Schlagwort: migrantische psyche

  • Religion als Ressource für mentale Gesundheit

    Heute widmen wir uns einem Thema, das schon lange auf meiner Agenda steht – einerseits wegen meiner eigenen Erfahrungen, andererseits aufgrund seiner großen gesellschaftlichen Bedeutung. Es geht um Religionen, insbesondere den Islam, und mentale Gesundheit. Dieses Thema betrachte ich mit viel Respekt und Achtsamkeit, da Muslim*innen oft Anfeindungen und Vorurteilen ausgesetzt sind und in wissenschaftlichen Diskussionen ausgeklammert werden. Daher ist mein Anspruch, besonders sorgfältig und respektvoll damit umzugehen und vertiefende theologische Fragen jenen zu überlassen, die über das nötige Fachwissen verfügen. Dazu später mehr.

    Auch in der westlichen Psychotherapie wird in der Regel versucht, Religion als Ressource anzunehmen und zu nutzen. Die Korrelation zwischen Religiosität und mentaler Gesundheit ist ein Thema, das in der Wissenschaft kontrovers diskutiert wird. Studien zeigen, dass Religiosität unter gewissen Bedingungen positiv mit mentaler Gesundheit korrelieren kann.

    Beispiele hierfür sind:

    Soziale Unterstützung: Religiöse Gemeinschaften bieten soziale Netzwerke, die Isolation reduzieren und Unterstützung in schwierigen Zeiten bieten können.

    Sinn und Zweck: Viele religiöse Menschen schöpfen Kraft aus dem Gefühl von Sinnhaftigkeit und einer höheren Ordnung, was ihre Resilienz stärkt.

    Stressbewältigung: Religiöse Rituale und Gebete können als Bewältigungsmechanismen wirken, die Ängste lindern und Hoffnung fördern.

    Moralische und ethische Orientierung: Religiöse Werte bieten oft eine klare Lebensstruktur, die Entscheidungen erleichtert und Unsicherheiten reduziert.

    Gegenwärtig stehen Muslim*innen auf der ganzen Welt vor großen Herausforderungen und Krisen, die eine Vielzahl von psychischen Problemen hervorrufen. Von traumatischen Erlebnissen in von Krieg geprägten Ländern wie Syrien und Palästina bis hin zur Bewältigung der Islamophobie im Westen besteht ein zunehmender Bedarf an psychischen Gesundheitsdiensten für muslimische Communities. Der Großteil sucht jedoch keine psychotherapeutischen Dienste auf, da die Psychotherapie sich nicht auf informierte und offene Weise mit religiösen Werten auseinandersetzt.

    Es sind Ansätze erforderlich, die muslimische Werte und Realitäten widerspiegeln. Im Laufe der Geschichte des islamischen Denkens und Wissens gab es viele muslimische Gelehrte, die über Konzepte der menschlichen Psyche geschrieben und unterrichtet haben; auch der Quran thematisiert die menschliche Seele in ihren verschiedenen Aspekten. Der Begriff „nafs“ (kurz „Seele“), der auf mehreren Ebenen verschiedene Bedeutungen in sich trägt, kommt ganze 295 Mal vor.

    Tatsächlich gibt es viel wissenschaftliche Arbeit über die Psychologie der Menschheit, wie sie aus koranischen und prophetischen Quellen abgeleitet ist, dass es verzerrt wäre, die islamische Psychologie als neue Disziplin zu bezeichnen. Aber: Ein theologisches Verständnis, das nicht exklusiv, sondern zugänglich sein soll, ist nötig, um die Religion als die Ressource zu nutzen, die sie sein kann.

    Daher möchte ich für die nächste Ausgabe Fachexpertise heranziehen. Vor allem hierfür sind deine Beiträge wichtig und erwünscht! Was möchtest du über den Zusammenhang von Psychologie und Islam wissen? Ich freue mich darauf, deine Fragen und Anregungen aufzufangen und in das Interview einfließen zu lassen!

  • Kulturelle Hybridität – zwischen Entfremdung und Entfaltung

    Gestern Abend war ich mit zwei meiner engsten Vertrauten beim Apsilon-Konzert in Frankfurt. Was als entspannter Abend begann, mündete in ein tiefgründiges Gespräch, durchzogen von Frust, Abspaltung, Wiederfindung und Zugehörigkeit – inmitten von lautem Bass, mitsingenden Fans und zwei sehr talentierten Brüdern auf der Bühne. Was uns bewegt und beschäftigt hat, kennen wahrscheinlich viele von uns.

    Die Identitätsentwicklung ist in der Regel für jeden Menschen ein komplexer und lebenslanger Prozess. Für Migrant*innen jedoch gestaltet sich diese Entwicklung oft besonders herausfordernd, da sie nicht nur die Kultur ihres Herkunftslandes, sondern auch die Kultur des Landes, in dem sie leben, in ihre Selbstdefinition integrieren müssen. Dies führt häufig zu einer sogenannten kulturellen Hybridität – einer Identität, die Elemente verschiedener kultureller Einflüsse kombiniert und somit einzigartig und facettenreich ist. Diese hybride Identität kann Migrant*innen helfen, ihre persönliche Geschichte und Erfahrungen positiv zu verarbeiten, stellt sie jedoch auch vor besondere Herausforderungen und Konflikte. Was ich meine, versteht wahrscheinlich der Großteil von euch, wenn nicht sogar ihr alle.

    Wir standen also da, Mai (Vietnamesin), Can (Kurde) und ich (Afghanin), umgeben von mehrheitlich weißen Deutschen, die Apsilons gesellschaftskritischen, antirassistischen, von Schmerz und Trauer geprägten Texte mitgrölten. Wir empfanden vieles. Wir gönnen ihm den lauten Zuspruch, wir sind stolz. Wir sind gerührt, berührt, wir sind irritiert. „Versteht ihr wirklich, was er sagt?“, fragte ich laut in die Menge. „Versteht ihr überhaupt, was er meint?“

    Wir waren überrascht darüber, wie viele weiße Menschen Apsilon zu erreichen scheint, wenn seine Texte hauptsächlich Einflüsse von Migration, strukturelle rassistische Gewalt, Sehnsucht und Brüderlichkeit thematisieren. Wütend darüber, wie sie uns als Künstler*innen schätzen, uns als Menschen jedoch zu oft schaden. Wie sie uns scheinbar als Sprachrohr empfinden können, jedoch zu selten versuchen, unseres zu sein.

    Wir tauschten uns während des Konzerts immer wieder aus, teilten Gedanken und Tränen, sangen und tanzten und die Melancholie war an diesem Abend unser treuer Begleiter. „Glaubt ihr, hier sind auch Gringo- und Ramo-Kanaken?“ Wir einigten uns auf ein „nein“ und dies führte dazu, dass wir uns fragten, was wir denn für Kanaken seien und wie andere uns wahrnehmen; Ausländer, Block-Kanaken, Neo-Kanaken, Deutsche. Wer sind wir? Zu wem machen sie uns?

    Der Weg zur kulturellen Hybridität

    Kulturelle Hybridität entsteht, wenn Menschen die Werte, Normen und Rituale beider Kulturen integrieren und dabei eine neue, „hybride“ Identität entwickeln, die zu ihrer individuellen Lebenserfahrung passt. Dieser Prozess ist anspruchsvoll, bietet jedoch auch Chancen: Indem Migrant*innen eine eigene Mischung aus beiden Kulturen schaffen, können sie eine Identität entwickeln, die es ihnen erlaubt, sich in beiden Welten zu navigieren. Ein solcher Identitätsprozess ist oft durch die Notwendigkeit der Anpassung an wechselnde kulturelle Kontexte geprägt – sei es in sozialen Beziehungen, in Bildungseinrichtungen oder am Arbeitsplatz.

    Es gibt jedoch große Herausforderungen bei der Entwicklung dieser kulturellen Hybridität. Der Druck, sich anzupassen, kann uns das Gefühl geben, die Herkunftskultur aufgeben zu müssen, um anerkannt zu werden. Wir sind mit Kämpfen konfrontiert, mit Priorisierung und Verlust. Die Furcht vor dem Verlust der eigenen Kultur kann zu einem Gefühl der Entfremdung und Isolation führen.

    Gestern Abend kam zu dem Gefühl der Entfremdung auch Melancholie hinzu.

    Psychologische Auswirkungen und Bewältigungsstrategien

    Die Herausforderung, eine hybride Identität zu entwickeln, kann mit psychischen Belastungen wie Unsicherheit, Selbstzweifel und inneren Konflikten einhergehen. Studien zeigen, dass eine stabile hybride Identität oft mit einem höheren Selbstbewusstsein und besserer Anpassungsfähigkeit verbunden ist. Migrant*innen, die ihre kulturelle Hybridität akzeptieren und aktiv gestalten, entwickeln häufig eine hohe Resilienz und profitieren wohl von ihren interkulturellen Kompetenzen.

    Familien und Gemeinschaften können diese Entwicklung positiv beeinflussen, indem sie Räume zur Verfügung stellen, in denen beide Kulturen wertgeschätzt werden. Schulen und Organisationen entwickeln (und sollten dies auch weiterhin tun) Programme zur Förderung interkultureller Kompetenz, um Migrant*innen zu unterstützen und kulturelle Hybridität als wertvolle Eigenschaft zu fördern. Psychologische Beratung, die sich auf interkulturelle Themen spezialisiert, kann ebenfalls eine wichtige Ressource sein, um mit Identitätskonflikten umzugehen und eine gesunde, stabile Identität aufzubauen. Unseren Bedürfnissen Raum zu bieten und selbstständig und möglichst reflektiert zu beleuchten, was wir als erstrebenswert empfinden, ermöglicht uns letztendlich, diejenigen zu sein, die wir sein möchten.

    Was dieses Konzert an einem Dienstagabend in uns ausgelöst hat – und wir waren bereits auf unzähligen Konzerten – fühlte sich anders an als sonst. Trotz der Widerstände, die in uns ausgelöst wurden, fühlten wir uns aufgefangen. Kunst von unseren Leuten zu sehen, lesen, hören, ist anders und kann uns auf so vielen Ebenen empfangen, wenn wir ihr begegnen.

     

    Falls du Apsilons Musik noch nicht kennt, empfehle ich sie dir von Herzen. Welche Künstler*innen bewegen dich denn besonders?

    Liebste Grüße

    Zara

  • Vom Gewicht und Potential der Trauer

    Heute geht es um ein Gefühl, das jeden Menschen betrifft und prägt: Es geht um Trauer. Ich möchte konkret die Migrationstrauer (migratory grief) beleuchten – ein Gefühl, das wir vielleicht alle selbst kennen, aber ein Begriff, der uns selten oder gar nicht begegnet.

    Was bedeutet Trauer?

    Trauer ist die natürliche Reaktion auf einen Verlust, oft durch den Tod einer nahestehenden Person. Aber Trauer kann auch andere Arten des Verlustes umfassen, wie den Verlust eines Körperteils oder auch von Lebensumständen und Heimat. Es wird zwischen Trauerfall (bereavement), emotionalen Reaktionen (grief), Verhaltensweisen des Trauerns (mourning) und körperlichen Symptomen unterschieden.

    Trauer ist ein vielschichtiges Phänomen, das je nach Person und Kultur unterschiedlich ausgeprägt ist. Menschen, die migrieren, sind vielen Belastungen ausgesetzt, die ihre psychische Gesundheit beeinflussen können. Dazu gehören der Verlust von kulturellen Normen, religiösen Traditionen und sozialen Netzwerken sowie die Anpassung an eine neue Kultur und Veränderungen der eigenen Identität. Tatsächlich ist die Rate psychischer Erkrankungen in einigen Gruppen mit Migrationsbiografien erhöht.

    Einwanderung und Exil können als soziale Traumata eingestuft werden

    Das Individuum ist einer sicheren Umgebung beraubt, in der es sein Leben hätte weiterführen können. Der Prozess der Trauer ist ein notwendiger Schritt, um sich mit dem „Weiterleben“ zu verbinden. Eine weitere psychische Erfahrung in der Migration ist die Nostalgie; sie hilft der eingewanderten Person, die Aggressionen abzuwehren, die aus möglichen Frustrationen resultieren. Das Gefühl der Nostalgie kann auch dazu dienen, das Ego vor Unzulänglichkeiten zu schützen.

    Die komplexen Komponenten der Nostalgie bestehen aus positiven Gefühlen wie Freude und Dankbarkeit, verbunden mit Trauer über den damit verbundenen Verlust von Sicherheit, Vertrautheit und historischer Kontinuität. Zu anderen Zeiten kann sich Nostalgie nicht entwickeln, insbesondere bei erzwungener Migration oder im Exil. In diesem Fall gerät das Individuum in einen depressiven Zustand mit begleitenden Gefühlen von Selbstmitleid, Groll, Neid und Schuld (migration guilt, remember?), was die Entwicklung des Trauerprozesses verhindert.

    Um mit diesen schmerzhaften Erfahrungen umzugehen, greift die Person auf verbindende Objekte oder Phänomene zurück, die ihr helfen, den Kontakt mit der Vergangenheit aufrechtzuerhalten, während sie sich an ihre neue Umgebung anpasst.

    Einige der allgemeinen Merkmale der Migration sind komplexe psychosoziale Prozesse, die mit tiefgreifenden Verlusten einhergehen und sich langfristig auf den Menschen auswirken. Zuweilen kann es zu einer psychischen Erschöpfung kommen, unter anderem wenn eine Person als Migrant*in oder Exilant*in in einem neuen Land ankommt. Unabhängig von den Umständen bringen diese Veränderungen Zeiten der Desorganisation, des Schmerzes und der Frustration mit sich und können ein katastrophales Gefühl des Verlustes hervorrufen.

    Dieses Gefühl der Heimatlosigkeit ist ein emotionaler Selbstzustand. Infolge des ständigen Kontakts mit einer neuen Kultur setzt die Migrationserfahrung einen Prozess in Gang, der zur Veränderung der inneren Strukturen und der verinnerlichten Objektbeziehungen führt. Die anfängliche Erfahrung des sogenannten Kulturschocks bei der Einwanderung ist ein reaktiver Prozess, der sich aus den Auswirkungen einer neuen Kultur auf diejenigen ergibt, die versuchen, als Neuankömmlinge mit ihr zu verschmelzen. Der Kulturschock stellt die allgemeine Angemessenheit des Funktionierens der Persönlichkeit auf eine harte Probe, wird von Trauer um die verlassene Kultur begleitet und bedroht die Identität des neu angekommenen, migrierten Menschen ernsthaft.

    Die Trennung kann als traumatisch eingestuft werden, da ein Trauma per Definition etwas ist, das einen Organismus durch seine unerwartete Plötzlichkeit überwältigt. Ist diese erste Reaktion jedoch überwunden, kann die Einwanderungserfahrung auch den Charakter und die Widerstandsfähigkeit stärken. Sie kann ein Prozess neuer Möglichkeiten und einer hoffnungsvollen Zukunft sein.

    Kann Trauer auch Potentiale bieten?

    Trauer ist in der Regel negativ konnotiert, wiegt schwer und färbt unsere Wahrnehmung der Realität. Oftmals isolieren wir uns, möchten andere nicht zusätzlich belasten, können uns selbst kaum ausstehen und möchten, dass es einfach vorbeigeht. Doch welche Potentiale in der Trauer stecken, erkennen wir oft erst im Nachhinein oder leider gar nicht.

    Denn wir kommen aus Kulturen, in denen Trauer eigentlich Zusammenhalt bedeutet. Ob füreinander kochen, einkaufen oder gemeinsam Tee trinken … Unterstützung wird in Form von Gemeinschaft umgesetzt und gelebt.

    Da uns genau diese Gemeinschaft oft genommen wird, übersehen wir, welche Gemeinschaft wir schaffen können. Wir können einander unabhängig von Verwandtschaft und kulturellen Gemeinsamkeiten Freude bereiten, Arbeit abnehmen und zuhören. Nachbarschaft und Nächstenliebe haben nicht umsonst einen so hohen Stellenwert. Es ist wichtig, den Kummer der anderen anzuerkennen und ihnen zu zeigen, dass ihre Gefühle legitim sind.

    It takes a village.

     

    Bist du bereits mit den Begriffen des migratory grief, mourning, bereavement in Verbindung gekommen?

    Lass es mich gerne wissen!

    Liebste Grüße

    Zara

  • Hast du „schlechte“ Angewohnheiten?

    In der heutigen Ausgabe geht es um sogenannte schlechte oder dysfunktionale Verhaltensweisen und Dynamiken. Zumindest um solche, die als schlecht im Globalen Norden und in der westlichen Welt gelten, für Familien mit Migrationsgeschichte aber durchaus förderlich sein können.

    Mit einem offeneren Verständnis von mentaler Gesundheit und dem, was toxisch für uns ist, ist es wichtig, einen kritischen, ausgeglichenen Blick und ein möglichst umfassendes Verständnis von Störungen, Einflüssen und Auswirkungen zu schaffen und mehrere Perspektiven einzunehmen. Ein paar der folgenden Begriffe und psychologischen Phänomene erkennst du eventuell aus vorangegangen Ausgaben von migrantische psyche wieder.

     

    Verstrickung, Abhängigkeit, Verbindung – Community

    Im globalen Norden gilt das Verstricktsein, das bedeutet in der Regel das Fehlen von Grenzen, als dysfunktionaler Charakterzug einer Familieneinheit. Für migrierte Familien, die sich auf ihre Abgeschlossenheit und kulturelle Gemeinschaft verlassen, um sich vor Assimilierung und Schaden durch die dominante und häufig diskriminierende Gesellschaft zu schützen, kann diese Verflechtung ein starker Schutzfaktor sein. Während westliches Leben auf Individualismus pocht, bauen unsere migrantischen Kulturen oft auf Kollektivismus.

     

    Indirektes Setzen von Grenzen

    Westliche Normen vermitteln uns oft, wir sollten direkt und deutlich sein und für uns selbst eintreten. Menschen, Gruppen, Familien aus anderen Kulturen können sich jedoch eher auf Verhaltensgrenzen als auf verbale Grenzen stützen, um soziale und kommunikative Standards des Respekts aufrechtzuerhalten. Konfrontation wird aus Rücksicht häufig vermieden und durch Handlungen – und sozusagen Codes – wird hervorgehoben, welchen Umgang und wie wir diesen pflegen möchten.

     

    Kodependenz

    Kodependenz wird oft mit „ungesunden“ oder „dysfunktionalen“ Beziehungsmustern assoziiert, die dazu führen, dass sich eine Person zu sehr auf eine andere verlässt und gleichzeitig von dieser abhängig ist. Diese Muster können zwar eine unausgewogene Beziehungsdynamik aufrechterhalten, aber in kollektivistischen Kulturen kann es genauso normal sein, verfügbar zu sein, etwas für andere zu tun und andere an die erste Stelle zu setzen, um den Zusammenhalt der Gruppe oder der Familie zu erhalten. Es wird anders priorisiert.

    Mehr noch, es kann sogar um Überlebensbedürfnisse gehen, die bestimmte Familienmitglieder dazu bringen, sich auf die Hilfe anderer, jüngerer Familienmitglieder zu verlassen. Was als ungesund oder gesund gilt, hängt davon ab, wen man fragt und wie sich diese Muster auf die jeweilige Person auswirken.

     

    Parentifizierung

    Parentifizierung ist nicht nur Kindern von migrantischen Familien vorbehalten, wird in diesen Familien aber stärker empfunden. Dies wird durch kindliche Frömmigkeit und Familiensinn erschwert, gemeinsame Werte, die dazu ermutigen, unsere Älteren und Familien über uns selbst zu stellen. Und es gibt allgemeine instrumentelle und logistische Probleme, die für das Überleben in einem neuen Land notwendig sind, wie die Vermittlung von Kultur und Sprache, die oft dem Kind auferlegt werden. Gleichzeitig können Personen an dem Verantwortungsgefühl wachsen, solange es sie langfristig nicht überfordert und somit in anderen Bereichen hemmt.

    Während die Parentifizierung im globalen Norden als eine Form der emotionalen Vernachlässigung untersucht wurde, und das kann für viele zutreffen, kann sie also Vorteile haben, wie die Stärkung eines Gefühls des Stolzes auf die eigene Rolle und der Unterstützung in der Familie, gute Arbeitsmoral und Disziplin.

     

    Nutzung sozialer Medien

    Während wir dazu neigen, die Gefahren der sozialen Medien und die negativen Folgen zu betonen (und diese sind berechtigt), sollten wir auch berücksichtigen, wie nützlich die sozialen Medien für vor allem migrantische Familien sein können:

    • um mit der Familie im Ausland in Verbindung zu bleiben
    • für den Zugang, das Wissen und das Engagement in Bezug auf Politik, Popkultur oder Nachrichten in den Heimatländern
    • um Kontakte zu anderen Menschen mit Migrationsgeschichte zu knüpfen, die ihre Identität teilen – sowohl in ihrer geografischen Nähe als auch trotz ihrer geografischen Isolation von Gleichgesinnten

     

    Welche Verhaltensweisen fallen dir ein, die von der Mehrheitsgesellschaft als negativ gesehen werden, dich aber bereichern? Lass es mich gerne wissen!

    Liebste Grüße

    Zara

  • Parentifizierung und Eldest-Daughter-Syndrome – Persönlichkeitsentwicklung oder Bürde?

    Vergangenen Freitag hatte ich die Möglichkeit, eine Live-Podcast-Folge mit Miriam Davoudvandi aufzunehmen, in der wir über meine Arbeit gesprochen haben. Im Mittelpunkt standen dabei migrantische Perspektiven auf Psychotherapie und Psychologie, insbesondere Themen wie die Erfahrungen von Survivors und das Phänomen des „Immigration Guilt“. Auch transgenerationale Traumata und Sekundärtraumatisierung waren zentrale Bestandteile unserer Diskussion – alles Themen, die bereits in diesem Newsletter behandelt wurden und weiterhin von großer Bedeutung sind.

    Während des Gesprächs tauchte ein weiteres wichtiges Thema auf: das „Eldest-Daughter -Syndrome“, das im Grunde eine Form der Parentifizierung darstellt. Dieses Konzept hat mich inspiriert, die heutige Ausgabe von „migratische psyche“ den familiären Strukturen und deren Auswirkungen auf unsere mentale Gesundheit zu widmen. Insbesondere in migrantischen Familien lastet oft ein erheblicher Druck auf ältesten Töchtern, die bestimmte Rollenbilder erfüllen müssen. Das kann zu erheblichen psychischen Belastungen führen. Heute möchte ich beleuchten, wie solche Dynamiken unsere psychische Gesundheit beeinflussen und welche Strategien uns helfen können, besser damit umzugehen.

    Was sind Parentifizierung und das „Eldest-Daughter-Syndrome“?

    Parentifizierung liegt vor, wenn ein Kind dazu gebracht wird, eine entwicklungsbedingt unangemessene Elternrolle zu übernehmen. Das kann sowohl praktische Aufgaben wie das Bezahlen von Rechnungen, Übersetzen von Dokumenten oder das Betreuen jüngerer Geschwister umfassen, als auch emotionale Verantwortung, bei der das Kind – häufig die älteste Tochter – ein übermäßiges Maß an emotionaler Unterstützung für die Eltern leisten muss. Diese emotionale Parentifizierung ist oft die belastendere und komplexere Form, da das Kind zu einer Art zusätzlichem Elternteil wird.

    Gerade in Familien mit mehreren jüngeren Geschwistern oder in wirtschaftlich schwierigen Verhältnissen wird von ältesten Töchtern erwartet, dass sie einen Großteil der physischen und emotionalen Last des Haushalts tragen. Dies kann jedoch zu ernsthaften psychischen Belastungen führen, insbesondere wenn die Balance zwischen Verantwortung und persönlicher Freiheit gestört ist. Zu diesen Belastungen gehören:

    1. ein ausgeprägtes Verantwortungsgefühl
    2. übermäßiger Ehrgeiz und Rastlosigkeit
    3. ständige Sorgen und Angstzustände
    4. Probleme damit, Menschen zu gefallen
    5. Schwierigkeiten, Grenzen zu setzen und einzuhalten (sog. people pleasing)
    6. intensiver, verinnerlichter Groll gegenüber Geschwistern und Familie
    7. Kampf mit intensiven Schuldgefühlen
    8. Schwierigkeiten in familienunabhängigen, erwachsenen Beziehungen

    Parentifizierung: Eine Frage der Ausprägung

    Es ist wichtig zu betonen, dass Parentifizierung in Maßen auch positive Auswirkungen haben kann. Kinder, die früh Verantwortung übernehmen, entwickeln oft ein starkes Verantwortungsbewusstsein und eine ausgeprägte Selbstwirksamkeit, was ihnen im Erwachsenenalter zugutekommt. Doch die entscheidende Frage bleibt: Wann wird diese Verantwortung zu einer Belastung?

    Auch ist nicht ausschließlich die älteste Tochter von dieser Dynamik betroffen. Auch Söhne können erheblichem Druck ausgesetzt sein, besonders wenn kulturelle oder gesellschaftliche Rollenbilder zusätzliche Bürden und Hürden mit sich bringen.

    Familienstrukturen im Allgemeinen spielen eine große Rolle für das emotionale und psychische Wohlbefinden. Faktoren wie die Anzahl der Kinder, die Beziehung der Eltern zueinander, die sozioökonomische Lage sowie das Verhältnis der Geschwister untereinander beeinflussen maßgeblich die Dynamik innerhalb der Familie. All diese Aspekte wirken sich darauf aus, wie sich die einzelnen Familienmitglieder entwickeln und wie sie mit den Herausforderungen des Lebens umgehen.

    Was tun, wenn die Erwartungen an dich zur Last werden?

    Langfristig kann das Eldest-Daughter-Syndrome zu Depressionen, Angststörungen und Problemen in zwischenmenschlichen Beziehungen führen. Hilfreiche Strategien zur Bewältigung sind: Grenzen setzen, Bedürfnisse kommunizieren, Zuständigkeiten delegieren, Selbstfürsorge, Stressreduzierung, Aufbauen unterstützender Netzwerke, Hobbys und Interessen nachgehen, Achtsamkeit und Selbstreflexion üben, sich selbst gegenüber sanft und einfühlsam sein, freundlich und mitfühlend mit dir selbst sein. Vermeide unnötig harte Selbstkritik und übe dich in Selbstmitgefühl, indem du anerkennst, dass du unter deinen besonderen Umständen dein Bestes gebt.

    Kennst du dieses Gefühl, als Kind in Elternrollen zu schlüpfen? Erzähle mir gerne davon.

    Liebste Grüße

    Zara

     

     

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  • Social Media als Hilfequelle für mentale Gesundheit

    Da endlich mehr über unsere mentale Gesundheit, die Einflüsse darauf, Therapie und das generelle Bewusstsein dafür gesprochen wird, möchte ich dir heute ausgewählte Social Media Accounts auf verschiedenen Plattformen vorstellen, die sich mit dem Thema Psyche befassen und aus unterschiedlichen Blickwinkeln und mit verschiedenen Schwerpunkten aufklären.

    @psychologin_urooba auf Instagram

    Der Instagram-Account von Psychologin Urooba Aslam konzentriert sich auf psychologische Themen, insbesondere auf die Förderung von mentaler Gesundheit und emotionalem Wohlbefinden. Die Inhalte umfassen praktische Ratschläge, Erklärungen zu psychologischen Konzepten und alltagstaugliche Tipps zur Bewältigung von Stress und emotionalen Herausforderungen.

    Der Account dient als Ressource, um Selbstreflexion zu fördern und Unterstützung im Alltag anzubieten. Durch visuell ansprechende Beiträge, sowohl Infografiken als auch Reels und Erklärungen, macht die Psychologin komplexe psychologische Themen zugänglich und verständlich für ein breites Publikum. Auch auf YouTube klärt sie auf dem Kanal @psychologeek_funk zusammen mit Riccardo Frin ausführlicher u. a. über konkrete Störungsbilder auf.

    @Danke, gut. Der COSMO Podcast über Pop und Psyche

    Der Podcast „Danke, gut.“ von Miriam Davoudvandi befasst sich intensiv mit Themen rund um mentale Gesundheit, psychische Erkrankungen und persönliche Erfahrungen in diesen Bereichen. In jeder Episode spricht Miriam Davoudvandi mit verschiedenen Gäst*innen, darunter Kunstschaffende und andere Persönlichkeiten über ihre eigenen Erfahrungen mit verschiedenen Störungsbildern. Die Gespräche sind offen, ehrlich und oft auch sehr persönlich, wobei ein breites Spektrum an Themen wie Depression, Angstzustände, Trauma und der Umgang mit diesen Herausforderungen behandelt wird.

    Der Podcast zielt darauf ab, das Bewusstsein für mentale Gesundheit zu schärfen, Stigmata abzubauen und eine Plattform für den Austausch über psychische Gesundheitsthemen zu bieten. Er bietet Zuhörer*innen nicht nur Einblicke in die persönlichen Geschichten der Gäst*innen, sondern auch Informationen und Ratschläge, wie man mit psychischen Herausforderungen umgehen kann. Miriam Davoudvandi schafft es dabei, mit ihrem einfühlsamen und gleichzeitig direkten Gesprächsstil eine Atmosphäre zu schaffen, in der schwerwiegende Themen zugänglich vermittelt werden.

    Dr. Gabor Maté auf YouTube (englischsprachig)

    Gabor Maté nutzt YouTube als Plattform, um seine Ansichten und Erkenntnisse über Themen wie Trauma, Sucht, Stress und die Auswirkungen von Kindheitserfahrungen auf die psychische und physische Gesundheit zu teilen. Seine Videos umfassen Vorträge, Interviews und Diskussionen, in denen er seine Ansätze zur Heilung und Selbstreflexion vorstellt. Dabei berücksichtigt er auch politische und gesellschaftliche Entwicklungen, was das Verständnis umfangreicher macht. Seine YouTube-Inhalte sind besonders wertvoll für Menschen, die ein tieferes Verständnis für die Zusammenhänge zwischen Psyche und Körper sowie für alternative Ansätze zur Heilung suchen. Gabor Maté ist bekannt für seine einfühlsame und zugleich klare Vermittlung komplexer psychologischer Themen.

    @browngirltherapy auf Instagram (englischsprachig)

    Der Instagram-Account @browngirltherapy ist eine Plattform, die sich speziell mit der mentalen Gesundheit und den Erfahrungen von Menschen aus der südasiatischen Diaspora befasst, insbesondere mit der ersten Generation von Einwanderer*innen. Der Account, gegründet von Sahaj Kohli, bietet einen Raum für Diskussionen über die einzigartigen Herausforderungen, denen sich BIPoC gegenüberstehen, vor allem in Bezug auf kulturelle Identität, familiäre Erwartungen und die Auswirkungen von Migration auf das psychische Wohlbefinden.

    Einige der Hauptthemen, die auf dem Account behandelt werden, umfassen kulturelle Identität und Mental Health, generationsübergreifende Traumata und Heilung. Der Account bietet praktische Tipps und Ressourcen für Selbstfürsorge, die auf die spezifischen Bedürfnisse von Menschen aus der südasiatischen Diaspora und deren alltäglichen und doch oft speziellen Herausforderungen abgestimmt sind.

    Der Account fördert den Austausch und die Unterstützung innerhalb der Community, um ein Gefühl der Zugehörigkeit und des Verständnisses zu schaffen. @browngirltherapy bietet eine Mischung aus informativen Posts, persönlichen Geschichten und Ressourcen, um Menschen zu helfen, ihre Identität zu navigieren und ihre mentale Gesundheit zu pflegen.

     

    Welche Podcasts, Accounts und sonstigen Beiträge kennst du, die dir geholfen haben? Schreib mir gerne!

    Viel Spaß beim Lesen und liebste Grüße

    Zara

  • Transgenerationale Traumatisierung – Was ist es und was kann man dagegen tun?

    Heute befassen wir uns mit dem Thema transgenerationale Traumatisierung. Einem sehr wichtigen Thema, das mittlerweile mehr Menschen bekannt ist und in einer von Krieg und Gewalt geprägten Welt generationenübergreifend relevant ist und bleibt.

    Zunächst einmal zum Begriff:

    Das transgenerationale Trauma (auch bekannt als Transgenerationale Weitergabe und Transgenerationalität), bezieht sich auf die Übertragung von Erfahrungen von Angehörigen einer Generation auf die Mitglieder der nachfolgenden Generation. Dies geschieht in der Regel unbeabsichtigt, oft unbewusst und meist auch ungewollt. Diese Begriffe haben sich in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen etabliert.

    Die damit verbundenen Phänomene werden hauptsächlich in den Sozialwissenschaften untersucht und beschrieben, jedoch beginnen auch Vertretende der Naturwissenschaften, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Im Mittelpunkt steht die Übertragung unverarbeiteter seelischer Traumata, die in unterschiedlichen Kontexten erworben wurden. Die Art, wie diese erlebt wurden, können auf verschiedene Weisen, sowohl direkt als auch indirekt, und mit unterschiedlichen Auswirkungen an die Nachkommen weitergegeben werden.

    Besonders häufig wurden solche Phänomene bei Holocaust-Überlebenden und deren Nachkommen dokumentiert. Doch auch die rassistische Kontinuität, die sich unter anderem in der Versklavung von Menschen und in unzähligen Kriegs- und Migrationsbewegungen widerspiegelt, spielt eine riesige Rolle, die immer noch zu wenig Aufmerksamkeit erhält. Neben zahlreichen negativen Folgen kann auch die Resilienz, also die psychische Widerstandsfähigkeit eines Menschen, durch transgenerationale Weitergabe gestärkt werden.

    Wie entsteht transgenerationale Traumatisierung?

    Häufige Gründe für die transgenerationale Traumaweitergabe sind:

    • Gewalt durch physische und psychische Misshandlungen
    • Verlust in Form von Tod und Trennung von Angehörigen
    • Krieg und Erlebnisse von Zerstörung und Vernichtung
    • Verfolgung, Diskriminierung und systematische Unterdrückung, die Sicherheit und Zugehörigkeit rauben

    Dabei wissen wir nur grob oder vielleicht auch gar nicht, was unsere traumatisierten Angehörigen im Detail erlebt haben. Sowohl das nachvollziehbare Schweigen darüber als auch die fehlende Aufarbeitung der Erlebnisse verwandeln sich in einen dicken, dunklen Schleier, der unsere Leben umhüllt, ohne dass man wirklich merkt, dass er da ist.

    Lebenslange psychische Belastungen traumatisierter Personen werden oft nicht verarbeitet und genau diese Erlebnisse werden durch Verdrängung weitergegeben. Die unausgesprochenen Ängste und Traumata der Eltern beeinflussen die emotionale und psychische Entwicklung ihrer Kinder, wodurch sich diese Belastungen wiederum um weitere Generationen hinwegziehen.

    Unverarbeitete Traumata wirken sich also auf den Umgang mit den eigenen Nachkommen aus. Diese erleben oft eine erhöhte Anfälligkeit für psychische Probleme und Störungen wie Depressionen, Angststörungen und posttraumatische Belastungsstörungen. Diese weitergegebenen Belastungen äußern sich dabei in erhöhten Stressreaktionen, Schwierigkeiten in Beziehungen und einem gestörten und schädlichen Selbstbild, das über Generationen hinweg bestehen bleibt, wenn die Traumata nicht aufgearbeitet werden. Mitunter beeinflusst werden eben auch Träume, Gedanken, das emotionale Erleben und unbewusste Agieren.

    Wichtig zu erwähnen ist, dass transgenerationale Traumata nicht bedeuten, dass man sie 1:1 weitervererbt. Vielmehr münden unverarbeitete Erlebnisse in dysfunktionalen, schädlichen Gefühlen und Verhaltensweisen, welche Beziehungen und Entwicklungen zu anderen prägen. Es entsteht also eine Art Dominoeffekt. Die DNA-Sequenz verändert sich hierbei nicht, es handelt sich um chemische Veränderungen und es entstehen Proteine, die bestimmen, welche Nervenzellen wie aktiv sind. Dies wiederum beeinflusst unser Verhalten.

    In drei Generationen zusammengefasst, ist es so darzustellen:

    1. primäre/direkte Traumatisierung der betroffenen Person
    2. sekundäre Traumatisierung der angehörigen Person
    3. transgenerationale Traumaweitergabe an weitere Nachkommen

    Wie hört es auf?

    Oftmals fehlt(e) es an Zeit und Kraft, nicht selten auch an Offenheit und Verständnis, um schwerwiegende Dinge aufzuarbeiten. Um den Teufelskreis zu durchbrechen, bedarf es an Bereitschaft, viel Geduld, natürlich aber auch Ressourcen. Die biografische und emotionale Anerkennung der Problematiken bildet dabei die Grundlage und oft liegt es an einer Person selbst, den ersten Schritt zu wagen. Sich mit dem Thema zu befassen und in den Dialog miteinander zu treten, hilft meistens, um unsichtbare Mauern zu schwächen. Überschätzen sollten und dürfen wir aber auch diese Schritte nicht, da sie unterdrückte, gestapelte, vermischte und auch erschreckende Folgen haben können. Hilfe von professionellen Fachkräften, erfahrenen Familienmitgliedern und sachliche Aufarbeitungen können helfen.

  • Dekoloniale Perspektiven auf Psychologie

    Häufig werde ich danach gefragt, welche Bücher meine Arbeit beeinflussen und welche ich weiterempfehlen würde. Diese Frage lässt sich nicht kompakt beantworten und je nach konkretem Thema widme ich mich mehreren Büchern, Journals und Paneltalks. Wenn ich jedoch reflektiere, welche Autor*innen die Essenz dessen erfassen, was meinen kritischen Blick auf die gelehrte „moderne“ Psychologie und die daraus resultierende politische Arbeit betrifft, stoße ich auf die folgenden Werke. Sie beinhalten sowohl linke politische Theorie als auch die Zwischenmenschlichkeit in einer ungerechten Welt, geprägt von Unterdrückung und den Kämpfen dagegen.

    Heute begrüße ich euch also mit ein paar Buchempfehlungen, die in ihrer Essenz dekoloniale, kritische Sichtweisen teilen und gleichzeitig durch unterschiedliche Herangehensweisen und Betroffenheiten entstanden sind. Dabei handelt es sich um nicht-weiße Autor*innen, deren pädagogische, psychologische und politische Werke zwar sehr bekannt sind, im Kontext der westlichen Psychologie jedoch selten berücksichtigt werden und auch uns dadurch nicht immer zugänglich erscheinen.

    Menschenkind

    „Menschenkind“ (Original „Beloved“) von Toni Morrison ist ein tiefgründiger Roman, der die Nachwirkungen der Sklaverei in den USA beleuchtet.

    Der Roman thematisiert die brutalen und anhaltenden Auswirkungen der Sklaverei auf Individuen und Familien, insbesondere auf die psychische Gesundheit und Identität der Überlebenden. Die Geschichte spielt nach dem amerikanischen Bürgerkrieg und folgt Sethe, einer entflohenen Sklavin, die in Cincinnati, Ohio, lebt. Sie wird von den Geistern ihrer Vergangenheit heimgesucht, besonders von dem Geist ihrer toten Tochter Beloved, die sie getötet hat, um sie vor der Versklavung zu bewahren.

    Morrison widmet sich vor allem den Themen:

    Trauma und Erinnerung: Der Roman untersucht, wie traumatische Erfahrungen das Leben der Überlebenden beeinflussen und wie sie mit diesen Erinnerungen umgehen.

    Mutterschaft und Opfer: Sethes Handlung, ihre Tochter zu töten, wirft komplexe Fragen über die Natur der Mutterschaft und die extremen Maßnahmen auf, die Mütter ergreifen, um ihre Kinder zu schützen.

    Identität und Freiheit: Der Roman zeigt den Kampf der ehemaligen Sklav*innen, ihre Identität und Menschlichkeit in einer Gesellschaft wiederzuerlangen, die sie lange entmenschlicht hat.

    Morrisons Schreibstil ist reich an Symbolik und poetischer Sprache. Der Roman wechselt zwischen verschiedenen Perspektiven und Zeitebenen, um die Tiefe und Komplexität der Charaktere und ihrer Geschichten zu zeigen.

    „Beloved“ ist ein kraftvolles Werk, das die schreckliche Realität der Sklaverei und ihre anhaltenden Auswirkungen auf die Nachfahren der Sklav*innen thematisiert. Es ist eine Untersuchung von Schmerz, Erinnerung und der Suche nach Heilung und Identität.

    Plantation Memories: Episodes of Everyday Racism

    „Plantation Memories: Episodes of Everyday Racism“ von Grada Kilomba ist ein eindrucksvolles Werk, das sich mit den alltäglichen Erfahrungen von Rassismus auseinandersetzt. Kilomba, selbst Psychologin, befasst sich in dem Buch mit den Themen:

    Alltäglicher Rassismus: Kilomba beleuchtet die alltäglichen, oft subtilen Formen von Rassismus, die Menschen afrikanischer Herkunft in westlichen Gesellschaften erleben.

    Koloniale Vergangenheit und Gegenwart: Das Buch zieht Verbindungen zwischen der kolonialen Vergangenheit und den gegenwärtigen rassistischen Strukturen. Die „Plantation“ dient als Metapher für die fortdauernde koloniale Unterdrückung.

    Persönliche Geschichten: Kilomba verwendet persönliche Erzählungen und Anekdoten, um die emotionalen und psychologischen Auswirkungen von Rassismus zu veranschaulichen.

    Psychologische Perspektive: Als klinische Psychologin bietet Kilomba eine tiefgehende Analyse der psychologischen Mechanismen von Rassismus und deren Auswirkungen auf das Selbstbild und die Identität der Betroffenen.

    Dekolonialisierung des Wissens: Das Buch plädiert für eine Dekolonialisierung des Wissens und der Erzählungen, indem es die dominanten weißen Perspektiven infrage stellt und marginalisierte Stimmen hervorhebt.

    Intersektionalität: Kilomba betrachtet die Überschneidungen von Rassismus mit anderen Formen der Unterdrückung wie Sexismus und betont die Komplexität der Erfahrungen von Schwarzen Frauen.

    „Plantation Memories“ ist ein wichtiges Werk, das tief in die Strukturen des Rassismus eintaucht und dazu beiträgt, auch bildlich ein Bewusstsein für die fortdauernde Bedeutung der kolonialen Vergangenheit und deren tiefgreifenden psychologischen Folgen zu schaffen.

    Pädagogik der Unterdrückten

    „Pädagogik der Unterdrückten“ von Paulo Freire ist ein einflussreiches Werk in der Bildungstheorie, das traditionelle Bildungssysteme kritisiert und eine transformative Pädagogik vorschlägt. Die Hauptthemen sind:

    Banking-Modell der Bildung: Freire kritisiert das traditionelle Modell, bei dem Lehrende Wissen in passive Schüler*innen „einzahlen“.

    Dialogische Pädagogik: Stattdessen fordert er einen dialogischen Ansatz, bei dem Lehrende und Schüler*innen gemeinsam lernen.

    Kritisches Bewusstsein: Bildung sollte helfen, soziale und politische Realitäten zu hinterfragen und zu ändern.

    Unterdrückung und Befreiung: Bildung muss die Unterdrückten befähigen, ihre eigene Befreiung zu erreichen.

    Praxis: Kombination von Reflexion und Aktion als Mittel zur sozialen Veränderung.

    Humanisierung: Ziel der Bildung ist es, die Menschlichkeit aller zu fördern und Dehumanisierung zu überwinden.

    Rolle der Lehrenden: Lehrende sind Partner*innen im Lernprozess, nicht autoritäre Wissensvermittler*innen.

    Freires Werk bleibt zentral für Diskussionen über soziale Gerechtigkeit und transformative Bildung.

    Die Verdammten dieser Erde

    „Die Verdammten dieser Erde“ (Originaltitel: „Les Damnés de la Terre“) von Frantz Fanon ist ein bedeutendes Werk in der postkolonialen Theorie und revolutionären Befreiungsliteratur, welches – zurecht – aktuell wieder viel Aufmerksamkeit bekommt. Fanon widmet sich den Themen:

    Koloniale Unterdrückung: Fanon analysiert die brutale Natur der kolonialen Unterdrückung und deren psychologische Auswirkungen auf die Kolonisierten.

    Gewalt als Mittel der Befreiung: Er argumentiert, dass Gewalt notwendig ist, um das koloniale System zu stürzen und die Würde der Unterdrückten wiederherzustellen. Für Fanon ist Gewalt ein reinigendes und befreiendes Mittel.

    Psychologische Effekte der Kolonialisierung: Fanon beschreibt die tiefgreifenden psychologischen Schäden, die die Kolonialherrschaft bei den Kolonisierten verursacht, einschließlich Minderwertigkeitskomplexen und Identitätskrisen.

    Nationale Befreiung und Kultur: Die Wiederentdeckung und Wertschätzung der eigenen Kultur sind entscheidend für die nationale Befreiung. Fanon betont die Bedeutung eines neuen nationalen Bewusstseins.

    Rolle der Intellektuellen: Er kritisiert die einheimischen Eliten, die oft die Interessen der Kolonialisierenden vertreten, und fordert eine engagierte Intelligenz, die sich der Sache der Befreiung verschreibt.

    Postkoloniale Herausforderungen: Fanon warnt vor den Schwierigkeiten und Gefahren nach der Erlangung der Unabhängigkeit, einschließlich der Gefahr, dass die neue Regierung die alte koloniale Machtstruktur übernimmt.

    „Die Verdammten dieser Erde“ bleibt ein einflussreiches Werk in den Bereichen postkoloniale Studien, kritische Theorie und revolutionäre Politik.

     

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  • Mental Health Apps? – Interview mit memnun-Gründer Berkant

    Mentale Gesundheits-Apps sind mittlerweile bei uns angekommen und sollen uns in unserem Alltag unterstützen. Sie zielen darauf ab, das psychische Wohlbefinden zu fördern und bieten Funktionen und Dienstleistungen, die von der Unterstützung bei alltäglichem Stress bis hin zur Behandlung ernsthafter psychischer Erkrankungen helfen. Wahrscheinlich kennst du vor allem Journaling-, Schlaf- und Meditationsapps. Wie auch im Therapiekontext kommen hierbei aber für uns wichtige Aspekte häufig zu kurz. Deswegen freue ich mich, dass ich heute Berkant im Newsletter begrüßen darf. Er hat vor kurzem memnun, eine kultursensible App für Resilienzstärkung und Stressmanagement, gelauncht.

    Auch ich durfte in der Vergangenheit mitwirken und weiß, welchen langen Weg das Team gegangen ist und wie viel Zeit, Gedanken und Mühe mit eingeflossen sind.

    Wie es zu der Idee kam und was memnun von anderen Apps unterscheidet, kannst du unten im Interview lesen.

    Hast du auch Erfahrungen mit Apps für die mentale Gesundheit gemacht? Dann schreib mir gerne!

     

    Berkant Bostan im Interview

     

    Berkant Bostan ist Gründer und Geschäftsführer von bost&, wo er innovative digitale Produkte und Dienstleistungen – wie beispielsweise die App memnun – für multikulturelle Zielgruppen entwickelt. Neben seiner Arbeit als Unternehmer hält er auch Vorlesungen zu Unternehmertum und Innovation an Hochschulen in Deutschland und der Türkei.

    Was bedeutet „memnun“ und wie kamst du auf den Namen?

    memnun bedeutet in verschiedenen Sprachen „zufrieden“, „erfreut“ oder „dankbar“. Am Ende des Tages wollen wir alle im Leben zufrieden sein. Der Name hat einen schönen Klang und verbindet verschiedene Sprachen und Schriften, was Diversität und Zusammengehörigkeit symbolisiert.

    Wie entstand die Idee für eine App, die sich kultur- und rassismussensibel mit mentaler Gesundheit beschäftigt?

    Die Idee entstand 2020, kurz nach dem rassistischen Attentat in Hanau. Damals ging es mir selbst nicht gut und ich habe mich das erste Mal ernsthaft und bewusst mit meiner eigenen mentalen Gesundheit auseinandergesetzt. In unserer Kultur wird erwartet, dass man immer stark ist und performt, aber der Umgang mit Trauer und den Berichterstattungen hatte auch physische Auswirkungen auf mich und mein Umfeld. Damals hatte ich das Bedürfnis, etwas für unsere Communities zu schaffen, die von Rassismus und permanenter Gewalt betroffen sind.

    „memnun wurde mit viel Liebe und Sorgfalt entwickelt, um kultur- und rassismussensibel zu sein“

     

    Ursprünglich war eine Art digitaler Marktplatz angedacht, der Termine an kultur- und rassismussensible Therapeut*innen vermittelt. Wir mussten jedoch schnell realisieren, dass es am Angebot und vor allem an der Zugänglichkeit mangelt. Deshalb musste etwas Digitales entwickelt werden, was zugänglicher ist.  So kam die Idee zu einer App. Sie basiert auf wissenschaftlich etablierten Methoden wie Psychoedukation und bietet einen multimodalen Stress- und Ressourcenmanagement-Kurs an, der von den Krankenkassen finanziert wird.

    Was unterscheidet memnun von anderen Mental-Health-Apps?

    memnun wurde mit viel Liebe und Sorgfalt entwickelt, um kultur- und rassismussensibel zu sein. Wir berücksichtigen Struggles, die andere Apps nicht einmal anerkennen, und verwenden eine Sprache, mit der sich unsere Nutzer*innen identifizieren können. Das Wissen wird leicht zugänglich vermittelt, sowohl inhaltlich als auch finanziell. Es gibt viele Angebote auf dem freien Markt, die letztendlich dazu beitragen, sich selbst zu optimieren, um funktionieren zu können. Aber wir wollten einen anderen Weg gehen.

     

    „Dinge wie unser Migrationshintergrund, die oft als Hindernisse gesehen werden, haben wir zu unseren Superkräften gemacht“

     

    Es ist nicht leicht, bei so einem Projekt dranzubleiben und selbst die nötigen Ressourcen zu finden. Wie hat es geklappt?

    Man muss den ersten Schritt gehen und dann offen sein für das, was kommt. Hätte ich gewusst, wie hart es wird, hätte ich den Weg vielleicht nicht gewählt. Auf dem Weg zieht man Dinge und Menschen an, die einen voranbringen und von denen man gar nicht wusste, dass es sie gibt. Durch freiwillige Helfer*innen mit wichtigen Fähigkeiten konnten wir multidisziplinär arbeiten. Auch Menschen ohne direkten Bezug zum Thema werben in ihrem Umfeld dafür und unsere Community wird somit größer.

    Einer der Schlüsselmomente war, Jan Kızılhan mit seiner wissenschaftlichen Expertise gewinnen zu können. Das hat es einfacher gemacht, andere Psycholog*innen zu überzeugen. Unsere Community ist stabil, wir haben durch unsere Biografien ein anderes Verständnis von Resilienz. Diese Resilienz erkennen, bewahren und stärken wir mit unserer App. Dinge wie unser Migrationshintergrund oder der Gebrauch von Slang, die oft als Hindernisse gesehen werden, haben wir zu unseren Superkräften gemacht. Diese hybride Fähigkeit, in mehreren Welten zu navigieren, stärkt nicht nur unsere App, sondern auch uns als Gemeinschaft.

     

     

    memnun basiert auf wissenschaftlich etablierten Methoden und ist zertifiziert.
    Parallel zur Nutzung wird im ersten Jahr eine klinische Studie durchgeführt, um die Wirksamkeit zu prüfen und garantieren zu können.

    Um auch die Zugänglichkeit gewährleisten und gleichzeitig Schutz zu bieten, erfolgt die Anmeldung durch Einladung.

    Falls du interessiert bist, melde dich gerne mit dem Einladungscode „migrantischepsyche“ an.

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  • Politischer Widerstand – Solidarität oder kognitive Dissonanz?

    Heute wende ich mich mit einem etwas anderen Inhalt an dich. Diesmal möchte ich neben dem Informieren und Anregen vor allem auch Appellieren – an uns alle. Wie in der letzten Ausgabe bereits angekündigt, beschäftigen wir uns heute mit Widerstand. Wie denken und leben wir ihn? Und inwiefern spielt kognitive Dissonanz eine Rolle?

    Politischer Widerstand in der Psychologie

    Der Begriff des Widerstands wird in der Psychologie und vor allem Psychotherapie zunächst als etwas Negatives gegenüber Erkenntnis und Fortschritt verstanden. Das Fehlen von „Widerstand“ gilt als positiv, als ein Zeichen von Offenheit und für Veränderung. Doch der psychoanalytische Begriff des Widerstands kann komplexer, mehrdeutiger und paradoxer sein, als er allgemein dargestellt wird. Was wäre, wenn die politischen Überzeugungen und Handlungen von Patient*innen klinischen und politischen Widerstand mit dem Ziel der Heilung bedeuten würden? Was, wenn der politische Widerstand eines Individuums veränderungsfördernd, therapeutisch, persönlich gewinnbringend ist?

    Auch Frantz Fanon, Psychiater, dekolonialer Denker und Schriftsteller, verstand fehlenden Widerstand gegen politische, diskriminierende und einschränkende Realitäten als verdeckten und kontraproduktiven Abwehrmechanismus. Damit wurde vermieden, aktiv gegen die eigentlichen Ursachen der Konflikte vorzugehen, die uns belasten. Fanon entwickelte Ansätze, die ihn zu einem Pionier der modernen Ethnopsychiatrie machten. Er wandte sich von der institutionellen Therapie ab, da er überzeugt war, dass Therapie die Freiheit der Patient*innen wiederherstellen und im normalen kulturellen und sozialen Umfeld stattfinden sollte. Er kritisierte, dass etablierte Psychiatrie und Einrichtungen Patient*innen „amputieren, bestrafen, ablehnen, ausschließen und isolieren“.

    Wenn wir als Menschen, die von Marginalisierung, Diskriminierung und Rassismus betroffen sind, die für uns fehlende Unterstützung sowohl in Politik als auch Psychologie identifizieren und Widerstand leisten, wie sieht dieser aus? Häufig verstehen wir Demonstrationen, Aktivismus, Petitionen als Widerstand. Doch unsere Identitäten werden ohnehin politisiert, indem sie als Angriffsflächen instrumentalisiert werden. Viele unserer Handlungen, die wir als selbstverständlich und normal verstehen, werden angeprangert. Können wir somit unsere bloße, natürliche Existenz als widerständig empfinden? Die Authentizität und das Ausleben unserer Kulturen, die Zugehörigkeit zu unseren Religionen und das Huldigen unserer Sprachen können in sich als widerständig verstanden werden.

    Auch identifizieren wir uns miteinander und solidarisieren uns mit denjenigen, die gleiche, ähnliche und noch stärkere Repression erfahren, weil wir sie verstehen und weil es richtig ist. Oder?

    Solidarität vs. Kognitive Dissonanz

    Während wir uns unter anderem mit dem palästinensischen Volk solidarisieren und möglichst mit den in unserer Macht stehenden Methoden Widerstand leisten, vernachlässigen wir nicht selten andere Völker, die ebenso unter kapitalistischen und imperialistischen Strukturen leiden. Dass wir sowohl physisch als auch mental nicht überall gleichzeitig sein können, ist menschlich und verständlich, doch viel zu oft und vor allem viel zu intensiv, widersprechen wir unseren eigenen Prinzipien.

    Als Paradebeispiel können wir dafür das aufregende und groß bejubelte EM-Achtelfinale-Spiel der Türkei gegen Österreich betrachten. Neben der andauernden Vernichtung von Kurd*innen durch den türkischen Staat und deren Unsichtbarmachung, sahen wir lediglich kurz vor dem Fußballspiel Videos aus der Türkei, in denen Pogrome gegen syrische und afghanische Geflüchtete durchgeführt wurden. Und das alles am Gedenktag des sich zum 31. Mal jährenden Sivas-Massakers, bei dem 33 Alevit*innen durch einen Brandanschlag getötet wurden. Die Solidarität ist jedoch inmitten von Türkeiflaggen, dem Handzeichen der faschistischen Grauen Wölfe und den deutschlandweiten Autokorsos abhandengekommen.

    Inwiefern sind wir aufrichtig solidarisch und im Namen der Unterdrückten widerständig, wenn wir das Eine sagen und das Andere tun? Handeln wir nicht egozentrisch, fügen wir uns nicht nur demselben System unter, das uns zu unterdrücken vermag, sondern bekräftigen dieses auch noch? Es herrscht kognitive Dissonanz. Um den Begriff zu erklären: Kognitionen sind individuelle Erkenntnisse über die Realität. Kognitive Dissonanz entsteht, wenn zwei gleichzeitig bestehende Kognitionen einer Person sich widersprechen oder ausschließen. Dieser Spannungszustand führt dazu, dass die Person versucht, die Dissonanz zu verringern oder aufzuheben, indem sie eine passende Umgebung aufsucht oder selektiv Informationen sucht, die bisherige Glaubenssätze bestätigt.

    Liegt es nicht in unserer Verantwortung, als widerständige, aufrichtig solidarische Betroffene von Diskriminierung, egal in welcher Form, füreinander einzustehen und einzusehen, dass alle Kämpfe gegen Kolonialität miteinander verbunden sind? Ich denke, wir alle kennen die Antwort.

     

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