Schlagwort: Literatur

Buch, Dichtung, Schriften

  • Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt – eine Rezension

    Usama Al Shahmani kam als Geflüchteter aus dem Irak in die Schweiz und wurde dort heimisch – heimisch in der Landschaft, in den Wäldern, an den Ufern der Flüsse und Bäche und heimisch in der deutschen Sprache. „Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt“ ist der dritte Roman von Usama Al Shamani. Er folgt auf „In der Fremde sprechen die Bäume arabisch“ und „Im Fallen lernt die Feder fliegen“.

    Auch in diesem Roman verwebt Usama Al Shahmani eigene Erfahrungen der Flucht, des Ankommens in einer für ihn fremden Welt, Rückblicke in die Heimat und in seine Familiengeschichte – alles überschattet von Krieg und Terror. Und doch bleibt in ihm ein Kern von Hypomone, der inneren Standhaftigkeit, ohne die er all die Widrigkeiten der Flucht und der Zustände im Exil nicht hätte bewältigen können. Hilfreich waren ihm dabei die in der Schweiz entdeckte Liebe zur Natur, seine Wanderungen durch die Wälder, seine Nähe zu den Bäumen und den Vögeln und immer wieder zu fließenden Gewässern.

     

    Alles fließt und nichts bleibt

    Flüsse wurden für Al Shahmani Orte der Erneuerung. Die Betrachtung des Wassers gab ihm Kraft und Hoffnung, ganz im Sinne von Heraklits Flusslehre und Platons berühmtem Zitat: Panta rhei. Alles fließt und nichts bleibt. Es gibt nur ein ewiges Werden und Wandeln.

    An dem Protagonisten Dafer Schiehan ist dieses Werden und Wandeln nachvollziehbar beschrieben. Den Ängsten des Krieges, der Flucht mit Schleppern, der Bürokratie des Gastlandes ausgesetzt, in dem er fast wie ein Welpe das Leben neu lernen musste, mit all seinen Unwägbarkeiten. Und auch seine innere Zerrissenheit: Was ist Heimat?

    Er musste das unbewältigte wortlose Trauern der Familie um seinen verschwundenen Bruder Gabrieb und das Verschwinden von Freunden verarbeiten. Trotzdem findet Dafer seinen Weg, wenn auch nicht seiner Ausbildung gemäß in akademischen Kreisen, sondern als Tellerwäscher, aber mit einem offenen respektvollen Chef, der ihm auf Augenhöhe begegnet und ihm neue Chancen bietet.

    Trotz aller unterschwelligen Tristesse ist es ein Roman der Hoffnung. Und wir können hoffen, dass Al Shahmani nach Abschluss dieses „Dreigestirns“ zu neuen Ufern aufbricht. Sich erzählerisch treiben lässt vom Fluss des Lebens.

     

    „Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt“

    Limmat Verlag, ISBN 978-3-03926-042-3

  • Neuaufgelegt: Willkommen im Paradies

    Der 1999 erschienene, 2024 im Schweizer Lenos Verlag neu aufgelegte Roman „Willkommen im Paradies“ („Cannibales“ im französischen Original) des marokkanischen Schriftstellers und Malers Mahi Binebine ist aktueller denn je.

    Der Autor selbst hat ein wechselvolles Schicksal. Einer seiner Brüder war unter Hassan II 18 Jahre im berüchtigten Gefängnis Tazmamart inhaftiert. Binebine studierte Mathematik und lebte als Lehrer in Paris, bis er anfing, zu schreiben und autodidaktisch zu malen. Einige seiner Bilder sind Bestandteil des Guggenheim Museums in New York. Er lebte in New York und in Madrid, kehrte erst 2002 in die Heimat zurück.

    Binebine gelingt es meisterhaft, die Lebensgeschichten, angefüllt mit Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, Enttäuschung und zugleich Hoffnung der einzelnen Protagonisten, die am Strand von Tanger auf die Überfahrt nach Spanien harren, lebendig werden zu lassen. Er setzt Asûs als seinen Erzähler, seinen Dolmetscher ein.

    Und so bekommen die Maghrebiner*innen Nuara und ihr Kind, ihr Mann Sulaimân, Jûssuf und sein zwergenhafter Zwilling Momo, Mûrad und Kâssim Dschûdi, die beiden Malier*innen Pafadnam und Yarcé sowie die Europäer*innen, die Schwestern Bénédicte und Odette und der Lehrer Monsieur Romanchef, ein menschliches Gesicht. Denn jeder Mensch hat eine ganz eigene Geschichte, die sich zudem noch in Vorgeschichten, mit ihren sozialen, religiösen und kulturellen Strukturen verästelt.

    Das schmale Buch von Binebine könnte zum Nachdenken anregen, was denn unser Gesicht, unsere Geschichte und Vorgeschichte wären, wenn wir unser altes Leben verlassen würden für ein neues menschenwürdiges.

    Die Festung Europa ist regressiver und repressiver denn je. Rechtspopulistische Regierungen und ihre Trittbrettfahrer übernehmen das Zepter. Und die großen Worte von Menschenrechten und der Würde eines jeden einzelnen werden zu verbalen Hülsen im Einheitsbrei der Information. Niemand interessiert sich für die, die ihre Heimat verlassen haben, aus welchen Gründen immer: Krieg und Verfolgung, Hungersnöte, Überschwemmungen, Ausweglosigkeit im eigenen Leben. Niemand interessiert sich für die im Mare nostrum Verschollenen, Ertrunkenen. Im Mittelmeer soll es Fische geben, die besonders prall und fett seien …

    Niemand sieht sie als Einzelwesen, sondern immer nur als menschliche Masse. Die Maghrebiner*innen. Die Syrer*innen. Die Muslim*innen.

    Vielleicht sind es irgendwann „Die Europäer*innen“?

     

  • Ein Jahresrückblick mit migrantisch gelesen

    Mein Name ist Omid Rezaee – freier Journalist, Buchenthusiast und dein persönlicher Buchkritiker. Willkommen zur 11. und letzten Ausgabe von migrantisch gelesen im Jahr 2024.

    Die Feiertage stehen bevor – eine Zeit, die meiner Erfahrung nach für viele migrantisierte Menschen ambivalent ist. Ich erinnere mich an einige Weihnachten, an denen meine Mitbewohner*innen und Freund*innen verreist waren und die Festtage im Kreise ihrer Liebsten verbrachten. In diesen Momenten, wenn Einsamkeit besonders spürbar wird, waren es für mich vor allem Bücher und das Lesen, die mir geholfen haben. Sich in fiktive Welten, andere Universen und ferne Zeiten zu vertiefen, ist ein Fluchtweg aus der harten Realität der Einsamkeit.

    Vor einigen Wochen habe ich mit einer Freundin über genau dieses Gefühl der Einsamkeit gesprochen, und sie hat mir das Buch „Allein“ von Daniel Schreiber empfohlen (ja, manchmal – wenn auch nicht oft – lasse ich mir Bücher empfehlen!). In diesem Buch beschäftigt sich Schreiber mit dem Unterschied zwischen Einsamkeit und Alleinsein. Spoiler: Der größte Unterschied liegt darin, dass man sich das Alleinsein aussucht, während die Einsamkeit einen überwältigt. Dieses Buch hat mir – als jemand, der gerne allein ist, aber gelegentlich von Einsamkeit übermannt wird – geholfen, bewusster mit diesem Gefühl umzugehen.

    Allein

    Daniel Schreiber widmet sich in seinem Buch „Allein“ einem der größten gesellschaftlichen Tabus unserer Zeit: dem Alleinsein. Dabei geht es nicht nur um die Einsamkeit, die als Schmerz empfunden wird, sondern auch um das Potenzial, das in der Selbstbestimmung liegt. Er nähert sich dem Thema mit einer seltenen Kombination aus persönlicher Offenheit und intellektueller Tiefe.

    Das Buch bietet keine einfachen Antworten und ist kein Ratgeber. Vielmehr entfaltet es eine essayistische Reise, die sich mit philosophischen, soziologischen und literarischen Perspektiven ergänzt. Diese Vielfalt dient nicht als bloße Verzierung, sondern vertieft das Verständnis für das Spannungsfeld, in dem das Alleinsein steht: zwischen dem gesellschaftlichen Ideal der Paarbeziehung und der realen Erfahrung des Alleinlebens. „Allein“ ist ein Werk, das nicht nur die Lesenden berührt, sondern auch eine Reflexion über den Wert von Beziehungen, Freundschaften und Selbstfürsorge anstößt.


    Seit diesem Sommer empfehle ich dir alle zwei Wochen Bücher und Autor*innen, die neue Perspektiven eröffnen und nicht selten Denkanstöße bieten. Zum Abschluss des Jahres 2024 möchte ich auf die Highlights dieses Newsletters zurückblicken – Bücher, die sich perfekt als entspannte, aber zugleich anspruchsvolle Lektüre für die Ferientage eignen.

    Zuerst:

    „Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“ – eine Sammlung von Kurzgeschichten, die sich leicht lesen lässt und perfekt für ein entspanntes Lesevergnügen während der Ferien geeignet ist.

    Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne

    Schon der Titel lässt erahnen, mit welchem feinen Humor Stanišić selbst die ernsthaftesten Themen behandelt. Zur Erinnerung: 2019 wurde er für „Herkunft“ mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Zwar dreht sich sein neues Buch nicht direkt um die Frage der Identität, doch bereits das erste Kapitel trägt den Titel „Die neue Heimat“. Ganz losgelöst von diesem Thema sind die Geschichten also auch diesmal nicht.

    Saša Stanišićs Erzählband changiert spielerisch zwischen Realität und Fiktion, Vergangenheit und Zukunft. In zwölf Geschichten entwirft Stanišić alternative Lebenswege und Szenarien, die von einer Kindheit in Heidelberg bis zu imaginären Reisen nach Helgoland reichen. Mit viel Witz und literarischer Raffinesse erkundet er das menschliche Streben nach einem besseren Leben, ohne dabei den scharfsinnigen Blick für die Härten des Alltags zu verlieren. Ein faszinierendes, komplexes Werk voller Tiefe und Humor.

    Wenn ihr treue Leser*innen seid, wisst ihr, dass mein absolutes Highlight des Jahres der neue Roman von Olga Grjasnowa ist – ein ebenso humorvoller wie bitterer Roman über Familie und Identität.

    Juli, August, September

    In Olga Grjasnowas neuem Roman „Juli, August, September“ entfaltet sich ein Familiendrama, das von Berlin über Russland und Baku bis nach Jerusalem reicht und dabei deutsche Faschismusgeschichte, russischen Kommunismus und den zerstörerischen Neoliberalismus unserer Zeit miteinander verknüpft.

    Und nun eine praktische Empfehlung: „Die 0%-Methode: Mit maximalem Aufwand zu keinerlei Erfolg“. Dieses Buch hilft euch, dem Erfolgswahnsinn unserer Zeit zu entkommen, die Dinge mit etwas Humor zu betrachten und auch mal entspannt Low-Performer*innen zu sein!

    Die 0%-Methode

    „Die 0%-Methode“ von Astrid Scheib und Robin Däutel nimmt auf humorvolle Weise den Trend zur Selbstoptimierung aufs Korn. Das fiktive Autor*innenduo feiert das Nichtstun als legitime Lebensweise und lädt Leser*innen ein, sich von gesellschaftlichen Zwängen wie Produktivität und Perfektionismus zu befreien. Mit ironischen Ratschlägen und überzeichneten Lebensgeschichten präsentieren sie das Scheitern als Erfolgsrezept und schaffen es, die Absurdität unserer Leistungsorientierung auf urkomische Weise zu entlarven – ein befreiendes Lesevergnügen für alle, die sich der Optimierungsfalle entziehen wollen.


    Und für alle, die hier nichts Passendes finden, habe ich noch weitere Tipps: Die ZEIT hat eine Liste der besten 100 Bücher des Jahres veröffentlicht – einige davon habe ich in den letzten Monaten bereits für dich rezensiert. Außerdem bietet Zeit Online ein praktisches Tool, das dir anhand einiger Fragen den perfekten Roman für die Ferien empfiehlt. Und wirf unbedingt einen Blick in den Online-Shop von kohero. Dort verkaufen wir inzwischen viele spannende Bücher migrantischer Autor*innen – aufgrund der deutschen Buchpreisbindung kosten Bücher übrigens überall gleich viel. Einige der Bücher im Shop kennst du bereits aus diesem Newsletter, doch das Stöbern lohnt sich auf jeden Fall!

    Mit diesem Newsletter versuche ich, einen neuen Blick auf die Literatur und den Literaturbetrieb zu werfen – und es scheint, dass dies nicht ganz erfolglos war. Im Laufe des Jahres haben sich unter anderem Behzad Karim Khani, Shida Bazyar, Olga Grjasnowa und Hengameh Yaghoobifarah indirekt an der Diskussion beteiligt. Im nächsten Jahr möchte ich diesen Ansatz weiter vertiefen und den deutschsprachigen Literaturbetrieb noch stärker aus migrantischer Perspektive beleuchten.

    Ich wünsche dir erholsame Feiertage, inspirierende Lektüre und einen gelungenen Start ins neue Jahr. Vielen Dank, dass du mich durch dieses Jahr begleitet hast – ich freue mich darauf, 2025 mit dir weiterzudenken, zu lesen und zu diskutieren!

    Bis zum nächsten Jahr und liebe Grüße,

    Euer Omid

  • Wahid Nader: über Poesie, die Heimat und Fremde vereint

    Zwischen den Welten der Elbe und des Euphrats, zwischen den Bergen Syriens und den Städten Deutschlands, entfaltet sich das Leben eines Dichters, der die Kraft des Wortes als Verbindung zweier Kulturen versteht:Wahid Nader. Geprägt von einer Kindheit im syrischen Mittelmeergebirge, inmitten von Traditionen und Natur, spiegelt sich diese Ursprünglichkeit in seinen Gedichten wider – nicht als bloße Erinnerung, sondern als lebendige Symbolik für Verbundenheit und Authentizität.

    „Ich durfte unseren Tieren bei der Geburt helfen und mit dem Kalb die erste Milch teilen“, erzählt er, als er an die prägenden Erfahrungen seiner Kindheit denkt. Bilder wie diese sind in seinen Gedichten keine bloßen Szenen, sondern Ausdruck einer tiefen Verbindung zu seiner Herkunft.

    Der Dichter zog in den 1970er Jahren nach Deutschland, wo er inzwischen seit fast 40 Jahren lebt. Doch die Verbindung zu seinem Dorf bleibt bestehen, auch wenn diese heute eine eher spirituelle Dimension hat. „Nach dem Tod meiner Eltern hat das Verlangen, das Dorf zu besuchen, nachgelassen. Trotzdem trage ich die Erde meiner Kindheit in mir“, sagt er. Dieser innere Konflikt zwischen Heimat und Ferne zieht sich wie ein roter Faden durch sein literarisches Schaffen.

    Wahid Nader: Verbrennen der Myrte

     

    Vom Ingenieur zum Lyriker

    „Das Schreiben war für mich nie Zuflucht, sondern eine Methode, die Welt und mich selbst zu verstehen und zu beeinflussen“, erklärt Wahid Nader. Sein erstes Werk, der Lyrikband „Schenk uns deinen Hunger ein“, entstand aus einer Auseinandersetzung über soziale Gerechtigkeit. Später, während seines Ingenieurstudiums in Syrien, etablierte er sich als Dichter. Mit 16 Jahren schrieb er seine ersten Gedichte und gewann 1978 den Lyrikpreis an syrischen Universitäten. Trotz seines naturwissenschaftlichen Hintergrunds blieb die Literatur seine wahre Leidenschaft.

    In Deutschland setzte Wahid seine Karriere fort und publizierte mehrere Werke in deutscher Sprache. „Ich weide Sterne auf trunkener Nacht“ (2010) und „Verbrennen der Myrte“ (2019) sind Lyrikbände, die die Verschmelzung seiner syrischen Wurzeln mit der deutschen Kultur zeigen. „Die arabische Sprache ist der Baum in mir, die deutsche lässt sich auf seinen Zweigen nieder wie Schwärme von Staren“, schreibt er in einem Gedicht.

    Zwischen den Sprachen ist Wahid Nader ein Wanderer. Seine Werke entstehen oft spontan auf Arabisch oder Deutsch, je nachdem, welche Sprache die Bilder und Ideen eines Moments besser einfängt. „Ich nenne beide meine Muttersprachen“, betont er. Diese Zweisprachigkeit ermöglicht es ihm, sowohl arabische als auch deutsche Leser*innen anzusprechen und als kulturelle Brücke zu fungieren.

    Sein erstes deutsches Gedicht „Du, mein Olivenbaum“ schrieb Wahid 1988 in einer Zeit der tiefen Fremdheit und aufkeimenden Liebe. Die arabische Poesie prägt bis heute seinen literarischen Stil. „Ich fühle die Sprache rhythmisch, poetisch und philosophisch gleichzeitig“, erklärt er. Dieses orientalische Erbe durchzieht seine Werke, die oft von Dualismen und vielschichtigen Bedeutungen geprägt sind.

    Während seiner Jugend ließen ihn arabische Klassiker wie Almaarri und moderne Größen wie Mahmoud Darwisch die Liebe zur Dichtkunst entdecken. In Deutschland inspirierte ihn die Literatur von Goethe, Schiller und Herta Müller. Besonders prägend waren jedoch die kritischen Diskussionen in Schreibwerkstätten und literarischen Kolloquien. Diese Interaktionen halfen ihm, sein Talent zu schärfen und neue Perspektiven in die eigene Arbeit einzubringen. Seine Texte reifen über Zeit und finden oft erst nach Jahren ihren Abschluss, was für ihn ein zentraler Prozess des literarischen Schaffens ist.

     

    Eine zweite Heimat an der Elbe

    Heute betrachtet Wahid Magdeburg, die Stadt an der Elbe, als seine zweite Heimat. Dennoch bleibt Syrien für ihn mehr als nur eine Erinnerung. In seinen Gedichten lebt die alte Heimat weiter, sei es durch den Duft von Olivenöl oder die Farben eines Sonnenuntergangs über dem Mittelmeer. „Die politischen Ereignisse, die Subkulturen und die Lebenswege eines jungen Menschen in Syrien – all das floss direkt in meine Texte ein“, reflektiert er. „Nach und nach wird die zweite Heimat realer, die erste wandelt sich zu einem surrealen Gebilde, das in ein Gedicht passt“, fügt er hinzu. Sein Leben als Migrant hat ihn gelehrt, die Welt mit anderen Augen zu sehen, und diese Perspektive teilt er mit seinen Leser*innen.

    Wie für viele Menschen mit Flucht- und Migrationsgeschichte war die deutsche Sprache für Wahid anfangs eine Hürde – eine fremde Welt, die ihn ausschloss. „Dass du die Sprache deiner Mitmenschen nicht verstehst, ist eine Art der Befremdung“, beschreibt er. Doch der Wunsch, sich mitzuteilen, zu protestieren und geliebt zu werden, trieb ihn an. Heute kommuniziert er mit seinen Enkelkindern auf Deutsch, einer Sprache, die er sich erobert hat. Sein Gedicht „Die Fremde“ beschreibt eindrücklich diesen Weg vom Gefühl der Entfremdung zur Akzeptanz der Fremde als Heimat.

    Poesie und die Kunst der Übersetzung

    Doch Wahid  Nader ist nicht nur Schöpfer von Text, sondern übersetzt auch. Für ihn bleibt das Original stets die authentischste Form der Literatur. Doch wenn Übersetzungen notwendig sind, erkennt er den Wert der Übersetzer*innen als „vertrauenswürdige Verräter“ an, die die Seele eines Textes neu interpretieren und für andere zugänglich machen. Mit seiner über 30-jährigen Erfahrung hat er Werke namhafter deutscher Autoren wie Herta Müller und Erich Fried ins Arabische übertragen – und umgekehrt arabische Literatur ins Deutsche gebracht. Aktuell arbeitet er an der arabischen Übersetzung eines Gedichtbands des deutschen Autors André Schinkel sowie an neuen arabischen und deutschen Werken. In seinem kommenden deutschen Buch plant er, neue literarische Formen auszuprobieren.

    Wahid sieht die Literatur als eine Stimme des Widerstands und der Reflexion. Besonders in Zeiten von Flucht und Migration glaubt er an die Bedeutung literarischer Werke, um die Erfahrungen und Tragödien von Geflüchteten zu dokumentieren. In seinem Buch „Verbrennen der Myrte“ thematisiert er Krieg, Flucht und das Schicksal derer, die auf dem Mittelmeer ihr Leben verlieren. Auch in seinem Libretto für das „Internationale Chorfest Magdeburg 2022“ setzte er sich mit der Fluchtproblematik auseinander. Die Insel Lesbos, als Symbol für Hoffnung und Schmerz, bildete den Mittelpunkt der Komposition.

     

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  • „Queeres Erzählen birgt für mich etwas Widerständiges”

    Stell dir vor: Alle drei Personen, die du gleichzeitig datest, stehen plötzlich gemeinsam vor deiner Tür. Und noch extremer: Alle drei verbringen stundenlang mit dir zusammen in einem Raum und müssen miteinander klarkommen. Eine Situation, die wohl kaum überwältigender sein könnte. Genau das ist der Ausgangspunkt des neuen Romans von Hengameh Yaghoobifarah.

    Ich habe mit Hengameh über queere Literatur im deutschsprachigen Raum, Rassismus und die persönliche Schreiberfahrung gesprochen.

    In deinem neuesten Werk „Schwindel“ verknüpfst du die Themen Queerness, Identität und das Aufwachsen als Migrant*in. Wie ist diese Geschichte entstanden und was hat dich dazu inspiriert, sie zu erzählen?

    Am Anfang stand die Idee eines Kammerspiels über eine etwas chaotisch geführte Poly-Konstellation auf dem Dach eines Hochhauses. Ich hatte Lust, eine Geschichte mit simplem Plot zu schreiben und in der Erzählweise und -form experimenteller zu arbeiten. Dabei wollte ich zum einen einige Dinge, wie etwa queeres Begehren oder Fragestellungen danach, was es in der Gegenwart bedeutet, lesbisch zu sein, expliziter formulieren, und zum anderen die Aspekte wie einen geografischen konkreten Ort – und damit zusammenhängend die Rassifizierung der Figuren – in Leerstellen ruhen lassen. Es sollte gleichermaßen partikular und universell werden, denn die Motive des Romans sind Begehren, Gefangenschaft und Wahrheitsfindung – das betrifft alle Menschen, egal ob queer oder nicht.

    Queerness ist ein wiederkehrendes Motiv in deinen Werken. Wie siehst du die Entwicklung „queerer“ Literatur in Deutschland? Ist es überhaupt richtig, von einer queeren Literatur oder einem queeren Erzählen zu sprechen?

    Es gibt queere Erzähltraditionen, auch im deutschsprachigen Raum. Dabei ist es mir wichtig zu betonen, dass es sich dabei nicht um ein festes, leicht definierbares Genre handelt, denn queere Literatur kann Sci-Fi, Krimi, Romantasy, Thriller oder Familienroman sein. Queeres Erzählen birgt für mich etwas Widerständiges, eine Verweigerung des Erwarteten, und häufig auch eine Verknüpfung von Kämpfen und Welten. Ich denke da beispielsweise an den Klassiker „Stone Butch Blues“ von Leslie Feinberg. Feinberg schrieb nicht nur darüber, was es bedeutete, in den USA der 1950er und später lesbisch, butch und queer zu sein, sondern auch von Polizeigewalt, Gewerkschaftskämpfen und Gemeinschaft.

    Du bist bekannt für deine kritische Auseinandersetzung mit Rassismus, wie etwa in „Eure Heimat ist unser Albtraum“. Welche Rolle spielt dieser Aspekt in „Schwindel“?

    In „Schwindel“ habe ich darauf verzichtet, meinen Figuren klare ethnische Merkmale zuzuschreiben, wie bestimmte Sprachen oder Herkünfte. Da der Ort der Geschichte nicht definiert ist, ist zum Beispiel gar nicht deutlich, auf welchem Kontinent wir uns überhaupt befinden. Gibt es also überhaupt eine weiße Mehrheitsgesellschaft dort? Für mich ist keine der Figuren weiß, manche haben Familiengeschichten, die eine Migration beinhalten könnten, das wird zum Beispiel deutlich, als Robin mit ihren Eltern in ein Restaurant geht und sie sich wie eine Vermittlerin von unterschiedlichem Habitus fühlt. Ich habe die Namen bewusst so gewählt, dass sie nicht auf eine spezifische Herkunft hindeuten. Während ich es in „Ministerium der Träume“ wichtig fand, die Familiengeschichte samt Flucht aus dem Iran und rechtem Terror in Deutschland so spezifisch wie möglich zu erzählen, fand ich es in „Schwindel“ befreiend, dass es kein „Buch über Rassismus“ sein musste.

    Wie hat deine persönliche Biografie als Person mit Migrationsgeschichte und deine Erfahrung als nicht-binäre Autor*in deinen Schreibstil geprägt?

    Diese Erfahrungen verschaffen mir Zugänge zu unterschiedlicher Sprache und Szenen, die mich dazu ermutigen, mir etwas Eigenes zu überlegen und mit Ideen herumzuspielen, statt in vorgefertigte Formen zu verharren. Ich denke viel über den Mythos des „Schutzes der deutschen Sprache“ nach, den konservative bis rechte Sprachfanatiker*innen sowohl durch gendersensible Formulierungen als auch dem Verwenden von Anglizismen oder Kanak Sprak bedroht sehen. Diese irrationalen Ängste zu triggern, nehme ich als Serviceauftrag an mich und meine Kolleg*innen an.

    Welche Werke haben dein Schreiben und deinen Werdegang geprägt?

    Anne Carson: The Autobiography of Red; Joan Nestle: A Restricted Country; May Ayim: blues in schwarz weiss


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  • migrantisch gelesen: Queere Widerstände

    Mein Name ist Omid Rezaee, freier Journalist, Buchenthusiast und dein persönlicher Buchkritiker. Willkommen zur neunten Ausgabe von „migrantisch gelesen“!

    Zu den gängigen rassistischen Narrativen gehört es, Queerfeindlichkeit und rassistische Diskriminierung gegeneinander auszuspielen. So wird Queerfeindlichkeit oft als „importiertes Problem“ dargestellt, um rassistische Ressentiments zu verstärken.

    Genau gegen dieses Narrativ wendet sich Politik- und Sozialwissenschaftler*in Tarek Shukrallah in dem Buch „Nicht die Ersten“. Zahlreiche Autor*innen erzählen darin die Geschichte der queeren Bewegungen in Deutschland – aus der Perspektive von Schwarzen Queers und Queers of Color. Das Werk ist ein Gespräch zwischen verschiedenen Generationen queerer Aktivist*innen of Color in Deutschland und ein eindrucksvoller Beweis dafür, dass migrantisierte Menschen bereits seit den 1980er Jahren einen bedeutenden Beitrag zur queeren Bewegung in diesem Land leisten.


    Tipp der Woche

    „Nicht die Ersten“

    In „Nicht die Ersten“ zeichnet Tarek Shukrallah ein vielschichtiges Bild der Bewegungsgeschichten queerer Schwarzer Menschen und People of Color in Deutschland von den 1980er Jahren bis heute.
    Der Band verbindet persönliche Erzählungen mit historischen Analysen und beleuchtet, wie queere und antirassistische Kämpfe sich gegenseitig durchdringen.

    Besonders eindrücklich zeigt Shukrallah, wie Errungenschaften weißer schwul-lesbischer Bürgerrechtsbewegungen oft auf Kosten migrantischer und queerer BIPoC-Communities erkauft wurden. Mit bewegenden Geschichten, kritischen Reflexionen und einer klaren politischen Botschaft bietet das Buch nicht nur ein wichtiges Archiv widerständigen Wissens, sondern auch Inspiration für heutige und zukünftige Kämpfe. Ein unverzichtbarer Beitrag zur queeren Geschichtsschreibung in Deutschland.


    Schwindel

    In „Schwindel“ zeichnet Hengameh Yaghoobifarah ein intensives Porträt queeren Begehrens, das sich zwischen Identitätsfragen, polyamoren Verstrickungen und Generationenkonflikten entfaltet. Die klaustrophobische Ausgangssituation – vier Menschen, eingeschlossen auf einem Hochhausdach – wird zum emotional aufgeladenen Kammerspiel, in dem Avas Beziehungen zu Robin, Delia und Silvia auf den Prüfstand gestellt werden. Yaghoobifarahs Stil überzeugt durch sprachliche Raffinesse, humorvolle Dekonstruktion von Klischees und den sensiblen Umgang mit Themen wie nicht-binärer Identität und queeren Lebensrealitäten.

    Der Roman schafft es, relevante Gegenwartsthemen leichtfüßig und unterhaltsam zu fiktionalisieren. Besonders beeindruckend ist, wie der Text den Slang und die Lebenswelt der queeren Community einfängt, während er tiefere Fragen nach Nähe, Individualität und sozialer Normierung stellt. „Schwindel“ ist ein wichtiger Beitrag zur queeren Literatur, der sowohl emotional packt, als auch gesellschaftlich nachhallt.


    Toleranz und Widerstand – zwei Begriffe, die oft schwer miteinander zu vereinbaren scheinen, aber für uns als Minderheiten untrennbar verbunden sind. Toleranz bedeutet nicht, still zu bleiben oder Ungerechtigkeiten hinzunehmen. Sie bedeutet, für Vielfalt einzustehen, während wir uns gleichzeitig gegen Diskriminierung und Unterdrückung wehren. Bücher wie die in dieser Ausgabe vorgestellten können uns dabei helfen, die Mechanismen von Macht und Ausgrenzung besser zu verstehen – und uns ermutigen, weiterzumachen.

    Schreib mir gerne, was Toleranz und Widerstand für dich bedeutet und welche Geschichten dich dabei inspirieren.

    Bis bald und liebe Grüße

    Dein Omid

  • „Ich bin hier, bin nicht tot, noch nicht“ – eine Rezension

    Zehn palästinensische Autor*innen beschreiben in „Ich bin hier, bin nicht tot, noch nicht“ in Poesie und Prosa Stimmungen, Gedanken, Hoffnung, Verzweiflung, Träume, Ängste, Resignation. Sie schreiben gegen das Vergessen und gegen den prägenden Satz von Golda Meir „Es gibt kein palästinensisches Volk.“

    Aus objektiver so wie aus subjektiver Sicht kann man sich als Leser einfühlen, mitfühlen und die Zermürbung durch permanente Entwürdigung zutiefst nachempfinden. Zumindest im deutschen Grundgesetz heißt es „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen, ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

    Neben den immer wieder aufflammenden kriegerischen Handlungen mit Zerstörung und Vertreibung sind es die alltäglichen Herabsetzungen durch die „moralischste Armee der Welt“ (Ibtisam Azem: „Wir töten nicht und sind es nicht gewohnt zu töten, weil wir barmherzig sind. Wir leiden, wenn wir diejenigen töten, die uns töten wollen“).

    Bürokratische, papiertigerhafte Willkür ist ein weiteres Faktum der Macht. Für alles und jenes wird eine Genehmigung, ein Passierschein verlangt, jedoch viel zu oft verweigert. Emil Habibi fragt, ob man auch für das Verlassen des Mutterbauches eine Genehmigung benötige. Mahmud Darwish erzählt von einem Vater, dessen krankes Kind auf seinem Schoß verstarb, während sie auf einen Passierschein zur Klinik warteten. Farhat-Naser berichtet von den Leibesvisitationen an den Grenzübergängen: Frauen müssen sich vor den Soldatinnen nackt ausziehen und sogar ihre Binden wechseln. Frauen, die besseren Menschen?

    Jenseits aller politischen Polemik und Hybris werden uns Einblicke und Augenblicke in das Leben von Menschen gewährt, die diese Entwürdigung alltäglich erleben müssen. Sie bekommen in diesen kurzen Texten eine Stimme. Sie spüren Ohnmacht und Traumata auf. Aus der Psychologie weiß man, dass Traumata vererbbar sind. Sie prägen die Menschen, oft über Generationen hinweg. Das trifft auf beide Völker zu, gibt aber dem einen Volk nicht das Recht, das andere zu traumatisieren.

    Die Menschen sind Schachfiguren im Spiel der Mächte um Geopolitik und göttliche Versprechen. Sie sind Spielbälle, herausgefallen aus dem osmanischen Großreich und dem britischen Mandatsgebiet.

    Diese multiperspektivischen Textsplitter machen betroffen, berühren und ändern doch nichts außer angelesener Betroffenheit. Es wäre ein Tikum Olam – die Reparatur der Welt – erforderlich. Und die beginnt in den Köpfen. Erfordert Mut, Wachheit, Kompromisse. Und Widerstand.

    Und so kann man nur hoffen, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings eines Tages einen Friedensprozess auslösen wird. Und sich der gordische Knoten eines jahrzehntelangen Konflikts, der weit über die eigentliche Region hinausreicht, lösen lässt.

    Danke an den Lenos-Verlag für die Veröffentlichung dieser „einsichtigen“ Texte.

     

  • Solmaz Khorsand:“Ich habe mehrere Welten, aus denen ich schöpfen kann“

    Den Fall der Berliner Mauer könnte man als eine Revolution bezeichnen, wie viele andere Revolutionen auch – geprägt und vorangetrieben von einer kleinen Minderheit, die nicht „mitläuft“, sich nicht anpasst und Widerstand leistet, selbst wenn diese Bewegungen scheitern. Mit genau diesem Thema setzt sich Solmaz Khorsand, die iranischstämmige Wienerin, in ihrem neuen Buch „untertan – Von braven und rebellischen Lemmingen“ auseinander.

    Khorsand hat als Journalistin über eine Vielzahl von Themen berichtet: von der österreichischen Innenpolitik über gesellschaftliche Entwicklungen in Belarus bis hin zu Wahlen im Iran. Sie ist eine scharfsinnige Beobachterin, die ihre Eindrücke in prägnante Analysen verwandelt und uns, die Gesellschaft, genau dort trifft, wo es schmerzt. Ich habe mit ihr nicht nur über ihr neues Buch, sondern auch über ihr Schreiben gesprochen.

    In „untertan“ sprichst du über subtile Mechanismen der Selbstzensur und gesellschaftliche Machtstrukturen. Wie stark beeinflussen diese Mechanismen Menschen mit Migrationsgeschichte, die sich oft in der Position des „Dazwischen“ befinden?

    Ich tue mir schwer mit verabsolutierenden Aussagen. Ich denke nicht, dass alle Menschen mit Migrationsgeschichte von denselben Mechanismen beeinflusst werden, genauso wenig bezweifle ich, dass sie sich alle in einem „Dazwischen“ empfinden. Mir war es wichtig, in „untertan“ unterschiedliche Anpassungs-und Unterwerfungsformen anzusehen. Daher auch die Unterscheidung im Untertitel von „braven“ und „rebellischen“ Lemmingen. Auch Anpassung kann als Ermächtigungs- und Emanzipationsakt interpretiert werden.

    Ich denke, dass marginalisierte Personen, die nie sicheren Boden unter den Füßen hatten und ständig gezwungen sind, sich ohne Rücksicht auf ihre Realitäten anzupassen, unter ganz anderen Bedingungen zur Anpassung gedrängt werden (und sich oft dagegen wehren), als jene, die die Sicherheit eines stabilen Status Quos kennen und bei der Anpassung auf viel Verständnis stoßen.

    Inwieweit prägt deine Biografie dein Denken und dein Schreiben?

    Weder in „Pathos“ noch in „untertan“ spielen meine persönlichen Erlebnisse eine Rolle. Mein „Ich“ kommt, soweit ich mich erinnere, nur in den Danksagungen vor. Es sind beides essayistische Bücher, die menschliche Phänomen mit Zuhilfenahme aktueller oder weniger aktueller politischer, kulturwissenschaftlicher und popkultureller Beispiele beschreiben, analysieren und kommentieren. Darauf lege ich Wert, da es sich um keine biografische Nabelschau handelt. Ja, mein Denken ist natürlich biografisch, wodurch die Auswahl von Themen, Gesprächspartnern, Beispielen etc. beeinflusst wird, aber das ist auch schon alles an Biografischen, so wie bei jedem anderen Menschen.

    Als Journalistin mit iranischen Wurzeln und Autorin auf Deutsch und möglicherweise auch anderen Sprachen: Welche Rolle spielt Mehrsprachigkeit in deinem Alltag und in deiner schriftstellerischen Arbeit?

    Ich fühle mich aufgrund meiner Mehrsprachigkeit privilegiert. Daher musste ich seit meiner Kindheit immer darüber lachen, wenn das irgendwo irgendwer versucht hat zu problematisieren. Ich habe dann meistens voller Mitleid gekontert: Wirklich nur eine Sprache, das muss schon schlimm sein für dich, oder? Du hast nur diese eine Welt, ich habe noch so viel mehr, aus der ich schöpfen kann. So halte ich es bis heute, obgleich vielleicht etwas sensibler gegenüber den sprachlich weniger Privilegierten.

    Wie siehst du deine eigene Identität, und wie hat sie sich über die Jahre hinweg entwickelt?

    Mir ist schon klar, dass sehr viel am Büchermarkt erscheint, das ohne das Ich nicht auskommt, auskommen kann oder will, aber ich lehne es – bislang – für meine Arbeit sehr bewusst ab. Diese Besessenheit mit den eigenen Identitäten und diese Selbstbezogenheit, die wir uns alle bis zum Erbrechen antrainiert haben und worauf sich einige reduzieren, reduziert werden, oder selbst absichtlich reduzieren lassen wollen, langweilt mich und ich lehne es für mich ab.

    Was bedeutet Schreiben für dich – ist es eher eine Form von Selbstermächtigung, ein Mittel zur Auseinandersetzung mit deiner Umwelt oder ein Weg, andere zu inspirieren?

    Es ist die Art, wie ich mein Denken sortiere, mich zum Denken zwinge und schnöderweise einfach, wie ich meinen Lebensunterhalt verdiene – oder noch verdienen darf.

    Könntest du zwei oder drei literarische oder non-fiction Werke nennen, die dein Schreiben und deinen Werdegang als Autorin und Journalistin geprägt haben?

    Ich hatte immer sehr viel Respekt vor Autorinnen und Schriftstellern, ehrlicherweise zu viel Respekt, dass ich das je bewusst als Werdegang angepeilt hätte. Mit Journalismus war das anders. Das war mit 15 eine bewusste Entscheidung, um politische Verhältnisse zu verstehen, einzuordnen und großkotzig zu kommentieren.

    Aber ja, es sind vermutlich diverse Werke bis heute hängen geblieben, Albert Camus‘ Theaterstücke „das Missverständnis“ oder seine „Gerechten“, genauso Eugene Ionescos „Die Nashörner“, die mich immer begleiten werden und die auch in „untertan“ vorkommen. Und später die Bücher von Ruth Klüger, ihr „weiter leben“, Michela Murgias „Chiru“ und die Werke von Virginie Despentes, allesamt Autor*innen, die ich bewundere für ihre präzise und unsentimentale Sprache, die ein sehr klares und (für mich) unkorrumpierbares Denken widerspiegelt. Das imponiert mir sehr.

  • James Baldwin wäre dieses Jahr 100 geworden

    Eigentlich braucht es keinen bestimmten Anlass, sich mit dem Schaffen von James Baldwin auseinanderzusetzen. Doch 2024 zeichnet das Jahr, in dem der Schriftsteller 100 Jahre alt geworden wäre. Eine passende Erinnerung also, sich seinem Œuvre anzunähern. Baldwins Worte und Gedanken sind von so großer Bedeutung und haben heute, knapp 37 Jahre nach seinem Tod an Krebs, eine genauso hohe Relevanz für unsere Welt wie damals, dass es immer wieder eine gute Idee ist, Zeit mit all dem Output zu verbringen, zu verschiedenen Themen wie Rassismus, Sexualität, Kolonialismus und Macht.

    Ich schreibe diese Einleitung am US-Wahlabend und weiß gerade nicht, wie es ausgehen wird (ob die schlechte Option gewinnt oder die noch schlechtere Option, Anm. d. Red: Jaaaa, also Trump hat gewonnen …), frage mich aber auch die ganze Zeit, was James Baldwin zu sagen hätte, was er schreiben würde über das Amerika der letzten 30 Jahre, was er tun würde …

    Ich bin als „roots & reels“-Autor vor allem interessiert an Baldwins Verbindungen zu Film (und Fernsehen). Und da fällt mir gleich sein Essay „The Devil Finds Work“ ein, eine bemerkenswerte Filmkritik und Analyse über das Kino und die Filme, die er in seinem Leben gesehen hat. Baldwin schreibt natürlich aus einem rassismuskritischen Blickwinkel als Schwarzer Mann in Amerika und ich finde, dass dieses Werk mindestens so wichtig ist wie seine späteren Texte und Romane.

    Was ich darüber hinaus noch spannend finde, ist, wie „viral“ Baldwin selbst ist und wie Clips von ihm aus Talkshows, Interviews und Dokumentationen auf Social Media verbreitet werden. Es sind immer wieder dieselben Momente aus seinen Fernsehauftritten, die fest im Kanon des digitalen Antirassismus verankert sind und regelmäßig gepostet werden. Das beweist leider auch einfach, dass diese Kämpfe alt und anstrengend sind, damals wie heute.

    Baldwin ist schon immer ein faszinierendes Subjekt für Dokumentarfilmemacher gewesen. Nicht nur in Europa oder Amerika. Da er eine Zeitlang in Istanbul gelebt und gearbeitet hat, wurde er auch dort filmisch begleitet, von Leuten, die sein Wesen einfangen wollten. So ist zum Beispiel die Kurzdokumentation „From Another Place“ von Sedat Pakay entstanden, die einige wenige Augenblicke seines Alltags am Bosporus einfangen. Der Film steht im Dialog oder vielleicht im Gegensatz zu „Meeting the Man“ von Terence Dixon. Hier sieht man einen weniger entspannten James Baldwin (vermutlich weil er in Europa, in Paris ist). Eine elektrisierende Momentaufnahme dieser durch und durch intellektuellen Persönlichkeit, der wenige das Wasser reichen können.

    Eine eingehende und gründliche Studie ist „The Price of the Ticket“ von Karen Thorsen. Hier wird in klassischer Manier das gesamte Leben dokumentiert, von der Kindheit und Jugend über die Arbeit bis zum Tod, mit O-Tönen von Familienmitgliedern, Zeitgenossen, Kollegen und Freunden. Wenn es einen Film gibt, den man sehen sollte, um Baldwin nicht nur als Künstler, sondern vor allem auch als Mensch zu verstehen, dann ist das „The Price of the Ticket“.

    Und last but not least gibt es Raoul Pecks „I Am Not your Negro“, eine nüchterne Bestandsaufnahme einer kranken, rassistischen Gesellschaft, die die Verbindungslinien der Diskriminierung von Schwarzen in den USA aufzeigt anhand von Baldwins kurzem, unvollendetem Manuskript „Remember This House“. Dieser Film ist zwar aus 2016, hat aber im Zuge der Black Lives Matter Proteste vor ein paar Jahren an Bedeutung gewonnen und ist nach wie vor zeitgemäß, was Polizeigewalt angeht.

    Und das ist immer noch nicht alles. Es lohnt sich, wenn man mal nichts Besseres zu tun hat, sich in einem YouTube-Rabbithole zu verlieren und ältere Zusammenschnitte von Baldwin anzuschauen. Herzlichst empfehlen kann ich noch den mit einem Oscar prämierten „If Beale Street Could Talk“ von Barry Jenkins (verfügbar auf Plattformen wie Joyn oder Mubi). Basierend auf Baldwins fünftem Buch (und dem einzigen mit einer weiblichen Erzählerin) ist es anfangs eine zarte Liebesgeschichte und dann — einmal mehr — ein Blick auf die rassistischen, korrupten Machtgefälle Amerikas. Ich kann nur raten, aber ich glaube, Baldwin hätte dieser Film gefallen.

    Danke fürs Lesen und viel Spaß beim Schauen

    Dein Schayan

     

     

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  • Dana von Suffrin im Interview

    Vor einigen Wochen habe ich den für den diesjährigen Deutschen Buchpreis nominierten Roman „Nochmal von vorne“ der jüdisch-deutschen Autorin Dana von Suffrin vorgestellt. Anlässlich des ersten Jahrestags des Hamas-Angriffs auf Israel und des Beginns eines verheerenden Kriegs habe ich mit ihr über Antisemitismus in der deutschen Kulturszene sowie über ihre Arbeit und ihr Schreiben gesprochen. Von Suffrins Texte zeichnen sich durch einen bitteren Humor aus, der die Leser*innen dazu bringt, ihre Bücher kaum aus der Hand legen zu können. Auch über diesen speziellen Humor haben wir gesprochen.

    In deinen beiden Romanen steckt viel Humor, aber auch Melancholie. Welche Rolle spielt der Humor für dich als literarisches Mittel, um schwierige Themen wie Migration, Verlust und Identität zu verarbeiten?

    Ich habe nur eine einzige Erzählung geschrieben, die ziemlich humorlos ist. Ich halte es da wie Freud, der sagt, dass Humor „die siegreich behauptete Unverletzlichkeit des Ichs“ herstellt. Meine Protagonist*innen sind ja immer völlig beschädigt und angegriffen, so erhalten sie ein wenig Würde zurück, finde ich.

    Wie erlebst du den deutschen Literaturbetrieb, insbesondere als Autorin mit jüdischer Identität? Gibt es Entwicklungen in den letzten Jahren, die du als positiv oder herausfordernd empfindest?

    Ich schwanke zwischen Entsetzen und Begeisterung. Vor dem 7. Oktober habe ich mich immer beschwert, dass immer eine sehr typische, ja, stereotype Darstellung von Juden in der Kunst gewünscht wird: Juden als Opfer, als weise, kluge, einsichtige Menschen, gerne auch tot. Nervige, anstrengende, lustige Juden fand man nicht so gut. Das ist aber nur die inhaltliche Ebene, ich habe es öfter erlebt, dass man sich über meine Arbeit beschwert hat, zum Beispiel war der Held meines ersten Romans manchen Lesern zu unverschämt, zu uneinsichtig, zu negativ.

     

    „Familie formt uns, sie verletzt uns, sie schafft uns, sie zerstört uns“

     

    Nach dem 7. Oktober 2023 hat sich die Diskussion um jüdisches Leben und Antisemitismus in Deutschland stark verändert. Wie nimmst du die Rolle der deutschen Kulturszene in diesen Debatten wahr, und welche Verantwortung trägt die Literatur aus deiner Sicht?

    Ich war schon ein bisschen entsetzt, als ich gesehen habe, dass diverse Kolleginnen und Kollegen, quasi als die israelischen Leichen noch warm waren, einem entsetzlichen Antisemitismus freien Lauf gelassen haben. Das hätte ich von Intellektuellen nicht erwartet. Ich finde schon, dass man von Literaten erwarten kann, dass sie eine komplexe Situation angemessen bewerten, statt sich als moralische Institution aufzuspielen und Propaganda zu verbreiten. Die Literatur sollte dieser Anforderung gerecht werden, aber die Leute, die sie schreiben, sind halt auch nur Menschen.

    Beide deiner Romane beschäftigen sich mit komplexen Familiengeschichten und Neuanfängen. Was treibt dich an, immer wieder auf diese Themen zurückzukommen, und inwiefern spiegeln sie auch deine eigene Biografie wider?

    Ich finde: Familie ist das interessanteste Thema der Welt, wo sonst haben wir einen so bekloppten, aber auch unentrinnbaren Mikrokosmos noch? Familie formt uns, sie verletzt uns, sie schafft uns, sie zerstört uns, in ihr passieren die lustigsten und die traurigsten Ereignisse – das ist natürlich für eine Autorin ein geniales Thema, finde ich. Ich schreibe nicht autofiktional, aber ich arbeite gerne mit dem Milieu, das ich gut kenne.

    Könntest du uns zwei oder drei literarische oder non-fiction Werke nennen, die dein Schreiben und deinen Werdegang als Autorin geprägt haben?

    Benny Barbasch, mein erster Sony; Natalia Ginzburg, Familienlexikon; Isaak Babel, Reiterarmee.

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