Schlagwort: Migration

Im Deutschland

  • A Dry Mouth – Miteinander statt Gegeneinander, Bewegung statt Stillstand

    Die Fenster stehen offen, Regen prasselt auf den Betonboden eines fast leeren Raums. Das kahle weiß der Wände wirkt steril, fast trotzig. Auf dem Boden: Objekte, die nicht erklären wollen, was sie sind. Ist das eine Leiter? Holz? Metall? Ich stehe im mittleren von drei Räumen. Sie bilden die Ausstellung „A Dry Mouth“ im Hamburger Frappant e.V., einer Zusammenarbeit von Razan Sabbagh, Remi Alkhiami und Laura Mahnke.

    Der Raum, aus dem ich komme: rot. Der Raum, der vor mir liegt: grau. Gerade als ich mich umdrehe – weg vom Fenster, hin zu dieser fast-Leiter –, passiert es: Das Regenprasseln schwillt plötzlich stark an. Ich drehe mich um – das Geräusch kommt nicht mehr nur von draußen. Aus zwei kleinen schwarzen Lautsprechern, ein riesiges leuchtend blaues Kissen flankend, strömt Ton. Und was für einer. Der Regen wird zum Fluss, zur Welle, zur Flut. Stimmen mischen sich unter das Wasser – Nachrichtenschnipsel, Warnungen, Zitate: “Migration Wave”, “Decolonization”, “Crisis” wiederholt, mal verzerrt, mal geflüstert, mal fast geschrien. Es ist der erste von vielen Momenten in dieser Ausstellung, in denen ich denke: Ich verstehe nicht ganz, was ich bei dem Sonic Essay von Razan Sabbagh „Bodies of Waves“ sehe und höre – aber ich fühle etwas. Später erfahre ich, genau das ist die Idee.

    Ein Titel voller Dissonanz

    Der Ausstellungstitel „A Dry Mouth“ weckt Assoziationen von Trockenheit, Sprachlosigkeit, Staub – und steht im Kontrast zur sinnlichen Klangflut, die einen empfängt. Genau diese Reibung ist beabsichtigt: Der trockene Mund steht symbolisch für Erschöpfung, für das Gefühl, in der politischen Gegenwart nichts mehr sagen zu können. Die Ausstellung versteht sich als Gegenflut – aus Klang, Bewegung, Erinnerung und politischen Impulsen.

    Ziel ist nicht sofortiges Verstehen, sondern emotionales Erleben: Irritation, Empathie, Unruhe, Nähe. Die Kunst stellt Fragen und gibt keine Antworten. Sie will berühren und anregen, zeigen: Auch ein trockener Mund kann Wellen schlagen.

    Drei Künstlerinnen – drei Perspektiven

    Razan Sabbagh und Remi Alkhiami kommen aus Syrien, Laura Mahnke aus Deutschland. Was sie eint, ist das gemeinsame Bedürfnis nach solidarischem Miteinander – nicht trotz, sondern wegen ihrer unterschiedlichen Biografien. Sie fragen: Wie können wir einander zuhören? Was bedeutet Solidarität in einer politischen Dürre?

    Im ersten Raum, dem roten, fällt ein großformatiges Textilbanner ins Auge: „Decolonization looks good on white walls“ steht in kräftigem Rot auf schwarzem Stoff. Daneben, auf dem Boden, präsentiert Laura Mahnke rätselhafte Fake-Lederabdrücke keramischer Objekte – reduziert, fast bizarr. Razan sagt über Laura: „Sie hat diese Illusion in ihrer Arbeit: Man guckt drauf und weiß nicht so recht: Was ist das, was ich da sehe?“ 

    Im mittleren, weißen Raum arbeitet Razan mit Ton, Sprache und Klang. Ihr Werk hat politische Tiefe, ist poetisch und vielschichtig. In ihrem „sonic essay“ verarbeitet sie historische Tonquellen, Medienbilder und die Kritik an Kolonialismus zu einer vielstimmigen Klanginstallation. Ein Lied aus den 1920ern, gesungen von versklavten Menschen in den USA als geheimes Signal zur Flucht, bildet einen der vielen Ankerpunkte. „Wade in the water“ wird zur Erinnerung an Widerstand.

    „Scheinwort“, 2025, Material Dimensions, Razan Sabbagh.

    Remi Alkhiami erzählt über Kopfhörer ihre Fluchtgeschichte. Ihre Arbeit berührt durch Stille und Reduktion – und die leise Präsenz von Verlust. Symbolisch steht auf dem Boden eine Holzschublade aus Syrien, die nur zwei Gegenstände enthält: einen Schlüssel und einen syrischen Pass. Remi erzählt, dass dieser Schlüssel für sie lange einen Garanten der Rückkehr bedeutete, als sie vor Jahren gezwungen war, ihr Zuhause in Syrien zu verlassen.

    "Der Schlüssel", 2021, Remi Alkhiami. Wooden Drawer, Syrian Passport, keys, Audio in Arabic and German
    „Der Schlüssel“, 2021, Remi Alkhiami. Wooden Drawer, Syrian Passport, keys, Audio in Arabic and German

    Im grauen Raum treffen zwei Arbeiten aufeinander: Razans „Walk for it“ und Lauras „Clouds II“. 2022 ging Razan auf die Straßen Hamburgs und projizierte den Satz „I can’t believe I’m still protesting this shit.” auf die Straßen und lief hinter ihm her. Für dieses Projekt hat sie 100 Fotografien aus dem Internet zusammengetragen, die handgefertigte Schilder mit dem Satz „I can’t believe I’m still protesting this fucking shit!“ zeigen – ein Spruch, der bei Protesten für Frauenrechte, Menschenrechte, LGBTIQ-Rechte und verschiedenste Befreiungsbewegungen weltweit verwendet wurde. Nach dem Sammeln der Bilder digitalisierte sie die Fotografien, schnitt den Originaltext sorgfältig aus und platzierte ihn auf farbige Hintergründe. Für Razan geht es vor allem ums Gehen, ums Lautwerden: „Ich spaziere mit all diesen Sätzen, geschrieben von Menschen, die vor mir protestiert haben. Damit zeige ich ihnen Respekt.“ Razan erzählt, dass der Satz sehr offen ist und die Leute auf der Straße zu ihr kamen und gefragt haben, wofür sie protestiere. Jede*r habe den Satz anders interpretiert. Einer dachte, sie protestiere gegen die Invasion Russlands in die Ukraine, der nächste dachte, sie demonstriere für Frauenrechte. „Jeder hat etwas Anderes gesehen. Es sind die unterschiedlichsten Diskussionen entstanden und das ist das Tolle.“, sagt Razan. 

    Daneben breitet sich Lauras „Clouds II“ als gewaltige Pfütze über den Boden aus. Es ist verflüssigtes Porzellan, das langsam trocknet und Risse bekommt. Auch ihre Arbeit soll eine Projektionsfläche für verschiedene Perspektiven sein und auf Transformation verweisen. Ihre zweite Arbeit, „A Dry Mouth“, lehnt daneben an der Wand und zeigt eine rötliche, organisch wirkende Masse. Bei längerer Betrachtung wirkt es tatsächlich wie ein Mund. Für Laura steht dahinter die Botschaft: „Take the stage“ – auch wenn es schwerfällt. Ein Sinnbild für das Sprechen trotz Angst.

    „A Dry Mouth“, 2025, Laura Mahnke, Stoneware, red iron dust 10 x 14 x 4 cm

    Wasser als Metapher für Migration

    Wasser zieht sich als Leitmotiv wie ein Fluss durch die Ausstellung – als Klang, Bild und Projektionsfläche. Die Künstlerinnen greifen es instinktiv auf – als Kontrast zur politischen Trockenheit. Razan analysiert kritisch das von Medien geprägte Bild von Migration, das stark mit Wasser assoziiert ist: Flüchtlingswelle, Flut, Boote. In ihrem Klangessay stellt sie die Frage: Wie sähe unser Bild von Migration aus, wenn die Medien anders berichtet hätten?

    Sie verknüpft diese Sprache mit kolonialer Geschichte – etwa dem Suezkanal, einst Route des Imperialismus, heute Fluchtroute. Während Migrant*innen über Wasser nach Europa gelangen, transportieren Schiffe in entgegengesetzter Richtung Waffen. Wasser wird so zur Projektionsfläche – für Angst, Hoffnung, Macht und Widerstand.

    Solidarität als gelebtes Prinzip

    Kern der Ausstellung ist die Idee des Miteinanders. Solidarität erscheint nicht als große Parole, sondern als fragile, gelebte Praxis – durch Zuhören, durch Raum für vielfältige Stimmen.

    Auch in der Organisation zeigt sich dieses Prinzip: Statt sich an die etablierte Kunstszene zu wenden, laden die Künstlerinnen gezielt Menschen ein, die sonst wenig Zugang zu Kunst haben – etwa aus Frauenhäusern, Selbsthilfegruppen oder Geflüchteteninitiativen. „Kunst ist für alle“, sagt Razan, „nicht nur für eine Elite.“

    Die Ausstellung A Dry Mouth ist kein Erklärraum, sondern ein Erfahrungsraum. Keine fertige Botschaft – sondern ein „semi-fiktionales Rollfeld“, auf dem sich Realität und mögliche Zukünfte begegnen. Ihre Einladung: zuhören, mitfühlen, weiterdenken.

    Öffnungszeiten: samstags und sonntags 14-19 Uhr
    Workshop Automatisches Schreiben mit Laura Mahnke: Donnerstag 12.6., ab 18 Uhr
    Finissage mit Lesungen und Performances: 15.6., ab 16 Uhr

  • Wenn die Identität zum Verbrechen wird: afghanische Perspektiven nach der Tat in Aschaffenburg

    Als ich die Nachrichten über den Angriff eines afghanischen Asylbewerbers hörte, fühlte ich, wie etwas in mir zerbrach. Von diesem Moment an wusste ich, dass diese Nachricht unser Leben verändern würde. Der Nachrichtensprecher berichtete über die jüngste Entscheidung des deutschen Parlaments und erwähnte dabei, dass diese Entscheidung im Zusammenhang mit dem Angriff eines afghanischen Asylbewerbers auf Kinder in der Stadt Aschaffenburg stehe. Da ich meinen Sohn Kaihan kenne, weiß ich, dass er bald mit einer Reihe von Fragen auf mich zukommen wird. In Gedanken gehe ich die möglichen Fragen der nächsten Tage durch und überlege, wie ich die Last, die die Gesellschaft ihm für ein Verbrechen, das er nie begangen hat, aufbürden wird, verringern kann. Aber ich weiß, dass es fast unmöglich sein wird. Die Gesellschaft ist daran gewöhnt, in solchen Fällen zu verallgemeinern und die Grenze zwischen „uns“ und „den anderen“ deutlich zu ziehen.

    Am nächsten Tag sieht mich Kaihan mit entschlossenem Gesicht und zusammengezogenen Augenbrauen an und sagt mit einer Stimme, die von Sorgen durchzogen ist: „Papa, wann gehen wir nach Afghanistan zurück?“ Ich weiß, dass ihn diese Frage die ganze Nacht beschäftigt hat und dass diese Worte das Ergebnis all seiner Analysen sind. Seine Frage besteht aus nur sechs Worten, ist aber direkt und präzise. Doch in meinem Kopf spielt sich ein ganzes Buch ab, und als ich antworten will, finde ich keine Worte.

    Kurz darauf zeigt mit ein Freund eine Nacheicht auf seinem Handy. „Sieh mal“, sagte er und seufzt, „das ist die Nachricht, die ich gestern Abend bekommen habe. Er hat geschrieben, dass er nicht mehr zu uns nach Hause kommen kann.“ Seine Hände waren fest ineinander verschränkt, und ich konnte nichts dazu sagen. Der Freund hatte geschrieben: „Wenn wir uns noch einmal treffen, dann sicher nicht mehr in deinem Haus, sondern draußen.“

    Am nächsten Tag sprach meine Frau mit ihrer syrischen Freundin, die sagte, dass sie früher jeden Abend spazieren ging, aber jetzt aus Angst vor den Reaktionen von Extremisten nicht mehr den Mut dazu hat, das Haus zu verlassen. Wenn du jetzt auf die Straße gehst, sind die Blicke schwerer als je zuvor. Jeder Schritt, den ich mache, fühlt sich an, als würden unsichtbare Steine auf mich geworfen. Manchmal ändere ich meinen Weg und nehme längere, aber ruhigere Strecken. Es ist, als hätte ich selbst akzeptiert, ein Verbrecher zu sein, der sich von der Öffentlichkeit fernhalten muss.

    Ich denke an Politiker*innen, die anstatt die realen Probleme zu lösen, lieber die Schuld auf uns schieben. Politiker*innen, die anstatt die Wirtschaft zu reformieren und die Energiekrise zu bewältigen, Migrant*innen als Sündenböcke benutzen. Sie erinnern mich an die afghanischen Politiker*innen!

    Der Tod eines Menschen ist vielleicht das Bitterste, was der Menschheit widerfahren kann, und es gibt kaum Worte, die die Schrecken und das Leid ausdrücken können, wenn jemand ein Kind tötet. Meine Gedanken wandern zurück zu den tragischen Momenten in Aschaffenburg. Plötzlich hallten wieder Schüsse in meinem Kopf, und ich erinnerte mich an das Weinen der Mütter, das das Lächeln der Neugeborenen ersetzt hatte, Mütter, die selbst im Blut lagen. Es war im Jahr 2020, als Terroristen in eine Entbindungsstation in Kabul eindrangen und 24 neugeborene Babys und schwangere Frauen töteten sowie 16 weitere Menschen verletzten. Die Gesellschaft war schockiert, aber unsere Kinder waren zum Sterben verurteilt, weil wir angeblich für demokratische Werte kämpften – etwas, das für die Extremisten als Ketzerei galt und dessen Auslöschung ihnen den Weg zum Paradies ebnen sollte.

    Kabul liegt vielleicht Tausende von Kilometern entfernt, aber Angst und Hass kennen keine Grenzen. Jetzt, hier in Deutschland, fließt dieselbe Angst durch meinen Geist.

    Menschen, unabhängig von ihrer Hautfarbe oder Nationalität, können überall auf der Welt Opfer von Gewalt werden. Ich denke mir: Vielleicht sind die Eltern dieses ermordeten marokkanischen Kindes ebenfalls vor solchen Gräueltaten geflohen, um in Deutschland eine sichere Zukunft aufzubauen. Doch nun ist dieses unschuldige Kind nicht mehr unter uns. Laut Polizei war der Täter kein Terrorist, sondern eine psychisch kranke Person, die aufgrund von Mängeln oder Versagen im Gesundheitssystem unbeaufsichtigt blieb. Das soll die individuelle Verantwortung des Täters nicht mindern, aber es stellt die Frage: Hätte diese Tragödie verhindert werden können, wenn der Täter rechtzeitig die notwendige Behandlung erhalten hätte?

    Da ich Sozialwissenschaften studiere, setze ich meine soziologische Brille auf und frage mich: Ist dies die „moralische Panik“, die ich an der Universität lerne? Aber wenn du selbst im Zentrum davon stehst, ist es mehr als nur ein wissenschaftlicher Begriff – du spürst die Bitterkeit in jedem Blick, jedem Flüstern und jeder Schlagzeile.

    Für mich ist es jedoch die populistische Politik der Politiker*innen, die alles dem Machtstreben opfert, die unerwartet bitter ist. Dies ist nicht das, was ich in Deutschland erwartet hatte. Die Politiker*innen kennen die andere Seite der Medaille. Sie wissen, dass Verbrechen individuell sind und die Unschuldigen nicht darunter leiden sollten.

    Doch trotzdem predigen sie Hass. Sie wissen genau, dass ihre Worte und die Erwähnung der Nationalität eines Verbrechers Unschuldige gefährden können, und dennoch wählen sie die einfache, gefährliche Rhetorik.

    Ich frage mich: Wird mein Kind irgendwann glauben, dass es allein wegen seiner afghanischen Herkunft schuldig ist? Solche verinnerlichten Schuldgefühle könnten dazu führen, dass sich die nächste Generation ebenfalls nicht integrieren kann.

    Die Geschichte hat uns wiederholt gezeigt, dass populistische Politiker*innen Krisen nutzen, um Feindbilder zu schaffen. Von den Jüd*innen im Deutschland der 30er bis zu den heutigen Migrant*innen – das Opfern von Minderheiten wird als einfache Lösung präsentiert. Wie lange müssen wir noch die Last einer Schuld tragen, die wir nie auf uns geladen haben? Vielleicht wird eines Tages Kaihan selbstbewusst auf der Straße spazieren gehen, ohne sich vor den schweren Blicken fürchten zu müssen.

    Aber dieser Tag erfordert Veränderung – eine Veränderung, die heute beginnen muss und von Menschen getragen wird, die nicht auf die populistischen rechten Politiker*innen hereinfallen und an die menschlichen Werte glauben.

     

  • Zwischen Jurastudium und Küche: Orwas Erfahrung auf dem Arbeitsmarkt

    Im Klassenzimmer, mit einer Gruppe von jungen Männern und Frauen aus verschiedenen Ländern, saß Orwa und lernte Deutsch. Es brachte Erinnerungen von vor zwanzig Jahren zurück. In einer Klasse wie dieser lernte er in der weiterführenden Schule in seiner Heimat Syrien. Nach der weiterführenden Schule träumte er davon, in den Anwaltsberuf einzusteigen und tatsächlich studierte er Rechtswissenschaften an der Universität Aleppo, schloss sein Studium an der Universität mit hervorragenden Noten ab.

    Orwa Al Sousis Werdegang

    2017 kam Orwa Al Sousi aus Syrien nach Deutschland, nach 20 Jahren Studium und Arbeit in Syrien. Als 2011 die syrische Revolution ausbrach, beteiligte er sich an Demonstrationen gegen das Regime und wurde in einem Staatssicherheitsgefängnis festgenommen. Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis reiste Orwa nach Ägypten und arbeitete drei Jahre lang in einem Restaurant als Hilfskoch.

    Er gelangte über ein Programm der Vereinten Nationen nach Deutschland. Nach seiner Ankunft erhielt er eine Aufenthaltserlaubnis; er konnte ein B2-Zertifikat erlangen. Nach dem Ende des Sprachkurses begann der Kampf um die Arbeit.

    Zunächst hatte Orwa sich um eine Anstellung als Verkäufer beworben, und als Zugfahrer, bekam aber keine der Stellen. Danach arbeitete er eine Probezeit bei der Deutschen Post, doch die Arbeit war schwierig und er konnte sie nicht weiterführen. Dies zwang ihn, sich schnell einen Job zu suchen, der weder eine Ausbildung noch gute Sprachkenntnisse erforderte. Er entschied sich für die Arbeit als Reinigungskraft in einem Hotel und arbeitete dort zweieinhalb Jahre lang, konnte aber nicht weitermachen und gab den Job danach auf.

    Danach konnte Orwa sein Jurastudium in Bonn ergänzen: Er erlangte ein Zertifikat, das einem Bachelor-Abschluss entspricht. Er versuchte zunächst, als Anwaltsgehilfe bei einem deutschen Anwalt in den Anwaltsberuf einzusteigen, was ihm jedoch nicht gelang, da die Arbeit im als Anwaltsgehilfe eine lange Ausbildung erforderte. Sprach- und Kommunikationsschwierigkeiten waren zusätzliche Erschwerungen.

    Er war mit seiner Arbeit nicht zufrieden und arbeitete nur um der Arbeit willen, um nicht arbeitslos zu bleiben.

    Derzeit arbeitet er Vollzeit in einem Restaurant und versucht, sich weiterzuentwickeln und neue Dinge in der deutschen Küche zu lernen. Gleichzeitig versucht er immer noch, einen Job zu finden, der mit seinem Jura- oder Journalismusstudium vereinbar ist.

    Vor welchen Herausforderungen stehen Migrant*innen?

    Orwa ist einer von zehntausenden Migrant*innen, die über Universitätsabschlüsse in ihren Herkunftsländern aus verschiedenen Fachrichtungen, in Medizin, Pharmazie, Ingenieurwesen, Lehramt und vielen mehr verfügen. Sie haben viele Jahre Berufserfahrungen in ihren Ländern, stehen aber vor Hindernissen. Sie stoßen auf Hürden und finden auf dem deutschen Arbeitsmarkt keinen geeigneten Platz für sich.

    Einige der am häufigsten ausgewählten Berufe für Migrant*innen in Deutschland sind die Altenpflege und die Arbeit im Reinigungsbereich, ebenso Arbeit in Restaurants, im Sicherheitsdienst und Paketvertrieb. Ein Führerschein ermöglicht die Arbeit im Transportwesen: in der Lebensmittellieferung, als Fahrer*innen bei Unternehmen und in Unternehmen des öffentlichen Verkehrs.

    Viele Herausforderungen im deutschen System und auf dem Arbeitsmarkt halten Migrant*innen davon ab, in ihrem angestammten Beruf zu arbeiten. Ein großer Teil von ihnen ist gezwungen, einen neuen Beruf zu erlernen, verbringt mehrere Jahre damit und kann darin keinen Erfolg haben. Im Vordergrund dieser Herausforderungen steht die Vermittlung der deutschen Sprache, gleichzeitig ist das Erlernen der Sprache ist die größte Schwierigkeit. Migrant*innen erlernen viele Jahre lang die deutsche Sprache, doch vor allem für Ältere gestaltet sich dies schwierig. Mit der Zeit vergessen Migrant*innen aufgrund mangelnder Übung die gelernte deutsche Sprache, da meiner Erfahrung nach viele keine sozialen Beziehungen zu deutschen Muttersprachler*innen haben.

    Auch gibt es meiner Einschätzung nach Schwierigkeiten bei der Integration zwischen Migrant*innen und der einheimischen Bevölkerung, die Schwierigkeit, ihre Anwesenheit in einigen Berufen zu akzeptieren, die die Landsleute als ihre eigenen betrachten. Wenn sich ein*e Migrant*in und ein*e Einheimische*r um dieselbe Stelle Ort bewerben, werden oft die ursprünglichen Einwohner des Landes vor der migrantischen Person akzeptiert. Vor allem migrantische Frauen werden eher abgelehnt. Auch haben muslimische Frauen aufgrund des Tragens des Hijab mit Schwierigkeiten bei der Beschäftigung zu kämpfen.

    Für weitere Schwierigkeiten sorgen komplexe bürokratische Voraussetzungen. Darüber hinaus werden einige Zertifikate und Universitätsabschlüsse in Deutschland nicht anerkannt.

    Die meisten Berufe in Deutschland erfordern eine Ausbildung, die Dauer und erstreckt sich über drei Jahre, hinzu kommt ein Zeitraum von etwa zwei Jahren Deutschunterricht. Diese Jahre kommen im Leben von Migrant*innen zusätzlich zu den Jahren der Bildung und Ausbildung im Herkunftsland, und viele von ihnen wechseln deshalb in Berufe, für die keine Ausbildung erforderlich ist.

    Dann ist da noch die Schwierigkeit, eine Wohnung in der Nähe des Arbeitsplatzes zu finden, insbesondere in Großstädten, in denen sich Unternehmen und Fabriken befinden. Migrant*innen sehen sich gezwungen, Arbeitsangebote abzulehnen, da sie keine Unterkunft in der Nähe finden können. Auch bei der Bewerbungen an sich berichten Migrant*innen über Schwierigkeiten. Bewerbungsschreiben über elektronische Portale einzureichen, sowie die große Anzahl von Fragen in Formularen, das Anfordern von PDF-Dateien und Bildern in verschiedenen Größen und Formaten, die der Antragsteller möglicherweise nicht bereitstellen kann, kann sich problematisch gestalten.

    In einer Zeit, in der Fachkräfte gebraucht werden, und versucht wird, diese für hohe Kosten aus dem Ausland anzuwerben, gibt es gleichzeitig Hunderttausende Migrant*innen mit Erfahrungen in diesem Land, die die Gesetze verstehen und Arbeit brauchen.

    Und Orwa? Er steht immer an der Seite der Mitarbeiter*innen in der Küche, wenn es Probleme am Arbeitsplatz gibt; er erinnert den Chef daran, Gerechtigkeit zu üben und die Bedingungen des Vertrags umzusetzen, den die Arbeiter*innen vor der Arbeit unterzeichnet haben.

     

     

     

  • Mit offenen Augen auf Sarah warten

    Ich war keine gewöhnliche Puppe, die ruhig auf dem Regal in der Ecke von Sarahs Zimmer saß. Ich war an ihrer Seite, bei ihren Sorgen und Freuden. An den Tagen, an denen ihre Freunde sie in der Schule neckten, umarmte mich Sarah und weinte. Manchmal weinte ich mit ihr, aber sie verstand es nicht.

    Sarah und ich sind zusammen, seit Sara neun Jahre alt ist. Ihr Vater hat mich ihr gegeben. Ich war an all ihren Geburtstagen bei ihr und habe von jedem Geburtstagskuchen Bilder im Kopf.

    Aber jetzt ist es, als hätte sie mich vergessen, als hätte ich nie existiert. Alles geht auf den Tag ihrer Auswanderung zurück. Als sie ihr Studium in Deutschland fortsetzte, nahm sie ihren Koffer, ihre Bücher und ihre persönlichen Gegenstände mit. Ich auf dieser Reise kein Passagier.

    Ich wusste die ganze Zeit nicht, ob es Sarah gut ging oder nicht. Ich konnte nur die Ohren offenhalten, um zu hören, was sie am Telefon sagte, wenn sie mit ihrer Familie telefonierte. Einmal war Sarahs Mutter hier und putzte ihr Zimmer und Sarah rief per Videoanruf an. Ich neigte meinen Kopf, um Sarah zu sehen, doch ich fiel vom Regal und kann meine Augen seitdem nicht mehr schließen. Jetzt warte ich mit offenen Augen auf Sarah, doch es wird sich lohnen.

    Letzte Woche erzählte Sarahs Vater ihrem Onkel, dass sie zwei Wochen freihat und nach Hause kommen wird. Ich freue mich wirklich darauf, Sarah wiederzusehen.

    Ich finde Migration seltsam. Man muss alles in einen Koffer packen und losfahren. Aber passt denn alles Wichtige in nur einen Koffer? Was ist mit den Eltern und der Familie? Wo hast du deine Freunde gelassen? Da war selbst für mich, ihrer Kindheitspuppe, kein Platz.

    Ich warte immer noch mit offenen Augen darauf, dass Sarah kommt, aber wird unsere Beziehung, trotz all der Veränderungen, dieselbe sein? Liebt Sarah mich immer noch so sehr wie zuvor, oder hat sie in ihrem neuen Zuhause vielleicht eine neue Puppe gefunden, die gesund ist und nicht immer die Augen offen hat?

    Als sie mich verließ, nahm sie mir all mein Glück.  Vielleicht ist dies das Merkmal der Migration, für alle, die weit entfernt sind von ihren Lieben.

     

     

    Dieser Text ist im Schreibtandem entstanden. Lies hier mehr über das Projekt – vielleicht möchtest auch du mitmachen?

  • Zukunftsvisionen der Migrationspolitik

    Einen Tag, nachdem die AfD bei den Europawahlen auf fast 16 % kommt und damit bundesweit zweitstärkste, teilweise sogar stärkste Partei ist, sitze ich in einem Vortrag des Bildungswerks Berlin der Heinrich-Böll-Stiftung zur Veranstaltungsreihe „Es geht auch anders! Visionen für eine Migrationspolitik der Zukunft“. Von den gestrigen Wahlergebnissen bin ich niedergeschlagen, deswegen erhoffe ich mir von den versprochenen Zukunftsvisionen viel, ähnlich wahrscheinlich die ca. 60 anderen Teilnehmer*innen, die zeitgleich mit mir im Zoom-Call sitzen.

    Doch einfache Antworten gibt es nicht. „Wo bleiben die Visionen?“, fragt nach 20 Minuten ungeduldig jemand im Chat und gibt damit das allgemeine Stimmungsbild wieder und die Sehnsucht nach einem Mittel gegen die Ohnmacht, die viele von uns gerade spüren. Konkrete Handlungsanweisungen werden wir auch am Ende des Vortrags keine an die Hand bekommen. So einfach ist es leider nicht. Aber ich habe viele Anregungen mitbekommen, Migrationspolitik, Gesellschaft und Solidarität nochmal neu zu denken.

    Die zweite Ausgabe der Veranstaltungsreihe beschäftigt sich mit dem Thema Solidarität. Dazu sprechen die Gastdozent*innen Prof. Dr. Manuela Bojadžijev und Dr. Bernd Kasparek vom Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) der Humboldt-Universität zu Berlin. Beide sind auch Teil des Projekts Transforming Solidarities, das untersucht, welche solidarischen Praktiken etabliert und wie diese verfestigt und reproduzierbar gemacht werden können. Moderiert wird der Vortrag von Geraldine Mormin von der Heinrich-Böll-Stiftung aus Sachsen-Anhalt.

     

    „Solidarität verändert nicht nur die Gesellschaft, sondern die Gesellschaft verändert auch Solidarität“

    Solidarität wird bei Transforming Solidarities doppelt gedacht: Solidarität verändert nicht nur die Gesellschaft, sondern die Gesellschaft verändert auch Solidarität. Migration sei in diesem Sinne nur ein Faktor, der darauf aufmerksam mache, welche gesellschaftlichen Strukturen noch nicht gut funktionierten, wo Handlungsbedarf bestehe. Schlussendlich wirft Migration gesellschaftliche Fragen auf, die wir uns auch auf gesellschaftlicher Ebene beantworten müssen. Fragen nach bezahlbarem Wohnraum, nach Zugang zu Bildung, Zugang zu Kinderbetreuung, Gesundheitsversorgung und Freizeitangeboten wie Schwimmbädern und Büchereien. Diese Fragen gelte es solidarisch zu beantworten. Denn die Verantwortung für mangelhafte Strukturen liegt nicht bei den Migrant*innen, so wie es rechte Parteien gerne propagieren, sondern bei der Gesellschaft als Ganzes.

    Dass Solidarität Menschen etwas wegnehme und man nur solidarisch handeln könne, wenn quasi finanzielle Mittel über wären, das ist ein Trugschluss, so Bernd Kasparek. Die historische Erfahrung zeigt, dass Solidarität sich gerade dann bildet, wenn Personen fast nichts mehr zu verlieren haben. Der Diskurs darüber, nichts abgeben zu wollen und die Angst davor, etwas zu verlieren, das sei eigentlich ein Diskurs der Mittelklasse und genau dort ergebe sich auch verstärkt das Wähler*innenpotential rechter Parteien.

     

    “Migration ist keine Ausnahme, sondern ein Kontinuum”

    Bernd Kasparek betont, dass Investitionen in Strukturen des Ankommens notwendig sind. Investitionen in ihren Aufbau und ihren Erhalt. Um zu verdeutlichen, was passiert, wenn eine Infrastruktur lange Zeit vernachlässigt wird, zieht er das Beispiel der Deutschen Bahn heran. Hieran wird für jede*n offensichtlich, wie wichtig es ist, bestehende Infrastrukturen aufrechtzuerhalten.

    Bisher hat man nach einem großen Zuwachs an Migration wie in den Jahren 2015 oder 2022 die dafür aufgebauten Strukturen aber schnell vernachlässigt und wieder abgebaut. Dabei wird die Tatsache verkannt, dass Deutschland eine Migrationsgesellschaft ist und das nicht erst seit 2015. „Migration ist keine Ausnahme, sondern ein Kontinuum“, sagt Manuela Bojadžijev dazu. Es gibt in Deutschland keine konstante Gesellschaft, sondern durch Abwanderung und Zuwanderung setzt sie sich ständig neu zusammen.

    Historisch gesehen ist Migration aber nicht dadurch aufgehalten worden, dass man Mauern baut, so Manuela Bojadžijev. Sie hat dazu einen pragmatischen Ansatz: Wenn Migration sowieso kontinuierlich stattfinden wird, wie die Wissenschaft es zeigt, dann wäre es doch besser, diese Tatsache dazu zu nutzen, die Gesellschaft als Ganzes zu demokratisieren und zu verbessern, anstatt Migration weiterhin als Ausnahme-Phänomen zu behandeln und dagegen anzukämpfen.

     

    “Deshalb müssen wir uns genau jetzt dafür einsetzen, damit sich die Geschichte nicht wiederholt” 

    Bernd Kasparek zieht als bestes Beispiel für gelungene Migration Europa heran. „Einzigartig in der Geschichte der Menschheit“, nennt er das, was wir 1993 mit der Gründung der Europäischen Union geschaffen haben. Dass nun Frieden herrscht auf einem Kontinent, der davor 500 Jahre lang miteinander im Krieg gelegen hat, sei schon eine herausragende Errungenschaft. Das gelte es, sich wieder ins Bewusstsein zu rufen: „Deswegen müssen wir uns genau jetzt dafür einsetzen, damit sich die Geschichte nicht wiederholt.“

    Was wäre eigentlich, wenn Menschen mit Migrationshintergrund nicht mehr Teil der deutschen Gesellschaft wären, so wie rechte Parteien sich das wünschen? Was würde mit unserer Gesellschaft passieren? Die Antwort liegt eigentlich klar auf der Hand, wenn man sich die Zahlen dazu ansieht. Ein Land wie Deutschland braucht eine Einwanderung von 300.000 bis 400.000 Personen pro Jahr, um überhaupt weiterhin bestehen zu können, sagt Bernd Kasparek.

    Ein Drittel der Menschen in Deutschland hat Migrationshintergrund, davon viele teils in systemrelevanten Berufen, so hat zum Beispiel mehr als ein Viertel aller Ärzt*innen in Deutschland Migrationshintergrund und mehr als ein Fünftel der Pflegekräfte. Besonders hoch sind die Zahlen in der Altenpflege, wo fast ein Drittel der Erwerbstätigen einen Migrationshintergrund hat. Allein dieser kleine Einblick in Berufe des Gesundheitswesens zeigt, dass das sowieso schon heruntergewirtschaftete Gesundheitssystem völlig zusammenbrechen würde, wenn diese Menschen nicht mehr Teil von Deutschland wären.

     

    Paradoxe Effekte von Migration

    Unsere Gesellschaft braucht Migration, sie ist ohne gar nicht zum Überleben fähig. Das wird deutlich am Fachkräftemangel und daran, dass auch rechte Parteien mit der Zuwanderung von Fachkräften keine Probleme haben. Doch hier zeigt sich ein gefährliches Denkmuster, dass Menschen in verschiedene Klassen einteilt. Eine Hierarchisierung von Personengruppen widerspricht allerdings unserem Grundverständnis von Demokratie. Artikel 3 unseres Grundgesetzes besagt: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ Das gilt auch für Migrant*innen. „Es kann durch die Gesellschaft keine klare Linie gezogen werden“, so Bernd Kasparek.

    Ein anderes Selbstverständnis von Migration wird in populistischen Diskursen herangezogen, das besagt, dass „alle kommen, wenn wir die Grenzen öffnen“. Aus historischer Sicht ist das aber falsch, so Manuela Bojadžijev. Die Wissenschaft sagt dazu nämlich etwas anderes. Paradoxerweise steigt die Migration genau dann an, wenn Einwanderungsbestimmungen restriktiver werden und pendelt sich nach einem kurzen Anstieg der Zahlen relativ schnell ein, wenn die Einwanderungsbestimmungen toleranter werden. Um diese Informationen in öffentliche Diskurse zu bringen, ist es wichtig, dass in Diskussionen über Migrationspolitik Menschen zur Sprache kommen, die sich auch tatsächlich mit dem Thema auskennen, betont Bernd Kasparek.

     

    Gemeinwohlorientierte Stadtteilgesundheitszentren

    Wie es richtig gehen kann, zeigt das Stadtteil-Gesundheits-Zentrum Neukölln in Berlin. Dort wird eine Form von Gesundheitsvorsorge praktiziert, die darauf achtet, soziale Faktoren in die Behandlung mit einzubeziehen und psychische und physische Aspekte von Gesundheit zu kombinieren. Auch in Hamburg gibt es meines Wissens nach schon ein ähnliches Projekt, und zwar die Poliklinik Veddel, wo gesellschaftliche Diskriminierungsstrukturen wie Rassismus oder Diskriminierung aufgrund von Gender als soziale Faktoren für Krankheit mitgedacht und in die Behandlung mit einbezogen werden.

    Wer den Vortrag jetzt selbst nachhören will, kann sich auf die für Herbst geplante Vertonung der Vorträge in Form einer Podcast-Reihe freuen, die von der Heinrich-Böll-Stiftung auf ihrer Internetseite veröffentlicht wird. Oder sich hier kostenlos für den nächsten Vortrag aus der Reihe mit dem Stichwort Gender am 10. September 2024 mit Gastdozentin Dr. Helen Schwenken anmelden.

  • „Als der Krieg begann, war ich meinen Träumen nahe“

    Der 26. Juli 2021. Meine Schwester ist krank. Ich bin bei ihr im Krankenhaus. Als wir nach Hause zurückkehren, beginnen die Angriffe der Taliban. Ich betrete voller Angst das Haus. Der Kriegslärm ist schrecklich. Nachts schreibe ich zuhause eine Geschichte. Sie ist kurz und handelt vom Krieg, der endet. Doch morgens wache ich auf und der Krieg ist nicht gelöst.

    Ich bin Mubin Hakimi, 26 Jahre alt und komme aus Afghanistan. Ich habe mein ganzes Leben in Afghanistan gelebt. Ich habe in Afghanistan Usbekische Literatur studiert und im Bereich Medien, Kultur und Soziales gearbeitet. Ich hatte viele Pläne für die Zukunft, die durch die Invasion der Taliban in meinem Land in nur einem Moment zerstört wurden; ich wollte mein Studium abschließen und in den Medien auftreten. Doch dann konnte ich nicht mehr weiter studieren und auch nicht als Moderator im Fernsehen arbeiten. Ich wollte Universitätsprofessor werden. Ich habe sogar davon geträumt, einen Radiosender zu eröffnen und viele Programme zu produzieren.

    Ich war meinen Träumen nahe, als der Krieg begann und ich ein Migrant wurde. Ich habe mich ehrenamtlich in einer deutschen VUSAF-Schule in Afghanistan engagiert. Ich habe dort mehr als vier Jahre in verschiedenen Abteilungen mit jungen Leuten gearbeitet. Nach Beginn des Krieges kam ich in Zusammenarbeit mit deutschen Kollegen aus Pakistan nach Deutschland. Ich lebe jetzt seit zwei Jahren in Hamburg.

    Vor dem Krieg hat man mich immer in der Bibliothek gefunden

     

    Ich vermisse meine Familie sehr. Durch Kriege werden tausende Familien voneinander getrennt. So auch meine. Meine Familie ruft mich immer an und sie unterstützen mich und meine Arbeit. Meine Mutter ist Hausfrau, mein Vater hat einen freiberuflichen Job. Ich habe vier Schwestern und einen Bruder. Meine Schwester lebt mit mir in Deutschland. Mein Bruder studiert und arbeitet in Amerika. Ich versuche, dafür zu sorgen, dass meine Familie in einer guten Atmosphäre lebt und keine Sorgen haben muss.

    Ich versuche immer, ein erfolgreicher Mensch zu sein. Meine Familie spielt eine große Rolle für den Erfolg meines Lebens und ich hoffe, dass ich sie bald wiedersehen kann. Die vielen Erinnerungen geben mir Kraft. Meine Eltern sind immer bei mir und alles, was ich in Deutschland unternehme, macht sie glücklich und stolz.

    Ich möchte die Pläne, die ich in Afghanistan hatte, in Deutschland fortführen. Erstens möchte ich mein Deutsch verbessern. Ich möchte in deutschen Medien und Zeitungen aktiv sein, sprechen und schreiben. Ich möchte anderen Menschen mit Migrations- und Fluchtgeschichte helfen. Ich möchte mich weiterhin ehrenamtlich bei Institutionen aus den Bereichen Kultur und Soziales engagieren.

    Und ich möchte weiter schreiben. Schriftsteller zu sein, ist ein wichtiger Teil meines Lebens. Vor dem Krieg hat man mich immer in der Bibliothek gefunden. Als der Krieg begann, konnte ich nicht mehr hingehen. Alles war geschlossen. Die Taliban sind in die Bücherhallen und Schulen eingedrungen. Ich fühlte mich zu Hause einsam. Das einzige Hobby für mich war das Schreiben.

    Als ich nach Deutschland kam, schrieb ich mein erstes eigenes Buch. Es ist die Geschichte meiner Migration. Ich erzähle darin über die Situation afghanischer Jugendlicher und Frauen, den Krieg und andere Probleme. Ich wünschte, es würde auf Deutsch übersetzt und gedruckt werden. Ich möchte mehr Bücher schreiben und in der deutschen Gesellschaft aktiv sein.

    Ich glaube an meine Träume

     

    Aktuell ist die Situation in Afghanistan, insbesondere für Frauen und Mädchen, nicht gut. Schulen und Universitäten sind für sie geschlossen. Auch die wirtschaftliche Lage ist immer noch nicht gut. Manchmal gibt es in Kabul und anderen Großstädten Auseinandersetzungen und Angriffe. Viele junge Menschen sind arbeitslos und wollen Afghanistan verlassen. Ich habe auch von einigen Fragen dazu bekommen, wie man nach Europa kommen kann. Sie halten die schlechten Bedingungen in Afghanistan nicht mehr aus, sie möchten in einer freien Gesellschaft leben und ihre Meinung offen äußern.

    Ich bin in Hamburg nicht sonderlich in der afghanischen Community aktiv. Manchmal nehme ich an afghanischen Kulturprogrammen teil. Doch politisch kann ich mich nicht engagieren, weil meine Familie eben noch zum Teil in Afghanistan lebt. Dabei wünsche ich mir sehr, dass sich die Lage vor Ort verbessert.

    In meiner neuen Heimat hier in Deutschland fühle ich mich wohl. Migration ist nicht das Ende des Lebens. Ich möchte mein Leben fortsetzen und in meinem zweiten Land, Deutschland, erfolgreich sein. Ich glaube an meine Träume. Vielleicht klappt es nicht direkt morgen. Aber ich weiß, dass ich es schaffen kann.

     

  • WEICHENSTELLUNG: Ein Gespräch übers Ankommen

    Liza, Andrii, Sofiia und Anzhelika aus der Ukraine, Nikolai aus Russland und Melisa aus der Türkei sind zwischen 14 und 18 Jahre alt. Sie sind noch nicht lange in Deutschland und gehen in die 9. und 10. Klasse am Louise Weiss Gymnasium im Hamburger Stadtteil Borgfelde. In ihrer Zeit in der Internationalen Vorbereitungsklasse und beim Übergang in die Regelklasse begleitet das Mentoring-Programm WEICHENSTELLUNG der ZEIT STIFTUNG BUCERIUS die sechs Schüler*innen. Gemeinsam mit ihrer Mentorin Isabel schauen sie hier auf die letzten Monate zurück. Wie war ihr Ankommen in Hamburg? Was bedeutet Schule für sie? Und wie war ihre Zeit im Mentoring-Programm?

    Isabel: Liza, vor einem Jahr etwa hast du deinen Koffer gepackt und bist nach Hamburg gezogen. Welcher Gegenstand musste unbedingt mit?

    Liza: Ich glaube, ich habe Chips mit Käsegeschmack eingepackt. Die von meiner Lieblingsmarke gibt es nämlich in Deutschland leider nicht. Und meine Meerschweinchen. Und natürlich ukrainisches Essen. Das fehlt mir sehr.

    Melisa: Stimmt, das Essen fehlt mir auch. Ich würde heutzutage kleine Gurken einpacken. In meinem Salat in Deutschland fehlen Babygurken!

    Isabel: Als du dann in Hamburg angekommen bist: Wie wurdest du von den Hamburger*innen begrüßt?

    Liza: Meine Erfahrung ist, dass alle Hamburger*innen, die ich getroffen habe, sehr nett und hilfsbereit sind.

    Melisa: Das war auch meine Erfahrung. Hamburger*innen sind hilfsbereit und respektieren alle Perspektiven und Gedanken.

    Anzhelika: Bei mir war es ein bisschen anders. Ich bin im Winter nach Deutschland gekommen. Im März. Aber März, das ist doch Frühling!, werdet ihr jetzt sagen, aber damals war so kaltes Wetter wie im Winter. Es lag Schnee.

    Alle Leute sind uns mit verschiedenen Emotionen begegnet. Einige waren total nett. Sie haben uns mit vielen Sachen geholfen – im Job-Center registrieren, zur Schule gehen und so weiter. Aber wir haben auch nicht so gute Menschen getroffen. Zum Beispiel: Meine Mutter musste ins Krankenhaus. Sie hat versucht, mit der Ärztin auf Englisch zu sprechen. Aber die Ärztin sagte, dass wir bereits seit drei Monaten in Hamburg sind und die deutsche Sprache schon besser können sollten. Das fand ich doof.

    Isabel: Das glaube ich dir! Und wie war es für dich, Sofiia?

    Sofiia: Für mich war mein Anfang in Hamburg hart, weil wir sehr viel umgezogen sind.

    Isabel: Habt ihr manchmal Heimweh?

    Nikolai: Ich fühle mich manchmal in der neuen Umgebung einsam. Ich vermisse die Stadt, aus der ich komme, die Menschen und manchmal weiß ich nicht, wer ich selbst bin.

    Andrii: Ich vermisse meine Heimat auch. Ich mag sie sehr. Ich kann dort coole Sachen machen, die ich in Deutschland nicht machen kann. In der Ukraine war ich dabei, Jäger zu werden. Das ist hier nicht oder anders möglich. Das fehlt mir.

    Melisa: Ich vermisse mein Haus, die Nachbar*innen und die Straße, in der mein Haus steht.

     Isabel: Ihr habt mir erzählt, dass ihr euch schnell an das Wetter in Hamburg gewöhnen konntet. Wie ist es mit dem Essen?

    Andrii: Da fällt mir sofort etwas ein! Ich mag keine deutschen Knödel, weil sie ohne Fleisch oder eine andere Füllung schrecklich sind.

    Nikolai: Das ist doch so lecker.

    Sofiia: Ich vermisse Popcorn mit Käse im Kino.

    Andrii: In der Ukraine gibt es auch Popcorn mit Karamell.

    Liza: Und wir haben einen sehr, sehr leckeren Krabbensalat ohne Krabben.

    Sofiia: Da sind Fischstäbchen drin.

    Isabel: Ich verstehe, in der Ukraine sind die Kartoffelknödel mit Fleisch und der Krabbensalat ohne Krabben! Ihr beschreibt aber auch, dass ihr die Menschen aus eurer Heimat vermisst. Wie haltet ihr Kontakt zu euren Freunden und Freundinnen?

    Melisa: Wir sprechen leider nicht mehr wie früher und hören unsere Stimmen. Aber wir schicken uns gegenseitig lustige Videos. Früher haben wir alle dieselben Erfahrungen gemacht, weil wir immer zusammen in der Schule waren. Jetzt sind wir alle in unterschiedlichen Situationen, deshalb gibt es viele Dinge, über die wir sprechen und schreiben können.

    Sofiia: Ich habe eine ukrainische Freundin. Sie heißt Lena. Sie wohnt jetzt in München. Wir haben uns zweimal getroffen. Einmal bin ich nach München gekommen und einmal haben wir uns in Nürnberg getroffen. Auch über soziale Netzwerke bleiben wir in Kontakt.

    Liza: Alle meine Freunde sind in der Ukraine. Wir telefonieren fast jeden Tag und senden uns Nachrichten.

    Nikolai: Meine zwei besten Freunde und ich haben eine gemeinsame Chat-Gruppe.

    Anzhelika: Ich nutze immer Social Media, wenn ich mit meinen Freundinnen und Freunden aus der Ukraine sprechen möchte.

    Isabel: Nach eurer Ankunft in Deutschland habt ihr alle angefangen, eine neue Sprache zu lernen. Man sagt: Sprachen sind der Schlüssel zu Kulturen. Was fällt euch dazu ein, wenn ihr an eure neue Zweitsprache Deutsch denkt?

    Melisa: Ja, ich stimme dem Spruch zu. Es ist wichtig, schnell die Sprache zu lernen. Die deutsche Sprache hat eigene Wörter, die es in anderen Sprachen und Ländern nicht gibt. Und Deutsch klingt für mich immer offiziell und ernst. Ich mag die deutsche Sprache.

    Liza: Ich glaube auch, dass es immer gut und wichtig ist, eine neue Sprache zu lernen. Ich bin froh, dass ich die Möglichkeit dazu habe.

    Anzhelika: Ich glaube, ich denke ein bisschen genauer darüber nach, was ich sage, wenn ich Deutsch spreche. Dadurch wird das, was ich sage, disziplinierter.

    Isabel: Liza, du hast mir von einem ukrainischen Sprichwort erzählt. Es lautet: ‚Die Schule ist dein zweites Zuhause‘. Kannst du mir das erklären?

    Liza: In der Schule verbringen wir fünfmal in der Woche mehr als den halben Tag. Manchmal verbringen wir in der Schule mehr Zeit als zuhause. Da ist es sehr wichtig, dass die Schule uns gefällt, dass wir uns wohl fühlen.

    Melisa: Ich finde das auch. Wir sind so lange in der Schule. Es ist wichtig, dass sich die Schüler*innen wohlfühlen.

    Isabel: Auch Schulen können dazulernen. Nikolai, hast du ein paar Tipps?

    Nikolai: Mir fehlt ein Raum zum Liegen und Entspannen.

    Anzhelika: Mehr Ausflüge.

    Nikolai: Schönere Bänke.

    Melisa: Ein Unterricht nur für den Wortschatz und für das Lesen.

    Isabel: Ich stelle mir die Umgewöhnung bei eurer Ankunft in Hamburg sehr groß vor. Wie war das vor einem Jahr für euch?

    Andrii: Sprachen kann ich gut lernen. Mein Problem war zu Beginn, dass ich keine Freunde hatte. Deshalb war diese Zeit am schwierigsten für mich.

    Melisa: Es war aber nicht so schwierig, neue Freunde zu finden, weil alle in der Klasse neu waren. Ich denke, dass viele Leute miteinander befreundet sein wollten. Manchmal gab es leider keine verständliche Kommunikation.

    Sofiia: Ja, es war schwierig zu verstehen, was andere Leute zu einem sagen und Freunde zu finden.

    Anzhelika: Ich fand es auch schwierig, mich in der Schule zu orientieren.

    Nikolai: Es war okay.

    Isabel: Liza, du bist erst ein halbes Jahr nach den anderen in die IVK gekommen.

    Liza: Ja, aber ich hatte Glück. Ich konnte in meiner IVK-Klasse mit vielen Schülerinnen und Schülern aus der Ukraine reden. Wenn jemand nicht so gut Englisch und Deutsch spricht, kann man einfach nicht mit anderen kommunizieren. Eine Freundin erzählt mir immer, dass sie ihre Klasse nicht mag. Sie ist immer allein.

    Isabel: Was würdet ihr in einer solchen Situation tun, um Lizas Freundin zu helfen?

    Anzhelika: Ich würde versuchen, mit ihr eine gemeinsame Sprache zu finden.

    Sofiia: Ich würde ihr die Schule zeigen.

    Nikolai: Ich würde mit der Person freundlich reden und etwas zusammen machen.

    Melisa: Ja, wir könnten einen Spaziergang durch die Stadt machen. Dann könnte sie sehen, wie schön Hamburg ist.

    Liza: Ich würde mit ihr meine Lieblingsplätze anschauen. Und mein Tipp lautet: Bring auf jeden Fall einen Regenschirm mit!

    Sofiia: Wir könnten ihr auch das WEICHENSTELLUNG-Projekt vorstellen.

     Isabel: Wie würdest du ihr das Projekt beschreiben?

    Sofiia: Die Förderstunden helfen ihr, Deutsch zu lernen und sich auf die Prüfungen vorzubereiten. Manchmal kann man auch quatschen oder bekommt andere Hilfe. Es werden auch Ausflüge gemacht.

    Isabel: Stimmt! Mit dem Projekt WEICHENSTELLUNG hast du schon ein paar Kulturausflüge gemacht. Kannst du etwas darüber erzählen?

    Andrii:. Wir sind einmal spazieren gegangen. Ich habe mit den anderen gesprochen und viel über das Leben der anderen aus der Gruppe erfahren. Es war sehr interessant darüber zu sprechen. Wir waren auch mal in der Kunsthalle. Und im Zoo. Einmal waren wir bei Planten un Blomen und haben ein Quiz über Pflanzen gemacht.

    Melisa: Einmal gingen wir drei oder vier U-Bahnstationen zu Fuß. Wir haben uns die Graffiti an den Straßen angesehen und debattiert, ob Graffiti erlaubt sein sollen. Wir haben auch über Kunst in unserem Heimatland gesprochen.

    Liza: Mir hat am besten der Ausflug gefallen als wir im Kino waren. Wir haben einen deutschen Film gesehen. Das war toll. Wir waren auch mal im Planetarium.

    Über WEICHENSTELLUNG

    WEICHENSTELLUNG ist das Mentoring-Programm der ZEIT STIFTUNG BUCERIUS mit dem Ziel, junge Menschen zu stärken und chancengerechte Bildung zu ermöglichen, unabhängig von Herkunft und sozialem Hintergrund. Mehr unter www.weichenstellung.info

    Drei Bausteine gehören zum Mentoring-Programm:

    • WEICHENSTELLUNG für Viertklässler unterstützt seit 2013 Schüler*innen beim Übergang von der Grundschule auf das Gymnasium oder eine andere weiterführende Schule.
    • WEICHENSTELLUNG für Zuwandererkinder und -jugendliche begleitet seit 2015 Schüler*innen aus Zuwandererfamilien beim Übergang von der Internationalen Vorbereitungsklasse in die Regelklasse.
    • WEICHENSTELLUNG für Ausbildung und Beruf unterstützt in Hamburg (seit 2019) Jugendliche – mit und ohne (Neu-)Zuwanderungsgeschichte – in den Jahrgangsstufen 9 und 10 und in den Ausbildungsvorbereitungsklassen für Migranten (AvM) an den Beruflichen Schulen bei der Erreichung ihres Schulabschlusses, mit dem Ziel der Anschlussfähigkeit in die Ausbildung bzw. in einen weiteren Bildungsgang.

    Die Namen sind oben von links nach rechts.: Sofiia Yakovenko, Melisa Nur Yildiztekin, Yelyzaveta (Liza) Melnykova, Anzhelika Rusinova, die beiden Jungs (ebenfalls von links nach rechts) sind Nikolai Shluinskii und Andrii Andriushchenko.

  • Schätze der Entwurzelung

    „Wenn du denkst, dass du alles verloren hast, siehe Bäume an, die jedes Jahr ihre Blätter verlieren und sie bleiben trotzdem da und hoffen, dass es wieder gute Tagen kommen werden“  

    Dieser japanische Spruch hat mir Kraft gegeben. Ich weiß nicht, ob Bäume auch wie Menschen Gefühle haben. Aber wenn ein Mensch seine Heimat oder seine Lieblingssachen verliert, entsteht ein Gefühl von Leere. Das Gefühl der Leere kommt, weil ich meine Heimat verloren habe. Manchmal fühle mich so, als ob ich nichts habe. Als ob man mich beraubt hat. Automatisch falle ich in Opferhaltung.

    Ein Gedanke wie „Ich habe ja Nichts“ macht mich wütend und hilflos und erfüllt mich mit Hass zu manchen Deutschen, die ihre Verwandten, ihr Land haben, die es gemütlich haben und wenn sie sich immer wieder über Erkältung und Coronazeiten beschweren, denke ich, was für Schwächlinge sie sind; ich will dann zu solchen Menschen direkt sagen „ihr müsst mal erleben, was es bedeutet Alles hinter sich zu lassen und in einem fremden Land ein neues Leben aufzubauen“! Wie der Hauptheld meines Lieblingsfilmes „Avatar“, der auf einem Rollstuhl sitzt, in einer neuen Realität plötzlich neue Beine bekommt und sich an einem fremden Ort, mit einer fremden Kultur und mit fremden menschenähnlichen Wesen zurechtfinden muss.  

    Jeder Verlust hinterlässt ein Gefühl von Beraubtsein und erzeugt ein Bedürfnis, Dinge, Menschen, die noch da sind, zu kontrollieren. Aber das Leben nimmt immer wieder etwas weg, woran wir uns festhalten.

    Anfang Herbst habe ich mein Lieblingsstirnband verloren. Ich habe viele davon, aber dieses war das beste, weil es mir gut gepasst hat, und ich fühlte mich darin warm und sicher. Kurz danach habe ich in einem Café, neben dem Jungfernstieg meinen Lieblingsschal aus Seide und Kaschmir vergessen. Es ist mir eingefallen, als ich mich einen Kilometer von dem Café entfernt hatte. Ich habe innerlich Wut und Ärger auf mich selbst gefühlt. Aber ich ging weiter, weil ich zu müde war, um zurückzukehren. Ich habe mich mit dem Gedanken abgelenkt, dass ich heute vielleicht doch keinen Schal getragen habe.

    Ich wollte an der frischen Luft spazieren und ging an der Kleinen Alster entlang. Gedanken über Verluste gingen weiter. Ein unangenehmes Gefühl vom Verlust meines Schals strengte mich noch mehr an, als ich mich an den Verlust meines roten Stirnbandes erinnerte. Ich habe nachgedacht, warum es mir immer wieder passiert. Schon als Kind habe ich oft meine Mützen und Schals verloren. An solches Tagen bin ich ohne Mütze in die Schule gehen, bis meine Mutter oder jemand anderer es geschafft hatte, mir eine neue zu besorgen. Wenn es manchmal bis -20° war, habe ich gefroren. 

    Zur gleichen Zeit, als ich meinen Schal und Mütze verloren habe, hat auch meine Tochter ihre neue Mütze verloren. Ich habe sie unter Druck gesetzt, sie zu finden. Ich denke, wenn ihr Fahrrad gestohlen worden wäre, wäre ich nicht so verärgert, als wenn ihre Mütze oder Schal verloren gehen. 

    Schicksal der verschwundenen Mützen, Schals und Menschen und Heimat

    Zusammen mir meiner Heimat habe ich meinen zwei Jahre älteren Bruder auch verloren. Wir waren wie Zwillingsgeschwister. Als Kinder erlebten wir sehr viele Abenteuer. Wir haben uns in einem Kino, gegenüber unserer Wohnung, immer wieder heimlich hinter erwachsenen Besuchern versteckt und indische Filme geschaut. In den 90er Jahren waren sie die besten Filme in Kirgisistan. 

    In den Herbsttagen haben Straßenreiniger alle Blätter in einen Haufen gesammelt. Es entstanden Riesenberge aus Blättern, zu denen wir von weitem gerannt und mit voller Begeisterung hinein gesprungen sind! Es war ein großartiges Gefühl. Was für ein Segen, dass ich so einen Bruder hatte, der sich wie meine zweite Hälfte anfühlte. Nach dem ich nach Deutschland gegangen war, wollte er mit mir und der ganzen Familie keinen Kontakt haben. Seit 15 Jahren habe ich ihn nicht gesehen. 

    Wenn ich ihn nicht losgelassen hätte, wäre ich immer noch bemüht, ihn zu kontaktieren, wie ich es in ersten Jahren gemacht habe. Ich fühlte mich sehr schuldig, dass ich ihn verlassen habe. Ich habe zum Glück ihn doch längst losgelassen. Das ist mir gelungen, indem ich über ihn getrauert habe. Wenn ich diese verlorenen Dinge und Menschen verdrängt hätte, würden sie in meinem Körper wie ein Stück Fleisch wachsen und mich irgendwann richtig krank machen. Loslassen bedeutet, dem Leben zu vertrauen und Platz für neue Dinge und Menschen zu schaffen.

    Wenn es nicht passiert, bleiben Menschen erstarrt, weil sie ihre Lebensenergie nur zum Festhalten alter Dinge und Menschen aufwenden und sich gar nicht auf ihr jetziges Leben freuen können. Ich glaube, auch Dinge und Menschen wollen von uns losgelassen werden. Sie finden schon ihren eigenen Platz auf dieser Welt und kommen ohne uns zurecht. Nach diesen Erkenntnissen am Jungfernstieg habe ich entschieden, mich darin zu üben, mich nicht mehr über verlorene Dinge zu ärgern. Ich habe den schönen Schal losgelassen und bin nach Hause gefahren. Kurz danach habe mir ein neues schönes Stirnband und eine neue Mütze für meine Tochter gekauft. 

    Ich habe oft an meinem Bruder gedacht und ich habe mich gefragt, hat er mich auch so wie ich ihn vermisst? Ob er immer noch an mich denkt? Wie stellt er sich mein Leben in seinem Kopf vor?  

    Ich hatte Glück, dass ich über ihn Vorstellungen hatte: wie sein Haus aussieht, wo er arbeitet und wohnt. Die Stadt in der er lebt, kenne ich auch. All diese äußere Dinge sind unheimlich wichtig, um uns verlorene Menschen und ihr Leben vorstellen zu können. Es gibt uns dabei gewisse Sicherheitsgefühle. Ich glaube, das Schlimmste ist, wenn man sich nichts vorstellen kann. Ich bin für meinen Bruder, seine Schwester, die verloren gegangen ist. Die einmal nach Deutschland ausgewandert ist und seitdem hat er sie kaum gesehen. Ich bin davon überzeigt, dass er in den ersten Jahren ohne mich viel gelitten und mich vermisst hat, nicht weniger als ich ihn. 

    In den Jahren meines Lebens in Deutschland habe ich viele Freundschaften gehabt. Es waren meistens Freundinnen aus meinem Land. Als ich mich von meinem Mann getrennt habe, sind viele Paare, mit denen wir mit unseren Kindern viel unternommen haben, verschwunden. Ich war sehr traurig und ich habe Schuldgefühle empfunden. Jetzt weiß ich, dass diese Freunde selbst ziemlich wackelige Ehebeziehungen, bedingt durch Kinder und Gesellschaft, geführt haben und deshalb war ich in ihren Augen jemand, der etwas Falsches gemacht hat. Ich war aus ihrem Leben auch weg, ich habe mich auch viel zurückgezogen. Ich fühlte mich nicht mehr zu ihrem Leben zugehörig. Langsam habe ich neue Menschen empfangen, mit denen ich meine Werte teilen konnte. Meine Werte, die ich viele Jahren vergraben habe und wieder ausgegraben habe und endlich ist die Zeit gekommen, viele davon leben zu dürfen. Was für ein Luxus! 

    Ich hätte in Deutschland mit geschlossenen Augen weiterleben können, wenn mich meine Heimat vor fünf Jahren selbst nicht gerufen hätte. Ohne ihren Ruf wäre ich weiterhin in meiner Scheinheimat geblieben, mit einer Maske einer Deutschen, als Angestellte gearbeitet, verheiratet sein, hätte weitere Kinder bekommen und nur konsumiert. Die Heimat selbst, meine Wurzeln, haben mich so stark angezogen, dass ich zurück gegangen bin und der Stimme meiner Heimat zugehört habe. Sie hat mir vieles erzählt und mir ihren Segen gegeben. 

       Mein Gewinn durch Entwurzelung 

    Ich mag es, meine Vergangenheit immer wieder neu zu rekonstruieren. Das mache ich durch Schreiben, Nachdenken und Erzählen. In letzte Zeit kamen neue Erinnerungen, schöne Bilder aus der Vergangenheit, bestimmte Ereignisse, die ich schon vergessen habe. Es fühlt sich so an, als ob in mir sich eine neue Tür geöffnet hat, durch die ich nun kraftvolle Informationen aus der Vergangenheit bekomme. Es ist ein Schatz, weil diese Informationen, mir wieder Sicherheit und Verbundenheitsgefühl mit der Gegenwart gegeben haben.

    Ich war doch positiv überrascht, zu erkennen, wie wichtig es für mich war, mich von der Heimat zu entwurzeln. Dort wäre mein Leben einseitig. Das verstehe ich, wenn ich meine Landsleute ansehe, die dort leben und an Verlust ihrer Autonomie leiden. Wenn man keinen Raum und Platz für Selbstausdrück hat, weil man zu viele Verpflichtungen gegenüber der eigenen Familie und der Gesellschaft hat, wo man Druck hat, wie alle andere zu sein und als Frau stets für Harmonie zu sorgen und zu bemuttern, dann gelingt es niemandem, eigene Schätze zu finden und das nach außen zu zeigen. Je mehr ich schreibe und Dinge mache, die mich erfüllen, desto weniger  Sehnsucht nach mir selbst empfinde ich. So kann ich nur im Ausland leben.

    Durch Entwurzelung habe ich mich als Mensch erweitert und vergrößert. Diese Erkenntnis gibt mir Selbstzufriedenheit. Natürlich hat es seinen Preis, den ich immer noch bezahle. Meine Entwicklung in Deutschland hat mich erwachsener und größer als viele meiner Landsleuten gemacht. Das merkte ich sehr deutlich als ich dort im Sommer war. In der kirgisischen Gesellschaft wurde ich oft als eine „seltsame“, aber auch als eine „zu erwachsene Frau“ wahrgenommen. 

    Ich weiß ja, dass ich mich mit meiner Heimat verbunden fühlen kann, ohne dabei Anerkennung von Landsleuten zu haben. 

    Neue Identität bedeutet für mich, eine Stärke in mir zu haben, mal ein Gefühl der Einsamkeit auszuhalten. Dieses Gefühl kommt, wenn ich mich weder zu Deutschland noch zu Kirgisistan zugehörig fühle. Aber das ist eben ein Gefühl, das vorüber geht und es ist nicht die Realität selbst. Aufgabe dieser Gefühle ist, mir Angst zu machen und mich klein zu halten. Durch Kontakt mit diesen Gefühlen lerne ich, ihnen in die Augen zu schauen und sie zu beobachten. Ich muss nur diesen anstrengenden Zustand aushalten. Die Realität ist für mich in der Tat voll mit Möglichkeiten aber auch mit Menschen, die wie ich an Entwurzelung leiden und sich zwischen Kulturen oft fremd und einsam fühlen. Trotzdem, seit Jahrhunderten migrierten Menschen in andere ferne und fremde Länder, um sich zu erweitern und zu vergrößern. Wenn der Gewinn davon geringer als der Verlust wäre, wären sie in ihrem gemütlichen Nest geblieben. 

    Als Grundschulkind habe ich mir ein Spiel ausgedacht. Mit meinen besten Freundinnen haben wir auf den Straßen so getan, als ob wir nicht Einheimische sind, sondern Ausländer und wir sprachen eine fremde Sprache. 

    Als Kind mochte ich Geschichten erzählen, in denen immer  wieder gruselige Gestalten vorkamen. Friedhöfe, unsichtbare, fremde Figuren, die anderen „normalen“ Figuren Angst eingejagt haben. Wahrscheinlich war dieser unsichtbare Aspekt meines Ichs, mein jetziges Ich, das ich hier in Deutschland gefunden habe. Ich kann mir jetzt nicht vorstellen, wie ich ohne fremde, komische und magische Gesichter des Lebens leben kann. Hier und jetzt habe ich wieder Zugang zu diesem Aspekt in mir, weil ich die Freiheit habe, weil ich völlige innere Ruhe von der ganzen materiellen Welt haben darf und in mir ruhen kann. Dann kommt eine Zauberei des Lebens.

    Dafür lohnt es sich für mich, das Stirnband oder die Heimat zu verlieren!

  • Ein milliardenschwerer Deal – die migrationsnews von kohero

    Die Europäische Union hat einen milliardenschweren Deal mit dem Libanon abgeschlossen, um die Migration von syrischen Geflüchteten nach Zypern und in die EU einzudämmen. Angesichts der über 1,5 Millionen syrischen Geflüchteten im Libanon soll die finanzielle Unterstützung die Situation verbessern und legale Migrationswege offenhalten.

    Die EU-Kommission unter Ursula von der Leyen sicherte dem Libanon eine Milliarde Euro zu, um die Herausforderungen der Situation vor Ort anzugehen. Der Libanon, der seit Jahren unter Wirtschaftskrisen leidet und politisch instabil ist, soll die Mittel für die Stärkung seiner Streitkräfte sowie in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Soziales verwenden. Zudem sollen die libanesischen Sicherheitskräfte in Grenzsicherungsmaßnahmen unterstützt werden, um die Migration einzudämmen.

    Die EU betont außerdem ihr Interesse an der Verbesserung der Lebensbedingungen für syrische Geflüchtete im Libanon und wolle die Anreize für eine „gefährliche und illegale Migration in die EU“ verringern. Allerdings gibt es Bedenken hinsichtlich der effektiven Verteilung der finanziellen Hilfe und der potenziellen Stärkung korrupter Eliten im Libanon.

    Kritiker*innen wie der Migrationsforscher Gerald Knaus und Menschenrechtsorganisationen warnen vor den Risiken des Deals. Sie bemängeln die unzureichende Höhe der finanziellen Zusagen angesichts der schweren Krise im Libanon und befürchten, dass das Geld nicht den Bedürftigen zugutekommt. Zudem wird die Unterstützung der libanesischen Sicherheitskräfte kritisiert, die Geflüchteten loswerden statt unterstützen wollen würden.

    Der Deal mit dem Libanon ist Teil der Asylreform der EU, die darauf abzielt, Asylverfahren bereits an den Außengrenzen durchzuführen und „illegale“ Migration einzudämmen. Die EU hat bereits ähnliche Abkommen mit Staaten wie Ägypten und Tunesien abgeschlossen, die darauf abzielen, Migrationsströme zu kontrollieren und zu begrenzen.

    Die EU hofft, dass auch der Deal mit dem Libanon dazu beiträgt, den Zustrom syrischer Geflüchteter zu reduzieren und gleichzeitig die humanitäre Situation im Libanon zu verbessern. Allerdings bleiben die langfristigen Auswirkungen und die tatsächliche Umsetzung des Deals abzuwarten.

    Immer wenn ich von europäischen Deals höre, frage ich mich, ob Europa dieses Geld nutzen kann, um sich selbst zu schützen, oder ob es sich stattdessen in Schwierigkeiten bringt, indem es sich mit Diktatoren einlässt, die dann Europa mit geflüchteten Menschen erpressen könnten, ähnlich wie es Weißrussland getan hat? Und wer wird dieses Geld wie nutzen, um das Leben der syrischen Geflüchteten so zu verbessern, dass sie nicht mehr nach Europa kommen wollen?

     

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  • „Ich soll mich nicht entwickeln, nichts beisteuern und einfach nur die Arbeit ausführen“

    Doch es gibt es einen Wandel in der Arbeitskultur. Die jungen Generationen Y und Z wollen Flexibilität statt Sicherheit, Freiheit statt Wohlstand. Zu ihren Prioritäten gehören Freund*innen, Familie, soziale Gerechtigkeit, Toleranz, Diversität und Umweltbewusstsein. Junge Leute wollen sich nicht in kapitalistische Hierarchien zwängen lassen.
    Unsere Arbeitskultur muss sich anpassen an die Wünsche und Forderungen der Arbeitnehmenden, Diversität mit Offenheit begegnen und Kreativität einladen.

    Ich frage mich: Welche Erfahrungen sammeln Menschen mit Flucht- und Migrationserfahrungen auf dem deutschen Arbeitsmarkt? Unterscheiden sich diese Erfahrungen von den Erfahrungen aus ihrer Heimat/ anderen Ländern? Und welche Wünsche und Anregungen haben sie für eine moderne, vielfältige (oder offene?) Arbeitskultur?

    Im ersten Artikel zu der neuen Kolumne „Kultur der Arbeit“ erzähle ich über meine Arbeitserfahrungen und Beobachtungen in einem deutschen Staatsbetrieb und den Kontrast zu meinen Erfahrungen in Dänemark und Schweden. Besondere Probleme bereiten mir intransparente und irreführende Kommunikation, vertikale Hierarchien mit gläsernen Decken und mangelnde Solidarität.

    Persönlicher Hintergrund

    Vor 35 Jahren bin ich in Dänemark geboren, nah der Grenze zu Deutschland. Viele sind zweisprachig und pendeln oft von einem Land zum anderen, um die Vorzüge und Möglichkeiten des Nachbarlandes zu nutzen.

    In Malmö an der schwedischen Grenze zu Dänemark war es nicht anders. Das sehr urbane Grenzgebiet ist ein Ort der internationalen Migration, der Sprachen, der Mobilität und des Austauschs.
    Als demografisch junge Stadt hat sich Malmö in ihre neue Rolle eingefügt: von der verlassenen Industriestadt zu einer lebendigen, wirtschaftlich und kulturell starken und vielfältigen Metropole. Jede*r dritte Bewohner*in ist im Ausland geboren. Gleichberechtigung, Antidiskriminierung, Minderheitenrechte und öffentliche Teilhabe für alle sind Grundwerte der Stadtgemeinschaft.

    Vor knapp drei Jahren bin ich aus Malmö nach Hamburg gekommen. Erst durch meine Arbeit hier, in einem staatlichen Betrieb in mit ca. 600 Mitarbeiter*innen, habe ich erlebt, wie schwierig und zermürbend es sich anfühlt, wenn wohlwollende Offenheit als Voraussetzung keine Gegebenheit mehr ist. Wenn Kolleg*innen und Leitung Kompetenzen mit Misstrauen begegnen und Menschen für ihre Andersheit ausgrenzen, einfach weil sie es nicht beachten.

    Die Hierarchie

    Der erste Schock war der Ton unter den Kolleg*innen. Sogar in den Abteilungen gibt es strenge Hierarchien und ich merkte, dass mein Platz ganz unten ist. Wir Assistent*innen wurden für das Mitdenken gerügt. Uns wurden Informationen vorenthalten, um uns unwissend und abhängig dastehen zu lassen, wir mussten jeden Handgriff der Gesell*innen genau kopieren, um es richtigzumachen und sollten keinen Raum einnehmen. Wir sollten schweigen, wenn sie sprachen, sitzen, wenn sie es uns erlaubten. Nur wenn man ihnen Fragen zu sich selbst und ihrer Arbeit stellte, erzählten sie gerne von ihrer Erfahrung. Es wurden aber keine Gegenfragen gestellt.

    Es kommt vor, dass man zum Arbeiten geschickt wird, während die Kolleg*innen Sekt trinken. Auf die Bitte, von einer Abteilung befreit zu werden, sagte man mir, dass ich keinen Einfluss hätte, das stünde so in meinem Vertrag. Seither sind jedoch Kolleg*innen mit deutschem Gesellenbrief sehr wohl auf ihr Begehren von der Arbeit in der Abteilung befreit worden.

    Der Gesellenbrief

    Die zweite Enttäuschung war wohl, dass mein Gesellenbrief aus Dänemark vom Staatsbetrieb nicht anerkannt wurde. Ich hatte mit einer Stelle als Aushilfe angefangen und man hatte mich bei der Anstellung gefragt, ob ich denn auch als Fachkraft arbeiten wollen würde, wenn eine Stelle frei würde. Ich ging also nicht davon aus, dass es hier ein Problem geben würde. Als dann mein Vertrag auslief und ich mich für die freie Stelle als Facharbeiterin beworben habe, wurde mir gesagt, ich hätte ja leider keinen Gesellenbrief. Damals war es eine ziemliche Enttäuschung und Ungerechtigkeit. Ich empfand es, als würden sie mir meine Kompetenzen abschreiben.

    Um mich wieder bewerben zu können, habe ich also die Anerkennung von der Handwerkskammer beantragt und nach 6 Monaten auch bekommen. Heute weiß ich, dass man in Deutschland einen bestimmten Werdegang sehen möchte: Ausbildung, Gesellenjahre, Meister. Mein eher bunter Werdegang würde in einem Staatsbetrieb nicht ernst genommen werden.

    Transparenz

    In meiner Zeit in jenem Betrieb habe ich es immer wieder erlebt, dass ich und andere migrantische Kolleg*innen nicht ordentlich informiert wurden, z. B. dass bestimmte Tätigkeiten über einen längeren Zeitraum zusätzlich vergütet werden, dass man sich immer wieder auf freie Stellen neu bewerben muss. Aber diese Regeln sind nicht gleich für alle. Um mich herum werden Kolleg*innen mit weniger Berufserfahrung, ohne Gesellenjahre, mit deutschem Gesellenbrief der Reihe nach angestellt. Männliche Kollegen werden bevorzugt. Als ich meiner Enttäuschung bei der Teamleiterin Luft mache, rutscht ihr heraus: Du hast halt keinen deutschen Gesellenbrief.

    Die Sprache

    Ich erlebe, dass die deutschen Kolleg*innen sich leichter in diesem Konstrukt bewegen. Sie wissen, wie man sich im richtigen Maß durchsetzt, sie beherrschen die formale Schriftsprache und müssen ihre Kompetenzen nicht extra beweisen. Eine Vorgesetzte sagte mir, der Grund für meine ‘Missverständnisse’ mit der Chefin sei die „Sprachbarriere“.

    „Sprachen und Sprachakzente [können] als Symbole von Zusammengehörigkeit oder auch Fremdheit wirken und zu Abgrenzungen oder Diskriminierungen führen“, schreibt die Arbeitsstelle interkulturelle Konflikte und gesellschaftliche Integration (AKI) in ihrer Forschungsbilanz. Ich denke, es sind diese Sprachakzente, die in dieser sehr geschlossenen, homogenen Gruppe zu Irritationen führen.

    In einem anderen Kontext sagte eine Kollegin zu mir, es sei meine freundliche, dänische Art, weswegen man mich nicht ernst nimmt. Ich solle bestimmter auftreten. Leider gelingt es mir nicht, den richtigen Ton zu finden. Bitte ich um ein Mitarbeitergespräch, lässt man mich Monate warten, um mich dann einen Kopf kleiner zu sägen. Setze ich einmal meine Grenzen, heißt es, ich hätte mich im Ton vergriffen. Übersehe ich eine wichtige, bürokratische Deadline, sagen sie, dass man ‘davon ausgeht, dass man das halt weiß’.

    Ich bin verwirrt: Zum einen bin ich so fremd, dass ich aufgrund sprachlicher Akzente Missverständnisse mit der Chefin habe. Zum anderen sollte ich eigentlich alles wissen.

    Generell kann man sagen, dass es in diesem Betrieb keine gute Feedbackkultur gibt, keine Fehlerkultur, keine transparente und klare Kommunikation. Die Mitarbeiter*innen werden einer undankbaren Arbeitskultur ausgeliefert. Der Druck wird von oben nach unten getreten. Am Umgangston und Krankenstand unter den Kolleg*innen sehe ich, wie toxisch dies für viele ist. Jede*r kämpft nur noch für sich selbst.

    Erst nach vielen Monaten wird mir klar, dass ich mich nicht einbringen soll. Ich soll meinen Platz kennen und dort bleiben. Ich soll mich nicht entwickeln, nichts beisteuern und einfach nur die Arbeit ausführen, so wie Kolleg*innen es seit Jahrzehnten schon getan haben. Dies unterscheidet sich sehr von meiner Ausbildung in Dänemark und Schweden.

    Dort lernen wir, wie man lernt. Wir lernen, selber zu denken und zu gestalten. Es gibt eine ausgeprägte Feedbackkultur und auch Chef*innen können durchaus meine Kritik anhören, ohne sich zu rechtfertigen oder alles als meinen Fehler oder mangelnde Kompetenz darzustellen. Der Staatsbetrieb hat mit seinen guten Verträgen sehr viel Potenzial für Arbeitnehmende. Ich hoffe, dass das Arbeitsumfeld mit einem kommenden Generationswechsel für die Kolleg*innen bald besser wird.

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