Schlagwort: migrantische psyche

  • Von Angst und Hoffnungslosigkeit zu Kraft und Hoffnung

    In der letzten Ausgabe ging es – wie so oft – um Rassismus, um die Entfremdung, die wir durch Fremdmachung erfahren und darum, wie wir dem begegnen. Da das Thema der „Remigration“ aktuell wieder sehr relevant ist, hatte ich dich im letzten Newsletter gefragt, ob du darüber nachdenkst, wieder aus Deutschland wegzugehen, welche Motivationen damit einhergehen und auch welche Schattenseiten diese bergen. Dem Thema wurde mit sehr viel Aufmerksamkeit und Austausch begegnet.

    Daher möchte ich den Gedanken der Community in der heutigen Ausgabe mehr Raum bieten. Viele, die die Geschehnisse betreffen, insbesondere in den letzten Monaten, sind verunsichert. Im jetzigen politischen Klima begleitet uns ein gestiegenes Angstgefühl, welches großen Einfluss auf unser allgemeines Wohlbefinden übt: ein höherer Stresspegel, Schreckhaftigkeit, der Hang zu Pessimismus, schlimmstenfalls Hoffnungslosigkeit, um nur ein paar der vielen Auswirkungen zu nennen. Ich habe gefragt, was aktuell deine größten Ängste sind. Ich möchte damit aber auch zeigen, dass wir damit nicht alleine sind, dass wir uns wenigstens verstanden fühlen und anschließend einander Hoffnung machen können.

    Die zahlreichen Antworten zeigen auf, wie ähnlich wir fühlen und wie verängstigt wir sind – in Bezug auf uns selbst und einander. Dass wir in Zeiten, in denen Hoffnung weit entfernt scheint, aufeinander bauen, unterstreicht wieder einmal die Wichtigkeit von Community, Solidarität und Widerstand.

    Was ist solidarischer Widerstand für die Community und wie leisten wir ihn? Was dieser für die Psyche, für den Menschen und unsere Kämpfe bedeutet, erkunden wir in der nächsten Folge.

     

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  • Identität und Konflikt – Entfremdung durch Fremdmachung

    Sylt, Mannheim, Europawahlen und das damit einhergehende Feindbild sogenannter Migrant*innen stehen aktuell wieder besonders, als wäre es jemals anders gewesen, im Fokus. Während in ganz Deutschland verteilt unter anderem auf Partys „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“ gegrölt wird, blicken wir sowohl hoffnungsvoll als auch hoffnungslos auf die Europawahlen. Inmitten von Repression von Palästina-Solidarität, Islamhass und sonstiger Polarisierung, die den stetigen Ruck immer weiter nach rechts verstärken, fragen wir uns, wohin die Reise gehen soll.

    Vor einem Monat habe ich dich und meine ganze Online-Community gefragt, wohin ihr migrieren würdet, oder was zumindest als Ziel in Betracht käme. Die Ergebnisse überraschten mich teilweise, da unzählige Orte auf dieser Welt von schädlichen Strukturen geprägt sind und selbst Unterdrückung fördern.

    Lass uns gemeinsam die Antworten reflektieren. Als Ziel Nummer eins wurde Kanada genannt. Interessant, wenn wir dessen Kolonialgeschichte berücksichtigen, die bis heute – selbstverständlich – nicht nur nicht aufgearbeitet, sondern teilweise auch nicht ganz aufgedeckt wurde. Auch Katar, Dubai, Malaysia schneiden bei der Umfrage gut ab, was mich sehr wundert, da wir den Kapitalismus somit bloß in einer anderen Farbe streichen. Ausbeutung von Arbeitskräften, Verfrachtung unserer Leute in kleinste Mehrbettzimmer, Luxus auf dem Rücken derjenigen, die wir nicht sehen und nicht sehen sollen. Doch auch innerhalb Europas scheint es attraktive Ziele zu geben, Skandinavien wirkte beliebt und auch das sonnige Spanien wurde nicht selten genannt.

    Mir ist auch und besonders aufgefallen, dass viele ihre Heimatländer nannten und in diese entweder zurückmöchten, oder sogar nie dort gelebt haben und trotzdem für ein Leben dort bereit wären, was sicherlich so einiges an Identitätskonflikten mit sich bringen würde. Nicht, dass es uns an diesen mangeln würde. Selbst ich überlege, perspektivisch in Afghanistan zu leben, wohl wissend, dass es Gefahr für mich und vor allem umso mehr für viele andere bedeutet, die nicht die Privilegien genießen, die mir zuteilwerden.

    Was macht das eigentlich mit uns? Wir wissen mittlerweile, wie stark sich Rassismus auf unsere Psyche, unsere Entwicklung und das gesamte Sein auswirkt. Doch was passiert, wenn Deutsche sich vermeintlich solidarisch zeigen, indem sie aus allen Wolken fallen, weil sie das Video von Sylt sehen? Viele von uns waren überhaupt nicht überrascht, doch verletzt über die Reaktionen, die uns zeigen, wie blind Deutschland immer noch auf dem rechten Auge ist.

    Nun stehen kommenden Sonntag die Europawahlen an, die uns etwas Handlungsspielraum bieten und trotzdem, oder sogar deswegen, verspüren wir Unruhe, weil wir nicht wissen, welche Ergebnisse und auch Konsequenzen uns erwarten. Was bleibt, ist die Hoffnung. Der Tatendrang, der uns miteinander verbindet, und das kollektive Gedächtnis, das kollektive Denken, das uns zueinander führen sollte. Sogar wenn es heißt, dass wir eventuell auswandern.

    Es mag pessimistisch klingen, doch kann und soll Lichtblicke aufzeigen. Wir sollten all unsere Optionen kennen. Länder, aus denen wir und/oder unsere Eltern einst geflohen sind, um in Europa höhere Lebensqualität zu erfahren, sollen uns trotz eventueller Unsicherheit, Armut und Einschränkungen das bieten, was uns Deutschland genommen und wohl nie gegeben hat.

    Hast du über einen Wohnsitzwechsel nachgedacht? Und wenn ja, was kommt für dich infrage? Falls nein, woraus schöpfst du Kraft und was gibt dir Hoffnung?

  • migrantische Psyche: Survivor guilt

    Im letzten Newsletter ging es um immigration guilt, von der wir als migrantisierte Menschen häufig betroffen sind, ohne einen Namen dafür zu haben. Heute möchte ich ein damit verwandtes, ein ähnliches, doch trotzdem anderes Thema aufgreifen, dass leider auch stets aktuell bleibt: Survivor guilt.

    Survivor guilt tritt laut offiziellen Diagnosekriterien bei Menschen auf, die dem Tod ausgesetzt waren oder ihn miterlebt und überlebt haben. Aber auch Menschen, die in den tödlichen Situationen nicht physisch anwesend waren, können survivor guilt empfinden. Oft fühlen sich die (Über)Lebenden für den Tod oder die Verletzung anderer verantwortlich, selbst wenn sie in der Situation weder Macht noch Einfluss hatten.

    Hierbei umfasst survivor guilt einerseits das Schuldgefühl, die moralische Emotion, die durch eine negative Selbstbewertung gekennzeichnet ist und nicht selten auch eine posttraumatische Erfahrung darstellt. Diese Schuld resultiert häufig aus einer wahrgenommenen Handlung oder Untätigkeit und Ungerechtigkeit. Diese Ungerechtigkeit kann interpersonell sein, also beispielsweise eine Situation betreffen, in der eine Person verstorben ist, die das Überleben vermeintlich mehr verdient hätte. Auch kann die Ungerechtigkeit global sein und sich unter anderem darauf beziehen, dass die Welt ein ungerechter, ungleicher Ort ist.

    Auch empfundene Scham spielt eine ausschlaggebende Rolle. Wir alle kennen Schamgefühl, wissen wir aber auch, woraus dieses besteht und wieso wir es empfinden?

    Das Schamgefühl kann als eine moralische Emotion verstanden werden, das entsteht, wenn wir das Gefühl haben, bestimmten Werten, Normen, Regeln und Ansprüchen nicht gerecht zu werden. Es entsteht aus einem Gefühl der Minderwertigkeit oder Unwürdigkeit des Selbst. Schuld und Scham verstärken sich gegenseitig durch sich bedingende Überzeugungen; beispielsweise wenn wir denken, wir hätten es nicht verdient, zu überleben, also müssen wir etwas falsch gemacht haben. Genauso funktioniert dies andersherum: Wir hätten etwas falsch gemacht, also würden wir es nicht verdienen, zu überleben.

    Survivor guilt wurde bei einer Vielzahl von traumatisierten Gruppen festgestellt; unter anderem bei geflüchteten Menschen, Überlebenden von Ereignissen mit einer Vielzahl von Todesopfern, sprich Krieg, Genozid, Naturkatastrophen, Pandemien. Auch Überlebende von Terroranschlägen und Menschen, die schwere Verluste erlitten haben, sind oft betroffen.

    Um auch hier wieder eine kritische Perspektive einzuführen und Dinge nicht bloß für das zu akzeptieren, was sie sind: survivor guilt galt in der psychologischen Diagnostik früher als Symptom einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) im DSM-III, wurde dann als Begleitsymptom festgelegt (DSM-IV), bis es im DSM-5 komplett gestrichen wurde. Trotz der früheren diagnostischen Bedeutung wurde es bisher systematisch kaum untersucht und ist vielen Menschen ohnehin nicht bekannt.

    Wichtig zu erwähnen ist auch, dass die bestehende theoretische Darstellung in erster Linie psychoanalytisch gefärbt, aus Beobachtungsstudien abgeleitet und nicht empirisch geprüft ist. Leider wurden bisher nur wenige Behandlungsstudien veröffentlicht. Doch auch wenn Modelle, Konstrukte und Theorie sehr relevant sind, erfüllen nicht alle, die diese Schuldgefühle mit sich tragen, die diagnostischen Kriterien für eine PTBS.

    Viele von uns, die survivor guilt empfinden, waren nicht physisch in lebensbedrohlichen Situationen anwesend. Trotzdem ist unser Alltag geprägt von Berichten und Live-Übertragungen von Krieg, Genozid und sonstiger Gewalt, die wir verfolgen und von der häufig Menschen, die wir kennen und lieben, betroffen sind.

    Und auch wenn es Fremde sind, teilen wir mindestens das Menschsein, meistens aber auch die Religionszugehörigkeit, die ethnische Zugehörigkeit oder das Gefühl von sonstiger Identifikation. Häufig wissen wir jedoch nicht einmal, dass wir unter survivor guilt leiden, da diese Gefühle für viele als „normal“ gelten und lebensbegleitend sind. Gleichzeitig prägen sie unser Sein maßgebend.

    Um uns selbst wohlwollender und gnädiger zu begegnen, ist es wichtig zu verstehen, dass diese Gefühle tatsächlich normal sind und dafür sprechen, dass wir Gemeinschaftsgefühl besitzen, das uns an die Verbundenheit zueinander erinnert. Wir sollten gleichzeitig realistisch einschätzen und bewerten, inwiefern die Ungleichheit uns betrifft und die Sinnfindung für das eigene Überleben und Leben in den Fokus rücken.

    Auch sollten wir sekundäre Bewertungen, die Schuldgefühle aufrechterhalten, hinterfragen: Was sind Vor- und Nachteile dieser Gefühle? Wieso halten wir daran fest? Häufig inspirieren unsere Gefühle auch Handlungen; wir können also spenden und anderweitig aktiv werden, sollten uns aber bewusst machen, dass wir keine tatsächliche Schuld auszugleichen haben. Es sollte also mehr um Motivation als um Kompensation gehen.

    Kennst auch du das Gefühl von survivor guilt? Falls ja, in welchen Bereichen deines Lebens ist es besonders präsent? Konntest du dein empfundenes Schuldgefühl in Inspiration umwandeln?

  • Immigration guilt – migrantische psyche

    Viele von uns kennen es sicherlich seit Jahren – oftmals ohne, dass wir dem einen Namen geben können. In Zeiten von omnipräsenten Kriegen, die unsere Heimatländer treffen, während wir aus der Diaspora gefühlt hilflos zusehen müssen, ist immigration guilt ein treuer Begleiter.

    Unabhängig von der Herkunft, kommen viele Migrant*innen in ein anderes Land, um ihr Leben vollständig neu zu beginnen. Viele haben ihre persönlichen Hoffnungen und Träume von einem Leben, wie sie es kannten und häufig auch, wie sie es sich immer gewünscht haben, aufgeben müssen. Stattdessen konzentrieren sie sich darauf, das Beste für ihre Kinder zu erreichen und opfern ihre Vorstellungen, um denen ihrer Kinder Platz zu bieten.

    Wie ich selbst auch, wachsen viele Kinder mit dem Bewusstsein auf, dass ihre Eltern enorme Opfer erbracht haben und wir verbringen nicht selten den Rest unseres Lebens damit, unseren Eltern zu beweisen, dass ihr Leiden nicht vergeblich war. Oftmals fühlen wir uns aufgrund dessen nicht wohl dabei, sie über unsere psychischen Probleme zu informieren. Wie könnten wir auch, wenn sie alles aufgegeben haben, damit wir es besser haben?

    Immigration guilt umfasst ein in migrantischen Communities sehr weit verbreitetes Phänomen, bei dem es darum geht, dass wir meinen, Erwartungen nicht gerecht zu werden. Ebenso belastet uns das Zuteilwerden von Privilegien, da diese im Umkehrschluss die Benachteiligung anderer bedeuten und uns empfundene Verantwortung aufbürden.

    Dabei fühlen wir auf verschiedenen Ebenen Schuld oder haben ein schlechtes Gewissen. Wir vermischen Verantwortungsbereiche, die sich auf die Dynamik miteinander und auch uns selbst gegenüber auswirken: Wir können durch das schlechte Gewissen, es besser zu haben und es ggf. aber nicht besser zu machen, Ausbremsung erleben. Das Gefühl, alles, was wir erreicht haben, sei nicht unser eigener Verdienst (Impostor-Syndrom) und Minderwertigkeitsgefühle, weil wir Privilegien genießen, die anderen, die gar nicht so anders sind als wir, sondern einfach nur woanders leben, nicht zuteilwerden. Auch können wir dazu neigen, es anderen immer recht machen zu wollen und unsere eigenen Bedürfnisse und Gefühle zu vernachlässigen (people pleasing).

    Ein schlechtes Gewissen und Schuldgefühle sind so gut wie immer negativ konnotiert. Dabei haben diese eine Funktion und sind wichtig für uns als Menschen. Sie erinnern uns daran, dass wir einen moralischen Kompass und das Gefühl für ein Miteinander haben. Dass wir einen intrinsischen Drang dazu haben, aufeinander zu achten und einander nicht zu schaden. Gleichzeitig bedeutet das aber nicht, dass jede Ausprägung von Schuldgefühlen als positiv zu betrachten ist.

    Ganz oft wird uns Verantwortung aufgebürdet, die wir nicht tragen sollten und vor allem: Die wir gar nicht tragen müssen, da wir für viele Umstände gar nichts können. Um auf eine möglichst reflektierte und gesunde Art damit umzugehen, können wir uns selbst fragen: Was sind meine eigenen Werte, welche habe ich übernommen, ohne wirklich hinter ihnen zu stehen? Was wurde ich gelehrt, was hinterfrage ich?

    Genauso können wir Gefühle von Schuld dazu nutzen, aktiv zu werden. Viele Menschen transformieren ihre negativen Gefühle in Tätigkeiten und den Drang nach Veränderung um. Auch in Zeiten wie diesen ist es nützlich, sich daran zu erinnern, wieso uns unser Gewissen wirklich plagt. Wer wir sind, welche Macht wir in uns tragen und wie wir unsere Existenz ggf. noch gemeinschaftlicher gestalten können, da unsere Kämpfe trotz kultureller Unterschiede auch über Länder- und Kontinentgrenzen hinweg miteinander verbunden sind.

     

     

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  • Psyche, Pathologisierung & Kolonialität – migrantische Psyche

    Ich hoffe, du kommst gut durch den Ramadan, die Osterfeiertage waren erholsam und du kannst trotz dieser Zeit, geprägt von politischen Krisen, schlechten Nachrichten, Ängsten und Zweifeln, auf die ein oder andere Art durchatmen.

    Im heutigen Text geht es um die Wurzeln des Themas, um das es in dieser Newsletter-Reihe geht: Was ist eigentlich der Ursprung der Psychologie und steht das heutige Verständnis im Einklang mit den Werten, die wir vertreten?

    Die Wurzeln der Psychologie existieren seit Jahrtausenden in unterschiedlichsten Facetten. Die meisten davon sind uns nicht bekannt und werden es vermutlich nie sein. Indigene Völker, Kulturen und Praxen, die die menschliche Psyche unterschiedlich konzeptualisieren und behandeln, werden in der heutigen, sogenannten modernen Psychologie auch nur selten aufgegriffen. Stichworte, die zum Nachdenken anregen sollen, lauten: Kampf, Raub, Zerstörung, Industrialisierung, Modernisierung, Globalisierung, Kapitalisierung, Unterdrückung, Abwertung, Negierung – Kolonialität.

    Denn auch die Psychologie ist nicht frei davon. Wenn wir versuchen, dekolonial zu denken und zu handeln, berücksichtigen wir dies auch in unserem Verständnis von gesund und pathologisch (= krankhaft) und hinterfragen diese Bezeichnungen? Kontexte und Systeme bestimmen oftmals unser Bild, ohne dass wir dies hinterfragen. Mittlerweile ist uns vielleicht und hoffentlich bewusst, dass wir sowohl in der Psychotherapie als auch in der Forschung und Lehre unterrepräsentiert, zu wenig beachtet und nicht selten ganz übersprungen werden.

    Doch fragen wir uns als migrantische Menschen eigentlich, was psychische Gesundheit für uns bedeutet? Was kann diese ausmachen, was gilt als vermeintlich normal und was als pathologisch? Wer, wie, was gibt dieses System von Verständnis vor und stehen wir überhaupt dahinter?

    Ganz plakativ werfe ich mal eine These, welche gleichzeitig ein sehr bekanntes Zitat ist, in den Raum: „Es ist kein Zeichen von geistiger Gesundheit, an eine von Grund auf kranke Gesellschaft gut angepasst zu sein.“ (Jiddu Krishnnamurti).

    „Es ist ironisch, dass wir in einer Welt leben, die so sehr auf Individualismus pocht und gleichzeitig strukturelle Machtasymmetrien ignoriert“

    Nicht nur in der Art, wie therapiert wird, werden wir ausgeklammert. Die moderne, standardisierte Diagnostik basiert auf Normen und Konstrukten, mit denen wir uns häufig gar nicht erst identifizieren können. In diesem Kontext wird deutlich, dass die Pathologisierung individueller Abweichungen von der Norm oft dazu dient, strukturelle und systemische Ungerechtigkeiten zu kaschieren. Die Diagnose allein fällt auf den Einzelnen zurück, während die eigentlichen Ursachen in den tief verwurzelten Ungleichheiten des Systems liegen.

    Es ist ironisch, dass wir in einer Welt leben, die so sehr auf Individualismus pocht und gleichzeitig strukturelle Machtasymmetrien ignoriert. Die Psychopathologie wird somit zu einem Instrument, das dazu dient, das Versagen des Systems zu verschleiern und die Verantwortung auf diejenigen abzuwälzen, die am wenigsten dazu in der Lage sind, es zu ändern. Diejenigen, die unter dem System leiden und sich eventuell sogar dagegen auflehnen, können schnell als verrückt abgestempelt werden.

    Wenn wir reflektieren, wo wir uns befinden und wie wir leben, welche Rahmenbedingungen wir teilen, auch wenn unsere Lebensrealitäten Unterschiede aufweisen, realisieren wir: Wenn die Psychologie des globalen Nordens als unser Maß gilt, inwiefern fügen wir uns, inwiefern verwehren wir uns die eigene Rechtmäßigkeit?

    Gibt es konkrete Störungsbilder oder auch Behandlungsmethoden, die du hinterfragst? Bist du auch der Meinung, unsere Kulturen, die oftmals als rückständig betrachtet werden, bergen eigentlich viele Antworten, auf die wir in dem, was wir kennen, nicht stoßen?

     

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  • Ramadan, Psyche und Kollektiv – migrantische Psyche

    Schon wieder ist ein Jahr vergangen und viele von uns stellen sich wieder einmal der Herausforderung des Fastens. Heute geht es darum, inwiefern das Fasten im Islam Positives mit sich bringt und wie wir neben des Verzichts auch vor allem Bereicherung erfahren – persönlich, psychisch und auch für das Kollektiv. Vor allem in Krisenzeiten kann dieser Monat der Besinnung uns erden; daran erinnern, wer wir sind und wer wir sein können.

    Die letzten Jahre konnten wir uns gesellschaftlich von „Auch kein Wasser?“ zu einer Obsession mit Gesundheitstipps entwickeln und kämpfen dabei stets mit dem Gleichgewicht, der Begriff des Fastens ist den meisten aber immerhin nicht mehr fremd.

    Das Trockenfasten, also der komplette Verzicht auf Nahrung, und ja, auch Wasser, zieht sich über eine bestimmte Zeit und hat unter anderem zum Ziel, den Körper zu entgiften und neu zu gewöhnen. Dieser Praxis werden in verschiedenen Formen und Lebensstilen verschiedene Vorteile zugeschrieben, sowohl körperlich als auch psychisch.

    Ein wesentlicher Vorteil des Trockenfastens umfasst die Förderung der Autophagie, ein Prozess, bei dem beschädigte Zellen im Körper abgebaut und recycelt werden. Dieser Reinigungsprozess kann dazu beitragen, den Körper zu revitalisieren und das Immunsystem zu stärken. Darüber hinaus wird angenommen, dass das Trockenfasten den Stoffwechsel verbessert und die Regeneration von Gewebe fördert.

    In Bezug auf die psychische Gesundheit kann das Trockenfasten eine Reihe von positiven Auswirkungen haben. Erstens kann der Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit die Fokussierung der Gedanken erleichtern und zu einer tieferen mentalen Klarheit führen. Viele Menschen berichten während des Trockenfastens von einem gesteigerten Bewusstsein für ihre eigenen Bedürfnisse und einem verbesserten Fokus auf gegenwärtige Erfahrungen. Achtsamkeit also. Sounds familiar?

    Darüber hinaus kann das Trockenfasten eine Form der Selbstdisziplin und Selbstkontrolle fördern, die sich positiv auf die psychische Gesundheit auswirkt. Die Überwindung von Hunger und Durst kann dazu beitragen, die Fähigkeit zur Bewältigung von Herausforderungen im täglichen Leben zu stärken und ein Gefühl der inneren Stärke zu entwickeln. Stichwort „innerer Schweinehund“, oder, wenn wir einen islamischen, mittlerweile sehr sinnentfremdeten und dadurch polarisierten Begriff einwerfen und klarstellen: Jihad – der heilige Kampf – gegen uns selbst.

    „Wer sind wir eigentlich, was können wir tun und was tun wir tatsächlich?“

    Jihad, auch kein Wasser, Achtsamkeit, gesund leben – alles Dinge, die uns so bestimmt nicht neu sind. Doch inwiefern stehen die Praxis des Fastens, die psychische Kalibrierung, der Verzicht auf Konsum und der Fokus auf das Wesentliche in Verbindung mit dem Kollektiv?

    Wenn wir überlegen, wie normalisiert der übermäßige Konsum von Speisen, Gütern, Entertainment ist und wie wir uns dem schnellen, individualistischen Leben hingeben, kann uns unter anderem der Verlust der Verbundenheit auffallen. Die Verbundenheit mit dem Inneren, mit dem Wesentlichen, mit dem, was uns individuell, aber auch unter- und miteinander ausmacht: Die Realisierung, dass wir im globalen Norden ein teilweise ganz anderes Leben führen (können), während andere Menschen von Nöten betroffen sind, über die sie keine Kontrolle haben. Die Tatsache, dass unser Übermaß hier immer Mangel woanders bedeutet.

    Der Monat Ramadan steht für Verzicht, Gemeinschaft, Nächstenliebe, Disziplin und Ergebung. Bescheidenheit, wenn wir wollen. Im Zustand des vermeintlichen Defizits können wir das Bewusstsein für Dinge fassen, die sonst im Konsum untergehen. Wer sind wir eigentlich, was können wir tun und was tun wir tatsächlich? Leben wir im Einklang mit dem, was unsere Seele ausmacht? Unterstützen wir einander, oder sind wir unserem Selbst ergeben? Das Fasten und das, was es zur Folge hat, verbessert im besten Fall unser Bewusstsein – ob temporär oder langfristig, liegt in unserer Hand.

    Einen wunderschönen Monat dir!

    Falls du auch fastest und/oder gefastet hast, welche positiven Erfahrungen hast du gemacht?

    Liebste Grüße

    Zara

     

    Weitere Tipps zur Ernährung während des Ramadan findest du hier.

    kohero lädt dich außerdem zum gemeinsamen Fastenbrechen am 27. März ab 18 Uhr im kohero Haus ein. Melde dich hier an, wenn du dabei sein möchtest.

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  • migrantische psyche – pilotfolge

    Herzlich willkommen zu dieser ersten Newsletter-Ausgabe von migrantische psyche – Mentale Gesundheit über Grenzen hinweg.

    Ich bin Zara, angehende Psychologin und politische Bildnerin. Ich arbeite in verschiedenen Kontexten zu den Themen Flucht und Migration und betreibe den Instagram-Account @migrantischepsyche.

    Der migrantische psyche-Newsletter bei kohero zielt darauf ab, ein tieferes Verständnis und Bewusstsein für psychologische Themen zu schaffen, insbesondere im Kontext von Flucht, Migration und den damit verbundenen gesellschaftlichen Einflüssen. Jede Ausgabe beleuchtet unter anderem spezifische Störungsbilder, deren Ursachen und Folgen, mit einem besonderen Fokus darauf, wie diese Themen migrantisierte und häufig rassifizierte Menschen betreffen. Der Newsletter soll diese oft übersehenen Perspektiven in den Vordergrund zu rücken und die Diskussion um psychische Gesundheit inklusiver zu gestalten.

    Mit fundierten Artikeln, persönlichen Geschichten und nützlichen Ressourcen möchte ich nicht nur informieren, sondern auch Empathie fördern und Wege aufzeigen, wie psychologisches Wissen zugänglicher gemacht werden kann. So soll durch diesen Newsletter und unseren Austausch eine Gemeinschaft gefördert werden, die sich für die psychische Gesundheit aller einsetzt, hauptsächlich für diejenigen, die durch ihre Erfahrungen mit Migration und Rassismus geprägt sind.

    In zwei Wochen geht es mit der ersten richtigen Ausgabe los. Ich freue mich, wenn du diesen Newsletter an deine Freund*innen, deine Familie oder dein berufliches Umfeld weiterleitest und mehr Menschen auf migrantische psyche aufmerksam machst. Vielen Dank!

    Deine Zara

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