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  • Tarte au Citron: eine Postkarte aus der Vergangenheit

    Herzlich willkommen zu einer neuen Ausgabe nelken & nostalgie! Heute teilt Victoria ein Rezept aus Frankreich mit dir: Die Tarte au Citron – eine spritzig-frische Zitronentarte, gekrönt mit einem luftig-leichten Hauch Baiser.

    Victorias Wurzeln liegen irgendwo zwischen Straßburg, Brüssel und Zürich. Vor allem aber sind sie eins: französisch. Ihre beiden Eltern sind im französischsprachigen Raum aufgewachsen, und ein großer Teil ihrer Familie lebt bis heute in Frankreich.

    Victoria sagt über sich: “Mein Herz schlägt für Archäologie, Kunst und Geschichte – und seit kurzem auch für den Journalismus. Ich schreibe als freie Autorin für DIE ZEIT und bin bei kohero, weil ich überzeugt bin: Heute brauchen wir mehr denn je interkulturellen Zusammenhalt und die Offenheit, voneinander”.

    Ihr Zitronentarte-Rezept macht auf jeden Fall Lust auf Sommer, Wind und Wellen.

    PS: Inzwischen haben schon mehrere Menschen aus unserem kohero Team und der Community ihre Geschichten und Lieblingsrezepte geteilt. Wenn auch du deinen Beitrag für diesen Newsletter schreiben möchtest, schick mir deine Idee gerne hier.


    Tarte au Citron: eine Postkarte aus der Vergangenheit

    Früher verbrachten wir als Familie jeden Sommer in der Bretagne. Mit der Zeit wurde die raue Atlantikküste zu einem zweiten Zuhause für mich – vermutlich einer der Gründe warum ich den Norden so mag. Nach einem langen Tag am Meer, irgendwo zwischen salziger Luft, Wind im Haar, von Steinen gesäumten Buchten und der Jagd nach kleinen Krebsen im kniehohen Wasser, entdeckte ich sie zum ersten Mal: die Tarte au Citron.

    In einer kleinen Pâtisserie auf dem Heimweg lachte sie mich durch die Auslage an – sonnengelb, glänzend, eingefasst in mürben Teig, bedeckt mit fluffigem Baiser – beim Anbeißen ein leuchtend gelbes Versprechen von Sommer. Ich erinnere mich noch genau an diesen ersten Bissen: cremig, säuerlich, leicht wie Luft. Erstaunlich erfrischend – ein kleiner Pick-me-up nach Sonne, Wind und Wellen. Und plötzlich war sie mehr als ein Kuchen. Sie wurde zum Ritual.

    Seither ist sie mein kulinarischer Sommerbote – jedes Jahr ab Mai backe ich sie, als Auftakt in den Sommer. Und dann noch mindestens zwei weitere Male, bis die Blätter wieder fallen. Die Tarte au Citron ist mein ganz persönliches Stück Frankreich.

    Eine Tarte, viele Heimaten

    Ursprünglich stammt die Tarte au Citron wohl aus dem südfranzösischen Menton, wo sie bis heute im Frühling mit der farbenfrohen Fête du Citron gefeiert wird. Doch längst ist sie über Grenzen gewandert – als Lemon Pie in den USA, wo sie als kalifornische Spezialität gekannt und geliebt wird oder als Lemon Curd in England – abgepackt im Marmeladenglas. Und wie jedes Land ihre eigene Version geschaffen hat, habe ich das auch.

    In der Bretagne schmeckte sie nach Wind, Salz und Sonne – natürlich mit gesalzener Butter gebacken, ganz à la Breizh. In Paris empfahl man mir in einer Patisserie, Mandeln in den Mürbeteig einzuarbeiten – für mehr Struktur und Tiefe. Und in Toulouse pflückten wir Zitronen und Lavendel im Garten meiner Tante, der die Tarte dann schmückte.

    Auf all meinen Stationen – Zürich, Konstanz, Paris, Heidelberg, Hamburg – habe ich Freund*innen aus aller Welt gewonnen. Viele davon begleiten mich bis heute. Eine von ihnen ist meine englische Freundin Rachael, die ihren Lemon Pie ohne Baiser, dafür mit Blaubeeren und einer Prise mehr Salz im Teig serviert – eine überraschend feine Balance. Bei ihr habe ich zum ersten Mal gemerkt, wie fein abgestimmt ein Teig schmecken kann, wenn man mutig mit dem Salz ist.

    Jede dieser Zutaten hat sich still in mein Rezept eingeschrieben – wie kleine Postkarten aus der Vergangenheit.

    Was mir besonders Spaß macht: das Garnieren! Ein Basilikumblatt, Zitronenscheiben, Lavendel, Puderzucker oder einfach ein Tupfer Baiser. Die Tarte au Citron ist eine Leinwand – jede Version ist ein neues Bild, eine Erinnerung, ein Ort. Und genau so soll sie schmecken.

    Erinnerung, Ritual, Brücke

    So wurde die Tarte au Citron für mich zu mehr als einem Dessert. Sie ist ein Ritual. Eine Erinnerung. Eine Brücke zwischen Menschen, Ländern und Zeiten. Heute, in meiner kleinen Wohnung in Hamburg, backe ich die Tarte au Citron mit salziger Butter aus der Bretagne, Mandeln aus Paris, einem Hauch Lavendel aus Toulouse – und einem Lächeln für Rachael. Mit jedem Bissen spüre ich: Ich bin hier – und zugleich in Frankreich, in meiner Erinnerung, in meiner Geschichte.

    Ich hoffe, du startest mit meiner Tarte au Citron spritzig und luftig-leicht in den Sommer! Wo auch immer du bist, wo auch immer es dich hinzieht – Bon appétit und un petit morceau de patrie!

    Deine Victoria


    Das Rezept: La Tarte au Citron

    Zutaten für eine Tarte (ø28 cm):

    Für den Mürbeteig

    250 g Mehl

    125 g kalte Butter

    1 Ei

    1 Eigelb

    1 Prise Salz

    1 Pck. Vanillezucker

    3 EL Zucker

    etwas Butter für die Form

    etwas Mehl für die Form

    Optional: 1 EL Mandelpulver

    Für die Zitronen-Füllung

    2 Eier

    2 Eigelbe

    1 EL Speisestärke (alternativ 3 Esslöffel Mehl)

    100 g Puderzucker

    150 ml frisch gepresster Zitronensaft

    1 TL frisch geriebene Zitronenschale

    Für das Baiser

    3 Eiweiß

    1 Prise Salz

    100 g Puderzucker

    Zubereitung:

    1. Vorbereitung:
      Backofen auf 200 °C Ober-/Unterhitze (Umluft: 180 °C) vorheizen. Eine Tarteform (Ø 28 cm) mit Butter einfetten und mit ein bisschen Mehl bestreuen.
    2. Mürbeteig:
      Mehl, kalte Butter in Stücken, Ei, Eigelb, Salz, Vanillezucker und Zucker mit den Händen zu einem glatten Teig verkneten. Auf einer bemehlten Fläche ausrollen, in die Form legen und einen ca. 3 cm hohen Rand formen. Der Rand kann verschieden gestaltet werden: wellig, glatt oder zackig. Den Teigboden mit einer Gabel einstechen und ca. 15–20 Minuten vorbacken. Anschließend etwas abkühlen lassen.
    3. Zitronenfüllung:
      Die Eier und Eigelbe schaumig rühren. In einem Topf Puderzucker, Speisestärke (oder Mehl), Zitronensaft und Zitronenschale vermengen und bei mittlerer Hitze leicht erwärmen. Die Eiermischung unterrühren und alles so lange erhitzen (nicht kochen!), bis die Masse andickt. Noch warm auf den vorgebackenen Boden geben und glattstreichen. Die Ofentemperatur auf 160 °C (Umluft: 140 °C) reduzieren.
    4. Baiser:
      Eiweiße mit einer Prise Salz steif schlagen. Nach und nach den Puderzucker einrieseln lassen und weiterschlagen, bis die Masse steif ist. Der ultimative Test: die Schale umgedreht über den Kopf halten: wenn du von einer Schaumkrone verschont bleibst, weißt du, der Baiser ist ready (ansonsten musst du wohl nochmal von Neuem anfangen). Das Baiser auf der Zitronencreme verteilen und mit einem Löffel dekorative Wellen oder Spitzen ziehen.
    5. Backen:
      Die Tarte etwa 20 Minuten backen, bis das Baiser golden schimmert.

    Und fertig ist die Tarte – bon appétit!

    Das Geheimnis

    Mit frischen Bio-Zitronen entfaltet die Tarte ihr volles Aroma! Sie bringen den Geschmack und die Frische eines echten französischen Sommers in die eigene Küche. Und was besonders Spaß macht: das Garnieren! Ein Basilikumblatt, Zitronenscheiben, Lavendel, Puderzucker oder einfach ein Tupfer Baiser. Die Tarte au Citron ist eine Leinwand – jede Version ist ein neues Bild, eine Erinnerung, ein Ort. Und genau so soll sie schmecken.

  • Vertrauliche Papiere zu Syriens Zukunft

    Das Nachrichtenmagazin Al‑Majalla konnte die Papiere einsehen und ihre wichtigsten Punkte verifizieren. Zusammengenommen zeichnen sie das Bild eines fragilen, aber realen Verhandlungspfads, an dessen Ende sowohl wirtschaftliche Entlastung für Syrien als auch sicherheitspolitische Zugeständnisse an die USA stehen könnten.

    Ein Forderungskatalog aus Washington

    Das umfangreichste der drei Papiere stammt aus dem US‑Außenministerium. Darin stellt die amerikanische Regierung  – gestützt von Sicherheitsbehörden und Teilen des Kongresses – acht Bedingungen, die Damaskus innerhalb von sechs Monaten erfüllen soll. Erst danach würden die Vereinigten Staaten eine zweijährige Lockerung ausgewählter Wirtschaftssanktionen erwägen.

    Zu den Kernforderungen gehören:

    • ein öffentliches Verbot aller palästinensischen Milizen und ihrer politischen Aktivitäten in Syrien

    • der ungehinderte Zugang von UN Inspekteuren zu sämtlichen Chemiewaffenanlagen

    • die Zustimmung zu gezielten US‑Antiterror‑Operationen auf syrischem Boden

    • die Einstufung der iranischen Revolutionsgarden und der libanesischen Hisbollah als offizielle Terrororganisationen

    Für Damaskus sind besonders zwei Punkte schwierig: das generelle Politik‑ und Waffenverbot für palästinensische Gruppierungen und die offene Einflugschneise für US‑Drohnen. Beide Forderungen berühren das Selbstverständnis der neuen syrischen Führung als souveräner Staat.

    Syrische Gegenreaktion

    Außenminister Asʿad aš‑Šaibānī hat Anfang April schriftlich geantwortet. Sein Brief erkennt Fortschritte in mehreren Bereichen an: So verspricht Damaskus, sämtliche Chemiewaffen­bestände aus der Assad‑Zeit endgültig zu deklarieren und eine Suche nach den 14 vermissten US‑Bürgern zu unterstützen. Auch beim Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat signalisiert Syrien Kooperationsbereitschaft.

    Unverhandelbar seien hingegen das aktive Mitspracherecht bei allen künftigen US‑Militäroperationen und der Verbleib palästinensischer Flüchtlings­organisationen, solange sie keine bewaffneten Aktivitäten auf syrischem Territorium ausübten. Damit stellt Damaskus klar, dass es zwar zu Zugeständnissen bereit ist, seine regionale Bündnispolitik aber nicht vollständig aufgeben will.

    Das UN‑Modell: eingefrorene Gelder als Hebel

    Das dritte Dokument, verfasst von UN‑Vizegeneralsekretär und Ex‑Vizepremier Abdallāh ad‑Dardārī, schlägt einen technisch‑finanziellen Ausweg vor. Demnach könnte das Entwicklungs­programm der Vereinten Nationen (UNDP) rund 500 Millionen US‑Dollar an syrischen Staatsgeldern, die seit 2011 auf europäischen Konten blockiert sind, treuhänderisch verwalten. Die Mittel sollen in exakt definierte Projekte für Energie, Wasser und Infrastruktur im Landesinneren fließen. Auf diese Weise würden die Gelder weder direkt der syrischen Regierung zufließen noch gegen bestehende US‑Sanktionen verstoßen.

    Während westliche Diplomaten den Plan als „sinnvollen ersten Schritt zur Vertrauensbildung“ loben, warnt ein hoher EU‑Vertreter, zusätzliche Verwaltungs­ebenen könnten den Geldabfluss verlangsamen und neue Konfliktlinien öffnen. Dennoch haben die UN damit ein Konzept auf den Tisch gelegt, das beiden Hauptakteuren – Washington und Damaskus – politische Deckung bieten könnte.

    Bereits kommende Woche reist eine syrische Delegation unter Leitung von Finanzminister Muḥammad Yasir Barnīya und Zentralbankchef ʿAbd al‑Qādir Ḥusriyya nach Washington, um an den Frühjahrstagungen von Weltbank und IWF teilzunehmen. Parallel will Saudi‑Arabien auf dem gleichen Forum eine Syrien‑Runde ausrichten und plant, Rückstände von 15 Millionen Dollar bei der Weltbank zu begleichen. Das würde den Weg für neue IDA‑Kredite in Höhe von bis zu 300 Millionen Dollar frei machen – Geld, das vor allem in die marode Stromversorgung fließen soll.

    Wie geht es weiter?

    Außenminister aš‑Šaibānī wiederum reist Ende April nach New York, um bei einer Sitzung des Sicherheitsrats die syrische Flagge zu hissen. Die USA haben seine Visums­privilegien bereits herabgestuft, erkennen die neue Regierung aber weiterhin nicht offiziell an. Beobachter werten den Auftritt dennoch als Testlauf dafür, wie weit die Normalisierung gehen kann.

    Unklar bleibt, ob das Weiße Haus genügend innenpolitische Rückendeckung hat. Im Nationalen Sicherheitsrat drängen Hardliner wie Sicherheitsberater‑Stellvertreter Sebastian Gorka auf maximale Distanz zu Damaskus, während Außenminister Marco Rubio und die CIA einen pragmatischen Ansatz favorisieren, der Syriens neuen Kurs gegen den Einfluss Teherans nutzen will. Diese offene Flügel­tür in Washington könnte zur größten Unbekannten der kommenden Monate werden.

    Das Problem ist, dass die USA bislang keinen klaren Plan für Syrien haben und viele Länder der Region versuchen, auf diesen künftigen Plan Einfluss zu nehmen. Das zeigt, dass Trump an Syrien kein großes Interesse hat. Dadurch bleibt die Lage für die neue syrische Regierung unsicher, weil sie nicht weiß, wie sie reagieren soll. Beide Seiten – die USA und Syrien – sollten daher intensiver miteinander verhandeln und Vertrauen aufbauen.

     

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    News Update

    Anerkennung der Kurd*innen

    Die Autonome Verwaltung Nord‑ und Ostsyrien pocht weiter auf eine dezentrale, demokratische Staatsordnung, beharrt auf der Einheit Syriens und fordert die offizielle Anerkennung der Kurd*innen. Vermittelte Gespräche mit Damaskus laufen; innerkurdische Einigkeit gilt als Voraussetzung für faire Repräsentation.

    Humanitäre Hilfe für Schwangere nötig

    Schwangere sind in Vertriebenenlagern Nordwest‑Syriens durch Armut, Unterernährung und den Ausfall von 40 % der Gesundheitszentren bedroht. Expert*innen fordern Not‑Entbindungsstationen und mobile Kliniken.

    Wiederaufbau von Schulen

    Nur 70 von rund 8 000 zerstörten Schulen sind instandgesetzt. Fehlende alte Baupläne verzögern die Sanierung weiterer Gebäude.

    Türkische Investitionen

    Die türkische Regierung wirbt um schnelle Investments in stillgelegte syrische Häfen und Anlagen; zudem wird ein umfassendes türkisch‑syrisches Wirtschaftsabkommen (Investitionsschutz, Banken, Zölle) vorbereitet.

    Initiative „Nabḍunā Wāḥid“
    Über 80 in Deutschland tätige syrische Ärzt*innen reisen für kostenlose Operationen und Wissenstransfer ins Land.

    Öl-Abkommen:

    Das Öl-Abkommen zwischen SDF und Damaskus (70 % Erlöse an Regierung, 30 % lokal) ist unterzeichnet. Die tatsächliche Übergabe der Felder steht noch aus.

    Internationale Präsenz:

    USA reduzieren ihr Syrien‑Kontingent schrittweise von etwa 2000 auf weniger als 1000 Soldaten.

    Rückkehr von Geflüchteten:

    Libanon arbeitet mit Damaskus an strukturiertem Rückkehrplan. Rund 24 % der syrischen Geflüchteten in Libanon zeigen Rückkehrbereitschaft.

    Governance:

    Syriens Kommunal‑ und Umweltminister wirbt für stärkere Bürgerbeteiligung und gerechte Verteilung von Entwicklungsprojekten.


    Übergangspräsident al‑Schaar macht seinen Bruder zum Generalsekretär des Präsidialamts

    Übergangspräsident Ahmad al‑Schaar ernennt seinen Bruder Maher zum Generalsekretär des syrischen Präsidialamts – ein Schlüsselposten, der Termine, Erlasse und die Koordination mit Behörden steuert.

    Maher al‑Schaar lebte viele Jahre in Russland, arbeitete dort als Arzt, absolvierte 2004 in Woronesch die Facharztausbildung für Gynäkologie und Geburtshilfe.

    Schon im Dezember, nach dem Sturz des Assad‑Regimes, machte Ahmad seinen Bruder zum kommissarischen Gesundheitsminister – ein Schritt, der in Syrien Kritik auslöste; die neue Ernennung sorgt erneut für Diskussionen.


    Israel–Türkei: Neuer Koordinationsmechanismus zur Vermeidung militärischer Kollisionen in Syrien

    Israel und die Türkei haben sich bei einem Treffen in Aserbaidschan auf einen ständigen Mechanismus geeinigt, um direkte Zusammenstöße ihrer Streitkräfte in Syrien zu vermeiden.

    Unterschiedliche Signale: Öffentlich warnt Ankara vor israelischen Luftangriffen, sendet aber diplomatisch das Signal, keinen offenen Konflikt mit Tel Aviv zu suchen. Israel betrachtet die Türkei dennoch als Wettbewerber in der Region.

    Israels „rote Linien“: Israel will seine täglichen Luftschläge in Syrien fortsetzen und kündigt an, jede Stationierung neuer ausländischer Truppen oder türkische Basen (etwa bei Palmyra) als Überschreitung roter Linien zu werten. Ein Wiederaufbau der syrischen Armee werde nicht geduldet.

    Beziehungsstatus: Beide Länder betonen, nicht im Krieg zu sein. Israel zeigt sich offen für einen Neustart der Beziehungen, hält aber offene Koordinationskanäle für essenziell, da Präsident Erdoğan bislang kein Entgegenkommen signalisiere.

    Erdoğans Position: Der türkische Präsident stellt sich öffentlich hinter die syrische Regierung, lehnt eine Teilung Syriens unter dem Vorwand des „Terrorismus“ ab und warnt alle Akteure, die Stabilität Syriens zu gefährden. Die Türkei werde weitere „Korridor‑Projekte“ – ähnlich dem früher verhinderten YPG‑Korridor im Norden – unterbinden.


    UNDP startet 2,9‑Mio.-$‑Pilot für subventionierte Kleinkredite und Finanz­inklusion in Syrien

    Das UN‑Entwicklungsprogramm (UNDP) unterzeichnete mit vier syrischen Banken (First MicroFinance Bank, BEMO Saudi Fransi Bank, Credit and Development Bank, National Microfinance Bank) ein Abkommen über 2,9 Mio. US‑$, um erstmals subventionierte Zinssätze in Syrien zu testen und mehr als 1600 Kleinkredit­nehmern Zugang zu Finanzierung zu verschaffen.

    Ziel: Förderung inklusiven Wirtschaftswachstums, Vertiefung der finanziellen Inklusion und Verbesserung der Lebensgrundlagen.

    Hintergrund: UNDP schätzt, dass Syrien über 50 Jahre brauchen wird, um das Vorkriegs­wirtschaftsniveau zurückzugewinnen; der Konflikt kostete bislang rund 800 Mrd. US‑$ BIP.

    Internationale Unterstützung: In Washington sollen kommende Woche Schritte diskutiert werden, um Syrien wieder an Weltbank und IWF heranzuführen; Saudi‑Arabien und die Weltbank richten dazu ein Treffen aus.

    Sanktionen als Hemmnis: UN‑Untergeneralsekretär ʿAbdallāh ad‑Dardārī betont, breite Sanktionen blockierten Investitionen in zweistelliger Milliardenhöhe; dennoch erhielt das UNDP eine US‑Ausnahmegenehmigung, um bis zu 50 Mio. US‑$ für die Reparatur des Kraftwerks Deir ʿAli zu mobilisieren.

    Weltbank‑Rückstände beglichen: Saudi‑Arabien hat 15 Mio. US‑$ an ausstehender syrischer Weltbank‑Schuld beglichen – Voraussetzung dafür, dass die Weltbank Syrien künftig wieder über ihre IDA‑Schiene für Niedrigeinkommens­länder unterstützen kann.

  • Die Achte Brigade löst sich auf

    Die „Achte Brigade“, einst ein bedeutender militärischer Akteur im Süden Syriens, hat ihre vollständige Auflösung und die Übergabe sämtlicher militärischer Ressourcen sowie ihres Personals an das syrische Verteidigungsministerium verkündet. Dieser Schritt ist außergewöhnlich und markiert eine neue Phase in den Bemühungen der Regierung in Damaskus, Sicherheit und Stabilität in der Provinz Darʿā wiederherzustellen. Insbesondere in der Stadt Busra al-Scham und ihrer Umgebung dürfte diese Entwicklung den militärischen Einfluss lokaler Einheiten grundlegend verändern.

    Ich möchte dir heute erklären, was sich hinter der Achten Brigade verbirgt und wie sie sich historisch entwickelt hat.

    Die „Achte Brigade“ wurde 2018 von Russland ins Leben gerufen, nachdem das syrische Regime eine groß angelegte Offensive in Darʿā durchgeführt hatte. Die Brigade gehörte zum sogenannten „Fünften Korps“, welches ursprünglich elf Brigaden umfassen sollte und russische Interessen im Süden des Landes wahren wollte. Allerdings ließ sich dieses Konzept nie vollständig umsetzen. Entsprechend verblieb die Achte Brigade als eigenständige Kraft in der Region, zog ehemalige Rebellen an und behielt einen gewissen Grad an Autonomie – etwa in Busra al-Scham, wo sie größtenteils eigenständig operierte.

    Im Rahmen einer Vereinbarung mit dem Regime übergab ihr Kommandeur, Ahmad al-ʿAudah, zwar einige schwere Waffen, sicherte sich dafür aber das Recht, weiterhin in Busra al-Scham stationiert zu bleiben. Die syrische Armee hielt sich mit direktem militärischem Eingreifen dort weitgehend zurück, sodass die Achte Brigade de facto über weitreichende Handlungsfreiheiten verfügte. Auch der Wechsel von der Zugehörigkeit zum Fünften Korps hin zur Militärgeheimdienst-Abteilung im Jahr 2021 änderte am lokalen Einfluss zunächst nur wenig.

    In den darauffolgenden Jahren beteiligte sich die Achte Brigade an Kämpfen gegen IS-Zellen im Umland von Darʿā und geriet immer wieder in Spannungen mit unterschiedlichen Akteuren, darunter auch regierungsnahe Einheiten. Mit dem Sturz des früheren Regimes Ende 2024 geriet sie unter Druck, sich den neu entstehenden Machtstrukturen anzupassen.

    Wie kam es jetzt zu der Auflösung?

    Der unmittelbare Anstoß für die jetzige Auflösung kam durch einen Konflikt in Busra al-Scham. Eine Einheit der Achten Brigade versuchte vor wenigen Tagen, Bilāl al-Masatafā al-Miqdād (Bilāl al-Darūbī), den Kommandanten der Generaldirektion, festzunehmen. Dabei brach ein Feuergefecht aus, in dessen Verlauf Bilāl schwer verletzt wurde und nach einer Operation verstarb. Dies sorgte für große Empörung innerhalb der lokalen Gemeinschaft.

    Infolge des Vorfalls entsandte das syrische Verteidigungsministerium bedeutende Truppenkontingente in das Hauptquartier der Achten Brigade in Busra al-Scham und verlangte die Auslieferung aller Verantwortlichen. Die Brigade übergab tatsächlich mehrere mutmaßlich Beteiligte. Doch die Familie des getöteten Bilāl forderte auch die Person, die den Befehl zur Tötung erteilt haben soll. Demonstrationen in der Stadt verlangten zudem das Entwaffnen der Führungskräfte der Achten Brigade.

    In einer Videoerklärung vom 13. April 2025 erklärte die Führung der Achten Brigade um Oberstleutnant Muhammad al-Hawrānī (Abū ʿAṣṣām) die vollständige Auflösung der Formation sowie die Übergabe aller militärischen und personellen Ressourcen an das syrische Verteidigungsministerium. Der Hauptmann (Naqīb) Muhammad al-Qadri wurde beauftragt, den koordinierten und reibungslosen Ablauf dieses Übergangs zu gewährleisten. Über das Schicksal von Ahmad al-ʿAudah, dem bisherigen Kommandeur, wurde in der Erklärung nichts gesagt.

    Parallel dazu übernahmen Kräfte der Allgemeinen Sicherheit unter dem Innenministerium sämtliche Stützpunkte und Gefängnisse in Busra al-Scham. Insgesamt 14 Inhaftierte – zehn davon wegen krimineller Anklagen, vier wegen Sicherheitsfällen – wurden in zentrale Einrichtungen nach Darʿā überführt. Moscheen in der Region riefen die Bevölkerung lautstark dazu auf, noch vorhandene Waffen ebenfalls den Sicherheitskräften auszuhändigen. Damit unterstreicht die Regierung ihre Absicht, die Kontrolle vollständig unter staatliche Autorität zu stellen.

    Was bedeutet das für die syrische Politik und Sicherheit?

    Die jüngste Entwicklung zeigt, dass die Regierung in Damaskus bestrebt ist, verbliebene militärische Gruppen in einer einheitlichen Struktur zu vereinen. Seit dem Sturz des früheren Regimes haben verschiedene Bündnisse und lokale Einheiten versucht, ihre Positionen in Darʿā zu halten. Die Auflösung der Achten Brigade – die russischen Rückhalt hatte – gilt daher als Signal für eine erneute Festigung der Zentralgewalt.

    Beobachterinnen und Beobachter warnen jedoch vor einem möglichen Machtvakuum: Busra al-Scham galt bislang als eine der relativ sicheren Gegenden in der Region, teilweise dank der dortigen Koordination durch die Achte Brigade. Ob es nach dem Wegfall dieser Einheit zu einem Anstieg von Kriminalität und Gewaltdelikten kommt, bleibt abzuwarten. Gleichzeitig könnte die Einbindung der einstigen Kämpfer in die Reihen des Verteidigungsministeriums langfristig eine Stabilisierung unterstützen.

    Hast du noch Fragen dazu? Dann schreibe mir gerne eine Mail!

     

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    News Update

    EU-Sanktionen
    Die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas betonte in Luxemburg, dass die EU zwar über eine mögliche Lockerung der Sanktionen gegen Syrien diskutiert, jedoch bislang keine ausreichenden Fortschritte der neuen Regierung in Damaskus erkennen kann.

    Syrisch-libanesische Beziehungen
    Präsident Ahmad asch-Scharʿ und der libanesische Premier Nawaf Salam vereinbarten bei einem Treffen in Damaskus die Bildung eines gemeinsamen Ausschusses (Außen-, Verteidigungs-, Innen- und Justizministerium), um vor allem die Grenzfestlegung und Sicherheitsfragen zu klären. Darüber hinaus wurden Wirtschaftsthemen, Schmuggelbekämpfung und das Schicksal vermisster oder inhaftierter Libanesen in Syrien besprochen.

    Diplomatische Offensive Assch-Scharʿ
    Laut „Jerusalem Post“ beeindruckte assch-Scharʿ beim Antalya-Forum in der Türkei und traf sich dort unter anderem mit den Staatschefs Aserbaidschans und Kosovos – beides Länder, die Israel nahestehen. Beobachter sehen darin ein mögliches Signal für ein diplomatisches Entgegenkommen gegenüber Israel.

    SDF-Desertionen
    Aus lokalen Quellen wird über Dutzende übergelaufene Kämpfer der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) berichtet, vorwiegend aus arabischen Stammesmilieus. Sie seien mitsamt Ausrüstung in von Damaskus kontrollierte Gebiete übergelaufen, offenbar aus Unmut über Zwangsrekrutierung und aus Protest gegen die SDF-Politik.

    Saudi-Arabien und die Weltbank-Schulden
    Nach Reuters-Informationen erwägt Saudi-Arabien, die syrischen Schulden bei der Weltbank (15 Mio. USD) zu begleichen, um den Weg für Wiederaufbauhilfen freizumachen. Dies wäre die erste nennenswerte saudische Finanzhilfe für Syrien seit dem Sturz des Assad-Regimes.

    Eindämmung von Schmuggelrouten
    Die „Washington Post“ berichtet, die neue syrische Regierung versuche, Schmuggelwege zum Libanon zu schließen – bisher genutzt von Iran und mit Iran verbündeten Milizen (u. a. Hisbollah). Mehrere Waffentransporte seien laut dem Forscher Haid Haid bereits abgefangen worden.

    Schwere Dürre im Nordosten
    Experten schätzen, dass 90 % der Regenfeldflächen im Nordosten Syriens ausgetrocknet sind. Die Lage gilt als die schlimmste Dürre in den letzten 100 Jahren. Dies führt zu massiven Ernteausfällen, insbesondere bei Weizen und Gerste.

    Türkei fordert das Vermeiden von Konflikten
    Außenminister Hakan Fidan rief zu klaren Regeln im syrischen Luftraum auf, um unbeabsichtigte Zusammenstöße zwischen Israel, den USA, Russland und der Türkei zu vermeiden. Die Türkei strebt weiterhin Sicherheit und Stabilität in Syrien an und lehnt israelische Militäraktionen in Syrien ab.

    Baumesse „Buildex“ in Damaskus
    Ende des Monats soll in Damaskus zum 22. Mal die Baumesse „Buildex“ stattfinden. 483 Unternehmen aus 34 Ländern, darunter viele internationale Firmen, nehmen teil – einige davon erstmals seit 2011.

    Teilnahme an IWF-/Weltbank-Treffen
    Erstmals seit rund 20 Jahren sollen der syrische Außenminister, der Finanzminister sowie der Zentralbankgouverneur an den jährlichen Sitzungen von IWF und Weltbank in Washington teilnehmen. Unklar ist, ob sie dafür bereits US-Visa erhalten haben.


    Mehrere jüdisch-syrische Persönlichkeiten in den USA unterstützen neue Regierung

    Sie fordern die US-Regierung auf, die gegen Syrien verhängten Wirtschaftssanktionen aufzuheben und die neue Regierung von den Terrorlisten zu streichen, als Vorbereitung für eine internationale Anerkennung.

    Angeführt wird die Initiative von Henry Hamra, einem Geschäftsmann aus der syrisch-jüdischen Gemeinde in New York, der vor über 30 Jahren Damaskus verlassen hat. In einem Treffen mit Mitgliedern des US-Kongresses sprach Hamra vom „aufgeschobenen Traum der Rückkehr in die Heimat“ und sagte: „Syrien ist nicht nur das Land meiner Kindheit, sondern ein Teil meiner Identität, den ich trotz aller Entfernungen und Jahre nie verloren habe.“

    Er fügte hinzu: „Was ich bei meinem letzten Besuch gesehen habe, war eine Mischung aus Hoffnung und Schmerz – die Zerstörung ist enorm, aber der Wille zum Wiederaufbau ist da. Was den Wiederaufbau verhindert, sind die Sanktionen, die sich längst nicht mehr nur gegen ein Regime richten, sondern gegen ein ganzes Volk.“

    Im Februar organisierte Henry Hamra gemeinsam mit seinem Vater, Rabbi Youssef Hamra eine Reise nach Syrien – unterstützt von der „Syrian Emergency Task Force“ und gemeinsam mit muslimisch-syrischen US-Bürger*innen. Sie besuchten auch jüdische Stätten in Damaskus, darunter die zerstörte Synagoge im Stadtteil Jobar und einen Friedhof mit Gräbern bedeutender Mystiker des 16. Jahrhunderts.

    Trotz der sensiblen Lage erleichterte das syrische Außenministerium den Besuch – auf Anweisung von Präsident al-Sharaa: Visa, Transport, Sicherheitsbegleitung und ein offizieller Empfang durch hochrangige Beamte. Eine Geste des guten Willens gegenüber der syrisch-jüdischen Gemeinschaft nach Jahrzehnten der Entfremdung.

    Laut Muaz Mustafa, dem Direktor der Syrian Emergency Task Force, sei die Reise „eine politische Botschaft an Entscheidungsträger in Washington, dass die neue Regierung in Damaskus weder autoritär noch sektiererisch sei, sondern auf eine nationale Partnerschaft jenseits der Vergangenheit hinarbeite.“

    Rabbi Youssef Hamra, einst Vorsitzender der jüdischen Gemeinde in Damaskus, sagte der New York Times: „Wir wollten einen Kreis der Geschichte würdevoll schließen und zumindest einen Teil des syrischen Gedächtnisses zurückbringen – eines Syrien, das über zwei Jahrtausende hinweg Juden eine Heimat bot.“


    Femizid in Nordsyrien: Zwei junge Frauen in Manbidsch erschossen

    Unter dem Vorwand eines sogenannten „Ehrenmords“ wurden zwei junge Frauen im ländlichen Osten Aleppos erschossen – von zwei männlichen Verwandten. Die Morde ereigneten sich nur wenige Tage, nachdem eine kriminelle Bande sie freigelassen hatte.

    Die Verbrechen ereigneten sich in der Stadt Manbidsch. Die Täter veröffentlichten ein Video, in dem sie sich offen mit ihrer Tat brüsteten. Ersten Berichten zufolge wurden die Frauen von einer Gruppe entführt, die in den Drogenhandel verwickelt ist. Eine strafrechtliche Untersuchung gegen die Entführer blieb jedoch aus. Stattdessen richtete sich die öffentliche Schuldzuweisung gegen die Opfer.

    Eine Frau wurde von ihrem Vater ermordet, die andere von ihrem Bruder. Beide Taten wurden mit altbekannten Aussagen gerechtfertigt – unter dem Vorwand, die „Familienehre wiederherzustellen“. Die Femizide lösten Empörung in sozialen Medien aus. Laut Medienberichten wurden in der ersten Hälfte 2023 mindestens 25 Frauen in Nordostsyrien ermordet – viele unter dem Deckmantel der „Ehre“. Fachleute vermuten eine deutlich höhere Dunkelziffer: Viele Fälle werden aus Angst, Scham oder gesellschaftlicher Mittäterschaft nicht gemeldet.

    Zwar wurde Artikel 548 des syrischen Strafgesetzbuchs 2009 überarbeitet, doch Artikel 192 erlaubt weiterhin Strafminderung, wenn der Täter aus einem sogenannten „ehrenhaften Motiv“ handelt.

    Das syrische Personenstandsrecht verankert weiterhin männliche Vormundschaft. Besonders in Ehefragen wird Frauen das Recht auf Selbstbestimmung entzogen, da Vater oder Bruder über ihre Lebensentscheidungen bestimmen können. So wird es ihnen oft unmöglich, eigenständig zu handeln – ohne Erlaubnis oder Zustimmung.

    Doch das Problem reicht über Syrien hinaus: Gewalt gegen Frauen ist global. Laut einem UN-Bericht (Nov. 2023) wurden 2022 weltweit mindestens 85.000 Frauen und Mädchen vorsätzlich getötet – meist durch Angehörige.


    Trump plant Reise nach Saudi-Arabien

    Der israelische Reporter Ariel Oseran vom Sender i24NEWS berichtete, dass der ehemalige US-Präsident Donald Trump den syrischen Übergangspräsidenten Ahmad al-Sharaa in Saudi-Arabien treffen werde. Ein informierter Insider sagte jedoch gegenüber der Zeitung al-Modon, dass ein solches Treffen nicht garantiert sei.

    In einem Beitrag auf der Plattform X schrieb Oseran, dass das Treffen während Trumps geplanter Reise nach Saudi-Arabien Mitte Mai stattfinden solle. Laut einer syrischen Quelle sei das Treffen durch eine persönliche Vermittlung des saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman arrangiert worden.

    Trump hatte am Dienstag angekündigt, dass er im Mai einen offiziellen Besuch in Saudi-Arabien unternehmen werde – seine erste Auslandsreise in seiner zweiten Amtszeit. Er erklärte zudem, dass seine Reise auch Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate einschließen werde und dass der Besuch in Riad als Türöffner für umfassendere regionale Verständigungen diene.

  • Buchtipps für unsichere Zeiten

    Seit der letzten Ausgabe hat sich die Welt weitergedreht. Und das alles mit einer Geschwindigkeit, die schwer zu greifen ist. Im Bundestag hat die politische Debatte neue Tiefpunkte erreicht, in den USA droht ein Chaos, im Nahen Osten reißen Gewalt und Eskalation nicht ab, in der Türkei verschärft sich die Repression, in Osteuropa verschieben sich Grenzen und Gewissheiten – und auch an vielen anderen Orten geschieht Wandel, von dem wir kaum etwas mitbekommen.

    Wenn man eines über all diese Entwicklungen sagen kann, dann wohl dies: Sie haben uns noch unsicherer gemacht – besonders als Migrant*innen, die ohnehin zwischen Systemen, Zugehörigkeiten und Geschichten navigieren müssen.

    Was also tun mit dieser Unsicherheit? Ich glaube, man muss der Welt tiefer begegnen – nicht unbedingt intensiver. Auch wenn es mir als Journalist nicht leichtfällt, vom permanenten Nachrichtenkonsum abzuraten, plädiere ich für mehr Ruhe, mehr Innehalten, mehr Zurückhaltung. Vor allem dann, wenn man auf das Weltgeschehen keinen unmittelbaren Einfluss hat.

    Für diesen bewussteren Umgang mit der Gegenwart möchte ich dir ein Buch ans Herz legen, das genau dazu einlädt.

    Tipp der Woche

    Im Schwarm: Ansichten des Digitalen

    In „Im Schwarm“ analysiert Byung-Chul Han die Auswirkungen digitaler Kommunikation auf unsere Gesellschaft – und kommt zu einem ernüchternden Befund: Die sozialen Medien fördern einen impulsgetriebenen, affektgeladenen Austausch, der echte Öffentlichkeit und Dialog verdrängt. Statt Tiefe und Reflexion regieren Likes, Shitstorms und endlose Meinungsfragmente. Hans zentraler Appell: Wir sollten lernen, uns der digitalen Reizüberflutung zu entziehen. Weniger Reaktion, mehr Kontemplation. Nur durch bewusste Zurückhaltung lässt sich ein Raum schaffen, in dem wieder echte Begegnung und politischer Diskurs möglich sind. Gerade in Zeiten von Dauerempörung und algorithmisch befeuerter Aufmerksamkeitsökonomie ist dieser Gedanke aktueller denn je. Im Schwarm ist kein Rezeptbuch – aber ein stilles Plädoyer für mehr Nachdenklichkeit im digitalen Rauschen.

     

    Manchmal ist es nicht die große politische Analyse, die uns die Welt näherbringt, sondern eine persönliche Geschichte, in der sich all das spiegelt, was wir kaum in Worte fassen können: Entwurzelung, Sprachverlust, Wut, Scham, Zärtlichkeit. „Good Girl“ von Aria Aber ist ein solcher Roman – poetisch, vielschichtig und schonungslos. Er führt uns an die Bruchstellen einer migrantischen Existenz, an die Grenzen familiärer Erwartungen und mitten hinein in die Frage, wie man in einer Sprache heimisch werden kann, die einem nie ganz gehört.

    Good Girl

    In „Good Girl“ erzählt Aria Aber mit schnörkelloser Eleganz von einer jungen Frau zwischen Sehnsucht, Herkunft und Selbstverlust. Nila, aufgewachsen in der Gropiusstadt, taumelt durch Berlin. Sie bewegt sich zwischen Plattenbau, Poesie, Party und patriarchaler Kunstwelt. Als sie auf den berühmten Schriftsteller Marlowe trifft, öffnet sich eine Tür zur Hochkultur – und eine Falle.

    Aber schreibt mit kühler Klarheit und schneidender Intelligenz über Begehren, Macht und die Versuchung, sich selbst zu verraten, um dazuzugehören. Ein wilder, dunkler, kluger Roman über das, was wir für Anerkennung opfern – und was davon bleibt.

    Die Suche nach Zugehörigkeit, das Ringen mit biografischen Brüchen, der Versuch, sich inmitten politischer und familiärer Spannungen zu verorten – all das sind nicht nur literarische Motive, sondern hochaktuelle Fragen. Gerade in Zeiten, in denen die Debatte um Identität, Männlichkeitsbilder und migrantische Narrative wieder einmal vereinfacht oder instrumentalisiert wird, lohnt es sich, genauer hinzusehen. Ein weiterer Roman, der diese Themen aufgreift – schmerzhaft, direkt, und aus einer Perspektive, die selten im Mittelpunkt steht.

    Sohn ohne Vater

    In „Sohn ohne Vater“ nimmt Feridun Zaimoglu seine Leser*innen mit auf eine Reise durch Länder, Erinnerungen und Widersprüche. Der Tod des Vaters ist der Auslöser – nicht nur für eine Fahrt im Wohnmobil von Kiel in die Türkei, sondern für eine intensive Auseinandersetzung mit Herkunft, Trauer und der unaufhaltsamen Nähe zur Mutter. Der Ich-Erzähler schwankt zwischen Widerwillen und Verpflichtung, zwischen Stolz und Schmerz.

    Zaimoglu erzählt mit Wucht, Pathos, Witz und sprachlicher Hingabe. Erinnerungen flackern auf, Träume vermischen sich mit Realem, und selbst auf dem Rücksitz eines klapprigen Campers ist die Frage nach Zugehörigkeit allgegenwärtig. Ein melancholischer, kraftvoller Roman über Väter, Söhne und die Orte, an denen man vielleicht nie ganz ankommt.

     

  • Was kommt nach der Euphorie?

    In der letzten Folge habe ich von vielen traurigen Dingen aus Syrien berichtet. Das kommt vielleicht unerwartet, insbesondere wenn man die Beiträge von Syrer*innen in den sozialen Medien betrachtet, die ins Land zurückgekehrt sind. Dort war eher Thema, wie sehr viele Syrer*innen unter Heimweh leiden und wie sie nicht glauben können, dass Assad tatsächlich gestürzt wurde.

    Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich Damaskus etwas später besucht habe. Viele Syrer*innen sind direkt nach Assads Sturz dorthin gereist, als noch große Freude herrschte und die Menschen vor lauter Euphorie andere Probleme nicht wahrnahmen. Damals war die Hoffnung auf Veränderung sehr groß, nicht nur im politischen Bereich, sondern auch in für die Wirtschaft und die Gesellschaft.

    Ein arabisches Sprichwort lautet: „rahat alsukrat wajat alfikra“, was auf Deutsch etwa bedeutet: „Die Trunkenheit ist verflogen und der Gedanke kam.“ Damit meine ich, dass nach der anfänglichen Euphorie über Assads Sturz nun der Zeitpunkt gekommen ist, die Probleme und die schwierige wirtschaftliche Lage in Syrien zu erkennen und darüber nachzudenken, wie man Lösungen dafür finden kann. Dabei wird deutlich, wie sehr Syrien zerstört ist und wie viele Herausforderungen und Probleme vor der Tür stehen. Es braucht schnelle und gemeinsame Lösungen, aber auch langfristige und durchdachte Konzepte.

    Wo sind die Frauen in Damaskus?

    Damaskus hat sich ebenfalls verändert. Ich fragte meine Brüder: „Wo sind die Damaszener Frauen? Ich sehe sie kaum noch.“ Mein Bruder meinte, man müsse nur auf die Straße schauen. Nach zwei Stunden verstand ich. Vor dem Krieg sah man in Syrien wesentlich mehr Frauen auf der Straße, besonders in der Nähe der Universität oder dort, wo mein Bruder und ich uns aufhielten. Die meisten dieser Frauen trugen kein Kopftuch.

    Das lag nicht unbedingt daran, dass in Syrien generell wenige Frauen Kopftuch tragen, sondern eher daran, dass es – wie auch in Deutschland – nicht leicht ist, mit Kopftuch eine gute Arbeitsstelle zu finden. Es gibt zum Beispiel keine Moderatorinnen, Schauspielerinnen oder Sängerinnen mit Kopftuch. Viele Frauen mit Kopftuch arbeiten stattdessen in Behörden, während es in der Privatwirtschaft sehr schwierig ist, eine Stelle zu bekommen.

    Zudem kommen viele Frauen, die aus Dörfern oder anderen Städten stammen und häufig kein Kopftuch tragen, nach Damaskus, um Arbeit zu finden oder an der Uni zu studieren. Die meisten davon gehören Minderheiten an. Generell, so heißt es, seien die Menschen in den Dörfern weniger konservativ als die in der Stadt. Das ist anders als in Deutschland. Beispielsweise sind die „echten“ Damaszener konservativer als Leute aus den umliegenden Dörfern oder anderen ländlichen Gebieten in Syrien. Warum das so ist, ist eine lange Geschichte und man müsste dafür wohl Sozialwissenschaftler*innen hinzuziehen … Ich kann das auf jeden Fall nicht allein erklären.

    Viele Frauen sind nach Assads Sturz zu ihren Familien und Dörfer zurückgekehrt, weil die Lage unsicher wurde und auch, weil die Angst unter den Minderheiten in Syrien gerade groß ist – selbst wenn nicht eingetroffen ist, was Assads Propaganda behauptete. Assad sagte immer, nur seine Regierung könne die Minderheiten schützen, und ohne ihn würde das Blut der Minderheiten auf den Straßen fließen. Das ist so nicht geschehen, aber die Angst besteht nach wie vor und es braucht Zeit, bis das Vertrauen wächst.

    Das Problem ist, dass Israel und Iran dieses gefährliche Thema für ihre Zwecke nutzen. Israel sieht sich als Beschützer der Drusen, und Iran versucht, die Angst der alawitischen Gemeinschaft auszuschlachten, damit sie gegen die neuen Machthaber in Damaskus kämpfen. Leider gibt es täglich mehr Angriffe auf die neue syrische Polizei, oder wie die neue Regierung sie nennt: al-amn al-aam (auf Deutsch „öffentliche Sicherheit“). Das verschärft die Lage in Syrien, wo viele ausländische Akteure derzeit versuchen, das Land aufzuteilen. Diese Gefahr entsteht durch Angst und fehlendes Vertrauen zwischen den Minderheiten und der neuen Regierung, die sich als Vertreterin der Mehrheit sieht.

    Neue Zivilgesellschaft

    Aber genug von den schlechten Nachrichten: In vielen Städten, Bezirken und Dörfern übernimmt die Zivilgesellschaft zunehmend eine größere Rolle, weil der Staat nicht mehr richtig funktioniert. Dabei wird die Zivilgesellschaft mitunter stärker als der Staat selbst: Ihre Unterstützung ist nicht nur notwendig, damit sie ihre eigenen Aufgaben erfüllen kann, sondern auch, damit der Staat überlebt.

    In vielen Dörfern und Städten werden zahlreiche NGOs gegründet. Leider ist das noch nicht überall der Fall, denn die sogenannte „NGO-Kultur“ ist in Syrien teilweise neu – bedingt durch das Assad-Regime, das die gesamte Zivilgesellschaft zerstört hat. Es braucht eine umfangreiche mediale Berichterstattung, um diese Kultur zu verbreiten. Syrerinnen und Syrer in Nordsyrien oder in der Türkei, im Libanon und in Jordanien haben viele NGOs gegründet und erhalten beträchtliche Unterstützung. Doch selbst diese größeren Organisationen können nicht überall in Syrien tätig sein, da ihnen dazu die Ressourcen fehlen. Außerdem lebt nicht in jeder Stadt ein Teil der Bevölkerung im Exil, der Geld schicken könnte.

    Diese NGOs werden hauptsächlich von jungen Freiwilligen getragen. Die finanziellen Mittel kommen unter anderem von syrischen Exilanten, die entweder wohlhabend sind oder sich zumindest in einer stabilen Lebenssituation befinden. Sie senden nicht nur Geld an ihre Familien, sondern unterstützen auch die neu entstandenen NGOs. Diese kümmern sich beispielsweise um die Straßenbeleuchtung mithilfe von Solaranlagen, da es pro Tag oft nur zwei bis drei Stunden Strom gibt. Sie unterstützen arme Familien, versorgen Witwen und Kinder mit Lebensmitteln und teilweise auch mit finanzieller Hilfe.

    Außerdem bauen sie Schulen wieder auf, reparieren Straßen und kümmern sich, sofern möglich, um Grünflächen (obwohl es in syrischen Städten aufgrund von Korruption nur sehr wenige Gärten und Parks gibt). Sie verschönern auch Hauswände mit Graffiti, sammeln Müll ein und stellen den Rathäusern Mittel für Benzin und Diesel zur Verfügung, damit diese arbeitsfähig bleiben.

    Ich habe sogar gehört, dass sie inzwischen auch jenen Menschen finanzielle Hilfe leisten, die in Behörden beschäftigt sind, jedoch kein Gehalt von der Regierung erhalten. Die neue Regierung ist nicht in der Lage, alle Staatsbediensteten zu bezahlen. Katar und Saudi-Arabien wären zwar bereit, die Gehälter von über 900.000 Beschäftigten zu übernehmen (was rund 130 Millionen US-Dollar monatlich kostet), doch laut Reuters steht dies in Zusammenhang mit einer rund 400-prozentigen Erhöhung der Löhne für viele Angestellte des öffentlichen Dienstes.

    Welche Rolle spielt Trump?

    Allerdings besteht die Sorge vor US-Sanktionen. Leider warten alle auf Trumps Plan, da die USA aufgrund der Sanktionen gegen Syrien – die wegen Assads Krieg gegen sein eigenes Volk verhängt wurden – großen Einfluss haben. Diese Sanktionen sind ein starkes Druckmittel gegenüber der neuen, von HTS gebildeten Regierung. Die erste Bedingung, damit die USA diese Sanktionen lockern, lautet, dass die neue Regierung aus unterschiedlichen Gruppen und Parteien bestehen soll. Doch das ist nur der erste Schritt, um die Sanktionen aufzuheben.

    Die große Frage ist, ob die USA überhaupt einen Plan für Syrien haben. Wenn ja, welchen? Was wollen die USA von Syrien? Welche Interessen verfolgen sie dort? Ist es weiterhin das Interesse, Minderheiten zu schützen, eine vielfältige Regierung zu fördern und den Einfluss Russlands einzudämmen?

    Oder verfolgt die USA ganz andere Interessen, wie Reuters berichtet, indem sie Israel darin bestärken, dass die russische Präsenz in Syrien durch Militärstützpunkte in Tartus und Latakia bestehen bleibt? Israel fürchtet die türkische Macht in Syrien und sieht darin eine große Gefahr. Indem Russland in Syrien präsent bleibt, könnte ein Gleichgewicht gegen den türkischen Einfluss geschaffen werden.

    Hast du weitere Fragen zu meiner Reise nach Syrien? Dann schreib mir gerne.

     

    PS: Ramaden Kareem. Ob du fastest oder nicht, wir laden dich zu einem gemeinsamen Fastenbrechen am 13.3. bei uns im Büro ein.
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  • CDU stellt Gemeinnützigkeit der Zivilgesellschaft infrage

    Die CDU/CSU Fraktion stellte vergangenen Montag eine kleine Anfrage zur Prüfung staatlich finanzierter NGOs, darunter auch einige unabhängige Medienorganisationen. Die Aktion löste eine gesellschaftliche Debatte aus: Geht es der CDU wirklich um Transparenz – oder darum, kritische Organisationen unter Druck zu setzen?

    Die parlamentarische Anfrage der CDU/CSU umfasst insgesamt 551 Fragen zur Finanzierung und politischen Ausrichtung von mehren NGOs. Hintergrund ist die Sorge der Union, dass staatlich geförderte NGOs mit Steuergeldern Politik gegen sie betreiben könnten. Besonders betroffen sind Organisationen, die sich für Demokratie, Klimaschutz oder Pressefreiheit einsetzen. Dazu gehören unter anderem das Netzwerk Recherche sowie das Faktencheck-Portal Correctiv, dessen Recherche über ein rechtsextremes Geheimtreffen letztes Jahr große Aufmerksamkeit erregte und Initiator für deutschlandweite Demonstrationen gegen Rechts war.

    Viele der angefragten Organisationen wurden zuvor bereits vom rechten Online-Portal NiUS oder den Boulevardzeitungen BILD und WELT medial angegriffen. Besonders kritisiert wird auch, dass sich die CDU/CSU in ihrer Anfrage auf einen WELT-Artikel stützt, der Verschwörungserzählungen thematisiert, nach denen NGOs als eine Art parallele Staatsform dargestellt werden.

    Die kleine Anfrage der CDU/CSU kam für viele überraschend, denn gemeinnützige Organisationen, insbesondere der unabhängige Journalismus, halten eine zentrale Funktion in einer Demokratie inne: Sie setzen sich für Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit und politische Aufklärung ein. Auch kohero ist Teil des gemeinnützigen Journalismus und hilft dabei, die Stimmen marginalisierter Gruppen zu stärken.

    Viele Organisationen könnten durch solche politischen Aktionen finanzielle Einbüßen erleiden. So sind in Berlin bereits erhebliche Kürzungen im Kultur- und Bildungsbereich zu beobachten. Auch hier waren vor allem regierungskritische Organisationen betroffen.

    Die Unterstützung unabhängiger Medien und NGOs ist daher wichtiger denn je. Denn diese Organisationen ermöglichen es unter anderem, Machtstrukturen zu hinterfragen, Korruption aufzudecken und Menschen eine Plattform zu bieten, die sonst in der politischen Debatte wenig Gehör finden.

    Natürlich ist die Transparenz der Finanzierung von NGOs wichtig, aber die Anfrage der Union löst die Sorge aus, dass hier eine politische Debatte geführt wird, die Organisationen delegitimieren soll, die für progressive Werte stehen. Eine demokratische Gesellschaft braucht diese Vielzahl an Stimmen – vor allem Stimmen, die kritisch hinterfragen und alternative Perspektiven aufzeigen, um sich für eine gerechte Gesellschaft einzusetzen.

  • Eine Woche in Syrien

    Letzte Woche war ich in Damaskus. Deshalb konnte ich auch keine neue Folge veröffentlichen – sorry dafür. Es war das erste Mal seit über zehn Jahren, dass ich seit meiner Flucht wieder dort war. Im Oktober letzten Jahres hatte ich in meiner Kolumne für die taz (Hamburger, aber Halal) über diese zehn Jahre auf der Flucht geschrieben. Damals plante ich mein Leben – und auch mein Sterben – in Hamburg, weil ich überzeugt war, Damaskus nie wiedersehen oder besuchen zu können. Auch meine Familie dort zu treffen, schien unmöglich.

    Ursprünglich wollte ich mich deshalb im Februar diesen Jahres mit meinen Eltern in Jordanien verabreden. Aber das Schicksal hatte andere Pläne. Assads Regime wurde am 8. Dezember tatsächlich gestürzt und viele Syrer*innen haben das gefeiert. Denn, wie ich immer sagte: „Syrien bekommt seine Kinder zurück.“ Alhamdulillah, oder auf Deutsch: Gott sei Dank. Viele Syrer*innen möchten jetzt so schnell wie möglich zurückkehren, aber es war schwierig, eine passende Reisemöglichkeit zu finden.

    Ich wollte nicht über den Libanon reisen und dachte zuerst an einen Flug über Doha nach Damaskus, was aber über 13 Stunden gedauert hätte. Dann prüfte ich die Verbindung nach Istanbul, aber da hätte ich einen Tag bleiben müssen. Doha war außerdem sehr teuer. Über den Libanon wiederum wurde Syrer*innen die Einreise verweigert. So überlegte ich den ganzen Dezember und Januar hin und her.

    Dann erzählte mir mein Freund und Kollege Ahmad al-Shiehabi, dass er vom 14. bis zum 21. Februar eine Reise über den Libanon nach Syrien gebucht hat. Ich sagte sofort: „Ich komme mit!“ Am 21. Januar buchte ich mein Ticket. Doch danach kamen all die beunruhigenden Gedanken: Was, wenn es nicht klappt und ich meine Eltern in Damaskus doch nicht sehen kann? Nach zehn Jahren hatte ich einfach keine Geduld mehr, weitere 24 Tage zu warten. Diese 24 Tage waren die längsten meines Lebens. Jeden einzelnen Tag spürte ich, wie sich das Warten in die Länge zog.

    Das ist auch einer der Gründe, warum ich nicht viel über meine Reise gesprochen habe: Ich war emotional völlig durcheinander und machte mir Sorgen um viele Kleinigkeiten, die man sonst gar nicht beachtet. Aber so ist es nun mal, wenn ein Besuch nach so langer Zeit vor der Tür steht – bis heute kann ich es kaum glauben. Es wirkt immer noch wie ein Traum.

    Gleichzeitig hatte ich Angst, dass mein neuer Charakter nicht mehr zu meiner Familie und meiner Stadt passen würde. In den letzten zehn Jahren habe ich so viel erlebt, was mich geprägt und verändert hat. Auch meine Familie und Damaskus haben unendlich viel mitgemacht – natürlich haben auch sie sich verändert.

    Was außerdem ziemlich verrückt und irgendwie schicksalhaft ist: Seit 2019 hatte ich keinen gültigen Pass mehr. Fünf Jahre wartete ich, um endlich einen Pass zu bekommen. Und als ich meinen deutschen Pass erhalten habe, ging meine erste Reise direkt in meine Heimat Damaskus. Viele Syrer*innen wollen ebenfalls erst dann in die Heimat zurück, wenn sie einen deutschen Pass haben, weil sie Angst haben, dass sich in Syrien alles verändert hat und das Land viel Zeit für den Wiederaufbau braucht.

    Jetzt, wo ich nach fünf Jahren endlich wieder reisen darf, kehre ich also in meine Heimat zurück. Das empfinde ich als ein sehr faszinierendes Schicksal.

    Ahmad und ich sind schon um zwei Uhr nachts zum Flughafen gefahren, obwohl unser Flug erst um 6:45 Uhr ging. Wir konnten einfach nicht schlafen und dachten, es sei besser, direkt am Flughafen zu warten. Dort sahen wir viele Syrer*innen, die ebenfalls über Beirut nach Syrien reisten.

    Interessant war, dass die libanesische Polizei zuerst meinen deutschen Pass nahm und dann meinen syrischen Pass sehen wollte, obwohl dieser gar nicht mehr gültig war. Ich fragte nach dem Grund und die Polizisten erklärten, dass sie von allen Araber*innen mit westlichen Pässen zusätzlich den Originalpass verlangen, weil im westlichen Pass weder der Name des Vaters noch der Mutter vermerkt wird. In Syrien sind neben dem eigenen Vor- und Nachnamen auch die Namen der Eltern zu finden.

    Anschließend sagte mir einer der Polizisten, Deutschland würde mir den deutschen Pass wieder abnehmen. Ich antwortete darauf, dass das nicht stimme. Er erwiderte, Syrer*innen würden den deutschen Pass verlieren, wenn sie zurückkehrten, weil sie ja angeblich nicht mehr als Geflüchtete gelten könnten – schließlich gäbe es in Syrien keinen Krieg mehr. Ich erwiderte nichts, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte, und weil er das Ganze auch noch schadenfroh lächelnd äußerte.

    Wir sind dann mit einem sehr alten Auto vom Flughafen nach Beirut gefahren. Syrische Autos dürfen nicht bis zum Flughafen durchfahren, und da wir ein syrisches Taxi bestellt hatten, mussten wir uns außerhalb des Flughafengeländes abholen lassen.

    Auf dem Weg passierten wir Al-Dahiya al-Janubiya, ein Viertel, das ursprünglich als Siedlung gebaut wurde, aber durch israelische Angriffe stark beschädigt ist. Dort leben auch Anhänger der Hisbollah. Wir wollten Fotos machen, doch der Fahrer warnte uns. Als Syrer könnten wir schnell als Spione verdächtigt werden. Deshalb verzichteten wir lieber darauf.

    Schließlich fuhr ich durch Beirut und sah, wie alt und heruntergekommen die Stadt mittlerweile ist. Beirut ist nicht mehr die ehemals pulsierende Metropole des Nahen Ostens, sondern nur noch eine verlassene, alte Stadt. Beirut war lebendig, auch im Bürgerkrieg in den 70er und 80er Jahren. Ich hoffe, dass sie mit der neuen Regierung zu dieser Lebendigkeit zurückkehren kann.

    Nach mehr als drei Stunden erreichten wir endlich die Grenze. Unser Fahrer scherte sich nicht um Verkehrsregeln – er tat einfach alles anders, als man es normalerweise tun würde. Doch nicht nur er fährt so, alle verstoßen gegen die Straßenverkehrsordnung.

    An der syrischen Grenze lief alles gut. Die neuen Grenzbeamten stempelten unsere Pässe schnell und schon waren wir in Syrien. Auf der Grenze wollte ich zur Toilette – aber sie war total dreckig und kaputt, sie funktionierte gar nicht. Als ich das sah, war ich ziemlich verärgert. Wie kann man so eine Toilette hier zurücklassen, wo sie doch das Erste ist, was Besucher*innen zu Gesicht bekommen? Dann verstand ich jedoch: Ganz Syrien ist wie diese Toilette. Assads Regierung, der Krieg und die Korruption haben das Land zerstört – nicht nur funktionsunfähig gemacht, sondern auch verschmutzt.

    Nach 14 Stunden Reise war ich endlich bei meiner Familie und konnte meine Eltern, meine Schwestern und meine Verwandten wiedersehen. Sie empfingen mich mit zagharid  (eine Art lauter Freudenrufe, die Frauen bei Hochzeiten oder Geburten anstimmen, um ihre Freude auszudrücken – meist sind es ältere Frauen, die auf diese Weise feiern).

    Meine Familie lebt nicht direkt in Damaskus, sondern eine halbe Stunde außerhalb in einem Ort namens Al-Diyabiyah. Al-Diyabiyah ist ein kleiner Ort in der Nähe von Sayyida Zaynab – einem wichtigen schiitischen Wallfahrtsort, an dem auch die Hisbollah bis zum 8. Dezember großen Einfluss hatte. Lange herrschte der Krieg auch dort und erst 2018/19 durften die Menschen nach Al-Diyabiyah zurückkehren. Viele Wohnungen waren völlig ausgeraubt, sogar die Stromkabel aus den Wänden gestohlen. Jetzt versuchen die Bewohner*innen, ihre Häuser langsam wiederaufzubauen. Doch die Menschen haben kein Geld, weder für den Wiederaufbau, noch für Essen und für die Heizung.

    Al-Diyabiyah ähnelt einer Siedlung, die zum Teil illegal errichtet wurde. Hier leben auch Geflüchtete, die 1968 von den Golanhöhen vertrieben wurden, als Israel Syrien, Ägypten und Jordanien angregriffen hatte. Sie hatten damals alles verloren und suchten hier eine neue Heimat. Auch meine Familie stammt aus dem Golan, weshalb Vertreibung, Flucht, Leid und Verlust eine große Rolle in meinem und dem Leben vieler Familien hier spielen.

    Am Samstag fuhr ich dann in die Stadt Damaskus selbst – und war enttäuscht, weil ich das Damaskus meiner Erinnerung, mit seinem Zauber, nicht wiederfand. Dieses Damaskus existiert nicht mehr. Stattdessen sah ich eine alt gewordene, schmutzige Stadt, die ihre Geschichte und Erbe nicht mehr tragen kann, sondern von Armut, Traurigkeit und Unrat gezeichnet ist. Es hat mich sehr mitgenommen, das zu sehen.

    Überall erkannte ich Müdigkeit, Elend, Traurigkeit und Hunger in den Gesichtern der Menschen. Viele Kinder arbeiten auf der Straße, verkaufen Kleinigkeiten, betteln um Geld – vermutlich haben sie ihre Eltern verloren. Dieses Damaskus, das ich nun erlebte, ist definitiv nicht das Damaskus, das ich kannte. Früher war die Stadt voller Würde, voller Leben, mit dem Duft teuren Jasmins in der Luft. Damaskus war einst reich. Damaskus war auch alt und mit jedem neuen Jahr wurde die Stadt schöner.

    Aber jetzt wird sie eher immer deprimierter, mutloser und bedrückter. Den Bewohner*innen von Damaskus wurde ihre Macht und Kraft geraubt, denn früher haben sie den Lebensmut durch ihre Stadt bekommen. Doch die Quelle ihres Mutes, die aus dem Herzen von Damaskus kommt, wurde ihnen genommen. Ich erkannte dieses Damaskus einfach nicht mehr wieder.

    Die Menschen sind ärmer geworden, und man sieht, wie sehr die Armut in Syrien insgesamt zugenommen hat. Überall gibt es Spuren von Zerstörung und Leid und man erkennt die Not in den Gesichtern der Kinder. Viele junge Männer starben nicht nur im Krieg, sondern erlagen Herzinfarkten – wahrscheinlich ausgelöst durch große Traurigkeit, Unterdrückung und Angst.

    Ich hatte gehofft, ein anderes Damaskus zu sehen – ein Damaskus, das voller Leben ist und das Blut seiner Geschichte in den Adern trägt. Aber nach zwölf Jahren Krieg ist so viel verloren gegangen. Die Stadt hat einen großen Teil ihrer Kinder verloren und ihres Stolzes eingebüßt. Diese älteste, einst so strahlende Stadt, die ein riesiges Erbe trug, wurde teilweise ihrer Geschichte beraubt und lebt nun in Trauer.

    Ich wünsche mir sehr, dass Damaskus schnell wiederaufgebaut wird, wenn die Sanktionen aufgehoben werden und neues Leben zurückkehrt. Es ist schmerzhaft, dass besonders Damaskus, die größte Stadt Syriens, so sehr leidet. Wie muss es dann erst in kleineren Städten wie Deir ez-Zor oder Hama aussehen? Ich glaube jedoch, nur die Zeit kann die Wunden von Damaskus heilen und ihm seinen Stolz zurückgeben. Ich hoffe, dass diese stolze Stadt, diese alte, starke Frau mit ihrer Geschichte, eines Tages in ihrer vollen Schönheit wieder aufersteht.

    Ich möchte die Folge an dieser Stelle beenden, werde aber in der nächsten Folge noch mehr darüber berichten, was ich in Syrien und Damaskus gesehen habe. Diese Woche war für mich sehr anstrengend, da ich nach einer langen Woche in Syrien jetzt viele Dinge erledigen musste. Ich entschuldige mich deshalb dafür, dass ich für diese Folge keine Nachrichten zusammengetragen habe. Ich werde jedoch versuchen, in einer weiteren Folge darauf einzugehen und die wichtigsten Neuigkeiten aus Syrien zu sammeln.

     

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  • Bundestagswahl: Mehr Visionen für Deutschland

    Die Bundestagswahl ist vorbei – und trotz des Erstarkens von rechten Parteien gibt es bei den Ergebnissen auch gute Nachrichten. Zunächst betrug die Wahlbeteiligung etwa 82,5 %. Dies zeigt, dass viele Deutsche die Wahl ernst genommen und sich deshalb beteiligt haben.

    Die zweite erfreuliche Nachricht betrifft die Linke: Sie konnte 8,77 % der Stimmen gewinnen. Besonders bemerkenswert ist, dass die Linke bei den unter 18-Jährigen rund 20,84 % und bei den unter 25-Jährigen 25 % erreichen konnte. Im letzten Jahr war bei den jungen Wähler*innen noch die FDP mit den Schwerpunkten Bildung und Digitalisierung die führende Kraft.

    Ich gehöre zwar nicht zur Linken, aber ich bin überzeugt, dass die deutsche Gesellschaft linke Gedanken benötigt – besonders jetzt, wo viele etablierte Parteien sich vor allem an Realpolitik orientieren, anstatt innovative Lösungen für die zahlreichen Herausforderungen unseres Landes zu bieten. Das zeigt sich auch daran, dass die Grünen etwa 700.000 Stimme an die Linke verloren haben.

    Deutschland braucht nicht nur linke, sondern auch liberale Parteien. Allerdings hat die FDP die 5‑Prozent-Hürde nicht erreicht, was unter anderem an der Führung von Christian Lindner liegt. Seine Politik scheint die eigentlichen Werte der FDP aus den Augen verloren zu haben, gerade in dieser eher schwierigen Zeit für die deutsche Wirtschaft. Denn auch die FDP konzentrierte sich im Wahlkampf auf die Frage der Migration – und verlor damit etwa 1.350.000 Stimmen an die CDU und rund 890.000 an die AfD.

    Auch die CDU hat Stimmen eingebüßt. Vor dem Wahlkampf lag sie laut Umfragen bei über 34 %, doch nach ihrer Anti-Migrations-Kampagne und dem Fallen der „Brandmauer“ gegenüber der AfD verlor sie an Zustimmung.

    Mir persönlich zeigen diese Ergebnisse, dass Migration für viele Wähler*innen nicht das Hauptthema ist. Vielmehr stehen innere Sicherheit, bezahlbarer Wohnraum und der Abbau von Bürokratie im Vordergrund. Es bedarf innovativer Konzepte, die den Menschen Perspektiven bieten. Die Wähler*innen – insbesondere Arbeitnehmende– wünschen sich Parteien, die ihre Interessen schützen und ihnen zuhören.

    Die deutschen Bürger*innen brauchen eine klare Vision, Perspektiven und Lösungen für die vielfältigen Herausforderungen, vor denen unsere Gesellschaft steht – sei es in wirtschaftlicher Hinsicht oder in Fragen des Zusammenhalts. Zudem bleibt die Frage, wie die deutsche Wirtschaft wieder wachsen kann. Der russische Krieg gegen die Ukraine bleibt ebenfalls ein großes Thema in der deutschen Gesellschaft, da viele Menschen vom andauernden Krieg ermüdet sind und Angst haben. Hinzu kommt aktuell die Frage, wie sich die Beziehungen zu den USA entwickeln werden.

    Letztlich wünschen sich die Menschen eine neue Vision für Deutschland – eine, die für Gerechtigkeit sorgt, den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärkt und zukunftsweisende Lösungen anbietet. Nach diesem langen Beitrag für die großen Parteien hoffe ich, dass der Vorstand und die Direktkandidat*innen der Parteien auch den Mut haben, Verantwortung zu übernehmen – oder, wenn nötig, auch zurückzutreten. Denn wir brauchen neue, junge Politiker*innen, die wirklich zuhören, was die Gesellschaft benötigt, anstatt nur zu tun, was sie für richtig halten.

     

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  • Klima, Gerechtigkeit, Pflege – who cares?

    Wie geht es dir nach der gestrigen Bundestagswahl? Es ist erschreckend, aber leider nicht überraschend, dass rechte Positionen so viel Zuspruch bekommen haben. Die Ergebnisse der Wahl werden wir in den nächsten Tagen noch für dich einordnen, wirf also auch einen Blick in unser Online-Magazin und dein E-Mail-Postfach, wenn du etwa unsere migrationsnews abonniert hast.

    Doch unabhängig vom endgültigen Ergebnis bin ich ehrlich gesagt froh, dass der Wahlkampf nun vorbei ist. Die Feindseligkeit gegen Menschen mit Flucht- und Migrationsgeschichte hat in letzter Zeit ein solch immenses Ausmaß erreicht, dass für mich nur schwer noch Unterschiede zwischen der sogenannten Mitte und Rechts erkennbar sind. Dazu kommt, dass bei all den Debatten um Migration viele wichtige Themen überhaupt keine Sichtbarkeit im Wahlkampf bekommen haben. Wer will die Klimakrise bekämpfen? Welche Regierungspartei setzt sich für soziale Gerechtigkeit ein?

    Ein anderes Thema, das bei all der Migrationshetze im Wahlkampf viel zu kurz gekommen ist, ist Pflege. Bei einem Panel mit den Hamburger Bürgerschaftskandidat*innen, das ich letzte Woche moderiert habe, kamen aus dem Publikum zahlreiche Nachfragen zur Pflegeversorgung. Und auch bei den TV-Duellen und anderen Diskussionsrunden im Wahlkampf hat das Publikum gezeigt, dass sich die Bürger*innen um die Pflege-Situation in Deutschland sorgen. Neben dem Fachkräftemangel und steigenden Kosten für pflegebedürftige Personen sind es auch die Bedingungen im Pflegesektor, für die dringend Lösungen gefunden werden müssen.

    Unter dem Titel WHO CARES? setzen wir uns in unserem neusten Magazin deshalb intensiv mit Pflege, Care-Arbeit und Fürsorge auseinander. Migrantische Menschen spielen in diesem Sektor eine bedeutende Rolle, doch bekommen für ihre Tätigkeit als Pfleger*in, Reinigungskraft oder Au-Pair nur selten Anerkennung. In unserem 12. Heft haben wir uns gefragt: Welche migrantischen Perspektiven gibt es auf Sorgearbeit? Wer kümmert sich um wen, und wie gestalten wir ein solidarisches Zusammenleben in Familien und in der Gesellschaft?

    Dafür haben wir u. a. mit der Gründerin des ersten kultursensiblen Pflegediensts in Hamburg gesprochen und die Autorin und Aktivistin Emilia Roig nach ihren Vorstellungen einer solidarischen Gemeinschaft befragt. Außerdem kommen viele Autor*innen aus unserer Community zu Wort: Sie berichten, wie sie mit der Pflege von Angehörigen umgehen, welche intersektionalen Perspektiven ihnen rund um Care-Arbeit fehlen und worum sie sich lieber weniger kümmern wollen. Das Heft kannst du ab sofort vorbestellen.

  • Trumps Migrationspolitik: radikal und rassistisch

    Seit knapp einem Monat ist Donald Trump erneut Präsident der Vereinigten Staaten – und hat bereits bewiesen, dass seine Pläne für die Migrationspolitik keine leeren Wahlversprechen waren. Trump setzt auf eine radikale Agenda, die ohne jegliche Tarnung rassistisch und menschenfeindlich ist. Diese Politik stellt den Selbstanspruch der USA als „Land der Freiheit und Möglichkeiten“ endgültig infrage.

    Seit seinem Amtsantritt hat Trump eine Reihe von präsidialen Dekreten („executive orders“) erlassen, die den Rahmen für eine massive Einschränkung der Rechte von Migrant*innen und Geflüchteten bilden. Zu den Maßnahmen gehören unter anderem die verschärfte Militarisierung der südlichen Grenze, die Einführung eines „nationalen Notstands“ an der mexikanischen Grenze, die Inhaftierung von Migrant*innen nach Guantanamo Bay und die geplante Aufhebung des 14. Verfassungszusatzes, der allen in den USA Geborenen das Recht auf Staatsbürgerschaft, unabhängig von der Herkunft ihrer Eltern, gewährt.

    Razzien in mehreren Großstädten führten bis Anfang Februar zu rund 9.000 Verhaftungen durch die US-amerikanische Sicherheitsbehörde ICE. Laut ICE-Direktor Caleb Vitello liegt das Tagesziel bei 1.200 bis 1.400 Festnahmen. Bereits in den ersten zwei Wochen nach Trumps Amtseinführung wurden mehr als 5.600 Menschen abgeschoben, die meisten von ihnen nach Mexiko und Zentralamerika.

    Einen besonders perfiden Charakter nimmt die neue Abschiebepolitik durch die geplante Inhaftierung von Migrant*innen in Guantanamo Bay an. Die US-Militärbasis Guantanamo Bay ist für viele Kubaner*innen ein Symbol für die Besatzung Kubas, weltweit jedoch vor allem als Ort berüchtigt, an dem nach den Anschlägen vom 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York willkürlich muslimische Männer unter pauschalem Terrorverdacht und ohne Anklage oder Gerichtsverfahren inhaftiert wurden. Trump hatte bereits Anfang des Jahres angekündigt, bis zu 30.000 inhaftierte Migrant*innen nach Guantanamo zu verlegen, vor knapp zwei Wochen wurden bereits die ersten Personen in das Gefängnis gebracht.

    Diese Entwicklungen in den USA können jedoch nicht isoliert betrachtet werden. Auch in Europa und aktuell insbesondere in Deutschland wird der Migrationsdiskurs zunehmend repressiv geführt. Vorschläge wie die Kriminalisierung von Geflüchteten oder die Auslagerung von Asylverfahren in sogenannte „sichere Drittstaaten“ widersprechen internationalen Menschenrechtsstandards. Maßnahmen, die in Deutschland noch diskutiert werden, werden in den USA bereits umgesetzt. Eine gesellschaftliche Normalisierung findet aber bereits statt.

    Diese Parallelen zeigen eine bedrohliche Entwicklung: Demokratische Staaten verabschieden sich zunehmend von ihren eigenen humanitären Prinzipien. Während Trump rücksichtslos Fakten schafft, bereiten rechte politische Kräfte in Deutschland den Boden für eine Politik, die weitreichende negative Konsequenzen für Migrant*innen und Geflüchtete haben wird. Es bleibt zu hoffen, dass der Widerstand dagegen sowohl in den USA, als auch in Europa stark bleibt und wächst.

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