Schlagwort: Migration

Im Deutschland

  • Johee Oh: Kunstschaffen inmitten von Schwierigkeiten

    Johee Oh, die junge Filmregisseurin, hat in ihren 25 Jahren bereits viel erlebt. Geboren und aufgewachsen in der Stadt Seoul, Korea, führte sie ein scheinbar normales Leben mit ihren Eltern und ihrer Schwester. Ihre Mutter arbeitete in der Wissenschaft, während ihr Vater für ein IT-Unternehmen tätig war.

    Die Kehrtwende

    Das Leben von Johee nahm eine Wendung, als sie 8 Jahre alt war. In einer Nacht, in der ihre Eltern nicht zu Hause waren, brannte ihr Haus, während sie und ihre Schwester schliefen. Glücklicherweise wurden Johee und ihre Schwester von der Feuerwehr gerettet, doch die Erfahrung hinterließ bleibende Spuren. Beide litten unter leichtem Asthma, und Johees Stimme veränderte sich und wurde tiefer.

    Nach diesem drastisch Ereignis beschlossen ihre Eltern, ihr Leben zu verändern. Sie kündigten ihre Jobs und entschieden sich für ein missionarisches Leben im Bildungsbereich. Die Familie zog nach Vietnam, als sie 15 Jahre alt war, und lebte dort für 3 Jahre. „Ich habe von meine Eltern gelernt, dass wenn man was will, schafft man es, auch wenn die Zukunft unklar ist. Man bracht Herausforderungen zum wachsen.“

    Ihre Eltern hegten den Wunsch, dass beide Schwestern Musikerinnen werden sollten, deshalb  lernte Johee seit ihrer Kindheit intensiv Klavier und ihre Schwester Violine. Nach ihrem Schulabschluss wussten die Schwestern jedoch nicht, was sie als Nächstes tun sollten. Schließlich entschieden sie sich, nach Deutschland zu reisen, um dort weiter ihrem akademischen Werdegang zu folgen, immer noch mit dem Wunsch ihrer Eltern, Musik zu studieren.

    Eine Neue Richtung

    Die Anfangszeit in Deutschland war für Johee und ihre Schwester nicht einfach. Sie lebten bei einer koreanischen Gastfamilie, die sie schlecht behandelte und unglücklich machte. Doch dann lernten sie eine Frau in der koreanischen Gemeinde kennen, die ihnen ein Zimmer zu einem erschwinglichen Preis anbot. Endlich befreit von den unangenehmen Umständen ihrer vorherigen Unterkunft, begannen sie, sich auf ihre Bildung zu konzentrieren.

    Johee besuchte eine internationale Klasse auf dem Gymnasium, wo sie Deutsch, Mathe und Englisch lernte. Während dieser Zeit erkannte sie, dass Filme ihr Trostspender in schwierigen Zeiten waren. Ihr Traum änderte sich, und sie hegte nun den Wunsch, eine Filmregisseurin zu werden. Diesen Traum teilte sie jedoch vorerst nicht mit ihren Eltern, da sie zunächst in Deutschland Fuß fassen wollte. „Als ich am Anfang Klavier gespielt hatte, habe ich es gehasst. Aber sobald ich aufgehört hatte Klavier zu spielen, merkte ich, dass es Teil von mir ist und ich damit zu Ruhe kommen kann. Ich muss es nicht als Beruf haben.“

    Ein Film, Eine Mission

    Während ihres Alltags und in ihrem Zuhause vertiefte sich Johee in die Welt des Films. Eines Tages klopfte ein Mann an ihre Tür und brüllte sie auf Deutsch an. Mit ihren bescheidenen Deutschkenntnissen verstand Johee, dass dieser Mann der eigentliche Vermieter des Hauses war und die Frau, bei der sie wohnten, sie betrogen hatte. Johee und ihre Schwester wurden aus dem Haus geworfen, und die Frau antwortete nicht auf ihre Anrufe.

    Glücklicherweise fanden sie Unterkunft bei einer Freundin, und in diesem Moment entschied Johee, einen Film über ihre Erfahrungen als Migrantin in Deutschland zu machen. Sie wollte der Welt zeigen, welche Herausforderungen Migranten bewältigen müssen. „Integration entsteht aus der Hilfe von anderen und das will ich der Welt zeigen“.

    Mit Hilfe ihrer Familie und durch die Suche nach einer stabilen Unterkunft fanden Johee und ihre Schwester schließlich wieder Halt. Zwei Jahre später bewarb sich Johee an der Hochschule der Bildenden Künste in Saarbrücken. Sie überzeugte ihre Eltern davon, dass dies ihre wahre Leidenschaft war. „Als ich eine Filmregisseurin werden wollte, dachte ich, ich könnte Filme aus meiner Fantasie erschaffen. Später und im Studium merkte ich, dass ich durch die Erfahrungen mit zwei Diasporen, einmal in Vietnam und einmal in Deutschland, die Welt spiegeln kann. Und ich will jetzt mit dem Film diese Themen tiefer bearbeiten.“

    Die Erfüllung der Vision

    Johee hatte endlich das erreicht, wovon sie jahrelang geträumt hatte. Inspiriert von ihren eigenen Erfahrungen in Deutschland schuf sie einen Film mit dem Titel „Die Barmherzige Samariterin“. Johee übernahm die Regie, während ihre Schwester die Produktion leitete. In diesem Film verarbeitete sie die Ereignisse, die ihr Leben in Deutschland so stark beeinflusst hatten.

    Ihr Film wurde ein großer Erfolg und brachte Johee auf viele internationale Filmfestivals, darunter Prag und Budapest. Ihr größter Triumph kam jedoch beim Busan International Kurz Film Festival in Korea, wo sie den Publikumspreis gewann.

    Johee bereitet sich jetzt auf einen zweiten Film vor. „Mein erster Film ging um meine Identität und war super symbolisch. Ich musste darüber schreiben, womit ich mich beschäftige momentan. Also wenn ich das versagt hätte, wäre das egal, aber im zweiten Film ist das nicht so und ich habe Angst, dass er weniger erfolgreich ist, als der erste.“

    Ihre nächsten Geschichten werden um Themen kreisen wie Diaspora, Integration und den Druck, den man als Kind bekommt. „Jedes Jahr beschäftigten mich neue Themen und mein Blick wird verschärft. Ich kann nicht sagen, was das genau sein wird, ich lasse mich von mir selber  überraschen.“

  • Migration & Sicherheit – eine Bestandsaufnahme

    Wenn wir an nationale Sicherheit denken, beinhaltet das oft den Schutz der Integrität oder der Souveränität eines Landes vor externen Bedrohungen wie militärischen Angriffen, Cyberkriminalität oder auch Terrorismus. Wenn wir Sicherheit jedoch in Verbindung mit Migration hören, geht es oftmals nur um innenpolitische Themen. Migration wird zum Sicherheitsrisiko und als Gefahr für die innere Sicherheit deklariert. Das sieht man immer wieder in den Medien, in denen Migrant*innen oftmals nur mit Negativnachrichten in Verbindung gebracht werden. Sie werden zu Sündenböcken für ökonomische und politische Schwächen in ihrem Ankunftsland. Das hat verheerende politische und soziale Folgen für Geflüchtete – eine Bestandsaufnahme

    Versicherheitlichung: Legitimation einer restriktiven Migrationspolitik

    Versicherheitlichung ist eine Teildisziplin der Politikwissenschaften und ein zentrales Konzept der sogenannten Kopenhagener Schule. Das Konzept zeigt, wie einflussreiche politische Akteur*innen relevante Themen als „Sicherheitsprobleme“ darstellen, um dann für deren „Lösung“ gesellschaftliche Aufmerksamkeit und Unterstützung zu mobilisieren. Es wird eine angeblich sicherheitsgefährdende Ausnahme- bzw. Bedrohungssituation konzipiert, die nur durch außerordentliche Maßnahmen und manchmal auch unter Umgehung demokratischer Regeln und Verfahren gelöst werden kann.

    Für die Migrationspolitik bedeutet das die Instrumentierung von objektiven Ängsten wie dem Zusammenbruch des Sozialsystems, Wohnungsnot und fehlenden Arbeitsplätzen als auch von subjektiven Ängsten wie dem Verlust von kulturellen Werten, Identität und der allgemeinen Homogenität. Im Zentrum steht die irreguläre Migration als Bedrohung für die sozioökonomische, territoriale und kulturelle Sicherheit.

    Deshalb ist das Ziel einer versicherheitlichten Migrationspolitik, Migrationsbewegungen zu stoppen oder unterbrechen. Zu einer Versicherheitlichung kommt es häufig nach gesellschaftlichen Umbrüchen, wie zum Beispiel nach 9/11. In Deutschland hat die große Anzahl geflüchteter Menschen 2015 zu einer zunehmenden Versicherheitlichung beigetragen.

    Politische Auswirkungen

    Ein Resultat: die verstärkte Überwachung von Grenzen. Der Schengen-Raum, der 22 EU-Mitgliedstaaten und 4 Nicht-EU-Mitgliedsländer umfasst, garantiert über 400 Millionen Bürger*innen uneingeschränkten Personenverkehr. Im Jahr 2017 hatten Rumänien, Polen, Italien, Portugal und Bulgarien die höchste Zahl an Bürger*innen, die in anderen EU-Mitgliedstaaten lebten.

    Dennoch steht die Freizügigkeit in Europa vor Herausforderungen. Im Jahr 2015 setzte die Flucht über das Mittelmeer nach Europa das gemeinsame europäische Asylsystem unter Druck und beeinträchtigte die Funktionsweise der Schengen-Regeln. Dies führte zu einer vorübergehenden Aussetzung des Dublin-Systems und zur Einführung von Grenzkontrollen durch mehrere Mitgliedstaaten. Jährlich werden mehrere Millionen Euro für Grenzkontrollen ausgegeben, die die Koordinierung von Operationen zur Überwachung von Migrationsströmen, Bekämpfung von grenzüberschreitender Kriminalität sowie die Verhinderung von illegalen Grenzübertritten beinhalten.

    Allein der Haushalt von Frontex, der europäischen Agentur für Grenz- und Küstenwache, die eine Schlüsselrolle im Schutz der Außengrenzen einnimmt, betrug laut Mediendienst Integration 2020 eine Höhe von 450 Millionen Euro. Das ist fast doppelt so viel wie die Haushaltsmittel von 2016. Bis 2027 soll Frontex noch weiter ausgebaut werden. Es soll eine ständige Reserve mit 10.000 Einsatzkräften geben, außerdem soll Frontex die EU-Mitgliedstaaten stärker bei Abschiebungen und Drittstaaten beim „Grenzenmanagement“ unterstützen. Und dass, obwohl Frontex seit Jahren in der Kritik für Grundrechtsverletzungen und für illegale Zurückweisungen von Schutzsuchenden, sogenannte Pushbacks, steht.

    Darüber hinaus gibt es Studien wie den jährlich erscheinenden „The World Migration Report“ der International Organization for Migration (IOM), die belegen, dass eine Militarisierung und Aufrüstung von Grenzen nicht dabei helfen, „irreguläre“ Migration einzudämmen. Eine verstärkte Militarisierung würde lediglich dazu führen, Kontrollen zu umgehen, Migrationsrouten zu verschieben oder den Preis von Schleppungsdiensten zu erhöhen, die dann andere Wege finden, die für die Migrant*innen noch viel gefährlicher sind.

    Die Gründe für „irreguläre“ Migration liegen oft in den Herkunftsländern selbst und umfassen Armut, militärische Auseinandersetzungen sowie fehlende Chancen im Herkunftsland. Um das Problem zu lösen, sollte man nicht auf mehr Grenzkontrollen, sondern auf Maßnahmen zur Abschaffung von Fluchtursachen in den Ländern setzen.

    Nährboden für rechte Ideologien

    Politische Rhetorik und öffentliche Diskurse über Migration sind zuweilen von anti-migrantischen Stimmungen dominiert. Im Verlauf der Jahre 2017 und 2018 verbreiteten rechtsextreme Gruppen in ganz Europa Mythen oder „Fake News“ über Migration. Dies war am deutlichsten in den koordinierten Online-Kampagnen gegen den globalen Pakt für Migration durch rechtsextreme Aktivist*innen, einschließlich über soziale Medien, Online-Petitionen und Videos. Die negativen Kampagnen spielten eine bedeutende Rolle dabei, Gegenreaktionen gegen den globalen Pakt für Migration in mehreren europäischen Ländern hervorzurufen, was einige Regierungen veranlasste, sich aus dem Migrationspakt zurückzuziehen.

    Allgemeine Einstellungen zur Einwanderung bleiben ebenfalls polarisiert, während eine negative anti-einwanderungspolitische Rhetorik weiterhin in mehreren nationalen Wahlen in Europa im Mittelpunkt steht. Eine Umfrage der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2018 ergab, dass vier von zehn Europäer*innen die Einwanderung eher als Problem als eine Chance betrachten. In einer separaten Umfrage, die in zehn EU-Ländern vom Pew Research Center durchgeführt wurde, sagte mehr als die Hälfte, dass sie weniger migrierte und geflüchtete Menschen in ihren Ländern haben möchten.

    Diese anti-migrantische Stimmung wird oft von der Politik missbraucht, um Wähler*innenstimmen zu generieren. Migrant*innen seien verantwortlich für steigende Preise auf dem Wohnungsmarkt oder für die zunehmende Arbeitslosigkeit. Die Politik bietet dafür vermeintlich einfache Lösungen, und zwar die Eindämmung von Migration. Die AfD wirbt zum Beispiel in ihrem Wahlprogramm für eine starke Begrenzung der Einwanderung und um die Einführung von „physischen Barrieren“ und das alles, um eine „deutsche Identität“ zu wahren.

    Das „humanitäre“ Narrativ

    Menschen, die ihre Heimat verlassen, um nach Europa zu gelangen, werden oft als potenzielle Sicherheitsrisiken dargestellt. Dennoch gibt es innerhalb bestimmter politischer Kreise und der engagierten Zivilgesellschaft Widerstand gegen dieses Bild. Man betont, dass Vorurteile überwunden werden müssen, um Raum für neue, positivere Geschichten über Migration zu schaffen. Um die Meinungshoheit nicht zu verlieren, entwickeln die Europäische Union und nationale Regierungen neue Erzählungen, die oberflächlich betrachtet humanitärer wirken. Allerdings argumentieren Fachleute im Bereich Migrationsforschung, dass hinter diesen Erzählungen das gleiche sicherheitsorientierte Verständnis von Migration steckt. Dieses Verständnis wird dann mit den gleichen Methoden und Ergebnissen umgesetzt.

    Ein Beispiel hierfür ist das sogenannte „humanitäre“ Narrativ, dass Migrant*innen nicht als eigenständige Individuen, sondern als Objekte der Bedrohung wahrnimmt. Sie werden nun als Schutzbedürftige dargestellt, die gerettet werden müssen. Dabei wird betont, dass Migrant*innen und Flüchtende vor Gefahren auf ihren Routen geschützt werden müssen, sei es vor „kriminellen Schlepperbanden“, Menschenhandel oder vor Gewalt. Doch auch dieses Narrativ dient letztlich dazu, restriktive Grenz- und Migrationspolitiken zu rechtfertigen.

     Ein Ausblick

    Angst ist ein wichtiger Bestandteil, wenn es um die Versicherheitlichung von Migration geht. Aber ist diese Angst auch berücksichtigt? Es gibt Studien und Untersuchungen, die darauf hinweisen, dass Migration positive wirtschaftliche Effekte haben kann und dass die Teilhabe von Menschen mit Flucht- und Migrationsgeschichte dazu beitragen kann, das Wirtschaftswachstum zu fördern und Fachkräftemangel in einigen Sektoren zu mildern. Zum Beispiel können sie oft Arbeitsplätze besetzen, die von der einheimischen Bevölkerung nicht wahrgenommen werden.

    Es gibt jedoch auch Diskussionen über einige soziale und wirtschaftliche Herausforderungen im Zusammenhang mit Migration. Einige Studien haben darauf hingewiesen, dass in einigen Fällen die Konkurrenz um begrenzte Ressourcen wie Wohnraum, Bildung und soziale Unterstützung zwischen migrierten und geflüchteten Menschen und Einheimischen zu Spannungen führen könnte.

    Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass diese Auswirkungen stark von der Kontextualisierung abhängen und nicht pauschalisiert werden sollten. Migration ist ein komplexes Phänomen, das viele Facetten hat. Die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Auswirkungen von Migration sind stark von verschiedenen Faktoren beeinflusst, wie der Art der Migration, der Integrationspolitik und der wirtschaftlichen Lage des Ankunftslandes.

  • Bleiben oder gehen – Ausstellung über Migration

    Es beginnt mit dem titelgebenden Horizont. In einem dunklen Raum begrüßt Gerhard Richters Gemälde „Seestück (bewölkt)“ von 1969 die Besuchenden. Es zeigt eine aus zwei Fotografien zusammengesetzte Landschaft aus dem wild bewölkten, stürmischen Himmel über Düsseldorf und dem aufbrausenden Meer vor Ibiza. Kein Fixpunkt bietet Orientierung. Was hinter dem Horizont liegt? Man weiß es nicht.
    Die Ausstellung zeigt keine umfassende Geschichte der Migration. Sie beleuchtet vielmehr ihre Motive – Aufbruch, Wege, Ankunft, Zukunft. Und lädt zum Assoziieren und Fragenstellen ein.

    Vom Aufbrechen

    Die Geschichte der Menschheit wird seit jeher von Migration vorangetrieben. Ausgestellt sind verschiedene Steinzeitwerkzeuge, darunter ein Faustkeil aus Thüringen. Die ältesten solcher Keile sind 1,75 Millionen Jahre alt. In Mitteleuropa entstanden die ersten vor etwa 600.000 Jahren. Auch als der Mensch sich bereits in Siedlungen niedergelassen hatte, kam Fortschritt erst durch Bewegung.
    Der Aufbruch in ein neues Leben, einen neuen Ort, ist immer einschneidend und mit Fragen verbunden: Wird mein Leben dort, wo ich hingehe, ein besseres?

    Eine junge Zimmerin auf der Walz, das Porträt einer deutschen Auswandererfamilie in Michigan illustrieren verschiedene Gründe, warum Menschen ihr Zuhause verlassen und sich aufmachen.
    Die Ausstellung spannt den Bogen zurück in biblische Zeiten. Die Geschichte von Josef, Maria und Jesus ist eine der Migration. Gegenüber voneinander hängen ein Gemälde der Heiligen Familie auf der Flucht vor König Herodes nach Ägypten mit Esel, und eine Fotografie aus dem Flüchtlingslager Oure Cassoni, Tschad. Die 26.000 Menschen dort waren vor dem Bürgerkrieg im nahegelegenen sudanesichen Darfur geflohen.

    Neue Wege gehen

    Nach dem Aufbrechen folgt der Weg ins Ungewisse, oftmals ein gefährlicher. Ob der irrende Odysseus oder die biblische Geschichte des Durchzugs durchs Rote Meer. Erzählungen von Flucht wurden über die Geschichte der Menschheit hinweg weitergegeben – und werden auch heute erzählt. Wie etwa durch das 2019 im Flüchtlingslager Moria geschaffene Gemeinschaftsgemälde „Modern Moses“; in der Ausstellung akzentuiert durch ein großformatiges Gemälde, welches die Flucht der jüdischen Menschen aus Ägypten zeigt. Wer ist heute Mose? Der das Meer teilt, den Weg frei macht? Und wohin führt dieser?

    Der Raum in diesem Bereich der Ausstellung steht jungen Artists-in-Residence, vielen von ihnen mit eigener Flucht- oder Migrationsgeschichte, zur Verfügung. Sie visualisieren in ihren Werken ihre Assoziationen zum Thema.

    Wann ist man angekommen?

    Migrations- oder Fluchterfahrungen prägen das Leben und die Biografie, nicht nur derer, die sich auf den Weg machten, sondern auch die nachfolgenden Generationen.

    Wie in einem Nebel, hinter einem dünnen, weißen Vorhang, liegt das Neue. Auch hier zeigt Horizonte verschiedene Perspektiven auf: Jüdische Kinder, die sich vor den Nationalsozialist*innen nach London retteten, symbolisiert durch einen kleinen Bären mit Hut, Mantel und Marmeladensandwich. Bewegend schildert Judith Kerr ihre Familiengeschichte in Als Hitler das rosa Kaninchen stahl, das ebenso einen Platz in der Ausstellung findet, wie das Manuskript ihres Vaters Alfred Ich kam nach England.

    Deutsche Vertriebene nach dem Zweiten Weltkrieg, die sich in einem besiegten und zerstörten Deutschland eine neue Existenz aufbauten. Ein ihnen fremdes Ursprungsland, hatten es ihre Familien doch Jahrhunderte zuvor verlassen. Manche hegten zu Beginn noch Hoffnung auf Rückkehr, doch bald mussten sie sich mit ihrem neuen Leben arrangieren.

    Etwa fünfzehn Jahre später kamen die ersten „Gastarbeiter*innen“ aus Ländern wie Italien, Griechenland und der Türkei nach Deutschland und wurden zu einem integralen Teil unserer Gesellschaft.
    All diese Geschichten machen nachdenklich. Wann ist man angekommen? Wie definieren wir Zugehörigkeit? Wo finden Traditionen einen Platz im neuen Leben? Woran festhalten? Die Künstlerin Ayşe Gülsüm Özel schaffte Hände, die, nicht nur sinnbildlich, alltägliche Dinge festhalten. Erinnerungsstücke ehemaliger türkischer Gastarbeiterinnen. Blumen, Briefe, Kleidung. Unweigerlich fragt man sich: Was würde ich mitnehmen?

    Nicht ganz so ferne Zukunft

    Mehr Menschen denn je sind auf der Flucht. Weltweit gab es 2022 rund 103 Millionen gewaltsam Vertriebene. Die Klimakrise wird diese Entwicklung noch verstärken.

    Im letzten Jahrhundert begann die Menschheit, auch den Weltraum und andere Planeten zu entdecken – man denke an John F. Kennedys Moonshot-Rede. Heute lesen wir von Weltraumtourismus und Marskolonien. Was vor wenigen Jahrzehnten noch Science-Fiction war, wird greifbarer.

    Doch wie geht es hier auf der Erde weiter? Eindrucksvoll stellt die Ausstellung die Perspektive auf Erde und All dar. Im großen schwarzen Nichts blickt man auf diese kleine, blaue Kugel, auf der sich seit Jahrtausenden Geschichten von Gehen und Ankommen abspielen und man fragt sich: Wie wird unser Leben in den nächsten Jahrzehnten aussehen? Wenn Ressourcen knapper werden? Manche Regionen unbewohnbar werden? Und sich immer mehr Menschen auf den Weg machen? Wie können wir vor diesem Hintergrund solidarisches Zusammenleben gestalten? Antworten auf diese Fragen wird gerade unsere Generation in den nächsten Jahren finden müssen.
    Beim Hinausgehen schweift der Blick nochmals in Richtung Gerhard Richters Gemälde. Das aufgewühlte Meer, das es zu überwinden gilt. Dieses Meer, das für viele Geflüchtete unüberwindbar bleibt; allein seit Anfang dieses Jahres ertranken mehr als 1000 Menschen auf der Flucht über das Mittelmeer.

    Und die Welt hinter dem Horizont, noch immer unbekannt. Doch sie gilt es zu entdecken und zu gestalten. Gerecht und gemeinsam.

     

    „Horizonte – Geschichten und Zukunft der Migration“, zu sehen bis 10. September im Germanischen Nationalmuseum, Nürnberg. 

    Weitere Artikel zum Thema Kultur und Flucht/Migration findest du hier.

  • Italien ruft Notstand aus: hohe Migrationszahlen

    Vor knapp einem Monat habe ich einen Beitrag für unsere wöchentliche Kolumne kommentiert über den Umgang der italienischen Regierung mit der Seenotrettung Flüchtender geschrieben. Zwei Wochen vorher hat Hussam ein Unglück auf dem Mittelmeer kommentiert. In Italien hat die Regierung nun wegen der hohen Anzahl Flüchtender den Notstand ausgerufen. Hier kommt also Europas Versagen beim einheitlichen Vorgehen mit Migration Teil 3.

    Rund 31.000 Menschen sind seit Januar dieses Jahres über das Mittelmeer nach Italien geflüchtet. Doch im gleichen Zeitraum sind laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) mindestens 441 Menschen auf dieser Route gestorben – so viele wie seit 2017 nicht mehr. Die IOM macht Verzögerungen bei staatlichen Rettungsmaßnahmen und die Behinderung der Such- und Rettungsaktionen von NGOs für diese Tode verantwortlich, kurz: die europäische Abschottungspolitik.

    Die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni reagiert auf die hohen Zahlen mit dem Ausrufen eines sechsmonatigen Notstandes im Land. Allein über die Osterfeiertage kamen nach Angaben der Behörden etwa 2.000 Menschen auf der Insel Lampedusa an. Nun soll ein*e Sonderbeauftragte*r ernannt werden, dem 5 Millionen Euro zur Verfügung stehen. Das Aufrufen des Notstandes ermöglicht der Regierung außerdem, Maßnahmen ohne parlamentarisches Prozedere durchzusetzen. Wie der Spiegel berichtet, sollen damit neue Aufnahmezentren für die ankommenden Menschen gebaut werden.

    Ein gutes Signal – oder?

    Aus Regierungskreisen heißt es dagegen, so die tagesschau, dass die Verordnung des Notstandes genutzt werde, um Abschiebungen unbürokratisch und schneller durchzuführen. Welcher Ausgang wahrscheinlicher ist, zeigt wohl schon die Rechtsorientierung der italienischen Regierung. Bereits in ihrem Wahlkampf warb Giorgia Meloni damit, die Zuwanderung nach Italien einzudämmen. Dass von dem Geld aus dem Notstandsfond also geflüchtete Menschen profitieren, ist wohl unwahrscheinlich.

    Solange es Fluchtgründe gibt, werden Menschen flüchten

    Doch in Teilen ist Italiens Vorgehen verständlich. Länder wie Italien und Griechenland, in denen die meisten geflüchteten Menschen in der EU ankommen, werden sich selbst überlassen. Wie verschiedene Medien berichten, sagt Zivilschutzminister Nello Musumeci: „Um es klar zu sagen, das löst das Problem nicht, dessen Lösung an eine vernünftige und verantwortliche Intervention der Europäischen Union geknüpft ist.“

    Solange es Fluchtgründe gibt, werden Menschen flüchten. Abschottung löst keine Kriege und bietet Verfolgten keine Sicherheit – im Gegenteil. Wenn man eine rechte Regierung mit der Aufnahme so vieler Geflüchteter allein lässt, nimmt man den Tod dieser Menschen in Kauf. Es kann nicht die mögliche “Lösung” dieser Situation sein, Migration zu begrenzen. Vielleicht muss die EU anerkennen, dass das Dublin-Verfahren nicht mehr funktioniert.

    Und hier sind wir wieder bei der Sache mit dem politischen Willen, wonach wir in dieser Kolumne so häufig fragen. „Die Rettung von Menschenleben auf See ist eine rechtliche Verpflichtung für Staaten“, so IOM-Direktor Vitorino, „wir brauchen eine proaktive Koordinierung der Such- und Rettungsmaßnahmen unter der Leitung der Staaten. Im Geiste der geteilten Verantwortung und der Solidarität rufen wir die Staaten auf, zusammenzuarbeiten und den Verlust von Menschenleben entlang der Migrationsrouten zu verringern.“ Wie lange muss ein gemeinsames Vorgehen in Europa noch gefordert werden?

  • Pham Phi Son – 36 Jahre Gast

    Am Freitag, den 10. Februar lehnt die Sächsische Härtefallkommission einen Antrag ohne Begründung ab. Pham Phi Son, seine Frau und die 6-jährige Tochter sind sofort ausreisepflichtig. Die Geschichte der Familie Pham/Nguyen geht durch die Medien – schon seit einem Jahr. Doch was ist genau passiert?
    1987 kommt Pham Phi Son (65) als Vertragsarbeiter nach Sachsen. Er ist einer von rund 60.000 Vetragsarbeitenden (1989) aus Vietnam, die seit 1980 von der DDR angeworben wurden. Ähnliche Abkommen hat die Regierung damals mit Polen, Ungarn und Mosambik, Grund ist der akute Fachkräftemangel. Dass es sich für die DDR eher um Fachkräfte und weniger um Menschen handelt, wird schnell klar: die Verträge sind befristet, es gibt keine Integrationsbemühen, deutsche und vietnamesische Arbeiter*innen werden strikt getrennt.
    Spulen wir nun ins Jahr 2016 vor. Pham Phi Son reist mit seiner Frau nach Vietnam. Weil eine alte Kriegsverletzung Probleme bereitet, begibt er sich in stationäre Behandlung. Laut Sächsischem Flüchtlingsrat habe er sich bei der deutschen Botschaft erkundigt, ob sich sein längerer Aufenthalt in Vietnam auf seinen Aufenthaltstitel auswirke. Im persönlichen Gespräch sei das verneint worden, diese Tatsache werde gerade noch geprüft.  Nach der Rückkehr beginnt Pham Phi Son wieder zu arbeiten und sichert sich damit seinen Lebensunterhalt.
    Dass die beiden länger als 6 Monate im Ausland sind, wird aber doch noch zum Problem: Son verliert seine Niederlassungserlaubnis in Deutschland. Das fällt der Behörde erst auf, als er 2017 die Geburt seiner Tochter beurkunden möchte, die eigentlich die deutsche Staatsbürgerschaft bekommen hätte.

    Die Deutsche Gastfreundschaft

    Die Behörde entzieht ihm und seiner Frau das Aufenthaltsrecht, es gibt eine behördliche Untersagung der weiteren Arbeitsbeschäftigung, eine Abmeldung der Wohnung von Amts wegen. Die Familie taucht unter. Es gibt keine Chance, wieder einen legalen Aufenthalt zu bekommen, denn die Niederlassung ist vor Wiedereinreise erloschen, ein Antrag auf Duldung ist aber nur möglich, wenn sich die Familie wieder in Deutschland anmeldet. Aber:  Für die Anmeldung braucht man einen neuen Mietvertrag.
    Stefan Taeubner, katholischer Seelsorger der Familie, erklärt, dass Vermieter*innen die Familie Pham/Nguyen wegen der Gefahr der Beihilfe zum illegalen Aufenthalt nicht unterstützen. Eine Klage gegen den Entzug des Aufenthaltsrechts scheitert vor dem Verwaltungsgericht, der erste Härtefallantrag wird von der Sächsischen Härtefallkommission abgelehnt. Der Grund: Pham Phi Son spreche zu schlecht Deutsch. Kein Wunder eigentlich, da es in den 80ern keine Motivation gab, die Menschen zu integrieren und Deutschkurse einzuführen. Rechtsanspruch auf Deutschlernen gibt es erst seit 2015.
    Nach 36 Jahren in Deutschland, in denen sie gearbeitet, Steuern gezahlt und sich eine Existenz aufgebaut haben, werden die drei wie ungebetene Gäst*innen behandelt. Die Familie lebt mehrere Jahre versteckt in einem anderen Bundesland und bekommt Support durch die vietnamesische Community. Da wird einem bei der deutschen Gastfreundschaft so richtig warm ums Herz.
    Im Januar 2022 wird die Geschichte der Familie Pham/Nguyen mit Unterstützung von Stefan Taeubner und des sächsischen Landtagsabgeordneten und SPD-Fraktionsmitglieds Frank Richter öffentlich. Die Chemnitzer Stadtgesellschaft sowie die Integrationsbeauftragte der Stadt Etelka Kobuß sorgen dafür, dass die Familie wieder eine Wohnung und eine befristete Duldung bekommt.

    Katastrophe, Hoffnung, Katastrophe

    Doch die Tortur geht weiter: Im August wird die erneute Befassung mit einem Härtefallantrag durch den Ausländerbeauftragten Geert Mackenroth wegen vermeintlich fehlender neuer Fakten abgelehnt. Er habe die Akten geprüft, sagt der CDU-Politiker im Interview mit der taz, und keine neuen Fakten gefunden. Ein Ausländerbeauftragter mit Hardliner-Mentalität, dessen Vater Mitglied der NSDAP und SA war… Warum darf ein Mensch allein über das Schicksal einer ganzen Familie verfügen?
    Der Familie Pham/Nguyen droht also wieder die Abschiebung und – weil nur seine Frau und Tochter einen vietnamesischen Pass haben – die Trennung von Vater und Familie. Dass die kleine Emilia, die noch nie in Vietnam war und im Sommer 2022 eingeschult werden sollte, wahrscheinlich traumatisiert werden würde, scheint den Behörden egal zu sein.
    Nach der Katastrophe, auf die Hoffnung und dann wieder eine Katastrophe folgte, geben die sächsischen Unterstützenden und die Familie nicht auf. Eine Online-Petition des Sächsischen Flüchtlingsrats (94.500 Unterzeichnende, Stand: 17.2.23, 10 Uhr) erreicht das Ziel innerhalb von vier Tagen, SPD und Gründe plädieren für humanitäre Entscheidungen für ein Bleiberecht für geduldete Menschen. Der Chemnitzer Stadtrat will sich nach der Sommerpause mit dem “Fall” befassen, der Sächsische Flüchtlingsrat hat zahlreiche Meldungen von Anwält*innen erhalten.
    Eine humanitäre Aufenthaltserlaubnis wäre möglich. Es trudeln zahlreiche Jobangebote ein, denn Pham Phi Son ist in der Gastronomie ausgebildet, wo derzeit Fachkräftemangel herrscht. Zu diesem Zeitpunkt wirbt Sachsen nach Fachkräften aus Vietnam – auch für die Gastronomie.

    Chancen-Aufenthaltsrecht

    Mit vereinten Kräften wird für die Hoffnung und eine Bleibeperspektive für die Familie gekämpft. Der Petitionsausschuss des Landtages könnte den Entzug der Niederlassungserlaubnis korrigieren. Doch im sächsischen Landtag ist das Votum der CDU entscheidend, da sie gemeinsam mit der AfD im Petitionsausschuss die rechnerische Mehrheit haben. Und auf die klare Abgrenzung der CDU zur dieser rechten Partei ist selbstverständlich Verlass: Schriftlich bestätigen die Abgeordneten den Petitionsbetreibenden, dass sie sich NICHT für die Familie einsetzen. Die Petition hat zu diesem Zeitpunkt rund 81.000 Unterschriften, fast jede fünfte kommt aus Sachsen.
    Der Sächsische Flüchtlingsrat bereitet mit der Familie einen dritten Antrag für die Härtefallkommission vor. Dieses Mal sind die Fakten auch für Geert Mackenroth unübersehbar: Pham Phi Son bekommt unzählige Arbeitsangebote und belegt seit 2019 einen Deutschkurs. Das Auf und Ab zwischen Existenzbedrohung, Abschiebung und Zukunftsperspektive geht in die nächste Runde.
    Im Dezember 2022 stehen die Ampeln der Migrationspolitik dann auf grün und zur Abwechslung mal nicht auf schwarz-blau, als die Prüfung des 3. Härtefallantrags zugelassen wird. Im gleichen Monat tritt übrigens das Chancen-Aufenthaltsrecht in Kraft, was die Einbürgerung, auch von den sogenannten Gastarbeitenden, erleichtern soll. Kleiner Hoffnungsschimmer am Rande.

    Hauptsache Fachkraft

    Eigentlich hätte die Chemnitzer Ausländerbehörde der Familie Pham/Nguyen ein Aufenthaltsrecht zusprechen können, das im eigenen Ermessen lag. Aber back to the roots of Vertragsarbeit, denn Pham Phi Son und seine Frau dürfen zwar nicht langfristig bleiben, aber als Fachkräfte arbeiten: Die Arbeitserlaubnis wurde ihnen erst kürzlich erteilt. Dass seine Frau eigentlich durch ihre akademische Ausbildung für ihren Job in der Gastronomie überqualifiziert ist, scheint den Behörden – wie so vieles – nicht wichtig.
    Doch das Durchhaltevermögen der Familie und die Unterstützung der deutschen Bevölkerung, von Einzelpersonen und NGOs bringen am Ende nichts, wenn das danze System rassistisch ist: Am 10. Februar 2023 lehnt die neunköpfige Härtefallkommission Sachsen den Antrag ohne Begründung ab. Im Interview mit der taz sagt Pham Phi Son, er sei von der demokratischen Gerechtigkeit in Deutschland enttäuscht, könne nicht schlafen und sei in Panik.
    Auf Facebook fragt sich Integrationsbeauftragte Etelka Kobuß nach der Entscheidung: “Welche Signale senden wir als Land in die Welt? Kommt her, wir brauchen Arbeitskräfte! Fühlt euch aber nie sicher! Richtet euch gar nicht häuslich ein. Welche Signale senden wir an die Menschen, die ebenfalls so lange schon hier leben?” Diesen Gedanken teilt auch Bildungsreferentin und Autorin Hami Nguyen, die die Petition “Familie Pham/Nguyen muss bleiben!” initiiert hat und sich damit an den sächsischen Ministerpräsident Michael Kretschmer und Bundesinnenministerin Nancy Faeser richtet.
    Noch kann die Chemnitzer Ausländerbehörde eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen für die Familie ausstellen. Es handelt sich dabei um eine Entscheidung aus Menschlichkeit, an die plädiert werden muss. Die Zivilbevölkerung muss weiterhin Druck auf die Politik machen.

    Was kann ich jetzt als Einzelperson tun?

    1. Petition unterschreiben.
    2. Den verantwortlichen Politiker*innen eine E-Mail schreiben. Hier findest du ein E-Mail-Template, das du nutzen kannst. Bitte einen individuellen Betreff wählen, um nicht gefiltert werden zu können.
    3. An Demonstration teilnehmen. Heute, am 17. Februar 2023 um 17 Uhr wird es eine Demonstration gegen die Abschiebung von Pham Phi Son vor der Chemnitzer Ausländerbehörde (Düsseldorfer Platz) geben.

    Die mediale Aufmerksamkeit um die Familie Pham/Nguyen ist wichtig und bewirkt hoffentlich, dass die Familie in Deutschland bleiben darf. Was dabei nicht vergessen werden darf ist, dass Pham Phi Son einer von sehr vielen Menschen ist, die von institutionellem Rassismus betroffen sind und deren Aufenthalt trotz der langen Dauer nicht selbstverständlich ist. Auch anderen Betroffenen muss zugehört und geholfen werden. “Wer in Deutschland keine Staatsbürgerschaft hat, ist niemals von einer Abschiebung sicher”, schreibt Hami Nguyen auf Instagram. Während die Bundesregierung Menschen zum Träumen à la Make it in Germany bringen will, bleiben sie in Deutschland vor allem eins: Fachkräfte. Denn in Deutschland bleibt man zu Gast, auch wenn der Besuch schon 36 Jahre dauert. Und man wird rausgeschmissen, wenn man für einen Moment zu lang aus dem Fenster schaut.

    Stichwort Staatsbürgerschaft: Die Autor*innen von kohero haben sich in den letzten Wochen kanalübergreifend mit diesem Thema auseinandergesetzt. Mehr dazu erfährst du also ab dem 27. Februar in unserem Online-Magazin und ab dem 2. März auch in unserem Podcast! Melde dich jetzt für unseren Newsletter an, um die gesammelten Ergebnisse unserer Recherchen zu erhalten.


    Facebook


    Instagram


    Pinterest


    Linkedin


    Twitter

  • Filme zum Thema Migration

    Es muss eine Erinnerung geschaffen werden, um das Thema Migration wieder aus den Tiefen des Unterbewussten hervorzuholen. Vor allem in Bezug auf die Presseberichte, die die illegalen Pushbacks und persönlichen Schicksale spiegeln, braucht es ein wichtiges Medium, das dies anders thematisiert. Migration ist als Nicht-Betroffene*r zu weit von der eigenen Wahrnehmung entfernt. Es muss durch eine wahrnehmbare Perspektive herangeholt werden. Oft können Menschen sich mit Medien, wie z.B. Filmen, die persönliche Schicksale zeigen, besser identifizieren.

    Wie die Sehnsucht nach einem Schiff der Anfang zu einer neuen Reise werden kann

    Es ist eine Reise ins Unbekannte, die „Flotel Europa“ sollte für ein Kind und die Familie ein neues Zuhause sein. Man könnte denken, dass es sich hierbei um einen normalen und zugleich schönen Film handelt. Doch dies ist nicht der Fall.

    Taucht man tiefer ein, wird einem sogleich die Problematik der Protagonist*innen als Personen mit einer Migrationsgeschichte bewusst. In dem Film erzählen die Protagonist*innen hauptsächlich aus der Rolle jugoslawischer Geflüchteter und ihrem Erleben einer Migrationsgeschichte, als sie Anfang der 90er Jahre nach Deutschland kamen. Das Leben spielte sich dabei überwiegend in Unterkünften wie diesem Schiff ab. Hier war es oft dunkel und fensterlos und Gemeinschaftsküchen bestimmten den Alltag. Der Film wird durch den Regisseur Vladimir Tomic autobiographisch erzählt. Er wurde auf der Grundlage für die Darstellung einer gestohlenen Kindheit und dem „Flüchtlingselend“ rekonstruiert.

    Wie Kinder die Wanderung von einem Ort zum anderen wahrnehmen

    Der Ort ist dabei einerseits assoziativ und andererseits entspricht er auch teilweise der Wahrheit. Der Film „La nuit et l’enfant“ des Regisseurs David Yon berichtet von einer allgegenwärtigen Bedrohung und Gefahr. Er nimmt die Facetten und Hintergründe einer Jugend in den Blick, die ihre Zeit des Erwachsenenwerdens in der Region Djelfa, im Bereich der terroristischen Bedrohung verbringt.

    Die Jugend dieser Region bzw. die Protagonist*innen im Film nehmen dies so wahr. Sie vergegenwärtigen sich, dass der Terrorismus nur eine Form ist, die ihr Leben radikal verändert hat. Vor dem Terrorismus sei das Leben nach Aussage der Protagonist*innen friedlich und frei gewesen. Im Kern beschreibt der Film den Teil einer Jugend, die sich abgrenzen und ihre eigene Identität finden muss.

    Wie sich Flucht abseits des Heimatlandes als Protest auswirkt

    Drei junge Menschen (Mayga aus Mali, Elias aus Ghana und Abidal aus Burkina Faso) spielen weitab von ihrer Heimat in dem Film „Escape from my eyes eine Fluchtgeschichte, die sie von ihren Heimatländern ins winterliche Berlin führt. Der Film entstand zwar fiktiv, aber auf Basis von realen Beiträgen und Basispapieren.

    Der Regisseur Felipe Bragança führte diese auf der Grundlage eines Austausches mit Geflüchteten eines Geflüchteten Camps auf dem Berliner Oranienplatz durch. Dieser Austausch geschah auf Grundlage der Künstlervereinigung DAAD. Schwerpunktmäßig befragte er dabei Kriegs- und politische Geflüchtete.

    Wie der Libanon als Zufluchtsort dient

    Ein Filmteam besucht ein syrisches Flüchtlingslager. Alltägliche Situationen wie das Verstecken vor dem Krieg und das Verstecken der Kinder werden gezeigt. Es tun sich Widersprüche auf, weil unterschiedliche Welten an einem Ort aufeinandertreffen.

    Im Film „El Juego del Escondite“ macht Regisseur David Muñoz das Zusammentreffen von Realität, Fiktion und filmischem Prozess zum Thema. Die Wirklichkeit ist eine Situation, die nur aus dem für den Film bestimmten Wahrheiten extrahiert wird. Es wird die Erwartung an den Film herangetragen, die Ereignisse in eine bestimmte Reihenfolge zu packen. Der Film will sich aber dabei als einzige Wahrheit sehen.

    Eine Hotline als Hilfe für Geflüchtete

    An jedem Tag und zu jeder Stunde sind die Frauen der „Hotline“ unterwegs und helfen Geflüchteten in Israel, die Hilfe beim Organisieren von Papieren brauchen oder als illegal gelten. Die Kamera ist mittendrin im Geschehen. Der Film zeigt die Perspektive einer Aktivistin, die sich für die ankommenden Geflüchteten aus Eritrea und Sudan einsetzt und dabei auf vehemente Abwehr trifft.

    Dabei muss sie sich gegen viele Gegner wie Gefängnisse, Menschenhändler und andere Widersacher durchsetzen. Die Regisseurin Salvina Landsmann nimmt die Zuschauer*innen dabei an verschiedene Orte mit. Unter anderem Ämter, Gerichte und das israelische Parlament (die Knesset). Dabei wird deutlich, woraus der Kampf für Menschenrechte besteht: reden, mobilisieren, dokumentieren, überzeugen.

    Lest hier auch die Besprechung des Films „next station“

  • Lüneburger Tafel: Die Lage ist angespannt

    Durch den großen Andrang haben viele Tafeln in Deutschland Aufnahmestopps verhängt, weil sie nicht mehr über die Kapazitäten verfügen, neue Kund*innen aufzunehmen. In Lüneburg musste man trotz der angespannten Lage noch nicht über solch drastische Maßnahmen nachdenken. Konstanze Dahlkötter von der Lüneburger Tafel e. V. betont immer wieder, „dass wir die Leute versorgen, die bei uns anklopfen und unsere Hilfe wirklich brauchen“. Dennoch wisse sie nicht, was die Zukunft bringen werde. Die Mitarbeitenden hätten bereits jetzt ihre Belastungsgrenzen erreicht, denn der Andrang habe sich mehr als verdoppelt.

    Vor welchen Herausforderungen stehen Sie mit Ihrer Tafel im Moment? Was macht Ihnen die größten Sorgen?

    Ich habe Angst davor, dass ich morgen nicht mehr alle Kund*innen versorgen kann. Wir versorgen gerade etwa 650 Familien, das heißt über 1.800 Menschen. Das ist eine ganze Menge für die Größe einer Stadt wie Lüneburg und sorgt für eine große Belastung für alle, die bei der Tafel mithelfen. Zumal die ehrenamtlichen Mitarbeiter der Tafel oft schon im Rentenalter sind und die Tafel mit Nachwuchsproblemen zu kämpfen hat. Zudem sind unsere Räumlichkeiten zu klein, um dem großen Ansturm gerecht zu werden.

     

    Menschen mit Migrationserfahrung und Fluchterfahrung sind statistisch gesehen besonders häufig von Armut betroffen. Würden sie sagen, das spiegelt sich in Ihrer Kundschaft wider? Hat sich zum Beispiel die EU-Osterweiterung und die damit verbundene Freizügigkeit auf Ihre Arbeit ausgewirkt?

    Den Krieg in Syrien haben wir 2015 extrem gemerkt. Auch kommen seit der EU-Öffnung mehr Menschen aus den ehemaligen Ostblockländern zu uns, aber das ist nicht so stark ausgeprägt. Durch den Krieg in der Ukraine hat sich das Bild jedoch deutlich verschoben. Es kommen weniger Deutsche – dafür mehr Migrant*innen und Geflüchtete.

     

    „Wir haben im Moment jede Woche bis zu 30 Neuanmeldungen“

     

    Wenn Sie die Folgen des Syrien-Kriegs mit der aktuellen Situation des russischen Kriegs in der Ukraine vergleichen: Inwiefern unterscheiden sich die Auswirkungen auf Ihre Arbeit?

    Es standen damals täglich 50 und mehr aus Syrien geflüchtete Menschen vor uns, die Lebensmittel brauchten. Aber zur Zeit des Syrien-Konflikts konnten wir das anders aufteilen. So eine Situation wie im Moment haben wir zuvor noch nie erlebt. Das kann man sich als Außenstehende*r schwer vorstellen.

     

    Worin bestehen die Unterschiede?

    Als die Syrer*innen vor dem Krieg flüchteten, waren wir am Anfang mit großen Menschenmengen konfrontiert, aber dann wurde es weniger. Zurzeit spüren wir von einem Rückgang nichts: Wir haben im Moment jede Woche bis zu 30 Neuanmeldungen. Auch der Anteil an Geflüchteten ist noch höher als zuvor.

    Die Situation hat sich auch dadurch geändert, dass wir weniger Lebensmittel bekommen. Damals konnten wir mehr Lebensmittel pro Kopf verteilen. So haben wir bei Familien mit acht Personen auch acht Joghurts herausgeben. Je nachdem, wie viele Lebensmittel wir erhalten, können wir heute nur noch drei bis vier Joghurts pro Familie verteilen. Das sind die Herausforderungen, mit denen wir täglich zu kämpfen haben.

     

    Wie gehen Sie damit um, dass unter den Menschen auch welche sind, die kein oder nur wenig Deutsch sprechen?

    Zum einen übersetzen wir mit Hilfe unserer Handys, anders würde das gar nicht funktionieren. Zum anderen haben wir eine Frau gefunden, die Russisch spricht und bei der Antragsannahme hilft. Das ist ein echter Glücksfall! Zum Teil stehen die Menschen vor dem Nichts und ohne irgendwelche Papiere vor uns. Gerade in solchen Fällen ist die Kommunikation schwierig. Aber zur Not klappt es auch mit Händen und Füßen.

     

    „Es gibt viele verschiedene Schicksale, mit denen wir hier konfrontiert werden“

     

    Wie gehen Sie persönlich mit den schweren Schicksalen und Eindrücken um, die Ihnen in Ihrer Arbeit zwangsläufig begegnen?

    Als ich angefangen habe, hier zu arbeiten, haben mich die Schicksale, die hinter den Menschen stehen, ziemlich mitgenommen. Das merkte ich vor allem beim ersten Zusammentreffen, der Antragsannahme. Mir ist wichtig, an dieser Stelle zu sagen, dass es jede*n treffen kann! Es kann einen Selbstständigen treffen, der sich nicht abgesichert hat. Eine andere Person hatte einen Unfall und kann nicht mehr arbeiten oder es sind Rentner, die in Altersarmut leben. Es gibt viele verschiedene Schicksale, mit denen wir hier konfrontiert werden.

     

    Ich kann mir vorstellen, dass Ihnen die Erlebnisse der Kriegsgeflüchteten aus der Ukraine sehr nahe gehen?

    Ja, es geht mir sehr nahe, wenn sie über ihre Situation berichten und ihre Geschichten erzählen. So war es auch bei einer Ukrainerin, der ich eine Berechtigung ausstellen wollte und meinte: „Schauen wir mal, vielleicht können Sie in einem halben Jahr wieder zurück in die Ukraine.“ Darauf entgegnete sie: „Ja, wo soll ich denn hin? Ich habe kein Haus mehr, die Schule ist weg, es ist nichts mehr da.“

    Ein anderes Mal kam eine ältere Dame aus der Ukraine zu uns, die nichts mehr hatte und weinte. Da habe ich einfach spontan aus meinem Portemonnaie 20 Euro genommen und ihr mein Kärtchen mitgegeben. Ich sagte zu ihr: „Wenn Sie irgendwann einmal in der Lage dazu sind, können Sie es mir zurückzahlen.“ Ich habe eigentlich nicht fest damit gerechnet es wiederzubekommen. Doch schon nach kurzer Zeit habe ich die 20 Euro zurückbekommen. Das war natürlich schön. Ich bin mir aber bewusst, dass ich solche Hilfe eigentlich nicht anbieten darf, weil ich ja nicht jedem etwas aus eigener Tasche geben kann. Aber ich denke, bei solchen Eindrücken ist das einfach menschlich.

     

    „Ich mache mir Sorgen, dass die Spendenbereitschaft abnimmt“

     

    Gibt es Konflikte und Diskriminierung der Kunden untereinander, gerade jetzt bei der Ressourcenknappheit, unter der die Kund*innen leiden?

    Ich muss sagen, dass viele Kund*innen dankbar sind, dass wir für sie da sind. Man hört auch mal ein Dankeschön. Das ist für die Arbeit und die eigene Motivation wichtig, denn ohne solche Momente, in denen die Arbeit gewürdigt wird, würde es nicht so gut bei uns laufen. Natürlich gibt es bei den Kund*innen auch Konkurrenz untereinander. Manche sind beispielsweise enttäuscht, dass eine Familie genauso viel bekommt wie ein Zwei-Personen-Haushalt. Aber im Moment können wir das anders nicht umsetzen.

    Wir machen die Körbe fertig und jede Familie bekommt dasselbe. Wir verteilen die Lebensmittel an vier Tagen in der Woche an 150 – 170 Familien pro Tag. Wir sagen immer, wir können den Kühlschrank nicht ganz füllen, aber wir geben gerne etwas dazu. Mich macht sehr traurig, dass es manchmal so wenig ist. Wir bekommen aber zum Glück zurzeit verstärkt Unterstützung durch Lüneburger Anwohner*innen oder lokale Firmen, die uns Spenden und Lebensmittelgutscheine vorbeibringen. Das ist so toll und so wichtig! Denn ohne diese Hilfe könnten wir in dieser Form nicht mehr bestehen. Trotzdem weiß ich nicht, was im nächsten Jahr sein wird, und ich mache mir Sorgen, dass die Spendenbereitschaft abnimmt.

     

    Haben Sie den Eindruck, dass sich Kund*innen schämen, wenn sie das erste Mal die Tafel besuchen? Wie gehen Sie mit solchen Situationen um?

    Bei vielen Neukund*innen ist schon ein Schamgefühl zu spüren. Gerade bei älteren Kund*innen, die im Ruhestand sind. Die brauchen manchmal einen Anstoß oder einen Nachbarn, der mit ihnen herkommt. Wenn die Menschen dann zwei-, dreimal hier waren, merken sie schnell, dass unsere Kund*innen sich in der gleichen Situation befinden und ihr Schicksal teilen.

     

    „Wir versuchen durch unseren kleinen Beitrag, die Menschen finanziell zu entlasten“

     

    Das Angebot der Tafel soll Menschen gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen, indem sich die Menschen idealerweise in anderen Lebensbereichen mehr leisten können. Ist das noch zu gewährleisten?

    Wir versuchen durch unseren kleinen Beitrag, die Menschen finanziell zu entlasten. Damit die Oma beispielsweise auch mit ihrer kleinen Rente ihren Enkeln etwas zu Weihnachten schenken kann. Bei manchen Familien geht es um die Existenzsicherung. In solchen Fällen rückt dann die Nutzung eines Kulturangebots oder die aktive gesellschaftliche Teilhabe in weite Ferne.

     

    Würden Sie sagen, dass sich Ihre Kundschaft in der letzten Zeit verändert hat und auch Menschen mit festen, aber geringen Einkommen Ihre Hilfe in Anspruch nehmen?

    Menschen mit festen Einkommen sind noch zaghaft. Es wenden sich eher Menschen an uns, wenn sie in die Arbeitslosigkeit geraten sind. Trotzdem melden sich immer mehr Menschen, die bis vor kurzem noch ohne unsere Hilfe ausgekommen sind. Das können zum Beispiel alleinerziehende Elternteile mit mehreren Kindern sein. Es bleibt abzuwarten, was der Winter mit sich bringt. Ich könnte mir vorstellen, dass sich dieser Trend angesichts der steigenden Kosten verstärkt.

     

    „Wir wissen natürlich nicht, welche Kosten und Krisen in Zukunft noch auf uns zukommen“

     

    Haben Sie Forderungen an die Politik? Wie könnte sich Ihre Situation und die Ihrer Kund*innen verbessern?

    Ich würde mir ein Gesetz wie in Frankreich wünschen, bei dem Unternehmen und Supermärkte verpflichtet werden, Hilfsorganisationen Lebensmittel zu spenden. Es ist bei uns in Deutschland immer noch leichter, Lebensmittel wegzuschmeißen, anstatt sie der Tafel bereitzustellen. Daher wird immer noch viel zu viel weggeschmissen.

     

    Wie können Privatpersonen am besten helfen? Was wird am meisten gebraucht?

    Im Moment brauchen wir tatsächlich am dringendsten Lebensmittelspenden oder Lebensmittelgutscheine, damit wir unsere Kund*innen weiterhin versorgen können. Das würde ich mir sehr wünschen. Finanziell kommen wir momentan mehr oder weniger klar, vor allem durch die Mithilfe der Lüneburger Bürger*innen. Aber wir wissen natürlich nicht, welche Kosten und Krisen in Zukunft noch auf uns zukommen.

     

    Mehr zum Thema Armut findest du hier und in der multivitamin-Folge Klassismus & Rassismus – Wie hängen Armut und Migration zusammen?.

  • dropping out of vocational training?

    Answer

    Dear reader,

    If you drop out of your training, you are entitled to a toleration for 6 months in order to look for something new. You have to apply in writing for this toleration!

    You are only entitled to change your training once

    For the new vocational training a toleration for vocational training is granted for the entire period of the training.

    The one-time toleration to search for a new training is granted regardless of when you discontinue your training and regardless of the reason for the training discontinuation.

    You can change the profession in which you are training, for instance, from hairdresser to cook. You can change from a school-based training to a company-based training (and vice versa). You should inform the Foreigners‘ Authority as soon as possible about the discontinuation, as this is part of your duty to cooperate with the authorities. If you drop out, the company must inform the foreigners authority within one week, otherwise heavy fines (up to 30,000 euros) may be imposed.

    Before dropping out of training, get advice (from the vocational school or company, teachers, vocational agency) to find a good solution and think it over well. You can also get help to complete your current vocational training. Especially if the foreigner’s authority has already rejected your asylum application. In this case it is important for your stay to have a toleration for vocational training. If you then work in the profession in Germany for another 2 years after the training, there should be no more problems with your stay.

    Good luck and we keep our fingers crossed that you will complete your training!

     

    Diese Artikel wurde zuerst auf Deutsch veröffentlicht

  • Die Proteste im Iran gehen uns alle an

    Daniela Sepehri leistet Informationsarbeit und teilt Videos und Bilder von den Protesten in den sozialen Medien, organisiert Kundgebungen, initiiert Petitionen. Sie ist eine gefragte Interviewpartnerin und trifft sich mit Abgeordneten, um ihre Forderungen an die Politik heranzutragen. All das macht sie neben ihrem Vollzeitjob als Social Media Managerin und ihrem Teilzeit-Masterstudium in Medien und politischer Kommunikation. Der Grundstein für ihren Aktivismus wurde im Elternhaus gelegt.

     

    Mit Politik aufgewachsen

     

    Bevor du geboren wurdest, mussten deine Eltern aus dem Iran fliehen. Aus welchem Grund kamen sie nach Deutschland?

    Mein Vater ist im Iran zum Christentum konvertiert. Der Übertritt vom Islam zu einer anderen Religion wird mit dem Tod bestraft. Er war sehr aktiv, verteilte Bibeln und missionierte. 1997 floh er zusammen mit meiner Mutter nach Deutschland, weil er die Todesstrafe erhalten hatte. Vor ihm hatten schon viele aus seiner Familie das Land aus ähnlichen Gründen verlassen.

     

    Du hast mit 15 Jahren angefangen, dich politisch zu engagieren. Was war der Auslöser?

    Meine Familie ist sehr politisch. Alle sind aus politischen und religiösen Gründen geflohen. Bei jedem Familientreffen und wenn wir Besuch hatten, ging es in den Gesprächen um den Iran und die dortige Politik. Kurzum: Mit Politik bin ich groß geworden. Mit 15 dachte ich ganz naiv, ich könne durch politisches Engagement Regime Change im Iran bewirken. Ich hatte damals bei der SPD in Paderborn ein freiwilliges Praktikum gemacht. Das war mitten im Bundestagswahlkampf 2013 und ich fand es wahnsinnig spannend. Dann bin ich den Jusos beigetreten und ein halbes Jahr später der SPD. Trotz meines Austritts vor zwei Jahren, bin ich weiterhin politisch engagiert, wenn auch nicht parteipolitisch.

     

    Ungerechtigkeit erkannt und bald die Ausmaße von struktureller Diskriminierung realisiert

     

    Welche Themen liegen dir als Aktivistin besonders am Herzen?

    Ich habe wegen des Irans angefangen, Politik zu machen. Mein Papa ist Pastor in einer evangelischen Gemeinde in Paderborn, in der es unter anderem einen Gottesdienst auf Persisch gibt. Der iranische Teil der Gemeinde besteht zu 95 Prozent aus Geflüchteten. Ich habe schon sehr früh damit begonnen, den Leuten beim Deutschlernen zu helfen, Briefe zu übersetzen und sie zu Ämtern zu begleiten.

    Ich habe viel Ungerechtigkeit gesehen und mitgekriegt, wie rassistisch unser Migrationssystem ist. Dadurch spielten die Themen Migration und Integration irgendwie eine Rolle. Als PoC kommt man natürlich nicht umhin, sich mit Rassismus zu beschäftigen, weil man ihn selbst erlebt hat. Und ich kann nicht über den Iran sprechen, ohne auf Afghanistan einzugehen, also geriet Afghanistan auch in den Fokus.

    Intersektionalität ist  wichtig

    Dann habe ich gemerkt, was Sexismus überhaupt bedeutet. Je älter ich wurde, desto mehr habe ich realisiert, wie viel strukturelle Diskriminierung in meinem Umfeld drin ist und wie diskriminierend wir eigentlich alle sozialisiert worden sind. Stück für Stück kamen immer mehr Themen hinzu. Und wenn man über Feminismus spricht, geht das nicht ohne die Themen Ableismus und Queerfeindlichkeit. Man muss schließlich inklusiv denken. Ich würde mich aber weder als Expertin im Bereich Ableismus und Queerfeindlichkeit noch als Afghanistan-Expertin bezeichnen. Ich bemühe mich, intersektional ranzugehen, denn so verstehe ich Feminismus. Ich glaube, meine Schwerpunkte sind Feminismus, Rassismus, Migration und Iran.

     

    Seit Ausbruch der Proteste lässt du nichts unversucht, um auf die Situation im Iran aufmerksam zu machen. Was hast du bisher unternommen?

    Am Anfang habe ich viele Demonstrationen organisiert. Dann ist mir bewusst geworden, dass ich durch mein jahrelanges Engagement ein Verständnis für Politik entwickelt und Kontakte zu Bundestagsabgeordneten habe. Das habe ich genutzt und Forderungen formuliert. Damit gehe ich ins Gespräch mit Abgeordneten und Vertreter*innen der Politik. Ich versuche zu verdeutlichen, wie die deutsche Politik den Menschen im Iran konkret helfen kann. Oder zumindest sollte sie damit aufhören, die Leute zurückzuhalten und ihren Kampf schwerer zu machen, als er ohnehin schon ist.

    Das Besondere an den aktuellen Iran-Protesten

     

    Gibt es ein Bild oder ein Video von den Protesten im Iran, das dich besonders bewegt hat?

    Da gibt es sehr viele. Die mit am schlimmsten betroffenen Regionen sind Belutschistan und Kurdistan. In Belutschistan wird meist nach dem Freitagsgebet demonstriert. Die Leute werden von Helikoptern aus beschossen. In Kurdistan rücken schwere Panzer an und die Menschen werden mit Kriegswaffen angegriffen. Es gab ein Blutbad in der kurdischen Stadt Mahabad. Drei Tage später, nachdem das Blutbad eskaliert war, gingen auch in Zahedan die Leute auf die Straße.

    Ein Bild ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Ein Mann aus Belutschistan hat ein Schild hochgehalten, auf dem stand: „Kurdistan ist nicht allein“. Sie werden gerade selbst abgeschlachtet und sagen aber, dass ihre Solidarität den Menschen in Kurdistan gehört. Die Leute in Teheran rufen wiederum: „Kurdistan und Belutschistan sind Licht und Auge des Irans.“

     

    Den Menschen Irans geht es nicht um Reformen

     

    Das Regime hat mehr als 40 Jahre lang versucht, zwischen all den Völkern, all den religiösen Minderheiten Spaltung und Zwietracht zu säen. Durch die Erschaffung von Feindbildern konnte es sich mitunter überhaupt so lange halten. Das lassen sich die Menschen nicht mehr gefallen. Sie halten jetzt einfach zusammen. Das sind Bilder, die mir Hoffnung geben. Daran sehe ich, dass das Regime fallen wird.

     

    Du hast die Proteste schon früh als Revolution bezeichnet. Warum sind Reformen aus deiner Sicht nicht möglich?

    Den Menschen im Iran geht es nicht um Reformen. Sie rufen: „Wir wollen keine Islamische Republik mehr!“ Diese sogenannten Reformer gab es nie. Das wurde uns vorgegaukelt, um den Westen zu beschwichtigen, damit irgendwelche Wirtschaftsdeals zustandekommen. Das hat man zum Beispiel 2015 gesehen, als Sigmar Gabriel keine drei Monate nach Abschluss des Atomabkommens mit einer Delegation in den Iran gereist ist, um Wirtschaftsdeals abzuschließen.

    Diese so genannten Reformer sitzen aktuell in der Opposition. 227 der 290 Abgeordneten haben in einer Wahl gefordert, dass Todesurteile ausgesprochen werden für die 18.000 Gefangenen. Unter diesen 227, die dafür gestimmt haben, befindet sich auch die Opposition. Also diese sogenannten Reformer, auf die westliche Regierungen setzen, sind im Grunde Hardliner. Im Iran wirst du nicht Politiker, wenn du Reformer bist. Im Iran wirst du Politiker, wenn der Wächterrat es so will.

     

    Forderungen an die EU und die Bundespolitik

     

    Was erwartest du von einer feministischen Außenpolitik, wie sie sich Außenministerin Baerbock auf die Fahne geschrieben hat, und wie zufrieden bist du mit den Sanktionen, die die EU und Deutschland bisher verhängt haben?

    Man muss anerkennen, dass die jetzige Bundesregierung viel mehr tut als alle Bundesregierungen vor ihr. Das ist jedoch noch lange nicht genug. Die EU-Sanktionen, die am 17.10. verabschiedet wurden, sind ein Witz (Anm. d. Red.: Das Interview wurde vor dem Beschluss des Sanktionspakets vom 12.12.2022 geführt). Sie richten sich gegen elf Einzelpersonen und vier Organisationen, darunter die Sittenpolizei. Natürlich soll man die Sittenpolizei sanktionieren, einfach weil sie ebenfalls Mörder sind. Aber Einreisesperren für die Sittenpolizei bringen nichts. Sie haben nicht mal Geld, um den Iran zu verlassen.

    Man hätte die Revolutionsgarde auf die EU-Terrorliste packen müssen, weil sie im Iran die Fäden zieht. Genauso hätte es Sanktionen gegen alle Regime-Mitglieder geben müssen. Wer im Iran im Parlament sitzt, Politiker ist oder irgendeine Position hat, hat es nur so weit gebracht, weil er mit dem Regime mitspielt. Ich finde es sehr gut, dass der UN-Menschenrechtsrat eine Resolution gegen den Iran verabschiedet hat. Die Resolution war ein deutliches Zeichen und hat das Regime wirklich gejuckt, was sich daran gezeigt hat, dass der deutsche Botschafter direkt einbestellt wurde.

    Mit der Resolution demonstrieren wir den Menschen im Iran, dass wir sie sehen und nicht hinnehmen, was ihnen widerfährt. Insgesamt fehlt mir bei dieser feministischen Außenpolitik jedoch noch der Glaube daran, dass die Menschen diese Revolution zu Ende bringen werden. Vielleicht nicht nächsten Monat, nicht nächstes Jahr. Eine Revolution geht nicht von heute auf morgen. Wir müssen jetzt, und so verstehe ich feministische Außenpolitik, auf die Menschen im Iran setzen. Das sind diejenigen, mit denen wir reden sollten. Das sind unsere neuen Bündnispartner*innen.

     

    Mehr Solidarität von Menschen ohne iranische Wurzeln wird dringend benötigt

     

    Warum gehen die Proteste im Iran uns alle etwas an und wie kann man die Menschen im Iran von Deutschland aus bei ihrem Freiheitskampf unterstützen?

    In dem Lied „Baraye“ singt Shervin Hajipour darüber, wofür die Menschen auf die Straße gehen. Er sagt nicht nur, warum die Menschen im Iran auf die Straße gehen, sondern warum wir es ihnen gleich tun sollten. Da heißt es zum Beispiel: „Für die verschmutzte Luft, für die Valiasr-Straße und für die ausgetrockneten Bäume.“ Wer hier Fridays for Future oder meinetwegen die Letzte Generation befürwortet, sich für den Klimaschutz einsetzt, der muss die Bewegung im Iran ebenfalls unterstützen, schließlich geht Klimaschutz nur global.

    Die Iraner*innen protestieren auch für den Klimaschutz. Wer hier LGBTQ-Aktivist*in ist, muss auf die Straße gehen, denn die Menschen im Iran kämpfen ebenso für die Rechte der queeren Community. Wer Sänger*in ist, sollte genauso an den Demonstrationen hierzulande teilnehmen, weil sich die Menschen im Iran unter anderem für das Recht zu singen stark machen. Ich lade jede*n dazu ein, sich die Übersetzung dieses Liedes anzuschauen. Ich bin mir sicher, ihr findet einen Grund, wieso die Iran-Revolution euch etwas angeht.

     

    Das Thema Iran ist noch nicht vorbei

     

    Hier in Deutschland auf die Straße zu gehen, hat einen Impact. Erstens zeigt das der Medienlandschaft, dass das Thema Iran noch nicht vorbei ist und wir uns als Gesamtgesellschaft dafür interessieren. Und zweitens setzt das die Bundesregierung und den Bundestag unter Druck. Die Bundesregierung kann nur handeln, wenn von der Bevölkerung Druck ausgeübt und eine Richtung vorgegeben wird. Wir müssen laut sein. Das geht, indem wir auf Demos gehen, Aktionen starten, den Abgeordneten mailen, Petitionen unterschreiben usw. Es gibt so viele Möglichkeiten, aber das Wichtigste ist: informiert bleiben und Aufmerksamkeit schaffen.

     

    Hast du das Gefühl, die Exiliraner*innen sind aktiv genug?

    Absolut! Als Person, die auch einen iranischen Pass hat – wir können den Pass ja nicht zurückgeben – ist es lebensgefährlich für uns, wenn wir wieder in den Iran einreisen wollen. Spione der Islamischen Republik fotografieren und identifizieren uns. Es gab sogar schon drei Angriffe auf iranische Oppositionelle: zwei davon in Berlin und einen in Hamburg. Wer einmal hier auf einer Iran-Demo war, kann nicht ohne Weiteres zurück in den Iran. Das hat früher viele davon abgehalten auf die Straße zu gehen, schließlich wollten sie ihre Familien sehen.

    Nun wird dagegen gesagt: „In welchen Iran will ich denn zurück, wenn ich jetzt nicht mitkämpfe?“ In den ersten Wochen waren es nur wir Exiliraner*innen, die laut waren. Ohne die Arbeit von fantastischen Journalistinnen wie Natalie Amiri, Gilda Sahebi, Shahrzad Osterer oder Golineh Atai wäre das Thema hier in Deutschland gar nicht so präsent.

    Die iranische Diaspora ist laut

    Nur durch unseren Druck ist es uns gelungen, dass das Thema in den Medien Beachtung gefunden hat und dass nach drei Wochen eine Aktuelle Stunde im Bundestag zu diesem Thema angesetzt wurde. Aber es tut gut zu sehen, dass wir nicht die Einzigen sind und sich auch Nicht-Iraner*innen solidarisch zeigen.

    Wenn jemand keine iranischen Wurzeln und keine Familie im Iran hat, gibt es einen großen Faktor, wieso es für die Person mental einfacher ist, auf eine Demo zu gehen: Diese Person muss nicht Angst haben, dass im Iran aufgrund ihres Engagements ihr Cousin, ihr Onkel, ihre Tante oder sonst jemand inhaftiert wird. Die iranische Diaspora ist wahnsinnig laut und wirklich sehr aktiv.

    Wenn allerdings nur wir laut sind, habe ich Angst, dass wir irgendwann nicht mehr können. Die ersten benötigen bereits eine Auszeit. Wir sind ja täglich mit Tod und Folter und der ständigen Angst um unsere Familienangehörigen konfrontiert. Deswegen brauchen wir jetzt mehr denn je auch Unterstützung von nicht-iranischen Menschen, die gibt es, aber sie können noch viel lauter sein.

     

    Die Abgeordneten mit Forderungen konfrontieren

     

    Du hattest eine Petition gestartet, in der du Bundeskanzler Scholz dazu aufgefordert hast, sich zu den Iran-Protesten zu äußern, was er erst nach mehreren Wochen getan hat. Du durftest den Bundeskanzler vor Kurzem treffen. Wie war dein Eindruck von ihm?

    Er wirkte super interessiert und hat sich viel Zeit genommen, um zuzuhören. Ich war zusammen mit Gilda Sahebi und Düzen Tekkal bei ihm. Man merkte, dass er vorbereitet war. Er hat sich wirklich interessiert gezeigt und kluge Nachfragen gestellt. An den Nachfragen habe ich gemerkt, dass er’s wirklich wissen wollte. Und das fand ich schön.

    Es ist nicht selbstverständlich, dass der Bundeskanzler sich Zeit nimmt für drei Aktivistinnen, uns vertraut und wir ihm erzählen dürfen, was Sache ist. Er hat seine eigenen Berater*innen und müsste das im Grunde nicht tun. Wir haben viel über die Situation im Iran und speziell in Kurdistan geredet. Ich habe natürlich erzählt, welcher Gefahr Iraner*innen hierzulande ausgesetzt sind. Wir haben deutlich gemacht, was wir uns wünschen, was wir fordern, was in der Vergangenheit schiefgelaufen ist und was besser laufen muss.

    Ein zielgerichtetes Schreien

     

    Du stehst auch noch mit anderen Politiker*innen im Austausch. Wie hast du es geschafft, dir Gehör bei Abgeordneten zu verschaffen?

    Viele kannte ich schon. Zum Beispiel hatte ich, bevor die Proteste losgegangen sind, Kaweh Mansoori (Anm. d. Red.: MdB (SPD)) wegen einer anderen Iran-Geschichte auf Instagram angeschrieben und er hat geantwortet. Seitdem standen wir in Kontakt. Und ansonsten habe ich den meisten einfach nur eine E-Mail geschickt und gesagt: „Hi! Ich habe Forderungen und ich würde gern ins Gespräch gehen.“ Der Großteil hat sich tatsächlich zurückgemeldet.

    Ich hatte keine richtige Taktik. Es war, glaube ich, ein sehr lautes und zielgerichtetes Schreien, bis jemand zuhört. Durch die Parteiarbeit weiß ich, wie und wonach ich schreien sollte. Im Prinzip habe ich meine Learnings der letzten Jahre angewandt. Natürlich fühle ich mich super geehrt, dass ich zusammen mit anderen Aktivist*innen von so vielen Leuten empfangen werde, darunter Saskia Esken, Bijan Djir-Sarai und Norbert Röttgen.

     

    Optimistischer Blick in die Zukunft

     

    Du hast immer wieder die mediale Berichterstattung über die Proteste im Iran kritisiert. Was genau empfindest du als problematisch?

    Dass teilweise Propaganda der Islamischen Republik ungefiltert übernommen wird. In einem Land, in dem keine Journalist*innen zugelassen sind, herrscht keine Pressefreiheit. Da kann man nicht irgendwelche Statements, die im Staatsfernsehen laufen, einfach so wiedergeben ohne eine Einordnung. Im Falle von Russland schaffen wir es doch jetzt auch, russische Propaganda zu erkennen. Warum gelingt es nicht bei der Propaganda der Islamischen Republik? Und es gibt so viele echte Expert*innen, wie zum Beispiel Natalie Amiri, Gilda Sahebi usw., an die man sich wenden kann und die wirklich zeigen können, wie es im Iran aussieht.

    Bist du hoffnungsvoll, wenn du in den Iran schaust?

    Ja, ich bin hoffnungsvoll. Der Point of no Return ist schon erreicht. Für das Land würde ich mir wünschen, dass das Regime schnell gestürzt wird, mit möglichst wenig Toten, und die Menschen endlich selbst entscheiden können, wie sie regiert werden möchten. Da sitzen so viele kluge Köpfe in den Gefängnissen. An dem Tag, an dem das Regime gestürzt ist, wird die erste Amtshandlung sein, die Gefängnisse zu stürmen und die Leute freizulassen. Und dann schau mal, was für ein Iran diese Leute bauen werden.

  • Meine kulturelle Identität

    Auf Wikipedia bedeutet die kulturelle Identität das Zugehörigkeitsgefühl eines Individuums oder einer sozialen Gruppe zu einem bestimmten kulturellen Kollektiv. Dies kann eine Gesellschaft, ein bestimmtes kulturelles Millieu oder auch eine Subkultur sein. Identitätsstiftend ist dabei die Vorstellung, sich von anderen Individuen oder Gruppen kulturell zu unterscheiden, das heißt in einer bestimmten Anzahl gesellschaftlich oder geschichtlich erworbener Aspekte wie Sprache, Religion, Nation, Wertvorstellungen, Sitten und Gebräuchen oder in sonstigen Aspekten der Lebenswelt.

    Ich verstehe kulturelle Identität als etwas Komplexes und Wichtiges. Es ist unsere Verbindung mit dem Leben selbst. Durch meine Muttersprache kann ich mich mit meinen Emotionen verbinden und sie ausdrücken. Alleine durch den Geruch eines traditionell kirgisischen Gerichtes kann ich mich auf emotionale Ebene mit meiner kulturellen Identität verbinden und mich in der Welt vertraut und sicher fühlen.

    „Dieser Traum schien mir und Menschen in meiner Umgebung zu groß und zu frech zu sein, um wahr zu werden“

    Als ich in Kirgisistan gelebt und studiert habe, hatte ich den inneren Drang, in meinem Leben etwas mehr zu erleben und erreichen als ich es mir dort leisten konnte. Ich hätte wahrscheinlich – wie viele Frauen es gemacht haben – nach meinem Studium jemandem geheiratet, Kinder bekommen und als Lehrerin in der Schule gearbeitet. Das war definitiv nicht mein Weg.

    Nach langen Überlegungen und Recherche habe ich durch einer Freundin über einen Programm für Au-Pair-Mädchen erfahren und das war für mich eine gute Möglichkeit, mein Leben zu verändern. Ich wollte sogar in Deutschland studieren. Dieser Traum schien mir und Menschen in meiner Umgebung zu groß und zu frech zu sein, um wahr zu werden. Zum Glück waren Frechheit und Großdenken immer ein Teil meines Charakters.

    Deshalb habe ich es gewagt, alle meine Kräfte dafür zu investieren, um nach Deutschland zu fahren. Und es hat geklappt: Meine Unterlagen beim Konsulat für ein Visum als Au-Pair-Mädchen stimmten, der Abschied mit der Familie und Freunden war wunderbar. Was mich am meisten zufrieden gestellt hat, war meine Gastfamilie! Meine Gasteltern waren ziemlich offene und hilfsbereite Menschen.

    Die Vielfältigkeit und Schönheit Hamburgs und das Freiheitsgefühl von familiären Verpflichtungen haben mir Flügel verliehen. Ich fühlte mich in den ersten Tagen glücklich und stark.

    Ich habe 3 Kinder betreut und bin zu einem intensiven Sprachkurs gegangen. Ich habe schon innerhalb des ersten Jahres in Hamburg eine B2-Sprachprüfung bestanden und einen Platz an der Universität Hamburg bekommen.

    „Wenn ich jetzt nachdenke, hatte ich im wahrsten Sinne des Wortes eine Panikattacke“

    Im Winter 2007 bin ich für einen Monat zurück nach Kirgisistan geflogen.

    Zuerst bin ich nach Moskau geflogen und habe dort 4 Stunden auf den nächsten Flug nach Bischkek gewartet. Erst am Flughafen merkte ich, wie schlecht es mir eigentlich ging. Ich fühlte mich gespalten. Das letzte Jahr in Deutschland war für mich sehr intensiv und anstrengend. Ich war sehr nervös.

    Wenn ich jetzt nachdenke, hatte ich im wahrsten Sinne des Wortes eine Panikattacke. Als ich in Warteraum saß und auf einmal so viele Kirgisen gesehen habe, fühlte ich mich wie eine Verbrecherin, die vor der Polizei auf der Flucht war. Ich hatte Angst, dass jemand mich gleich festnimmt und irgendwo in einem Raum abschließt. Grund für diese starke Schmerzen, waren hauptsächlich meine Schuldgefühle. Ich war „schuldig“, weil ich meine Heimat und alles, was dazu gehört, verlassen hatte, um meinen persönlichen Weg gehen zu können.

    Als ich in Kirgisistan ankam, hat meine Familie mich herzlich angenommen. Sie haben mir Blumen mitgebracht und mich fotografiert. Ich schenkte ihnen mein Lächeln. Aber meine Freude war künstlich. Innerlich war ich immer noch voller Angst. Der Flughafen „Manas“ in Bischkek kam mir alt und klein vor. Menschen schienen in meine Augen auch klein und sogar hässlich.

    Die Wohnung in einem guten Stadtteil in Bischkek, wo ich geboren und aufgewachsen bin, schien mir nun auch alt und sehr bescheiden. Ich fühlte mich in der Wohnung fremd und gespalten. Ich zählte schon die Tage, bis ich wieder nach Deutschland fliegen konnte. Meine Familie, also mein Bruder, Vater und andere haben mich als eine Deutsche wahrgenommen und nicht mehr die Erkeaiym, die ich mal war…

    „Der Verlust meiner kulturellen Identität äußerte sich durch psychische Schwäche und Ängstlichkeit“

    Ich fühlte deren große Erwartungen an mich, stark zu sein, viel Geld zu haben, um ihre emotionalen und finanziellen Bedürfnisse zu erfüllen. Obwohl ich innerhalb von einem Jahr in Deutschland, mit viel Disziplin und Wille, vieles geschafft habe, habe ich von ihnen leider keine Anerkennung bekommen.

    Eigentlich war ich psychisch fertig und ich war auf die emotionale Unterstützung meiner Familie angewiesen. Aber stattdessen habe ich Druck erfahren. Ich musste so sein, wie ich schon immer da gewesen war. Ich sollte die Rolle der jüngeren Schwester spielen und für meine Familie da sein. Oft fühlte ich mich so schwach und ich habe versucht, möglichst alles richtig zu machen. Innerlich empfand ich unheimlich viel Wut. Ich bin oft mit meinen Freundinnen raus gegangen, um meine innere Spannung irgendwie zu dämpfen. Das ist mir teilweise gut gelungen.

    Der Verlust meiner kulturellen Identität äußerte sich durch psychische Schwäche und Ängstlichkeit. Ich war überangepasst. Mit meinen Freundinnen in Kirgisistan und Familienmitgliedern habe ich leise gesprochen und ich konnte nicht allein mit meinen Neffen Bus fahren. Ich fühlte mich vor meinen Landsleuten so schuldig, dass ich nicht noch ein „Verbrechen“ machen wollte, falls meinen Neffen etwas passieren würde.

    Daher haben meine Verwandten mich oft für eine Egoistin gehalten. Sie dachten, dass ich im Westen gelernt habe, nur über mich selbst nachzudenken. Versammlungen mit Verwandten haben mich noch mehr geschwächt und ich fühlte mich wie eine kleine Maus, die jede Minute getötet werden konnte, falls ich etwas Unvorsichtiges gesagt oder gemacht hätte.

    „Die neue deutsche Identität bestand für mich in einem Gefühl, perfekt zu sein“

    Als ich nach meinem Urlaub in Heimatland wieder nach Deutschland kam, war ich froh, wieder in meine „neue deutsche Identität“ zu schlüpfen. Hier in Hamburg hatte ich schon eine feste Beziehung mit einem Freund und viele Freundinnen aus meinem Heimatland. Mein Studium hat angefangen und ich habe Berufspläne gemacht.

    Die neue deutsche Identität bestand für mich in einem Gefühl, perfekt zu sein. Ich fühlte mich wie eine „Deutsche“: stark, zielstrebig, fleißig und konsumorientiert. Ich mochte konsumieren: leckeres Essen, viel ausgehen, viele Klamotten kaufen, viel trinken und Partys feiern. Am besten sozusagen alles, was „kirgisisch“ war, löschen, vernichten, vergessen und nur noch perfekt und dazugehörig sein. „Kirgisisch“ hat alles Schlechte aufgenommen: schwach, arm, dreckig, 3. Welt-Land, schlimme Männer – alles Schlechte war „kirgisisch“.

    Ich sendete Geld an meiner Familie, ab und zu Pakete mit Klamotten und ich telefonierte mit ihnen. Über mich erzählte ich wenig, weil  zwischen uns immer eine dicke Blockade stand. Ich dachte, dass die Familie doch keine Ahnung von Deutschland und dem Leben hier haben. Lieber fragte ich sie, was sie so gemacht haben, wie sie mit ihren Leben zurechtgekommen waren.

    „Was will man mehr?“

    Sie antworteten immer dasselbe: Gelder reichten nicht, Politik war korrupt, alles wurde teuer, Kirgisien als Volk sind ja eher Loser gewesen. Ich lächelte nur und tröstete sie und blieb die Starke in einem „starken Land“.

    Ich habe mein Studium mit 1,6 fertig studiert. Da ich mich immer für menschliche Psychologie interessiert habe, habe ich nach einem halben Jahr einen neuen Job beim ASP (ambulanter sozialpsychiatrischer Dienst) gefunden.

    Danach hatte ich großes Glück, Mutter zu werden. Ich habe eine wunderschöne Tochter bekommen. Als nächsten Schritt wollten ich mit meinem damaligen Partner eine Neubauwohnung in Winterhude kaufen. Alles lief „perfekt“: Neue Wohnung, Beruf läuft und das zweite Kind ist auch schon in Planung, regelmäßige Urlaube in andere Länder, manchmal auch nach Kirgisistan. Was will man mehr?

    „Ich wurde immer unglücklicher und schwermütiger“

    Und dann fing in meinem Leben eine dunkle und schwere Krise an…

    Ich wurde immer unglücklicher und schwermütiger. Meine kulturelle Identität wurde von Jahr zu Jahr zu etwas nicht Realem, Abstraktem… Alles, was mir früher Spaß gemacht hat, war nun für mich langweilig. Als Mutter fühlte ich mich dieser Aufgabe schlecht gewachsen, ich fühlte mich überfordert und einsam. Mein Exmann war immer viel beruflich beschäftigt.

    Im Frühling 2018, bei einem Spaziergang nach der Arbeit, bin ich in den Eilbeker Park gegangen und Tränen flossen aus meinen Augen. Ich fühlte in mir eine unglaubliche Leere und Schmerz. Obwohl ich in letzten Jahren irgendwie oft geweint habe und oft krank war, wollte ich bisher immer weiter machen. Es ging mir so schlecht, dass eine böse Stimme in mir sagte, dass mein Leben nichts mehr wert ist.

    Mein Leben war so leer und ich war so unglücklich, dass ich mir mein Leben nehmen wollte. Aber ich hatte eine wunderschöne Tochter, die mich brauchte. Eine gesunde und eine spirituelle Stimme flüsterte mir zu, dass ich dringend mein Leben verändern muss. Wenn ich jetzt an diesen Moment denke, weiß ich, dass sich in mir meine kirgisischen Wurzeln angefangen haben, zu bewegen.

    „Ich habe entschieden, mich selbst, meine kulturelle Identität wieder ins Leben zu holen“

    Wenn mich jemand in diesem Park ernsthaft gefragt hätte, wer ich war, konnte ich es nicht beantworten. Ich wusste nicht mehr, wer ich war… Es ist eine große Tragödie für einen Menschen, der nicht mehr weiß, wer er ist, woher er kommt, wo seine Wurzeln sind, was er mag und was er nicht mag, welche Werte er hat…

    Ich habe entschieden, mich selbst, meine kulturelle Identität wieder ins Leben zu holen. Egal, was es mich koste. Ich habe meinen Job gekündigt und bin mit meiner damals 4-jährigen Tochter mit einem One-Way-Ticket nach Kirgisistan geflogen. Dadurch waren wir für den Kauf unserer neuen Wohnung nicht mehr kreditwürdig.

    Als ich nach Kirgisistan kam, habe ich eine Wohnung gemietet. Mein Bruder ist allein zum Flughafen gekommen. Ich konnte näheren und längeren Kontakt weder mit meinem Bruder noch mit anderen Familienmitgliedern aushalten. Sie schienen auch gleichgültig zu sein.

    Typische Symptome meines Traumas waren: Lähmung, Angstzustände, Misstrauen in Verwandte und fremde Menschen. Diesmal war es mir aber bewusst, warum ich so war. Ich wusste, dass ich ein Trauma erlebt habe und nicht anders konnte, als meine kulturelle Identität aufzugeben, um in einem neuen Land zurechtzukommen.

    „Ich war die Kranke und die Ärztin in einem Menschen“

    Aber jetzt war ich mit dem inneren Drang erfüllt, mir das zurückzuholen. Ich habe viele Spaziergänge mit meiner Tochter und einer Babysitterin in den Orten, wo ich früher als Kind gewesen war und neue Orte in Bischkek gemacht. Ich habe internationale Cafés besucht, viel Musik gehört und mich viel entspannt. Ich habe nur das gemacht, worauf ich Lust hatte, und nichts gemacht, worauf ich keine Lust hatte. Das ist eine Methode aus der Verhaltenstherapie des russischen Psychologen Michail Labkowski.

    Diese waren erste Schritte zurück in meine kulturelle Identität. Mein Körper und meine Psyche mussten sich wieder erinnern, wer ich war, welche Werte ich hatte, was mir wirklich wichtig ist.

    Wenn ich mich an das Jahr 2019 erinnere, in dem ich den ganzen Sommer in Kirgisistan verbracht habe, komme ich mir wie ein seelisch kranker Mensch vor, deren seelische Krankheit nicht von außen erkennbar ist. Ich habe mich gut kaschiert. Ich war die Kranke und die Ärztin in einem Menschen.

    „In mir ist Platz für beide Länder und Kulturen“

    Ich habe oft von Erdbeben geträumt. Mein Leben war auch auf psychischer Ebene bedroht, weil ich es gewagt habe, mich innerlich vom Deutschland abzuwenden, um wieder zu Kirgisin zu werden. Das hat viel Mut und Kraft und Verluste gekostet.

    Kirgisische Sprache, Fernsehen, Familie, unser Essen, neue Menschen, die ich dort kennengelernt habe, Luft und Natur, kein Zeitdruck, Spontanität und letztendlich die Freiheit, nach vielen Jahren Leistungsdruck endlich mal nichts zu machen, haben mich in meiner schweren Krise gehalten und gestärkt.

    Jetzt kann ich mit einer ruhigen Stimme sagen, dass es sich gelohnt hat, mich auf die Spuren meiner Wurzeln zu begeben, weil ich mich jetzt im Herbst 2022 über den Wind und Regen in Hamburg freuen kann. Erinnerung an den letzten Sommer in Bischkek wärmen mein Herz. In mir ist Platz für beide Länder und Kulturen. Ich bin beides… Aber ich fühle die Trauer um den Verlust meiner Heimat und kulturelle Identität so groß, dass mein Weg der Heilung noch weiter geht…

    Ich wünsche jedem Menschen, der sein Heimatland verloren, den Mut, seine Trauer zu akzeptieren und sie auszudrücken…

kohero-magazin.com