich eher als großer Fernsehmarkt etabliert. Auch indische Sender kaufen pakistanische Fernsehserien für das indische Publikum ein und somit ist das Kino eher ein zweitrangiges Geschäft. Und ich habe noch gar nichts zur Zensurbehörde gesagt, die pakistanischen Filmemachenden das Leben zusätzlich erschwert.

    Aber das ändert sich jetzt alles so langsam. Saim Sadiqs „Joyland“ hat letztes Jahr in Cannes mehrere Preise gewonnen, darunter den Queer Palm. Ein Jahr davor hat sein Kurzfilm „Darling“ in Venedig den Preis für den besten Kurzfilm gewonnen. Diesen Monat wird die pakistanisch-kanadische Produktion „In Flames“ von Zarrar Khan auf dem Filmfest in Mannheim-Heidelberg deutsche Premiere feiern, nachdem der Film bereits in Cannes und Toronto gelaufen war. Gut, das sind jetzt nur zwei Filme, aber lass mich bitte optimistisch sein.

    Und all das wäre ja irrelevant, wenn die Filme nicht gut wären. Zum Glück ist „Joyland“ ein Meisterwerk. Heute startet der Film auch in den deutschen Kinos, mach dir also gerne ein eigenes Bild von diesem Gesellschaftsdrama, der von Mitgliedern einer Familie handelt, die inmitten einer patriarchalen Struktur versuchen, ihren eigenen Weg zu gehen. Allen voran Haider, der auf der Suche nach einem Job, um seine schwangere Frau zu unterstützen, in einem Burlesque-Theater zu arbeiten anfängt und sich in die Tänzerin Biba verguckt, eine Transfrau. Ein wirklich einfühlsamer, intelligenter Debütspielfilm von Sadiq.

    Im Spotlight: Esra und Patrick Phul

    Hallo Esra und Patrick, stellt euch bitte kurz vor.

    Wir sind deutsche Filmemacher mit Migrationsgeschichte. Letztes Jahr haben wir die Rap-Musical-Serie HYPE herausgebracht als Produzenten, Regisseure und Drehbuchautoren. Und dieses Jahr haben wir die Veranstaltung „Talent over Privilege“ ins Leben gerufen.

    Was genau ist „Talent over Privilege“?

    „Talent over Privilege“ ist eine Bewegung und Plattform, die sich für mehr Sichtbarkeit und Chancengleichheit von Filmschaffenden mit Migrationsgeschicht ein der deutschen Filmbranche einsetzt. Unser Ziel ist es, die Missstände in der Branche aufzuzeigen, die oft denjenigen die Zugänge erschwert, die nicht dem Mainstream entsprechen und oft keine Privilegien haben. Das wollen wir verändern. Wir glauben, dass Talent und Vielfalt über Herkunft und Privilegien stehen müssen. „Talent over Privilege“ arbeitet daran, diese Botschaft zu verbreiten und sorgt für eine inklusive, vielfältige Zukunft für die deutsche Filmbranche.

    Und was hat euch dazu bewegt, diese Veranstaltung ins Leben zu rufen?

    Wir würden uns als Quereinsteiger bezeichnen, wir sind erst seit 2 bis 3 Jahren in der Branche. Mit „Hype“ haben wir unser Debüt gegeben und wir haben gemerkt, wie ungerecht diese Branche ist. Viele Filmschaffende mit Migrationsgeschichte haben keinen Zugang, der deutsche Film ist ein elitärer Kreis, den wir durchbrechen wollen.

    Wir haben im letzten Jahr die deutschen Fernsehpreis- oder Filmpreisverleihungen beobachtet, das war alles sehr weiß, die ganzen Jurys sind weiß, das spiegelt die Gesellschaft gar nicht wider. Das hat uns wütend gemacht. Und wir verstehen das nicht, weil wir hier sind, wir sind da, wir sind talentiert und wir wollen auch ein Teil davon sein. Das war der Grund: Wenn wir nicht ein Teil davon sein können, dann müssen wir eben unsere eigene Preisverleihung, unsere eigene Veranstaltung auf die Beine stellen. Und aus dieser Motivation heraus ist das Ganze entstanden.

    Wie lief die erste „Talent over Privilege“-Veranstaltung im Oktober in Köln?

    Die Veranstaltung war ein voller Erfolg. Das ist alles viel besser, vielkrasser geworden, als wir uns das vorgestellt haben. Die Resonanz war durchwegpositiv. Menschen aus der Filmbranche, mit Migrationsgeschichte, sind auf unszugekommen und haben sich bei uns bedankt, weil sie sonst nicht gesehen werden. Dass es endlich so eine Veranstaltung gibt, wo wir die Entscheider sind, wir die Jury besetzen, wir bestimmen, wer auf die Bühne darf und so weiter. Das ist ein großer Meilenstein in der deutschen Filmbranche und wir freuen uns, dass das so gut angekommen ist.

    Was war euer Highlight?

    Unser Highlight, nicht nur für uns, sondern für die meisten Anwesenden, war der Opening-Song der Preisverleihung, den wir extra für die Veranstaltung produziert haben und den der Rapper Osiriz33 performed hat. Das war sehr geil!

  • roots&reels #2: Palestinian Stories

    200 Meter – das ist die Entfernung zwischen Mustafa und seiner Familie. Die israelische Grenzmauer trennt die beiden voneinander, sie sehen sich meist nur über ihre Balkone. Obwohl Mustafas Frau und drei Kinder die israelische Staatsbürgerschaft haben und er dadurch auch eine beantragen könnte, weigert er sich, als Palästinenser diesen Weg zu gehen. „Ich möchte keinen israelischen Ausweis!“, erwidert er eines Tages, als seine Frau ihn darauf anspricht. So bleibt es nur bei traurigen Telefonaten oder bei gelegentlichen, zeitlich begrenzten Besuchen.

    Eines Tages bekommt Mustafa einen Anruf. Sein Sohn hat sich verletzt und ist im Krankenhaus. Jetzt muss er dringend für seine Familie da sein. Doch sein Passierschein ist abgelaufen. Wie kommt er jetzt an der harten Grenzkontrolle vorbei? Hier verwandelt sich der Film vom banalen Alltagsdrama in ein spannendes Road Movie. Und die Entfernung zwischen Mustafa und seiner Familie weitet sich ins Unendliche aus.

    Ameen Nayfeh ist mit „200 Meters“ ein bemerkenswerter Debütfilm gelungen, mit einer bemerkenswerten schauspielerischen Leistung von Ali Suliman in der Hauptrolle. Du solltest dir diesen Film auf jeden anschauen, wenn du auf einer nuancierten und menschlichen Art und Weise erfahren möchtest, was Palästinenser*innen in den illegal besetzten Gebieten permanent durchmachen müssen und wie Aktionen, die für uns so alltäglich erscheinen, hier eine ganz andere Dimension der Unterdrückung annehmen.

    Der Film ist wie viele andere „Palestinian Stories“ auf Netflix verfügbar. Doch Achtung: Du solltest besser deine Spracheinstellungen auf Englisch umswitchen, es kann sein, dass die Filme in der deutschsprachigen Netflix-Version, trotz eines deutschen Netflix-Accounts, gar nicht angezeigt werden. Das war für viele der Fall, als Netflix diese Kollektion 2021 veröffentlichte.

    Ein paar weitere Filme, die ich empfehlen kann, neben den vielen sehenswerten Kurzfilmen wie „The Crossing“, „A Drowning Man“, „The Present“ oder „Ave Maria“ ist „3000 Nights“ von Mai Masri. Masri ist eine Regie-Legende, unter anderem ist sie auch für ihren Dokumentarfilm „Children of Shatila“ über Kinder im libanesischen Geflüchteten-Camp Shatila bekannt. In „3000 Nights“ porträtiert Masri das israelische Gefängnissystem als einen weiteren Ort der Entmenschlichung palästinensischer Individuen.

    Layal, gespielt von Maisa Abd Elhadi, wird verhaftet, nachdem sie sich weigert, gegen einen Jugendlichen auszusagen. Sie kennt diese Person gar nicht, hat ihr lediglich eine Mitfahrgelegenheit angeboten. Dass diese Person im Visier der israelischen Justiz war, wusste sie nicht, als sie von A nach B gefahren ist. Und das bringt sie für acht Jahre hinter Gittern. Im Gefängnis erfährt sie, dass sie schwanger ist. Dieser Film beruht auf wahren Begebenheiten.

    „3000 Nights“ funktioniert sehr gut als Double-Bill mit „Ghost Hunting“ von Raed Andoni. In diesem außergewöhnlichen Dokumentarfilm werden ehemalige palästinensische Gefangene gebeten, ihre Inhaftierung beziehungsweise Vernehmung durch die israelische Polizei nachzustellen und dadurch ihr Trauma einerseits wieder zu erleben, aber andererseits auch zu verarbeiten. Der Film ist in Teilen echt hart, aber auch absolut essentiell, wie ich finde, wie so viele in dieser Netflix-Kollektion, weil er aus einer dezidiert palästinensischen Perspektive heraus erzählt.

    Eine Perspektive, die in Deutschland leider viel zu oft viel zu kurz kommt. Erst recht in Film und Fernsehen und überhaupt in den Medien. Habt ihr schon mal einen palästinensischen Film oder Filme mit palästinensischen Geschichten gesehen? Habt ihr eigene Empfehlungen? Oder habt ihr andere Filme in den letzten Wochen und Monaten gesehen, die ihr erwähnen möchtet? Schreibt mir, ich würde eure Tipps gerne in nächsten Ausgaben teilen.

    Und ich weiß, dass ich in der letzten, der ersten Ausgabe von roots & reels geschrieben hatte, dass ab heute auch Rubriken wie „Streaming-Tipps“ oder „Gespräche mit Filmschaffenden“ erscheinen werden. Nun, alle genannten Filme sind auf einer Streaming-Plattform verfügbar. Den zweiten Punkt werde ich in der dritten Ausgabe nachholen – versprochen! Alle guten Dinge sind ja sowieso drei oder so. Danke für eure Geduld und fürs Lesen! Bis zum nächsten Mal.

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