Schlagwort: Migration

Im Deutschland

  • Ahmadiyya-Muslime in Deutschland

    Schon seit den 80er Jahren ist Muhammad Ilyas Munir Imam. Damals lebte er allerdings noch in seinem Heimatland Pakistan und arbeitete in einer Moschee der Ahmadiyya in Sahiwal, einer Stadt in der Provinz Punjab. Die Ahmadiyya ist eine muslimische Gemeinde, die 1889 in Indien gegründet wurde und als Reformbewegung aus dem Islam entstanden ist. Ihr Gründer Mirza Ghulam Ahmad erhob damals den Anspruch, der Messias der Endzeit und ein Prophet zu sein. Ahmadi-Muslime haben es jedoch in Pakistan, wie auch in vielen anderen muslimischen Ländern, nicht leicht.

    Aufgrund der Unterschiede in ihrem Glauben werden Anhänger der Gemeinde von vielen nicht als Muslime anerkannt. In Pakistan werden sie seit 1977, als der Diktator Mohammed Zia-Ul-Haq die Macht im Land übernahm, systematisch diskriminiert und verfolgt. Seit 1984 und mit Einführung der Blasphemie-Gesetze dürfen Ahmadi-Muslime ihren Glauben nicht frei ausleben oder verbreiten. Bei Verstoß drohen ihnen Gefängnis- oder sogar Todesstrafen. Es kommt auch häufig zu Gewalt und Hetze gegen Ahmadis. Besonders gravierend waren die Terroranschläge 2010 durch die pakistanischen Taliban auf zwei Moscheen in Lahore, bei denen 70 Menschen getötet wurden.

    Muhammad Ilyas Munir erzählt, dass auch die Moschee in Sahiwal, in der er arbeitete, häufig von radikalen Muslimen bedroht wurde. Im Oktober 1984 sei es dann zu einem Überfall gekommen: „Am frühen Morgen, vor dem Morgengebet, kamen etwa 50 bis 60 Männer aus einer nahegelegenen islamischen Schule und Studenten einer Hochschule an unsere Moschee, machten Randale und strichen die Koranverse auf den Wänden weg.“

    Zu der Zeit sei ein Arbeiter der Moschee namens Rana Naeem Uddin, der auch für die Sicherheit zuständig war, als Einziger vor Ort gewesen. Dieser hatte laut Muhammad Ilyas Munir eine Waffe bei sich. Er habe die Männer wiederholt und vergeblich dazu aufgefordert, die Moschee zu verlassen. Da auf dem Gelände der Moschee auch die Familie von Muhammad Ilyas Munir lebte, sei Rana Naeem Uddin gezwungen gewesen, aus Notwehr zu schießen. Dabei seien zwei der Männer tödlich verletzt worden.

    Als schließlich die Polizei hinzukam, seien elf Ahmadi Muslime, die zur Zeit der Tat nicht in der Moschee waren, zum Verhör aufs Revier gebracht worden. Keiner der Männer, die die Moschee überfallen hatten, sei verhaftet worden. „Ich war zu dieser Zeit ebenfalls nicht in der Moschee“, erzählt Herr Ilyas Munir, „Die Polizei kam aber erneut zurück und nahm diesmal mich als Zeugen mit auf das Revier, da ich in der Nähe der Moschee wohnte und der zuständige Imam war.“

    Doch beim Verhör sollen die Polizisten ihm ein anderes Delikt vorgeworfen haben. „Sie sagten, ich habe in der Moschee den Gebetsruf ausgerufen, was wegen der Blasphemie-Gesetze nicht erlaubt ist. Schon damals hatte ich das Gefühl, dass die Polizisten mich zu einem falschen Geständnis bringen wollten, um uns Ahmadis schuldig aussehen zu lassen. Aber ich bestand auf meine Unschuld.“ Dennoch mussten er und die elf Ahmadi-Muslime zur Untersuchungshaft bleiben, da ihnen der Mord an den zwei Männern des Überfalls vorgeworfen wurde.

    Daraufhin seien drei lange Jahre in Haft vergangen. Erst dann habe das Militärgericht in Multan sein Urteil bekannt gegeben: Die übrigen Ahmadi-Muslime bekamen eine Gefängnisstrafe von 25 Jahren, und Muhammad Ilyas Munir und Rana Naeem Uddin wurden des Mordes schuldig gesprochen und zu Tode verurteilt. „Die Hinrichtung sollte schon innerhalb weniger Tage erfolgen“, sagt Herr Ilyas Munir, „doch sie wurde immer wieder verschoben – Den Grund weiß ich bis heute nicht. Ich glaube, dass es eine Segnung Gottes war.“

    Die folgenden Jahre sind laut Muhammad Ilyas Munir sehr schwer gewesen. Jeder Tag hätte der Tag seiner Hinrichtung sein können, seine Frau und seine zwei Söhne hätten ihn selten besuchen dürfen, und die Zustände im Gefängnis seien sehr schlecht gewesen. „Dennoch habe ich die Zeit im Gefängnis mit Geduld ausgehalten. Mein Glaube hat mir viel Stärke dafür gegeben“, erzählt der Imam.

    Die Ahmadiyya in Pakistan habe sich unterdessen verstärkt für den Freispruch von Muhammad Ilyas Munir und den übrigen unschuldigen Ahmadi-Muslimen eingesetzt und habe zunächst erreicht, dass seine Strafe vom Todesurteil zu lebenslanger Haft heruntergesetzt wurde. Nach weiteren jahrelangen Bemühungen im Gericht, berichtet Muhammad Ilyas Munir, wurden er und die Ahmadi-Muslime, die bis dahin überlebt hatten, im März 1994 freigesprochen und entlassen – zehn Jahre, nachdem sie zu Unrecht verhaftet wurden.

    „Nach meiner Entlassung bestand für mich kein Zweifel darin, aus Pakistan auszuwandern“, sagt Herr Ilyas Munir. Als Imam sei er von der Ahmadiyya Gemeinde in Deutschland für ein Arbeitsvisum gesponsert worden. Daher sei er nur wenige Monate nach seiner Entlassung im Oktober 1994 mit seiner Familie nach Deutschland gereist. In Deutschland angekommen, konnte er seine Arbeit als Imam schnell fortsetzen, deswegen habe er zu Beginn nicht viel Kontakt zu Personen außerhalb seiner Gemeinde gehabt. Dennoch sei sein Eindruck von Deutschlands sehr positiv, die Menschen seien ihm freundlich begegnet.

    Heute lebt Muhammad Ilyas Munir in Frankfurt und arbeitet noch immer als Imam der Ahmadiyya Gemeinde. Während seiner Zeit in Deutschland habe er glücklicherweise keine feindselige Erfahrung gemacht. Auf die Frage, was er sich für die Zukunft wünscht, sagt er: „Mir selbst fehlt es an nichts, aber mein Wunsch für die Zukunft ist, dass auch die Ahmadi-Muslime in Pakistan ihren Glauben in Ruhe ausleben dürfen.“

     

     

     

     

  • Circle of Peace: My Syrian Aunts and Our Hammam in Exile

    Walking into a spacious auditorium full of European experts on peace-building efforts in conflict-affected countries, I stumbled upon an announcement of a ’safe space‘ for migrants like myself. The two words were written in blue on a flipchart by the entrance which would be later moved to the corner, where it belongs within an important conference hosted in a religious venue in a German village.

    The virtual Hammam

    For the following two days, I couldn’t help but feel confused and irritated by the intrusion of this buzzword into such an exclusive white space. A space where people like me, troublesome to the mainstream – migrants and coming from conflict-affected areas, ‚the Middle East‘ –  are spoken about on the stage but were represented in the afterparty’s playlist by Shakira’s Waka Waka. Strange that I was longing to get back to Berlin, where there is at least potential to belong to a virtual Hammam with other Syrian women.

    ‘Probably, the civil society organisation went through a daunting process to secure some funds for this ‘empty’ space,’ I thought, however finding some sympathy with the conference organisers after I had recalled the struggles of migrant initiatives I knew, trying to secure funding for Arabic-speaking activities under the integration umbrella. Their applications were often rejected for not aligning with integration policies that focused on acquiring German language skills and assimilation into ‚German culture‘ which should be the basis for transforming the newcomers into ‘good citizens’.

    The pressure of integration policies

    When it comes to migrant women from muslim-majority countries, these integration policies come even with a specific mission ‘to save us’. „They want me to ‘EMPOWER’ women who have survived extreme conditions and made all the way from conflict zones to here!“, a researcher and activist working in one of Germany’s biggest migration research told me about the pressure of these policies on her work.

    For that logic, a Berlin-based Women Support Group operating in arabic initially seemed out of place. With almost no funds, the group, however, thrived and expanded beyond the confines of the German capital since 2016. What began as a physical gathering in Berlin in response to the 2015 waves of Arabic-speaking refugees evolved into three virtual groups with the 2020 Pandemic, allowing the group to later reach Syrian women in Syria and other European countries.

    What’s intriguing is that unlike the labeled „inclusive space“ or „women empowerment“ initiatives, this group remained unmarked as such. Nevertheless, the virtual gathering of Syrian migrant women, united in their shared experiences and aspirations for mutual support and growth, captured my interest enough to dub it our „psychological Hammam.“

    The Curious Case of the Circle of Peace

    Much like the traditional communal Hammam, this virtual space transcends physical boundaries to become a sanctuary for self-discovery and healing. Here, Syrian women from diverse backgrounds, initially strangers, come together to bathe in the waters of empathy and understanding, shedding their fears and insecurities as they share their struggles without fear of judgment. In this imaginative space, past traumas are gently cleansed away, and the complexities of migration are navigated with collective wisdom and compassion.

    This is the Curious Case of the Circle of Peace, in which I am the only thirty-something Egyptian woman who joined a few years back and stayed ever since. However, in the lead-up to our last annual gathering during Ramadan’s Iftar, I found myself reconsidering my decision to stay. „What could I possibly have in common with a group of Syrian mothers, many of whom are in their forties, fifties, or even sixties?“ my anxiety whispered. However, as the gathering progressed, an unexpected answer began to unfold.

    My connection to the Circle of Peace traces back to the summer of 2017. I wasn’t a refugee or identified as an immigrant; I was an international student from Egypt who had relocated to Berlin, the new hub for the Arab diaspora, for a summer internship sandwiched between my masters studies in Denmark and the United Kingdom.

    It wasn’t until the rainy summer in Berlin preceding the German general elections that migration, integration, and the ‚us vs. them‘ narrative captured my attention. Proposing a feature on refugee women’s initiatives for my German editor, I delved into their challenges in reaching Germany and the importance of providing a space for emotional solace away from integration pressures. Other initiatives I explored didn’t endure.

    The influence of Gestalt Therapy

    When I finished my studies, the Circle of Peace welcomed me upon my return to Berlin as an immigrant. Even during the pandemic, when I returned to Egypt, the group transcended borders, evolving into a virtual support group.

    What is now a Syrian-led women’s support group, started as an initiative by an Austrian-German gestalt therapist in response to the influx of Arabic-speaking newcomers from conflict zones in 2015. Gaby, a Berlin resident for 30 years, recognizes the importance of using the mother language to provide psychological assistance to Arabic-speaking woman refugees. It was possible for her to facilitate a weekly group in her clinic in the center of Berlin with the help of a Syrian translator. As unfamiliar as Arabic was to Gaby, the idea of a support group was for these Arabic-speaking women.

    Longing for connection

    „I never encountered such a concept until I left Syria in 2012. In our culture, it resembled a close bond with a female friend or sister,“ Rawaa Al Samman, who was a key source for my article on the Circle of Peace, and has now become a dear friend, shared her perspective. She is a fifty-something divorced woman from Damascus who joined the group in 2016 and later took over the role of facilitator.

    ​​Rawaa’s smile widened over our messenger video call when I inquired about the roots of the Circle of Peace in her previous life in Syria. It dawned on her that she had always yearned for this connection with other women, particularly as the only daughter in a family of three boys. Even after she got married and gave birth to three sons, she found herself longing for that connection. With some free time on her hands when her children went to school, she took the initiative to organize women’s salon gatherings, inviting neighbors who shared her interest in exchanging ideas, books, and experiences about raising children. From being a stay-at-home mom, she transitioned into working as an NLP trainer.

    The way to becoming a facilitator

    Her journey took her from Syria to Algeria for a few years before she eventually settled in Germany in 2015. Even in Algeria, she continued organizing women’s salon gatherings with the same concept. This deep-seated desire to connect with other women is what led Rawaa to join the Circle of Peace group in Berlin. Over time, she progressed from being a participant to a facilitator, not only for the Berlin-based group but also for two other groups, including one for Syrian women still residing in Syria.

    When my friendship with Rawaa cemented over our shared stories about growing up in unhappy homes and the hard things in our past lives, we found that her expercience differed from mine. In my family, I had many women and nieces to talk to about the hard things. On the surface, the Circle of Peace resembles the cherished thursday evening gatherings at my grandmother’s house in Egypt, where her five daughters and their daughters would gather over food, watch TV to complain about their marriage problems.

    The importance of trust

    Unlike me, the experience of opening up and sharing intimate aspects of her life with other women was initially unfamiliar to Rawaa. It felt like a foreign language to her. „In my previous training experience I sat in the ‘listener seat’ she says’“. Moreover, being a private person was her defense mechanism as a woman in Syria.

    Initially the group was formed to meet a deep need for these newcomers to Germany, which is to be connected but at the same time to feel authentic. In reaching out to ‘the other’, even in this case another Syrian woman, every woman risks revealing who she is, which makes her vulnerable to judgment or criticism, which Rawaa feared at the beginning. „Some people are interested in joining our group until they know that we talk about ourselves“, she adds.

    Building trust is essential in this experience. Through what Esther Perel, the Belgian-American psychotherapist sees as a ‘leap of faith’, I have witnessed how facilitation becomes the key to fostering trust and openness among group members. Rawaa also noticed how Gaby used tools from Gestalt therapy to handle the group dynamics. In the initial stages of the group, Gaby would start the session by highlighting a set of rules, such as confidentiality and respect. „It is rare now that we need to mention these principles during our sessions, as they have become second nature to us,“ Rawaa explains.

    The process of building trust among a group of unfamiliar women and facilitating meaningful discussions involves employing various tools. Deep listening is paramount, allowing each woman the space to share her thoughts and experiences without interruption. Rawaa, the facilitator, ensures that everyone has the opportunity to speak at length, whether briefly expressing joy or delving into deeper issues for an hour or more.

    Unlike traditional therapy sessions constrained by time and money, here, there is no rush; interruptions are gentle, offering moments of reflection through insightful questions. This approach fosters curiosity and understanding, moving beyond superficial discussions to transformative insights. After each woman shares her story, the floor is opened for others to offer their perspectives, creating a sense of connection and solidarity within the group.

    The self reflected in the other

    In my recent session, Rawaa commended my level of self-reflection while sharing a recent conversation with a friend, recognizing its importance within our Circle of Peace. She urged fellow group members to embrace this introspective approach, highlighting its significance in our collective journey.

    However, I attribute the credit for my depth of self-reflection entirely to the other women in our Circle of Peace. Engaging with them has served as a reflective mirror, allowing me to explore my experiences as a migrant in relation to theirs. Through these interactions, I’ve formed meaningful bonds without feeling the need to conform. This stands in stark contrast to the typical integration process, as Rawaa has pointed out to me. Often, newcomers are pressured to assimilate and sacrifice their identity in order to fit into a new culture. Instead, Rawaa emphasizes the importance of supporting individuals in remaining true to themselves while navigating their new environment.

    As time has passed, our group’s composition has evolved. Many of the younger members from the Berlin-based contingent have become less active, preoccupied with the demands of settling into their new lives in Germany. However, the remaining elder members have demonstrated that this group fulfills their need for belonging and connection. To me, they embody a wealth of experience, resembling mothers and teachers, reminiscent of the aunts I lost in the complex process of healing from intergenerational trauma. Within this nurturing environment, I came to acknowledge the intergenerational trauma present in my own family, especially its effects on the mother-daughter relationship over multiple generations.

    More than a psychological support group

    In my experience, gaining perspective from a healthy distance is crucial to truly understanding oneself. The Circle of Peace offers a distinctive space for introspection, facilitated in a way that enables us to scrutinize our thought processes and address our biases. The overarching aim of this journey is to attain inner harmony and establish meaningful connections with the other.

    For me, the Circle of Peace has evolved beyond the conventional Western model of a psychological support group. Over the years, it has transformed into a hybrid in-between space. Rawaa’s facilitation tools have played a crucial role in this evolution. In our sessions, I feel as though we shed layers of societal expectations and reveal our true selves. With Rawaa’s guidance, we create a safe space where we can be emotionally naked, peeling away layers of pretense with gentle yet profound honesty.

    The Butterfly Effect

    Together, we support each other, cleansing our souls from the burdens of our marginalized positions in society. This transformative process transcends the limitations of traditional support groups, offering a deeper, more authentic form of healing and connection. It’s crucial to openly discuss our experiences both in our home countries and in exile, using our native language and engaging with individuals with whom we feel safe and understood.

     During our last sessions, I came to the conclusion that the Butterfly Effect of the Circle of Peace extends from its core circle to various smaller circles, including the social circles of the mothers, significantly impacting the lives of their families. Moreover, this impact transcends the immediate circle, influencing the broader community where these women belong. For example, Rawaa, who recently completed vocational training in Gestalt therapy and works part-time as a social worker with abused married women, collaborates with Gaby and others to organize the first-of-its-kind vocational training program for Arabic-speaking Gestalt therapists.

    By the end of our last video call, I felt a sense of belonging and my anxiety whispered, ‚Let’s organize something for this year’s Iftar‘.

     

  • Circle of Peace: Meine syrischen Tanten und unser Hammam im Exil

    Beim Betreten eines geräumigen Hörsaals voller europäischer Experten für friedensschaffende Maßnahmen in konfliktbetroffenen Ländern stolperte ich über die Ankündigung eines „sicheren Raums“ für Migranten wie mich. Die beiden Worte standen in blauer Schrift auf einem Flipchart am Eingang, das später in die Ecke geschoben wurde, wo es im Rahmen einer wichtigen Konferenz, die in einem religiösen Gebäude in einem deutschen Dorf stattfand, hingehörte.

    Das virtuelle Hammam

    In den folgenden zwei Tagen konnte ich nicht anders, als mich verwirrt und irritiert zu fühlen über das Eindringen dieses Schlagworts in einen so exklusiven weißen Raum. Ein Raum, in dem Menschen wie ich, die dem Mainstream lästig sind – Migranten und aus Konfliktgebieten stammend,  aus dem „Nahen Osten“– auf der Bühne angesprochen werden, während wir in der Playlist der Afterparty durch Shakiras Waka Waka vertreten waren. Seltsam, dass ich mich zurück nach Berlin sehnte, wo es zumindest die Möglichkeit gibt, mit anderen syrischen Frauen zu einem virtuellen Hammam zu gehören.

    „Wahrscheinlich hat die zivilgesellschaftliche Organisation einen ermürbenden Prozess durchlaufen, um Mittel für diesen ‚leeren‘ Raum zu erhalten“, dachte ich jedoch mit einer gewissen Sympathie für die Organisatoren der Konferenz, nachdem ich mich an die Kämpfe der mir bekannten Migranteninitiativen erinnert hatte, die versuchten, Mittel für arabischsprachige Aktivitäten unter dem Dach der Integrationspolitik zu erhalten. Ihre Anträge wurden oft abgelehnt, weil sie nicht mit der Integrationspolitik übereinstimmten, die sich auf den Erwerb deutscher Sprachkenntnisse und die Assimilation an die „deutsche Kultur“ konzentrierte, die die Grundlage für die Umwandlung der Neuankömmlinge in „gute Bürger“ sein sollte.

    Druck der Integrationspolitik

    Wenn es um Migrantinnen aus Ländern mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit geht, kommt diese Integrationspolitik sogar mit einer spezifischen Mission, „uns zu retten“. „Sie wollen, dass ich Frauen, die extreme Bedingungen überlebt und den ganzen Weg aus Konfliktgebieten bis hierher geschafft haben, ‚ EMPOWERE‘ „, sagte mir eine Forscherin und Aktivistin, die in einer der größten deutschen Migrationsforschungseinrichtungen arbeitet, über den Druck dieser Politik auf ihre Arbeit.

    Aus dieser Logik heraus schien eine in Berlin ansässige Frauen-Selbsthilfegruppe, die auf Arabisch arbeitet, zunächst fehl am Platz. Doch die Gruppe, die kaum über finanzielle Mittel verfügt, gedeiht und expandiert seit 2016 über die Grenzen der deutschen Hauptstadt hinaus. Was als physische Zusammenkunft in Berlin als Reaktion auf die arabischsprachigen Flüchtlinge von 2015 begann, entwickelte sich mit der Pandemie 2020 zu drei virtuellen Gruppen, die es der Gruppe ermöglichten, später syrische Frauen in Syrien und anderen europäischen Ländern zu erreichen.

    Interessant ist, dass diese Gruppe im Gegensatz zu den Initiativen, die als „inklusiver Raum“ oder „Empowerment von Frauen“ bezeichnet werden, nicht als solche gekennzeichnet ist. Nichtsdestotrotz hat die virtuelle Zusammenkunft syrischer Migrantinnen, die in ihren gemeinsamen Erfahrungen und Bestrebungen nach gegenseitiger Unterstützung und Wachstum vereint sind, mein Interesse so sehr geweckt, dass ich sie als unser „psychologisches Hammam“ bezeichne.

    Der kuriose Fall des Circle of Peace

    Ähnlich wie das traditionelle Hammam überschreitet dieser virtuelle Raum die physischen Grenzen und wird zu einem Zufluchtsort für Selbstentdeckung und Heilung. Hier kommen syrische Frauen mit unterschiedlichem Hintergrund, die sich zunächst fremd sind, zusammen, um im Wasser der Empathie und des Verständnisses zu baden und ihre Ängste und Unsicherheiten abzulegen, während sie ihre Kämpfe ohne Angst vor Verurteilung teilen. In diesem fantasievollen Raum werden vergangene Traumata sanft bereinigt, und die Komplexität der Migration wird mit kollektiver Weisheit und Mitgefühl bewältigt.

    Dies ist der kuriose Fall des Circle of Peace, dem ich als einzige Ägypterin in ihren Dreißigern vor ein paar Jahren beigetreten und seitdem beigeblieben bin. Doch im Vorfeld unseres letzten jährlichen Treffens während des Iftar im Ramadan überlegte ich mir, ob ich bleiben sollte. „Was könnte ich wohl mit einer Gruppe syrischer Mütter gemeinsam haben, von denen viele in ihren Vierzigern, Fünfzigern oder sogar Sechzigern sind“, flüsterte mir meine Angst zu. Doch je weiter das Treffen voranschritt, desto mehr zeigte sich eine unerwartete Antwort.

    Meine Verbindung zum Circle of Peace geht auf den Sommer 2017 zurück. Ich war kein Flüchtling und identifizierte mich auch nicht als Migrantin. Ich war eine internationale Studentin aus Ägypten, die für ein Sommerpraktikum zwischen meinem Masterstudium in Dänemark und dem Vereinigten Königreich nach Berlin, dem neuen Zentrum der arabischen Diaspora, gezogen war. Erst in dem verregneten Sommer in Berlin vor der Bundestagswahl erregten Migration, Integration und das Thema „wir gegen sie“ meine Aufmerksamkeit.

    Als ich meinem deutschen Redakteur eine Reportage über Flüchtlingsfraueninitiativen vorschlug, befasste ich mich mit den Herausforderungen, die sich ihnen beim Ankommen in Deutschland stellten, und mit der Bedeutung, die der Bereitstellung eines Raums für emotionalen Trost abseits des Integrationsdrucks zukommt. Andere Initiativen, die ich untersuchte, überdauerten nicht.

    Der Einfluss der Gestalttherapie

    Als ich mein Studium beendete, hieß mich der Circle of Peace bei meiner Rückkehr nach Berlin als Einwanderin willkommen. Selbst während der Pandemie, als ich nach Ägypten zurückkehrte, ging die Gruppe über die Grenzen hinaus und entwickelte sich zu einer virtuellen Selbsthilfegruppe.

    Die heutige Selbsthilfegruppe für Frauen aus Syrien geht auf die Initiative einer österreichisch-deutschen Gestalttherapeutin zurück, die damit auf den Zustrom arabischsprachiger Neuankömmlinge aus Konfliktgebieten im Jahr 2015 reagierte. Gaby, die seit 30 Jahren in Berlin lebt, hat erkannt, wie wichtig es ist, arabischsprachige  geflüchtete Frauen in ihrer Muttersprache psychologisch zu unterstützen. Mithilfe eines syrischen Übersetzers war es ihr möglich, eine wöchentliche Gruppe in ihrer Klinik im Zentrum Berlins zu leiten. So ungewohnt Arabisch für Gabby auch war, so war die Idee einer Selbsthilfegruppe für diese arabischsprachigen Frauen.

    Sehnsucht nacht Verbindung

    „Bis ich 2012 Syrien verließ, war mir ein solches Konzept noch nie begegnet. In unserer Kultur ähnelt es einer engen Bindung zu einer Freundin oder Schwester“, erklärte mir Rawaa Al Samman, die eine wichtige Quelle für meinen Artikel über den Circle of Peace war und inzwischen zu einer guten Freundin geworden ist, ihre Sichtweise. Sie ist eine geschiedene Frau in den Fünfzigern aus Damaskus, die 2016 der Gruppe beitrat und später die Rolle der Moderatorin übernahm.

    Rawaas Lächeln wurde während unseres Messenger-Videoanrufs noch breiter, als ich mich nach den Wurzeln des Circle of Peace in ihrem früheren Leben in Syrien erkundigte. Es dämmerte ihr, dass sie sich immer nach dieser Verbindung mit anderen Frauen gesehnt hatte, insbesondere als einzige Tochter in einer Familie mit drei Jungen. Auch nachdem sie geheiratet und drei Söhne zur Welt gebracht hatte, sehnte sie sich nach dieser Verbindung.

    Als sie nach der Einschulung ihrer Kinder etwas Freizeit hatte, ergriff sie die Initiative und organisierte Frauensalontreffen, zu denen sie Nachbarinnen einlud, die ihr Interesse am Austausch von Ideen, Büchern und Erfahrungen über Kindererziehung teilten. Von ihrer Tätigkeit als Hausfrau und Mutter wechselte sie zur Arbeit als NLP-Trainerin.

    Der Weg zur Moderatorin

    Ihre Reise führte sie für einige Jahre von Syrien nach Algerien, bevor sie sich 2015 schließlich in Deutschland niederließ. Selbst in Algerien organisierte sie weiterhin Frauensalontreffen mit demselben Konzept. Dieser tief verwurzelte Wunsch, sich mit anderen Frauen zu vernetzen, brachte Rawaa dazu, sich der Gruppe Circle of Peace in Berlin anzuschließen. Im Laufe der Zeit entwickelte sie sich von Teilnehmerin zu Moderatorin, nicht nur für die Berliner Gruppe, sondern auch für zwei weitere Gruppen, darunter eine für syrische Frauen, die noch in Syrien leben.

    Als meine Freundschaft mit Rawaa durch unsere gemeinsamen Geschichten über das Aufwachsen in unglücklichen Elternhäusern und die harten Dinge in unserem früheren Leben gefestigt wurde, stellten wir fest, dass unsere Erfahrung sich unterschieden. In meiner Familie hatte ich viele Frauen und Nichten, mit denen ich über die schwierigen Dinge sprechen konnte. Oberflächlich betrachtet ähnelt der Circle of Peace den geschätzten Donnerstagabendtreffen im Haus meiner Großmutter in Ägypten, wo ihre fünf Töchter und deren Töchter beim Essen zusammenkamen, fernsahen und sich über ihre Eheprobleme beklagten.

    Die Bedeutung von Vertrauen

    Im Gegensatz zu mir war es für Rawaa zunächst ungewohnt, sich anderen Frauen zu öffnen und intime Aspekte ihres Lebens mit ihnen zu teilen. Es fühlte sich für sie wie eine Fremdsprache an. „In meiner bisherigen Ausbildung saß ich auf dem Zuhörerplatz“, sagt sie. Außerdem war die Zurückgezogenheit ihr Schutzmechanismus als Frau in Syrien.

    Ursprünglich wurde die Gruppe gegründet, um ein tiefes Bedürfnis dieser Neuankömmlinge in Deutschland zu befriedigen, nämlich Anschluss zu finden und sich gleichzeitig authentisch zu fühlen. Indem sie auf „den anderen“ zugeht, sogar wie hier auf eine andere syrische Frau, riskiert jede Frau, ihr wahres Ich zu offenbaren, was sie anfällig für Urteile oder Kritik macht, was Rawaa anfangs befürchtete. „Einige Leute sind daran interessiert, unserer Gruppe beizutreten, bis sie wissen, dass wir über uns selbst sprechen“, fügt sie hinzu.

    Der Aufbau von Vertrauen ist bei dieser Erfahrung unerlässlich. Durch das, was Esther Perel, die belgisch-amerikanische Psychotherapeutin, einen „Vertrauensvorschuss“ nennt, habe ich erlebt, wie die Moderation zum Schlüssel für die Förderung von Vertrauen und Offenheit unter den Gruppenmitgliedern wird. Rawaa bemerkte auch, wie Gaby Werkzeuge aus der Gestalttherapie einsetzte, um die Gruppendynamik zu bewältigen. In der Anfangsphase der Gruppe begann Gaby die Sitzung, indem sie eine Reihe von Regeln aufstellte, z. B. Vertraulichkeit und Respekt. „Es ist selten geworden, dass wir diese Prinzipien während unserer Sitzungen erwähnen müssen, da sie uns zur zweiten Natur geworden sind“, erklärt Rawaa.

    Um in einer Gruppe unbekannter Frauen Vertrauen aufzubauen und sinnvolle Diskussionen zu ermöglichen, müssen verschiedene Instrumente eingesetzt werden. Tiefes Zuhören ist das A und O, um jeder Frau den Raum zu geben, ihre Gedanken und Erfahrungen ohne Unterbrechung zu teilen. Rawaa, die Moderatorin, sorgt dafür, dass jede Frau die Möglichkeit hat, ausführlich zu sprechen, sei es, dass sie kurz ihre Freude ausdrückt oder sich eine Stunde oder länger mit tieferen Themen beschäftigt.

    Im Gegensatz zu herkömmlichen Therapiesitzungen, die durch Zeit und Geld begrenzt sind, gibt es hier keine Eile; Unterbrechungen sind sanft und bieten Momente der Reflexion durch aufschlussreiche Fragen. Dieser Ansatz fördert die Neugier und das Verständnis und führt über oberflächliche Diskussionen hinaus zu transformativen Einsichten. Nachdem jede Frau ihre Geschichte erzählt hat, können auch andere ihre Sicht der Dinge darlegen, wodurch ein Gefühl der Verbundenheit und Solidarität innerhalb der Gruppe entsteht.

    Das Selbst im Spiegel der Anderen

    In meiner letzten Sitzung lobte Rawaa meinen Grad an Selbstreflexion, als ich von einem kürzlichen Gespräch mit einem Freund erzählte, und erkannte dessen Bedeutung für unseren Circle of Peace an. Sie forderte die anderen Gruppenmitglieder auf, diesen introspektiven Ansatz zu übernehmen und hob dessen Bedeutung für unsere gemeinsame Reise hervor.

    Allerdings schreibe ich den anderen Frauen im Circcle of Peace das Verdienst zu, meine Selbstreflexion vertieft zu haben. Der Austausch mit ihnen hat mir als Spiegel gedient, in dem ich meine Erfahrungen als Migrantin im Verhältnis zu ihren Erfahrungen erforschen konnte. Durch diese Interaktionen habe ich bedeutungsvolle Verbindungen geknüpft, ohne das Gefühl zu haben, mich anpassen zu müssen. Dies steht in krassem Gegensatz zum typischen Integrationsprozess, wie Rawaa mir gegenüber betonte.

    Oft werden Neuankömmlinge unter Druck gesetzt, sich zu assimilieren und ihre Identität zu opfern, um in eine neue Kultur zu passen. Stattdessen betont Rawaa, wie wichtig es ist, den Einzelnen dabei zu unterstützen, sich selbst treu zu bleiben, während er sich in seinem neuen Umfeld zurechtfindet.

    Im Laufe der Zeit hat sich die Zusammensetzung unserer Gruppe verändert. Viele der jüngeren Mitglieder aus dem Berliner Kontingent sind weniger aktiv geworden, da sie mit den Anforderungen ihres neuen Lebens in Deutschland beschäftigt sind. Die verbleibenden älteren Mitglieder haben jedoch gezeigt, dass diese Gruppe ihr Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Verbundenheit befriedigt. Für mich verkörpern sie einen reichen Erfahrungsschatz, sie ähneln Müttern und Lehrerinnen und erinnern mich an die Tanten, die ich in dem komplexen Prozess der Heilung eines generationenübergreifenden Traumas verloren habe. In diesem nährenden Umfeld erkannte ich das generationenübergreifende Trauma in meiner eigenen Familie, insbesondere seine Auswirkungen auf die Mutter-Tochter-Beziehung über mehrere Generationen hinweg.

    Mehr als eine Selbsthilfegruppe

    Meiner Erfahrung nach ist es entscheidend, eine Perspektive aus einer gesunden Distanz zu gewinnen, um sich selbst wirklich zu verstehen. Der Circle of Peace bietet einen Raum für Selbstbeobachtung, der es uns ermöglicht, unsere Gedankengänge zu hinterfragen und unsere Vorurteile anzusprechen. Das übergreifende Ziel dieser Reise ist es, innere Harmonie zu erlangen und sinnvolle Verbindungen zu anderen herzustellen.

    Für mich hat sich der Circle of Peace über das konventionelle westliche Modell einer psychologischen Selbsthilfegruppe hinaus entwickelt. Im Laufe der Jahre hat er sich zu einem hybriden Zwischenraum entwickelt. Rawaas Moderationswerkzeuge haben bei dieser Entwicklung eine entscheidende Rolle gespielt. In unseren Sitzungen habe ich das Gefühl, dass wir Schichten gesellschaftlicher Erwartungen abwerfen und unser wahres Selbst zum Vorschein bringen. Unter Rawaas Anleitung schaffen wir einen sicheren Raum, in dem wir uns emotional nackt zeigen können, indem wir mit sanfter, aber tiefgreifender Ehrlichkeit Schichten der Verstellung abtragen.

    Der Schmetterlingseffekt

    Gemeinsam unterstützen wir uns gegenseitig und befreien unsere Seelen von der Last unserer Randpositionen in der Gesellschaft. Dieser transformative Prozess geht über die Grenzen traditioneller Selbsthilfegruppen hinaus und bietet eine tiefere, authentischere Form der Heilung und Verbindung. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass wir offen über unsere Erfahrungen sowohl in unseren Heimatländern als auch im Exil sprechen, in unserer Muttersprache und mit Menschen, bei denen wir uns sicher und verstanden fühlen.

     Während unserer letzten Sitzungen kam ich zu dem Schluss, dass sich der Schmetterlingseffekt des Circle of Peace von seinem Kernkreis auf verschiedene kleinere Kreise, einschließlich der sozialen Kreise der Mütter, ausdehnt und das Leben ihrer Familien erheblich beeinflusst. Darüber hinaus geht diese Wirkung über den unmittelbaren Kreis hinaus und beeinflusst die breitere Gemeinschaft, zu der diese Frauen gehören. Rawaa zum Beispiel, die vor kurzem eine Ausbildung in Gestalttherapie abgeschlossen hat und in Teilzeit als Sozialarbeiterin mit misshandelten verheirateten Frauen arbeitet, arbeitet mit Gaby und anderen zusammen, um das erste Berufsausbildungsprogramm für arabischsprachige Gestalttherapeuten zu organisieren.

    Am Ende unseres letzten Videoanrufs fühlte ich mich zugehörig und meine Angst flüsterte mir zu: „Lass uns etwas für das diesjährige Iftar organisieren.“

  • Ni de aquí ni de allá – vom Gefühl der Diaspora

    Menschengruppen mit einer Diaspora sind weltweit präsent. Über Generationen werden Herkunftsbezüge aufrechterhalten und ihre Migrationsgeschichte wird mit einem traumatischen Verständnis geleitet. „Weder von hier, noch von dort“ (Ni de aquí ni de allá), bedeutet für mich die Essenz der Diaspora von Mittel- und Südamerika. Sie stellt ein starkes Gefühl eines Limbus dar, ein Zwischenzustand in Bezug auf nationale, kulturelle und ethnische Zugehörigkeit, welche die Identität vieler Menschen dieses Raumes spaltet und verstreut.

    Indigene Identitäten und Diaspora

    Hier in Chile ist der Begriff Diaspora ein diskutierter Begriff, da Migrationsgeschichten natürlich intersektionell betrachtet werden müssen. Was ist mit den indigenen Identitäten? Die Geschichte des „Jimmy Button“ beweist, wie indigene Völker einen großen Identitätsanspruch auf Diaspora haben:

    Orundellico war ein Junge vom Volk der Yaghan, die an der Küste des heutigen Beagle-Kanals lebten. Im Jahr 1832 entführte ihn der englische Forscher und Missionar FitzRoy, begleitet von dem Naturforscher Charles Darwin, zusammen mit Fuegia Basket, York Minster und Boat Memory – ihnen von den Engländern gegebene Namen –, mit der Idee, sie nach London zu bringen. Dort sollten sie „zivilisiert“, also auf englische Art erzogen, sowie als zoologische Kuriositäten ausgestellt werden. FitzRoy erwarb Orundellico für einen niedrigen Preis: einen glänzenden Perlmuttknopf.

    Deswegen erhielt er den Namen Jimmy Button. Während des etwas mehr als ein Jahr dauernden Aufenthalts in einer fremden Welt wurde er zu einem Gentleman „umerzogen“ und sogar dem König Wilhelm IV. und der Königin Adelaide präsentiert. Zudem war es FitzRoys Vorhaben, die englische Leitkultur innerhalb Südamerikas zu verbreiten, und deshalb brachte er sie an ihren Herkunftsort zurück.

    Als die Entführten jedoch wieder in Patagonien waren, legten sie die englische Unterdrückung ab und wollten ihren Heimatort nicht mehr verlassen. Trotzdem fiel es ihnen schwer, zu den Personen zu werden, die sie einst waren. Orundellico sprach eine Mischung aus Englisch und seiner Muttersprache und selbst sein Volk schien ihn als Fremden zu sehen. Er gehörte weder hier noch dorthin.

    „Zu Hause war Chile, vor meiner Haustür war Deutschland“

    „Ni de aquí ni de allá“ beschreibt den Zustand einer Person, die sich in Bezug auf ihre Zugehörigkeit nicht eindeutig identifizieren kann. Sie ist weder hier noch dort wirklich zugehörig. Dieses Erlebnis ist vielen Menschen mit Migrationshintergrund bekannt und beeinflusst in vielerlei Hinsicht ihr Leben.

    Ich persönlich gehöre ebenfalls zu dieser Gruppe. Als Kind chilenischer Eltern kann man mich als Teil der zweiten Generation von LatinX-Migrant*innen bezeichnen. Zu Hause war Chile, vor meiner Haustür war Deutschland. Hier wurde ich nicht als Deutsche wahrgenommen und dort fühlte ich mich auch nicht als Chilenin. Wenn man mich nach meiner Identität fragte, wusste ich oft nicht, was ich antworten sollte. Das Gefühl, keine klare Antwort geben zu können, löste eine Kettenreaktion von Entfremdung, kultureller Unsicherheit und Identitätsproblemen aus.

    Diese Komplexe führten zu weiteren Unsicherheiten und Traumata, die viele Migrant*innen und ihre Kinder teilen. Wir gehören zur Diaspora der zweiten Generation und stehen zwischen zwei Welten. Bei indigenen Menschen stellt das nochmal eine intersektionelle Eigenschaft, da sie sich in ihren eigenen Territorien sich weder von hier noch von dort fühlen. Ihre Zugehörigkeit wurde ihnen systematisch geraubt.

    Es ist äußerst interessant zu beobachten, wie die zweite Generation in der Diaspora sich selbst darstellt, Gemeinschaften bildet und nach Zugehörigkeit sucht. Sie nimmt Raum ein, übernimmt die Narrative marginalisierter Gruppierung und verbündet sich über Kulturen hinaus, weil sie eine Sache verbindet: Das Gefühl, sich weder hier noch dort vollkommen zugehörig zu fühlen.

     

  • Heimatverlust als Tabuthema?

    Warum ist Heimatverlust in der deutschen Gesellschaft ein Tabuthema?

    Diese Frage hat mich in letzter Zeit beunruhigt. Es wird in Medien über Depression, Burnout und andere psychische Krankheiten gesprochen. Als ich im ambulanten psychiatrischen Dienst gearbeitet habe, habe ich viele Migrant*innen auf ihrem Lebensweg begleitet. Wenn ich nachdenke, hatten viele von denen ein Trauma in erwachsenem Alter: den Verlust der Heimat.

    Ich wünsche mir, dass Ärzt*innen diese Art von Trauma ernst nehmen. Dieses Trauma lässt Menschen in ihrer neuen Heimat nicht glücklich sein, bevor sie diese Schmerzen nicht verarbeiten. Sie können materiell erfolgreich sein, aber seelisch nicht. Neulich hatte eine Freundin aus meinem Land ihren Geburtstag gefeiert. Da waren gemischte Gruppen von Deutschen, Kirgis*innen und anderen Nationalitäten. Alle haben, wie es sonst auf Partys üblich ist, über Arbeit, Ausbildungsplatz, Reise und kleine Alltagsproblemchen gesprochen.

    „Mein 2-jähriger Sohn isst zu Hause keinen Brei, die arme Mutter kann nicht nachts gut schlafen, er trinkt viel an der Brust. Aber in der Kita ernährt er sich gut!“

    „Ah ja, diese Sauna soll wirklich gut sein?“

    „Ich muss mich endlich mal bei der Fitness anmelden, sonst bekomme ich Winterspeck!“

    So sprechen blutende Seelen über ihre Scheinheimat, über ihr scheinglückliches Leben. Ich war zu ernst, um an solchen Gesprächen teilzunehmen. Ich denke, warum konnten wir nicht über persönliche Themen sprechen, die uns wirklich beschäftigen?

    Was beschäftigt denn Migrant*innen nach 8 Stunden Arbeit und am Wochenende? Welche Gedanken haben sie so?

    Der Stein in der Seele

    Ich vermute, dass viele trotz ihrer „beschäftigten“ Leben zwischendurch doch an ihre Heimat denken. Vielleicht kommen kurze Erinnerungen an bestimmte Ereignisse aus der Vergangenheit, oder Bilder von alten Häusern und Straßen. Als ich auch, wie diese Menschen auf der Party, eine sehr gut integrierte Migrantin war, habe ich in meiner Freizeit viel unternommen, es war egal was, Hauptsache, möglichst abgelenkt sein.

    Irgendwann haben mich Schmerzen vom Heimatverlust so stark erwischt, dass ich mich nicht mehr ablenken konnte. Die Auseinandersetzung war nicht angenehm, es hat mehrere Jahre in Anspruch genommen, aber es hat sich gelohnt. Ich habe immer noch Schmerzen vom Verlust meiner Heimat. Es fühlt sich manchmal wie ein Stein in meiner Seele an, der mit seiner Anwesenheit meine Freude am Leben verhindert. Dessen Anwesenheit dauert allerdings nicht mehr so lang, sodass ich nicht vor mir fliehen muss.

    In meiner Freizeit beschäftige ich mich mit Musik, Schreiben und ich gehe gerne spazieren und bin mit Menschen zusammen, die mich verstehen. Ja, es klingt doch so, als ob ich nicht mehr vor Schmerzen, bzw. vor mir selbst nicht mehr fliehen muss. Was für ein Segen. Das wünsche ich jedem, der seine Heimat verloren hat. Erfüllende Beschäftigungen tun mir richtig gut und ich tue sie bewusst, um nicht meine Schmerzen zu vermeiden, sondern sie mit Leichtigkeit ertragen zu können.

    Meine Schmerzen sind auch wie zwei große Augen in mir, die in bestimmten Phasen die deutsche Welt nicht sehen und ertragen wollen. Es fühlt sich alles auf einmal fremd an. Obwohl ich weiß, ich lebe hier seit 17 Jahren. Das tut richtig weh und es ist Widerstand zum Leben selbst.

    In so einem Zustand möchte ich nichts machen. Ich will in Widerstand bleiben und meine Tür vor der ganzen deutschen Welt in mir und außerhalb von mir zu machen. Und gleichzeitig verurteile ich mich selbst für diese Abgrenzung. Ich denke, warum soll ich es machen? Habe ich das Recht, das zu machen? Es ist so, als ob diese Augen mir antworten: „Bitte stelle keine Fragen. Akzeptiere diese Schmerzen.“

    Es ist eine Tragödie, die ganze Heimat und damit einen Teil von sich selbst zu verlieren! Erfüllende Dinge, die ich die meiste Zeit tue, Dinge, die mir guttun, helfen mir in solche Augenblicken tatsächlich nichts zu machen und einfach traurig zu sein.

    Warum ist es ein Tabuthema, über Heimatverlust zu sprechen? Warum begraben Migrant*innen ihre wertvolle Vergangenheit, ihre kulturelle Identität? Muss diese Identität jahrelang bluten?

    Ich habe mittlerweile gute Augen für blutende Seelen. Blutende Seelen erkenne ich auch unter Deutschen, die ihre deutsche Identität nicht ausleben dürfen. Wurde es nicht irgendwann nach dem Zweiten Weltkrieg verboten, stolz zu sein, dass man Deutsche*r ist? Das hat zum Verlust der deutschen Identität geführt. Welche*r Deutsche kann laut auf der Straße schreien, stolz deutsch zu sein? Man würde schief angeguckt werden und als Nazi gelten.

    Säulen, die in meine Augen als Identität dienen, sind: Fußball, Bürokratie, Wirtschaft, Qualität der exportierten Waren aus Deutschland und Arbeit. Ich denke, dass auf Dauer diese Säulen nicht mehr als Identität dienen können, weil es Menschen an einer wahren Identität fehlt. Deutsche, die das ausdrücken, laufen Gefahr, als nationalsozialistisch zu gelten. Deshalb können Deutsche sich nur durch Leistung zeigen.

    Unendliche Schuldgefühle aus der Vergangenheit quälen sie immer noch und treibt sie an, Marionetten des kapitalistischen Systems zu sein, statt sich selbst zu lieben und akzeptieren. Aus diesem Grund fehlt in dieser Gesellschaft Zugehörigkeit, ohne Zugehörigkeitsgefühl werden immer mehr Menschen an der Pandemie der Einsamkeit erkranken.

    Die Pandemie der Einsamkeit erkenne ich in den leeren Augen vieler Menschen, die ich auf der Straße sehe; ohne eine Studie kann ich persönlich behaupten, dass Deutschland an der Pandemie der Einsamkeit erkrankt ist, weil Menschen keinen Geist in Gesellschaft, keine Identität haben. Und Wolken mit Regen haben damit nichts zu tun.

    Das ist die Schattenseite, aber es gibt für mich auch andere, helle Seiten in Deutschland, der deutschen Seele, die mich seit 17 Jahren in Deutschland trägt, und ich bereue nicht, dass ich genau hier ausgewandert bin und hier lebe. Um eine Deutsche zu sein, muss ich nicht hier geboren sein. Ich fühle mich schon wie eine Deutsche. Eigenschaften der Deutschen haben mich beeinflusst und meine Seele hat sich mit deren Mentalität zusammengewachsen.

    Was macht mich als Deutsche aus?

    Ich habe in Deutschland nach einem langen Kampf mit mir selbst gelernt, NEIN sagen zu können. Wir kämpfen immer gegen uns selbst, gegen unsere Träume und Wünsche, wenn wir uns nicht genug akzeptieren und lieben. Wir tun uns etwas Gutes und gleich wollen wir uns wieder schaden. Ich wollte mein Bedürfnis, eine Kirgisin zu sein, nicht akzeptieren, ich habe es verdrängt, um wie alle andere zu sein. Nachdem ich jedoch geschafft habe, zu meiner Vergangenheit und Herkunft zu stehen, habe ich daraus viel Kraft und natürliche Lebensfreude gewonnen! Was für ein Segen für mich. Das wünsche ich von ganzem Herzen Deutschen und Migrant*innen.

    Wenn ich ab morgen wieder in Kirgisistan oder woanders leben müsste, würde ich sicherlich Sehnsucht nach meiner deutschen Identität haben, weil ich diese Dinge nicht mehr in meinem Leben hätte: regionale Ernte im Herbst wie Pflaumen, Äpfel, Kartoffeln und Kohl, die brav und frisch auf einer Theke in einem Wochenmarkt liegen. Ältere Menschen mit ihren weisen und nüchternen Augen. Als ich in anderen Städten mit dem Auto oder in der Bahn unterwegs war, liebte ich es, weite Felder voller Raps und Riesenwindmühlen zu beobachten. Wunderschöne Altbauten aus den letzten Jahrhunderten, und Kirchen in Hamburg, Riesenbibliotheken voll mit Wissen, Konzertsäle, Theater und Musik.

    Das Wetter-Phänomen hat hier im Leben von vielen Menschen einen wichtigen Platz hat. Übers Wetter zu sprechen und daran zu denken, jeden Tag sich damit beschäftigen, eigene gute und schlechte Laune auf das Wetter projizieren, die gewisse Kunst, sich Wetter gerecht anzuziehen. Ich habe vor vielen Jahren Gummistiefel gekauft und ich habe sie 2- oder 3-mal getragen, und ich besitze keine Regenjacke, weil ich mit meinem Regenschirm rechne. Ja, gewisse Frische, Wind und Regen sind für mich irgendwie doch sehr vertraut geworden.

    All das ist für mich ein fester und lebendiger Geist der deutschen Identität, der von meiner Seele untrennbar bleibt.

     

     

     

  • Eine Reise durch Zeit und Kultur

    Berlin, November 1989:

    Die Interflug-Maschine IF700 aus Beijing landet nach knapp zehn Stunden auf dem Flughafen Berlin-Schönefeld. Umgeben von einem Strom fremder Stimmen, unbekannter Gesichter, auf einem völlig fremden Kontinent, mit bloß einem Koffer in der Hand. Die Reise geht weiter, durch die DDR-Grenzkontrolle, in einen Zug, der zum finalen Ziel führt: Hamburg.

    Doch dies ist weit mehr als die bloße Ankunft in einem fremden Land. Es ist der Auftakt zu neuen Träumen, Zielen und vor allem zu einem neuen Lebenskapitel.

    Heute, über 30 Jahre später, steht meine Mutter Song Moritz (geb. Cai) inmitten ihres neuen Lebens, umgeben von Erinnerungen, die reich an Geschichten sind. Die Erfahrungen meiner Mutter werfen ein Licht auf universelle Themen wie Mut, Anpassung und die Suche nach Zugehörigkeit, die Migrant*innen weltweit erleben.

    Ihre Migration beleuchtet allerdings eine Zeit, in der Abschied noch eine ganz andere Bedeutung hatte und Digitalisierung und Globalisierung noch an ihren Anfängen standen.

    Aber zum Anfang zurück …

    Meine Mutter fasste bereits mit 21 Jahren den Entschluss, nach Deutschland zu ziehen, kurz nachdem die Auswanderung für Chinesinnen und Chinesen erstmals möglich wurde. Ohne Angst, aber von Abenteuerlust und Fernweh getrieben, beschloss sie, im Ausland zu studieren, ohne zuvor jemals ihr Heimatland verlassen zu haben. Die Entscheidung für Deutschland fiel eher zufällig:

    „Ich hatte vorher keinerlei Bezug zu Deutschland. Aus Zufall stieß ich auf einen Zeitschriftenartikel mit der Überschrift ‚nach Deutschland?‘, welcher mich zu meiner Entscheidung bewegte.“ Die Vorbereitungen waren pragmatisch und zielgerichtet: Visum beantragen, Deutschunterricht – A2-Niveau musste reichen –, Koffer packen und Abschied nehmen.

    In Deutschland angekommen, fand sie zunächst Unterkunft bei entfernten Verwandten und kümmerte sich um deren Kinder. Schon bald wurde der Platz jedoch eng:

    „Eine ältere deutsche Dame aus dem gleichen Gebäude bot mir an, gegen ein wenig Geld bei ihr zu wohnen. Es war anfangs etwas komisch, zu einer völlig fremden Person zu ziehen, die ich kaum verstand. Sie war aber sehr nett, hilfsbereit und kochte sogar manchmal für mich.“

    Schon nach einem Monat Studienvorbereitung am Studienkolleg wechselte sie zur HAW Hamburg, wo sie den Sprachtest für ihr Bauingenieurstudium bestand. Trotz bestandener Prüfung waren die ersten Vorlesungen eine Herausforderung; vieles blieb unverstanden, und Hilfe war schwer zu finden. Sie entschied, das Pflichtpraktikum vorzuziehen, getreu dem Motto „Learning by doing“, in der Hoffnung, durch praktische Erfahrungen zu lernen.

    Die ersten Monate in Deutschland waren nicht einfach

    Neues Studium, kaum Sprachkenntnisse, wenige Bezugspersonen und vor allem: kein Geld. Einer der schwierigsten Aspekte war es, unter diesen Bedingungen einen Lebensunterhalt zu verdienen. Sie begann, jeden Morgen vor Unibeginn zwei Stunden als Putzkraft zu arbeiten und kellnerte später in einem chinesischen Restaurant. Es war nicht einfach, Studium und Arbeit zu vereinbaren, während man gleichzeitig versuchte, in einem völlig fremden Land Anschluss zu finden.

    Sie fand jedoch viel Unterstützung. Besonders in Erinnerung geblieben ist ihr Praktikumsleiter Herr Edlir:

    „Er nahm viel Rücksicht darauf, dass ich kaum Deutsch sprach. Er nahm mich überall mit hin und erklärte mir alles persönlich. Er lud mich sogar zu sich und seiner Frau nach Hause zum Essen ein. Sie gaben mir ein erstes Gefühl von Zugehörigkeit.“

    Isst du wirklich Hundefleisch?

    Allerdings machte meine Mutter auch andere Erfahrungen. Obwohl sie generell stets freundlich empfangen wurde, stellte sie schnell fest, dass es schwierig war, tiefergehende Freundschaften zu schließen. Es war schwierig, ein Gefühl von Zugehörigkeit zu entwickeln, da sie immer die „Fremde“ blieb. Trotz vieler positiver Begegnungen war sie auch mit weniger sensiblen Bemerkungen konfrontiert und wurde immer wieder gefragt, wann sie nach China zurückkehren würde, als ob es in Deutschland keinen dauerhaften Platz für sie gäbe.

    Der Kontakt in die Heimat war in einer Zeit vor digitaler Kommunikation und sozialen Medien beschränkt und kostspielig. Ein Brief alle zwei Wochen, um die Familie über die wichtigsten Ereignisse zu informieren. Einmal im Monat ein Telefonat, um die Stimme ihrer Liebsten zu hören. Dies beschränkte sich aufgrund der hohen Kosten allerdings auf nur wenige Minuten.

    Das war aber kein Grund, aufzugeben.

    Meine Mutter kämpfte sich durch, lernte Deutsch, absolvierte ihr Studium und lernte meinen Vater kennen, wodurch Deutschland zu einem Zuhause für sie wurde.

    Auf die Zeit zurückblickend, würde sie heute allerdings einige Dinge anders angehen. Sie hatte zu oft versucht, es ihrer Familie recht zu machen, anstatt auf sich selbst zu achten. Sie wollte ihre Familie stolz machen. Ihnen zeigen, dass es sich gelohnt hatte, fortzugehen. Sie arbeitete sehr viel, um finanziell unabhängig zu sein, wählte ein Studienfach, das mehr den Wünschen ihrer Eltern entsprach, als ihren eigenen und sprach nie mit ihnen über Zweifel und Probleme. Sie sagt heute, sie bereue etwas, sich selbst für andere aufgegeben zu haben.

    Nichtsdestotrotz hat sie so viel Mut, Stärke und Selbstständigkeit bewiesen, dass sie sich unter diesen Bedingungen, ganz allein ein völlig neues Leben aufgebaut hat, worauf sie nun mit Stolz zurückblicken kann.

    Das Auslandsstudium

    Wie meine Mutter habe auch ich wegen meines Studiums mein Heimatland zu verlassen, wenn auch nur für einige Monate. Doch die Umstände waren grundlegend anders. Angefangen damit, dass ich das Privileg hatte, in nahezu jedes Land zu gehen, in das ich wollte. Die USA sollten es werden. Ein weiterer Vorteil: ich beherrschte die Sprache bereits fließend. Eine Agentur hat mich bei meinen Vorbereitungen unterstützt und stand mir für Fragen zur Verfügung. Finanziell war ich stets abgesichert. Vor Ort traf ich überall auf internationale Student*innen, was schnell eine Atmosphäre von Vertrautheit und Gemeinschaft schuf. Zusätzlich war ich dank der modernen Technologie nur einen Anruf bzw. eine Nachricht entfernt von Familie und Freunden.

    Mein eigener Aufenthalt war voller wertvoller Erfahrungen, aber kaum mit dem meiner Mutter vergleichbar. Ich erlebte viele unvergessliche Momente und auch ich stand vor einigen Herausforderungen, doch im Mittelpunkt standen für mich stets Freiheit, Spaß, das Sammeln von Erfahrungen und mein persönliches Wachstum. Obwohl ich selbstständig sein musste, hatte ich keinerlei Erwartungen zu erfüllen, höchstens die, die ich an mich selbst stellte. Der wohl größte Unterschied zu meiner Mutter liegt jedoch darin, dass der Ort für mich nur ein temporäres Zuhause darstellte.

    Unsere Wege sind verschieden, kreuzen sich gleichzeitig und zeigen, wie viel Einfluss Zeit, Ort und Personen auf unsere Erfahrungen haben.

  • Songs zum Thema Migration

    Musik begleitet das Leben. Mit manchen Songs verbindet man wichtige und einschneidende Ereignisse. Ebenso hat Musik das Potenzial bestimmte Themen an viele Menschen näher heranzubringen und das mit einer gewissen Leichtigkeit, wie es z. B. Texte oder Bücher nicht können. Darum folgen hier 5 Songs, die sich mit dem Thema Migration beschäftigen. Und das von 5 verschiedenen Bands oder Musiker*innen, mal weniger, mal mehr berühmt, die aber alle ihre eigene Migrationsgeschichte zu erzählen haben.

    Paper Planes – M.I.A

    Der erste Song auf dieser Liste ist ein recht berühmter Song, durchaus auch gerne auf Partys zu hören. M.I.A. ist eine britische Sängerin und Rapperin, mit sri-lankischen Wurzeln. Sie wuchs in Sri Lanka auf und zog mit 10 Jahren nach London. Den Song Paper Planes schrieb sie über die Vorurteile, mit denen Immigrant*innen zu kämpfen haben, viele, mit denen sie selber konfrontiert wurde. In dem Lied werden in der Ich-Perspektive Stereotypen wiedergegeben. Mit Sätzen wie „All i want to do is /take your money“, zeigt M.I.A. die Scheinheiligkeit, mancher Leute in Europa oder den USA und vor allem, wie einfach es ist, Einwanderern Worte in den Mund legen.

    Deutschland, Deutschland 21 – Sinu

    Sinad Köylü, Sänger der Band, schrieb den Song über seinen eigenen Erfahrungen als türkischer Einwanderer in Deutschland. In dem Lied beschreibt Köylü, wie er in der deutschen Gesellschaft als Halbtürke aufgenommen wurde, welchen rassistischen Vorurteilen er ausgesetzt war und vor allem, was für einen Einfluss diese auf ein Kind haben können. Mit einer Melodie, die einem Gänsehaut bereitet, gibt das Lied einen Einblick, in das Leben von Migrant*innen und die Probleme, die sich ihnen stellen, nur weil sie ausländische Wurzeln haben.

    Border – Bukahara

    Weiter geht’s mit einer Band, die sich in Köln kennenlernte und gründete. Alle vier Mitglieder haben sie verschiedene Wurzeln und bringen somit vier verschiedene Klänge in ihre Musik. Die Multiinstrumentalisten veröffentlichen Songs auf Englisch, Deutsch und Arabisch und inkorporieren verschiedenste Instrumente.

    Mit dem Lied „Borders“ verbinden sie eine wichtige Message mit schönen Melodien: „on the map they drew so many lines / and I don’t know why“ kritisiert die willkürliche Grenzziehung, die auch heute noch zu Problemen führt. „… everbody knows that people always cross the border“, mit dieser Aussage treffen sie den Nagel auf den Kopf: Migration gab es schon immer und wird es auch immer geben. Nur wie man damit umgeht, kann man ändern.

    Diaspora – Celo & Abdi

    Dieser Song kommt aus einem etwas anderen Genre und hat entsprechend auch was ganz anderes zu bieten. In „Diaspora“ erzählen beide Rapper von ihrer Herkunftsgeschichte; Celo aus Bosnien und Abdi aus Marokko stammend. Der inhaltsvolle Song berichtet von einzigartigen Details aus ihrer eigenen Migrationserfahrung und enthält einige Zitate, die zum Nachdenken anregen. „Als Ausländer musst du dich doppelt beweisen / sagte mein Vater“, eine Aussage, die Bände spricht und vermutlich auf so gut wie jeden Migranten zutrifft. Obwohl beide aus Deutschland kommen, sehen sie sich trotzdem nicht als Deutsche: „Auf die Frage, ob ich Deutscher bin, / kann ich in jedem Falle sagen, dass ich gerne in Deutschland bin“ heißt es in ihrem Lied.

    Immigrants (we get the job done) – K´NAAN

    Immigrants, ursprünglich geschrieben im Rahmen des äußerst erfolgreichen US-amerikanischen Musicals „Hamilton“, beschreibt die Migrationserfahrung von Menschen in den USA. Ein großer Teil der Immigrant*innen in den USA stammt aus den spanischsprechenden Ländern Amerikas, weshalb auch ein Teil dieses Liedes auf Spanisch ist. K´NAAN kommt ursprünglich aus Somalia und ist später nach Nordamerika immigriert. Viele seiner Songs behandeln das Thema Migration, so auch das Lied „coming to America“, in dem er seine eigene Migrationsgeschichte erzählt.

  • curry on! Podcast: Generation 1 – 100 Jahre in Deutschland

    In der ersten Folge von “Generation 1” erzählt ⁠Walid Malik⁠ von seiner 100-jährigen Familiengeschichte in Deutschland. Denn 1923 kam sein Urgroßonkel Malik Ghulam Farid als einer der ersten Imame der Ahmadiyya aus Britisch-Indien nach Berlin. Ein Jahr, in dem Hitler versucht, die Weimarer Republik zu stürzen. Ein Jahr, in dem die Hyperinflation steigt und Minderheiten zur Zielscheibe werden. Ein Jahr, was unweigerlich Parallelen zu unserer heutigen Demokratie aufzeigt.

    Wie sah das Leben von Walids Urgroßonkel in dieser Zeit aus? Vor welchen Herausforderungen standen die muslimischen Gemeinden und andere marginalisierte Communities in Berlin? Und was macht das Suchen, Forschen und Archivieren mit Walid persönlich?

    Bei „Generation 1“ stehen die Erfahrungen von Migrant*innen und Geflüchteten der ersten Generation, die aus Südasien in den deutschsprachigen Raum eingewandert sind, im Fokus. Wir sprechen mit ihnen und ihren Nachkommen über die Migration, das Ankommen und das Bleiben.

    Walids Projekt auf Instagram

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  • Daniela Sepehri: Stimme für eine gerechte Welt

    Daniela Sepehri, 25 Jahre alt, aus Paderborn und in Berlin lebend, ist eine vielseitige Freiberuflerin. Als Social Media Managerin, Journalistin, Moderatorin, Speakerin und Poetry Slammerin engagiert sie sich nicht nur leidenschaftlich für eine feministische und antirassistische Gesellschaft, sondern setzt sich auch für die Menschen im Iran sowie eine menschenrechtsgeleitete Migrationspolitik ein.

    Zusammen mit ihren Kolleginnen Mariam Claren und Mina Khani hat sie bei der NGO HÁWAR.help das Patenschaftsprogramm für politische Gefangene im Iran ins Leben gerufen. „Bisher konnten wir mehr als 440 Patenschaften vermitteln, darunter die Abgeordnete des Bundestags, Landtags und das Europaparlament. Auch zivile Organisationen wie Fridays for Future Deutschland und die ver.di-Jugend haben bereits erste Patenschaften erhalten“, erklärt sie.

    Daniela Sepehri wählte den Weg in die Selbstständigkeit als Social Media Managerin, da sie frustriert über die Art war, in der viele Politiker*innen in den sozialen Medien agierten. „Es ärgert mich, dass so viele Politiker*innen eine schlechte Präsenz in den sozialen Medien haben. Transparenz und gute Kommunikation sind heute essenziell, und Kommunikation funktioniert einfach nicht mehr ohne die sozialen Netzwerke“, betont sie. Diese Unzufriedenheit mit der digitalen Repräsentation der Politik trieb sie an, ihre Expertise in der digitalen Kommunikation zu nutzen.

    Ihre Fähigkeiten in diesem Bereich setzte sie erfolgreich in ihrem Aktivismus ein, insbesondere bei ihrem langjährigen Einsatz für Menschenrechte im Iran. Dabei liegt ihr Fokus auf der Situation von Christ*innen und Frauen. Seit dem Mord an Jina Mahsa Amini im Jahr 2022 hat sich ihr Engagement weiter intensiviert. „Es ist mir ein Anliegen, im Netz über Themen aufzuklären, die oft zu wenig Beachtung finden. Bereits 2019 erkannte ich Instagram als mein wichtigstes Werkzeug für diese Arbeit. Mein Weg in den digitalen Aktivismus begann damit und hat sich seit der “Frau Leben Freiheit”-Bewegung sowie im Offline-Aktivismus noch weiter vertieft“, berichtet sie.

    „Kommunikation funktioniert einfach nicht mehr ohne die sozialen Netzwerke“

    Die Bedeutung von Online- und Offline-Aktivismus betont sie, während sie sich gleichzeitig für die Förderung von Bewusstsein über unterrepräsentierte Themen einsetzt. Ihre Haltung zeigt, wie digitale Medien nicht nur als Werkzeug, sondern als zentraler Kanal für sozialen Wandel fungieren können.

    Daniela Sepehri sieht im Streben nach „Weltfrieden“ eine treibende Kraft für ihr Engagement. „Das mag zwar utopisch und naiv klingen, aber ich erinnere mich daran, dass ich mit 14 oder 15 Jahren meinen Eltern erklärte: ‚Ich gehe jetzt in die Politik.‘ Schon damals wollte ich einen demokratischen Iran und ein Ende des Rassismus in Deutschland. Das waren hohe Ziele … Auch, wenn ich damals noch nicht genau wusste, was es bedeutet, ‚in die Politik zu gehen‘, hat mich stets der Wunsch nach einer gerechteren Welt motiviert, mich gesellschaftlich zu engagieren“, fügt sie hinzu.

    Ihrer festen Überzeugung nach liegt die größte Kraft zur Gestaltung der Politik in der Zivilgesellschaft. „Das bezieht sich nicht nur auf alle vier Jahre an der Wahlurne, sondern auch dazwischen”, betont sie. „Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass es unsere Pflicht ist, uns aktiv in die Gesellschaft einzubringen“, merkt sie an.

    Diese Aussage von Daniela Sepehri unterstreicht ihre Überzeugung von der Verantwortung jedes Einzelnen, sich aktiv an der Gestaltung der Gesellschaft zu beteiligen. Es zeigt ihr starkes Engagement für soziale Veränderungen und verdeutlicht, dass sie nicht nur denkt, sondern auch handelt, um ihre Vision einer gerechteren Welt zu verwirklichen.

    „Ich beschäftige mich viel mit Iran, unserer Migrationspolitik, Rassismus und Feminismus. Im Grunde beschäftigt mich im Alltag alles Mögliche zum Thema Menschenrechte. Sei es Afghanistan, Gaza, Israel, Belarus, der Genozid an den Uiguren in China, an den Armenier*innen in Bergkarabach oder die Hinrichtungen in den USA.“sagt sie

    „Es ist unsere Pflicht, uns aktiv in die Gesellschaft einzubringen“

    „Meine Eltern haben mich immer bei allem unterstützt, vor allem mein (gesellschafts-)politisches Engagement. Ich komme aus einer sehr politischen Familie. Meine Eltern mussten ihre Heimat 1997 verlassen, weil mein Vater zum Christentum konvertiert war und deshalb verfolgt wurde. Das hat mich schon sehr früh politisiert.“

    Diese persönliche Offenbarung von Daniela Sepehri zeigt, dass ihre Motivation und ihr gesellschaftspolitisches Engagement tief in ihrer Familiengeschichte verwurzelt sind. Die Unterstützung ihrer Eltern und ihre Erfahrungen mit der Flucht aufgrund von religiöser Verfolgung haben Daniala’s politische Sensibilität von frühester Kindheit an geprägt. Sie betont die individuellen Hintergründe, die oft die Triebkraft für Aktivismus und Engagement in der Gesellschaft bilden.

    Bereits in der Grundschule erkannte Daniela Sepehri, dass sie anders behandelt wurde, ohne damals den Begriff dafür zu verstehen: Rassismus. „Rassistische Mikroaggressionen begleiteten mich immer und überall, und ich hatte schon immer das Gefühl, ‚mehr leisten zu müssen‘, um gesehen und akzeptiert zu werden“, erklärt sie.

    Ihre persönlichen Erfahrungen mit Rassismus haben sie dazu motiviert, aktiv dagegen vorzugehen und Aufklärungsarbeit zu leisten. Dabei betont sie, dass eine Migrationsgeschichte eine Bereicherung darstellt. „Eine Migrationsgeschichte zu haben, kann nur bereichern“, unterstreicht sie. Diese Einsichten geben Einblick in ihre Motivation, gesellschaftliche Veränderungen voranzutreiben und gegen Diskriminierung anzukämpfen.

    Die Themen Flucht und Migration prägen sie persönlich, „da meine Eltern vor meiner Geburt geflüchtet sind.“

    „Eine Migrationsgeschichte zu haben, kann nur bereichern“

    „Mein Vater ist seit Jahren Pastor einer farsisprachigen Gemeinde in Paderborn, die Mehrheit der Gemeindemitglieder sind geflüchtet und als einzige, die damals fließend Deutsch sprach, habe ich bei Briefen und Behördengängen in der Übersetzung unterstützt. Und dabei ist mir schon sehr früh aufgefallen, wie zutiefst ungerecht und rassistisch unser Migrationssystem ist.“

    Die persönlichen Einblicke von Daniela Sepehri, insbesondere durch ihre Unterstützung bei Behördengängen für eine farsisprachige Gemeinde, verdeutlichen ihre kritische Sicht auf das Migrationssystem. Ihr frühes Bewusstsein für Ungerechtigkeiten und Rassismus in diesem System prägt ihre Haltung.

    „Statt dass es in Deutschland aber besser wird, erleben wir derzeit, wie rechte Sprache mittlerweile selbst bei Parteien der sogenannten Mitte und selbst ernannten linkeren Parteien Alltag geworden ist, wie unser Bundeskanzler und unsere Bundesinnenministerin rassistische Politik umsetzen und im Grunde den Rechten die Arbeit abnehmen“, sagt sie.

    „Die Perspektive der Betroffenen fehlt“

    Ihre Besorgnis über die aktuelle Entwicklung in Deutschland, in der rechte Sprache sogar bei als Mitte oder links geltenden Parteien Einzug hält, sowie die Umsetzung rassistischer Politik durch führende politische Figuren, verdeutlichen ihre Kritik an der aktuellen politischen Landschaft. Ihre Worte zeugen von einer klaren Haltung gegenüber der zunehmenden Normalisierung rechter Diskurse und Handlungen in der politischen Mitte.

    In den öffentlichen Diskussionen betont Daniela Sepehri, dass ihr „die Perspektive der Betroffenen“ definitiv fehlt. Ihrer Meinung nach sollten die Mitglieder der Bundesregierung sich intensiver mit dem Leben geflüchteter Menschen auseinandersetzen, „indem sie sich beispielsweise einen Monat ehrenamtlich in einer Geflüchtetenunterkunft engagieren“. Sie regt an, den Alltag von Geflüchteten zu erleben, sei es in Unterkünften oder an den europäischen Außengrenzen, wo viele unter oft prekären Bedingungen leiden.

    „Sie sollten mal für eine Woche an der belarussischen Grenze mit den Geflüchteten den Alltag verbringen, sich einmal Geschichten derer hören, die an den europäischen Außengrenzen in Haftzentren mit Elektroschocks gefoltert wurden. Und damit meine ich nicht die zweistündigen Ausflüge, die sie hier und da mal machen für Pressefotos. Ich meine, sie sollen wirklich die Lage mal nachempfinden.“

    Für sie geht es darum, dass politische Entscheidungen nicht über die Köpfe der Menschen hinweg getroffen werden sollten. Sie fordert ein tieferes Verständnis seitens der Entscheidungsträger, indem sie tatsächlich die Lebensrealität der Betroffenen nachempfinden. Ihre Kritik zielt darauf ab, dass die Sicht der Betroffenen in politischen Debatten zu selten Gehör findet und dass mehr Handlungsnähe und Empathie seitens der Verantwortlichen notwendig sind.

    „Ich meine, sie sollen wirklich die Lage mal nachempfinden“

    „Ich weiß, wie es ist, Kind von Geflüchteten zu sein. Zwar haben meine Eltern immer alles versucht, damit ich ein möglichst unbeschwertes Leben habe und nichts von allem mitbekomme, aber ich habe gesehen, wie die Abschlüsse meiner Eltern nicht anerkannt wurden und sie sich jahrelang in Leiharbeit für einen Hungerlohn erkämpfen mussten, was sie jetzt haben. Ich weiß, wie es ist, jeden Cent dreimal umdrehen zu müssen.

    Ich habe meine Mutter leiden gesehen, die ihre Familie verlassen musste, die ihre Heimat vermisst. Ich habe gesehen, wie mein Vater beruflich komplett von vorne anfangen musste. Ich kenne die Geschichten, die mein Vater aus seiner Heimat erzählt. Wie er verfolgt, inhaftiert, gefoltert wurde. Ich kenne die Geschichten meiner anderen Familienmitglieder, die fliehen mussten. Freund*innen, die fliehen mussten. Ich kenne ihre Geschichten und weiß, dass die Lage in ihren Heimaten unfassbar brutal war. Dieses Wissen reicht, um mit einer Selbstverständlichkeit mich für eine menschenrechtsgeleitete Migrationspolitik einzusetzen.“ fügt sie hinzu.

    „Ich weiß, wie es ist, Kind von Geflüchteten zu sein“

    Die persönlichen Erfahrungen von Daniela als Kind von Geflüchteten geben ihrem Einsatz für eine menschenrechtsgeleitete Migrationspolitik eine tiefgreifende Bedeutung. Die Schilderung der Herausforderungen, die ihre Eltern meistern mussten, verleiht ihrer Stimme eine Authentizität, die weit über theoretische Konzepte hinausgeht. Ihr Engagement ist durch ein tiefes Verständnis geprägt, das auf realen Geschichten von Verfolgung, Leid und Neuanfang beruht.

    Deshalb setzt sie sich leidenschaftlich für Menschenrechte ein, „unabhängig von deren Herkunft, Ideologie, Geschlecht, sexueller Orientierung oder eventuellen Beeinträchtigungen“. Ihr Engagement erstreckt sich auf jeden, der für seine Rechte eintritt.

    Die Motivation für ihren fortwährenden Kampf schöpft sie aus der Stärke der Betroffenen. „Die Kraft von Betroffenen“, wie sie betont, inspiriert sie dazu, nicht nachzulassen. Besonders beeindrucken sie die Jugend im Iran und die Frauen, die trotz der drohenden Gefahren von Inhaftierung, Folter und Mord weiterkämpfen. „Wenn jemand sein Leben aufs Spiel setzt, um grundlegende Menschenrechte zu erkämpfen, dann ist es meine Pflicht, von meinen Rechten Gebrauch zu machen, um sie zu unterstützen. Ich habe dieses Privileg, und das muss ich nutzen“, erklärt sie.

    „Die Kraft von Betroffenen inspiriert mich“

    Mit Blick auf die Herausforderungen, die mit ihrem Engagement einhergehen, gibt sie einen Rat fürs Leben: „Wenn du Hater hast, liegt das nicht an dir als Mensch, sondern an deinem Erfolg. Wenn du dich für Menschenrechte einsetzt und dafür angegriffen wirst, hast du mit großer Wahrscheinlichkeit alles richtig gemacht.“ Diese klaren Worte zeugen von ihrer Entschlossenheit und ihrem Standpunkt.

    Abschließend lässt sich sagen, dass Daniela Sepehri nicht nur eine engagierte Aktivistin ist, sondern auch eine Stimme für diejenigen ist, die oft ungehört bleiben. Ihr vielseitiges Wirken und ihre Beharrlichkeit spiegeln sich in ihrem unermüdlichen Einsatz für eine gerechtere Welt wider.

     

  • Mehrnoush Ahmadi: Kreativität und Empathie

    Schon als Kind verstand Mehrnoush instinktiv, wie they sich in andere Menschen hineinversetzen konnte, um die eigenen Gefühle zu begreifen und Lösungen für Probleme zu finden. Diese Neigung, sich in andere einzufühlen und ihnen beizustehen, entwickelte sich während Mehrnoushs Jugend weiter, und dey strebte danach, einen positiven Einfluss auf das Leben anderer auszuüben.

    Mehrnoush Kindheit war geprägt vom ständigen Umziehen, da der Vater beim Militär war. Dies bedeutete, dass they keine tiefen Freundschaften schließen konnte und nie in einer stabilen Gemeinschaft lebte. „Ich hatte nie Wurzeln im Iran“, sagt Mehrnoush. Dennoch fühle dey sich immer noch als Iraner*in.

    Der Weg nach Kanada

    Die politische Lage und die Ablehnung der Eltern und Familie, die Mehrnoush als lesbische Person nicht akzeptierten, führten dazu, dass they das Heimatland verließ und woanders Wurzeln suchte. Im Alter von 23 Jahren wanderte Mehrnoush nach Kanada aus und begann dort ein Studium im Master für Sprachwissenschaften. Nach der Auswanderung aus dem Iran waren Mehrnoushs Eltern nicht in deren Entscheidungen eingebunden.

    Mehrnoush hatte nie geplant, Psycholog*in zu werden. Kunst war eine Leidenschaft von Mehrnoush, aber die Eltern waren nicht davon überzeugt und unterstützten they nicht auf diesem Weg. So studierte Mehrnoush Deutsch an der Universität Teheran. Doch trotz des Studienerfolgs spürte Mehrnoush, dass dey den wahren Lebensweg noch nicht gefunden hatte. Die Stimme im Inneren führte schließlich dazu, Psychologie zu studieren.

    Mehrnoush hat sich bemüht, die eigene „Familie“ aus Menschen auszuwählen, mit denen they eine gute Verbindung hat. Es war nicht immer erfolgreich, aber Mehrnoush hat ihr Bestes gegeben. Selbst in Kanada ist dey oft umgezogen und konnte nirgendwo Wurzeln schlagen.

    Nach 13 Jahren in Kanada musste Mehrnoush beruflich nach Berlin auswandern. In Deutschland kämpft they gegen das Gefühl der Entfremdung und die Diskrepanz zwischen der eigenen Kultur und der westlichen Gesellschaft. Dey sagt: „Ich wünsche mir einen Halt, eine Wurzel, ein Zugehörigkeitsgefühl“, das dey bis zum 38. Lebensjahr nicht erleben konnte.

    Mehrnoush beschäftigt sich intensiv mit dem Thema Traumata und setzt sich für soziale Gerechtigkeit und Frieden ein. They glaubt fest daran, dass die Bewältigung von Traumata die Welt verändern kann und dass Traumata einen großen Einfluss auf unsere psychische Gesundheit haben. Trotz gelegentlicher Verzweiflung und Depressionen hat Mehrnoush immer noch Hoffnung. 

    Beide Seiten des Gehirns

    Dey sagt: „Die Motivation, die mich antreibt, sind die kleinen Erfolge, die ich sehe, wenn Menschen ihre Traumata überwinden und ein glücklicheres Leben führen. Ich sehe auch die Energie und Entschlossenheit junger Menschen, die für Gerechtigkeit und Freiheit kämpfen, insbesondere in Ländern wie dem Iran.“

    Mehrnoush glaubt an die Bedeutung des emotionalen und des analytischen Gehirns und wie sie zusammenarbeiten, um in sicheren Räumen zur Ruhe und Kreativität zu gelangen. They denkt, dass Menschen die besten Ergebnisse erzielen, wenn sie beide Teile ihres Gehirns nutzen: „Wenn du beide Seiten deines Gehirns aktivierst, kannst du deine Kreativität und Empathie besser fördern.“

    „In öffentlichen Diskussionen über Flucht und Migration fehlt oft die Betonung der psychischen Gesundheit und des Traumas, das viele dieser Menschen erlebt haben. Es ist wichtig, diese Aspekte stärker zu berücksichtigen.“ Durch die eigene Erfahrung der Flucht aus dem Iran kann Mehrnoush die emotionalen und sozialen Herausforderungen von Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten, besser verstehen. Dies half they, Einfühlsamkeit für Geflüchtete und Migrant*innen zu entwickeln.

    Queerness und Migration

    Als queere Person mit Migrationshintergrund hat Mehrnoush selbst Diskriminierung und Vorurteile erlebt. Diese Erfahrungen haben die Sensibilität und das Verständnis für die Herausforderungen, vor denen queere Migrant*innen stehen, vertieft und they dazu motiviert, in diesem Bereich tätig zu werden.

    „Es ist wichtig, die positiven Auswirkungen der Migration in den Aufnahmeländern anzuerkennen. Migration kann kulturellen Austausch, wirtschaftlichen Beitrag und soziale Vielfalt fördern. Viele Migrant*innen bringen wertvolle Fähigkeiten und Qualifikationen mit sich. Das Thema sollte in der öffentlichen Diskussion ausgewogen betrachtet werden, und nicht nur die negativen Aspekte sollten im Fokus stehen“, sagt Mehrnoush. Zuletzt wünscht dey sich Freiheit und Verständnis, nicht nur für Gleichgesinnte, sondern auch für Nicht-Gleichgesinnte, denn nur so kann Frieden herrschen.

    *Dey/they sind Pronomen, die u.a. von nicht-binären Menschen genutzt werden.

    Wenn du mehr zu den Themen Queerness & Migration erfahren möchtest, behalte die Veröffentlichungen unserer zu.flucht-Redaktion im Auge.

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