Schlagwort: Lyrik

  • Die Sonne hat einen anderen Namen

    Sie, die auf dem Foto war, konnte ihr nicht sagen, dass sie trotz ihrer fallenden Haare nicht wirklich krank war. Plötzlich und ohne Verwarnung brach ein schmerzhafter Seufzer hervor.
    Die Sonnenstrahlen und sie haben alleine das Recht, ihre langen Haare, die langsam herabfallen, zu kämmen. Ihre Tränen und sie versuchten, die Erinnerungen zu vergessen…

    Meine Mutter schlug mich wegen meiner späten Rückkehr aus der Schule immer auf die Wange. Sie erkannte nicht, dass ich und die Strahlen der goldenen Sonne ihre Haare gezeichnet hatten … an einem Morgen, als ich unter ihrem Fenster stand, dachte ich mir: Soll ich singen oder ihr einen Teil meiner Tränen geben?! ich versuchte sie zu rufen, ich konnte nicht…

    „Zu dieser Zeit…“

    Ich öffnete mein Notizbuch und schrieb:

    „Zu dieser Zeit fallen jedes Jahr die Haare der Mädchen wie die gelben Blätter der Bäume … Die Sonne nimmt sie mit hinter den Berg, um daraus schöne Haarflechten zu machen. Bitte weine nicht, deine Haare werden wieder wachsen…“

    Ich wusste, wie jedes Mal, dass mich meine Mutter schlagen wird. Trotzdem ging ich zum Friseur. Trotz der erstaunten Blicke der Passanten sammelte ich meine Haare und berührte froh meinen Glatzkopf und ging…

    Bevor ich nach Hause ging, versteckte ich meine Harre und das Notizbuch in eine kleinen Tüte und legte sie vor ihre Tür. Ich klingelte an der Tür und rannte weg…

    „….die Sonne nimmt sie mit“

    Nach ein paar Tagen sah ich sie nicht mehr an ihrem Fenster. Meine Mutter schlug mich auch nicht mehr.
    An einem Abend, als die Sonne unterging, schickte sie mir mit ihren Strahlen eine kleine Tüte, in der ein wunderschöner Haarzopf und ein Zettelchen steckten, darauf stand:

    „Zu dieser Zeit fallen jedes Jahr die Haare alle Menschen, wie die gelben Blätter der Bäume. Die Sonne nimmt sie hinter den Berg, um aus ihr schöne Haarflechten zu machen. Bitte weine nicht, deine Haar werden wieder wachsen…“

    Geschrieben von: Nizar Mzher
    Übersetzt aus dem Arabischen von: Ayoub Mezher und Gabriela Vasileva

  • Hoffnung zur Sprache bringen

    Sprache verbindet uns als Lernende

    Sprache kann der Hoffnung Flügel schenken und Verbundenheit schaffen. Und andersrum: Ohne Hoffnung fällt es schwer, sich einzulassen auf eine neue Sprache. Ich habe großen Respekt vor der Ausdauer und Motivation, mit der so viele Geflohene diese schwierige Herausforderung meistern. Und ich fühle mich dabei ebenso als Lernende. Wir üben Futur – das ist immer ein gemeinsamer Lernprozess. Ich bin dankbar für so viele Entdeckungen, die wir dabei miteinander machen können. Davon erzählt dieses Gedicht:

    Wir üben Futur

    Wir üben Futur
    du wirst
    ich werde
    wir werden
    nichts scheint gewiss
    aber jede Woche zur gleichen Zeit
    schöpfen wir Mut aus dem Meer der Sprache
    so tief

    Wir formen Laute
    ein ü
    ein br
    ein sch
    die fremde Sprache auf deinen Lippen
    erwärmt sich langsam
    im Atemstrom wohnt
    Geduld

    Wir buchstabieren Freundschaft
    mit F wie Frieden
    und R wie Respekt
    und E wie endlich
    und unendlich gleich nebenan
    dahinter bleibt Raum für die Sehnsucht
    und ganz am Ende
    ein Traum

    Wir lesen Geschichten
    so Wort
    an Wort
    an Wort
    entspinnt sich ein Faden
    entspannt sich die Seele
    ein Knoten ist plötzlich
    gelöst

    Wir üben Futur
    du wirst
    ich werde
    wir werden
    nichts scheint gewiss
    aber jede Woche zur gleichen Zeit
    setzen wir Segel auf dem Meer der Hoffnung
    so weiß.

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