Schlagwort: Kultur

  • Mit Yoga und Tanz – Movimientos Auténticos

    Laut WHO bedarf es etwa 150 Minuten Bewegung oder 75 Minuten Sport in der Woche, um den Körper gesund zu halten. Daher ist regelmäßige Bewegung gesund, fördert die psychische Gesundheit und baut Stress ab.

    Verbindung stärken durch Bewegung

    Bei „Movimientos Auténticos“ geht es vor allem um Selbsterfahrung und Selbstermächtigung über die körperliche Bewegung „Bei uns geht es vor allem um Verbindung zu schaffen“, sagt Gründerin Jennifer Carmen Kubstin.

    Jennifer Carmen Kubstin ist Tanzpädagogin, Yoga-Lehrerin und Sozialarbeiterin. Sie hat während ihres Auslandsemesters in Costa Rica damit angefangen, Tanz- und Yoga-Kurse für einheimische Frauen anzubieten „Mein Ziel war es, Frauen die Möglichkeit zu bieten, sich frei in einem geschützten Raum zu bewegen“ sagt Kubstin und ergänzt: „Wir arbeiten mit allen Frauen, denn über manche Themen können viele nicht reden, aber durch Bewegung und Tanzen lassen sie sich ausdrücken“.

    Verbindung zum Körper erleben

    2021 hat Kubstin ihren Verein in Bochum gegründet, und hat sich selbstständig als Tanzpädagogin und Yogalehrerin gemacht. „Mit unserem Angebot versuchen wir, die Verbindung zu sich selbst zu stärken, die Verbindung zum Körper zu erleben und dadurch das Körperbewusstsein achtsamer zu gestalten. Auch die Verbindung zwischen Körper und Psyche zu erkennen. Die Verbindung zu anderen Frauen und anderen Kulturen aufzubauen, sowie die Verbindung der unterschiedlichen Instanzen, Tanz, Yoga, und soziale Arbeit, zu nutzen“, erklärt sie.

    Movimientos Auténticos setzt sich für Frauen Empowerment in Lateinamerika und Deutschland ein. Mit seinem Konzept geht es darum, mehr Wohlfühlen und Selbstliebe über den Körper, ganz besonders durch Tanz und Yoga, zu gewinnen. „In unseren Kursen und Workshops verbinden wir nicht nur Kulturen miteinander, sondern auch das Individuum mit sich selbst“, so die Tanzpädagogin, „unsere Keywords sind: Empowerment, Tanz, Interkulturalität, Yoga, Verbindung, Wohlfühlen“.

    Interkulturellen Austausch schaffen

    Als sie in Costa Rica war, hat Kubstin bemerkt, dass Frauen sehr gerne mit ihrem Körper arbeiten, und  das sogar noch lieber als hier in Deutschland. „Daher habe ich gedacht, dass man so was super verbinden kann, praktisch, dass das Problem, was man erkannt hat, mit den Ressourcen, die vorherrschen“, sagt Kubstin gegenüber Kohero.

    Kulturelle Unterschiede zwischen den Menschen sind ein Indiz für die Vielfalt dieser Welt. Aber viele Menschen kennen einander nicht und pflegen falsche Vorstellungen über die Kultur und Bräuche anderer Völker. So gelang es dem Projekt, mit Stereotypen aufzubrechen und ein korrektes Bild von Europa und Lateinamerika gegenseitig zu vermitteln.

    „Ich finde diese Interkulturalität toll, weil mir aufgefallen ist, dass viele Menschen in Lateinamerika denken, dass wir in Europa die Weisheit mit Löffeln gegessen haben. Deshalb war es mir wichtig, den Menschen vor Ort zu zeigen, dass diese Stereotypen nicht richtig sind“, sagt Kubstin. „Jede Kultur auf dieser Welt hat ihre positive sowie negative Seite, und nur wenn wir uns miteinander austauschen, können wir besser voneinander lernen“ erläutert sie.

    Ein Projekt für alle Frauen

    Das Programm findet zurzeit parallel zweisprachig (Spanisch und Deutsch) statt und zwar nicht nur in Deutschland, sondern auch in verschiedenen Ländern, Costa Rica, Mexico, Kolumbien und Nicaragua. Daher läuft das Programm Online und vor Ort.

    „Die Inhalte sind dabei identisch, sodass jede genau das Gleiche mitbekommt. Währenddessen gibt es dann immer wieder gemeinsame Einheiten für alle Frauen, um in Kontakt und Austausch mit anderen Kulturen zu kommen. Dabei helfen Übersetzer*innen und diverse Übersetzungstools. Bei manchen Dingen, wie dem freien Tanz, unterstützt uns außerdem die körperliche Kommunikation“ erklärt die Sozialarbeiterin.

    „Trotzdem richtet sich unser Programm insbesondere hier in Deutschland an alle Frauen, unabhängig davon welche Sprache sie sprechen. Also, Frauen aus arabischen Ländern gehören auch zu unserer Zielgruppe. Denn das Projekt ist nicht ausschließlich für Frauen aus Deutschland oder aus Lateinamerika, sondern es ist für alle Frauen offen“, ergänzt sie.

    Kulturelle Aneignung und Yoga

    Kritiker*innen sind der Meinung, dass die Yoga-Philosophie von der westlichen Welt geklaut wurde, und damit wurde diese Kultur den westlichen Bedürfnissen angepasst (Mehr dazu hört ihr in unserm Curry On-Podcast). Damit ist Yoga nahezu ein Beispiel zur kulturellen Aneignung. Dieser Diskurs findet heutzutage auch in Deutschland statt.

    „Ich finde, dass all diese kritische Dinge zur kulturellen Aneignung irgendwo auch seine Grenzen haben. Denn ich glaube, dass man sogar bis zu einem gewissen Punkt bremsen  kann, wenn man sich zu einer anderen Kultur verbinden möchte. Daher hat Yoga es heutzutage geschafft, unterschiedliche Kulturen miteinander zu verbinden“, sagt Yoga-Lehrerin und ergänzt:

    „Ich mag die ganze Philosophie des Yogas sehr. Diese Philosophie verbindet den Menschen mit der Umwelt, den Menschen mit sich selbst und den Menschen zu anderen Menschen sowie den Menschen zu anderen Kulturen. Und um diese Verbindung geht es eigentlich bei uns“.

    Doch findet Kubstin, dass dieser Kritik berechtigt sei „ich habe es noch nie erlebt, dass jemand mich wegen der kulturellen Aneignung im Yoga angesprochen hat. Aber wenn jemand zu mir kommt und mir sagt: das ist eine kulturelle Aneignung, dann würde ich gerne darüber nachdenken und etwas ändern. Ansonsten versuche ich mit meinem Herzen daran zu gehen“, erläutert sie.

    Ehrenamtliches Team und kostenlose Angebote

    Das Team des Vereins arbeitet ehrenamtlich und seine Kurse sind von Spendengeldern finanziert „Allen Personen, die aktuell die Gebühren des Kurses nicht zahlen können, bieten wir Stipendien an. Und wenn man sich über die Summe unsicher ist, kann man zahlen, was sich entsprechend gut anfühlt“, so Kubstin.

    „In Lateinamerika arbeiten wir unter anderem mit sozialen Einrichtungen zusammen, die uns beim Kontakt zu den Frauen vor Ort und bei der Übertragung des Programms unterstützen. Die meisten dieser Frauen werden kostenfrei teilnehmen. Deswegen ist die Finanzierung über die Crowdfunding Kampagne ein Gewinn für uns“, sagt sie weiter.

    Hier könnt ihr einen weiteren Artikel über Yoga lesen.

     

  • Heimaten auf Leinwänden

    „Seit meiner Ankunft in den Norden habe ich ein großes Interesse an Schiffen. Deshalb sind meine letzten Gemälde meistens über diese“, sagt Taha.


    An seine alte Heimat denkt Taha oft noch zurück. Er erinnert sich an seine Ausflüge in ägäische Dörfer, wo wunderschöne authentische Häuser stehen. Eine typische ägäische Haustür hat er auch schon gemalt, was ihn in Erinnerungen schwelgen lässt.


    Taha wünscht sich eine Vernissage, auf der er irgendwann mal seine beiden Heimaten auf Leinwänden einem Publikum präsentieren und seine Migrationsgeschichte aus der west-anatolischen Türkei nach Norddeutschland erzählen kann.

    Das Projekt „Raum 3 – Empowerment junger Muslim*innen durch Medienarbeit“ der Türkischen Gemeinde in Schleswig-Holstein e.V. unterstützt muslimisch gelesene Jugendliche und junge Erwachsene dabei, sich im Umgang mit antimuslimischem Rassismus selbst zu stärken.

    Informationen zum Projekt finden sich auf Instagram und in der Projektbeschreibung von Raum 3 auf der Website der Türkischen Gemeinde in Schleswig-Holstein e.V. 

    Das Projekt wird gefördert vom Bundesprogramm Demokratie leben! des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend & vom Landesdemokratiezentrum beim Landespräventionsrat des Ministeriums für Inneres, Kommunales, Wohnen und Sport Schleswig-Holstein.

    Für inhaltliche Aussagen tragen allein die Autor*innen und nicht die Fördergebenden die Verantwortung.

  • WeFestival: Solidarität durch Musik

    Vor drei Monaten begann der russische Angriffskrieg mit der Ukraine. Unzählige Menschen haben ihr Zuhause verloren, Tausende sind gestorben, ungefähr 14 Millionen Menschen sind derzeit auf der Flucht, teils innerhalb des Landes, viele von ihnen aber über die Grenzen hinaus. Eine halbe Million von ihnen ist inzwischen in Deutschland angekommen.

    Das WeFestival in Essen hat sich den russischen Krieg in der Ukraine zum Anlass genommen, um am 27. Mai 2022 auf die Situation aller Flüchtenden und Geflüchteten aufmerksam zu machen. Ab 18 Uhr präsentieren Künstler*innen unter dem Motto „Solidarität durch Musik“ kulturelle Beiträge, Tanz und natürlich Musik. Die Kulturschaffenden kommen aus der Ukraine, aus Syrien, Afghanistan, dem Iran, Deutschland und anderen Ländern. Musik dient dabei als universelle Sprache, es geht um persönliche Geschichten, Schicksale und Solidarität. Den Geflüchteten, die u.a. in Essen untergekommen sind, solle so „ein Gesicht geben werden“.

    Die Idee entstand zusammen mit ukrainischen Geflüchteten, die vor Beginn des Krieges in ihrer Heimat Kulturveranstaltungen organisiert haben. Unterstützung bekommt das WeFestival von der Kreuzkirche, dem UnperfektHaus sowie der VielRespektStiftung. Aus Essen wolle man gemeinsam ein „Signal an die Welt senden“ und sich mit allen Menschen solidarisieren, die auf der Flucht sind.

    Katrina Holovetska (Ukrainians Family), Monika Rintelen (VielRespektStiftung) und Ahmad Denno (von der arabischen Plattform Eed be Eed) laden mit weiteren (inter)nationalen Akteur*innen zu dem Abend in der Kreuzkirche ein. Gäst*innen sind u.a. Kulturdezernent der Stadt Essen Muchtar Al Ghusain, Autor Aladin El-Mafaalani, Ahmad Omeirat (Ratsheer, Die Grünen) sowie Autor Moutasm Alyounes.

    Tickets sind hier kostenlos erhältlich. Außerdem wird das Festival live gestreamt.

  • Raus aus dem Elfenbeinturm- Kulturarbeit heute

    Landesfachtagung „Kulturarbeit heute“

    Was braucht es, um Kunst und Kultur diverser zu machen? Wie können (post-)migrantische Kulturschaffende gestärkt werden? Wer Antworten auf diese Fragen sucht, sollte sich die Landesfachtagung „Kulturarbeit heute“ nicht entgehen lassen. Die Veranstaltung hat sich die Vernetzung baden-württembergischer Kunst- und Kulturschaffender auf die Fahne geschrieben und steht in diesem Jahr unter dem Motto „Diversität, Öffnung und Empowerment“. Der Fokus des Programms liegt auf der Sensibilisierung des Kulturbetriebs und auf der Stärkung (post-)migrantischer Künstler*innen. Es soll zahlreiche Workshops, Keynotes und Podiumsdiskussionen geben.

    „Kulturarbeit heute“ soll Künstler*innen, Aktivist*innen und (post-)migrantische Organisationen in Baden-Württemberg erreichen, richtet sich aber auch an Akteur*innen aus Kultur- und Kunsteinrichtungen. Seit 2014 organisiert das Kunstministerium des Landes die Landesfachtagung gemeinsam mit dem Dachverband (post-)migrantischer Kulturverbände Baden-Württembergs, dem Forum der Kulturen Stuttgart e. V. – eine Kooperation mit Vorbildcharakter: „Andere Bundesländer können von uns lernen“, so Anna Lampert vom Forum der Kulturen. „Das Kunstministerium hört uns zu, positioniert sich mit dieser Tagung und gesteht sich ein, dass der Kunstbegriff kritisch reflektiert werden muss.“

    Von „Hochkultur“ zu „Breitenkultur“

    Warum das notwendig ist? Noch immer dominiert den Kulturbetrieb eine eurozentrische Perspektive, (post-)migrantische Geschichten bleiben die Ausnahme. Obwohl Deutschland seit mehr als 70 Jahren migrantisch geprägt ist, spiegelt der etablierte Kunstbetrieb diese Vielfalt nicht wider: „Die Gesellschaft, welche die Kulturbetriebe eigentlich repräsentieren sollten, ist viel diverser“, so Lampert. Das Problem: Große Kunst- und Kultureinrichtungen sind akademisch geprägt, die Konkurrenz um Jobs ist hart. Dieser Habitus schrecke (post-)migrantische Künstler*innen ab. „Unsere Mitgliedsvereine sagen: wir passen in euren Elfenbeinturm der Hochkultur nicht hinein!“

    Einerseits soll die Tagung (post-)migrantische Künstler*innen also mit Handwerkszeug ausstatten, um sich im etablierten Kunstbetrieb behaupten zu können. Andererseits soll „Kulturarbeit heute“ anregen, bestehende Machtstrukturen zu hinterfragen: Themen sind etwa die Dekolonisierung des Theaters sowie die Verschränkungen von Klassismus und Rassismus in der Kulturarbeit. Ein anderer Workshop widmet sich dem machtkritischen Arbeiten in Museen. In offenen Vernetzungsräumen können sich Teilnehmende aus Kunst und Kultur austauschen und Foren bilden.

    Neu ist in diesem Jahr ein Empowerment-Raum für Künstler*innen, die mit Rassismus konfrontiert sind. Die Idee: „Wir schaffen einen Safer Space für Artists of Color, wo eine Empowerment-Trainerin zur Seite steht, wenn es zu verletzenden Äußerungen kommt.“

    Bewegung – aber nicht genug

    Mit der Landesfachtagung gehört Baden-Württemberg zu den wenigen Bundesländern, die langfristige Öffnungsprozesse in der Kulturarbeit aktiv vorantreiben. An der Umsetzung der Anliegen (post-)migrantischer Künstler*innen scheitert es aber noch: „Der Kulturbetrieb in Baden-Württemberg ist noch immer sehr weiß, sehr etabliert“, sagt Lampert. In Zukunft brauche es einen Förderkatalog, der auch kleine, ehrenamtliche Kulturvereine in den Blick nimmt. „Das fehlt noch total!“ Ein Vorbild könnte Nordrhein-Westfalen sein, wo Fördergelder nach Diversitätskriterien vergeben werden.

    In Einem ist sich Lampert aber sicher: die Landesfachtagung wird Lust auf Veränderung wecken. Gäste aus etablierten Kultureinrichtungen hätten Gelegenheit zur Reflexion – über ihre Deutungshoheit und ihre Privilegien. „Allein die großen Räumlichkeiten alteingesessener Kultureinrichtungen sind wertvolle Ressourcen“, so Lampert. „Und wenn man sich einigt, zweimal im Monat gebe ich die Bühne ab für postmigrantisches Theater oder für kurdische Folklore, dann wäre das schon ein Anfang.“ Darüber hinaus sei die Tagung ein wichtiges Signal an Artists of Color: „Hier tut sich was! Wir bekommen Raum für unsere Kunst und für unsere Kultur!“

    Anmeldung

     

    Landesfachtagung „Kulturarbeit heute: Diversität, Öffnung und Empowerment“. Termin: Donnerstag, 28. April 2022, ganztägig. Veranstaltungsort: Kulturhaus Karlstorbahnhof, Am Karlstor 1, 69117 Heidelberg; auch als Livestream über YouTube. Wer vor Ort dabei sein will, kann sich bis zum 21. April anmelden. Zum Programm geht es hier

     

  • Jadd Hilal: Flügel in der Ferne

    Autor Jadd Hilal ist selbst libanesisch-palästinensischer Abstammung, also prädestiniert dazu, diese generationsübergreifenden Familienbande plastisch zu schildern. Doch die Zuordnung der mosaikartig angeordneten Textfragmente in „Flügel in der Ferne“ – mal ausführlicher, mal kurz – finde ich etwas verwirrend. Sie werfen mich immer wieder zurück. Who is who? Und wer war wann wo?

    Im Hintergrund spielen zwei weltgeschichtliche Akteure mit und sind letztendlich ausschlaggebend für die zerrissenen Biographien der vier Frauen: Die Nakba, die Vertreibung der Palästinenser aus ihrem angestammten Gebiet durch die Israelis, und der libanesische Bürgerkrieg. Auch dieser ist indirekt durch die Nakba beeinflusst, denn die Vertreibung der PLO aus dem Libanon, die wiederum zuvor nach dem Schwarzen September aus Jordanien vertrieben worden war, war der Auslöser. Und das Land ist bis heute – 2022 – nicht zur Ruhe gekommen. Immer wieder flackern Kleinkriege und Kämpfe in diesem mediterranen Land auf, in dem Christen maronitischer Prägung und sunnitische und schiitische Muslime um die Macht ringen und kämpfen.

    Zerrissene Seelen, die vertrieben werden und die flüchten

    Die Frauenschicksale sind eng mit den Charakteren ihrer Männer verbunden, die zwar nur in Nebenrollen auftreten, die alle in irgendeiner Form zu Gewalt neigen und Anpassung und Unterwerfung erzwingen und somit ein Spiegelbild der gesellschaftlichen und politischen Realität sind. Zerrissene Seelen, die vertrieben werden und die flüchten. In andere Länder, aber auch in Alb- und Tagträume.

    Deutlich werden die kriegerischen Rivalitäten der diversen Milizen und Militärs geschildert, die Instabilität eines Landes „mittendrin“. Aber auch die Privilegien gewisser Schichten, zu denen die UNO-Mitarbeiter und die anderer internationaler Organisationen zählen. Sie leben in „Gated Communities“, mit Privatchauffeur, Spesen für dies und jenes und früher Pensionierung. Weit entfernt von der Realität der Landesbewohner, ob Einheimische oder „Zugewanderte“. Die Beamten werden evakuiert, der Rest, die gewöhnlichen Libanesen, müssen bleiben. Warum? Sie sind keine Auserwählten, sie sind nur Statisten im „Big Game“. Und es wird offen dafür plädiert, die UNO abzuschaffen. Wozu einen Sicherheitsrat, in dem 5 Staaten (von denen keiner ein sog. Entwicklungsland ist) über 187 Staaten entscheiden.

    Faszinierend für die Leser*innen ist die Liebe zum Land, zum Libanon, zur „unerträglichen Leichtigkeit des Seins“. So ist das Hin und Her z.B. für Dara ein Tauziehen zwischen libanesischer Lust am Leben und dem europäischen Verantwortungsbewusstsein und der geregelten Ordnung. In Ländern wie dem Libanon herrschen Unordnung und Großzügigkeit, man besitzt wenig und gibt gerne.

    Als ob ein Ozean menschlichen Leids zu einer Stimme wird

    Bezeichnend ist die Szene auf dem Schiff, das Evakuierte nach Zypern bringen soll. Eine Sängerin stimmte das Lied „Al Busta“ der über die Grenzen Libanons hinaus berühmten und verehrten Fairuz an, die Passagiere jubeln, weinen, stampfen, applaudieren, als ob ein Ozean menschlichen Leids zu einer Stimme wird.

    Das Buch endet mit Lilas Traum vom „durch die Lüfte fliegen“ wie die Vögel. „Als ich die Augen wieder öffnete, war ich wie ein Vogel, hatte Flügel, die die anderen nicht besaßen“.

    Die Träume, die Sehnsucht, Heimat, aber auch die frauenfamiliäre Verbundenheit – das ist die Quintessenz dieses Romans, der durch die vier Frauen das Schicksal der Frauen in Krisen- und Kriegsgebieten verdeutlicht. Und gerade in der heutigen Zeit ist Heimat ein Zustand, nach dem wir uns sehnen, vielleicht unterschwellig, weil wir ja alle mobile Weltbürger*innen sein wollen. Und ich schließe mit Worten des palästinensischen Dichters Mahmoud Darwish:

    „Ich lernte alle Wörter und habe sie alle zerteilt, um ein einziges Wort zu schaffen: Heimat. „

    So können wir als Leser*innen alle Wörter dieses kleinen Romans zerteilen und jede*r kann etwas ganz Persönliches finden. Mag es die Wut auf Kriege sein. Mag es Heimat sein. Mag es der Ikarus-Traum sein. Mag es die Lebenslust und die Lebensfreude sein.

     

    Hier kannst du Almuts letzte Rezension lesen.

    https://kohero-magazin.com/mein-onkel-den-der-wind-mitnahm-eine-wundersame-reise/

     

  • Nachrichtenüberblick KW12/22

    Nachrichten aus Deutschland…

    Tag der politisch Gefangenen

    1923 wurde der 18.03. von der Roten Hilfe, ein Verein zur Unterstützung linker Aktivist*innen, die im Rahmen ihrer politischen Aktivitäten mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind, zum “Internationalen Tag der Hilfe für die politischen Gefangenen“ ausgerufen. Dieser wurde bis zum Verbot durch die Faschist*innen im Jahre 1933 abgehalten. In Hamburg gab es im Zuge dieses Aktionstages eine Demonstration unter dem Namen “Free All Antifas”. Neben einer Solidaritätsbekundung mit der Ukraine wurden faschistische und rechte Strukturen bei der Bundeswehr, der Polizei oder beim sogenannten Verfassungsschutz kritisiert. 

     

    Energiepartnerschaft mir Qatar 

    Deutschland hat nun mit Qatar eine Energiepartnerschaft abgeschlossen. Das passiert aufgrund des Angriffskrieges Russlands auf die Ukraine, bisher wurden Energien aus Russland geliefert. Deutschland möchte sich von russischen Gaslieferungen unabhängig machen. Die Kooperation mit Qatar beinhaltet die Lieferung von Flüssiggas, trotzdem wäre Deutschland auch weiterhin von russischen Gaslieferungen abhängig. 

    Kritisiert wird die neue Partnerschaft vor dem Hintergrund, dass Qatar den sogenannten Islamischen Staat unterstützt und Deutschland auch Waffen an Qatar liefert. Außerdem wird kritisiert, dass in Qatar gegen Menschenrechte verstoßen wird, so zum Beispiel im Umgang mit Arbeitsmigrant*innen.

     

    Ukrainische Geflüchtete in Deutschland

    In Deutschland sind bisher mehr als 218.000 Geflüchtete aus der Ukraine angekommen und die Zahl der Menschen wird weiterhin steigen. Ein Großteil von ihnen sind Kinder und Frauen. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) möchte eine stärkere Polizeipräsenz an Bahnhöfen positionieren, um Ukrainerinnen vor Sexualstraftätern und Menschenhändlern zu schützen. Weiterhin wird die rassistische Einteilung von Geflüchteten kritisiert. Berichten zufolge werden an der polnischen Grenze insbesondere Personen aus Afghanistan, Jemen, Syrien sowie aus afrikanischen Ländern zurückgewiesen.

     

    Newroz in Deutschland

    Das kurdische Neujahrsfest Newroz wird am 21.03. und damit auch der Beginn des Frühlings gefeiert. Das Fest wird von vielen nahöstlichen Gesellschaften zelebriert. In der kurdischen Mythologie wird gesagt, die Menschen in Kurdistan haben sich an Newroz der Herrschenden entledigt und sich aus der Tyrannei befreit. Eine wichtige Symbolik bei den Festlichkeiten ist das Feuer als Zeichen der Hoffnung. In Frankfurt gab es die größte Newrozfeier, zu der Menschen aus ganz Deutschland anreisten. Das Fest stand unter dem Motto der Freiheit von Abdullah Öcalan und allen anderen politischen Gefangenen. 

    Mehr dazu hier.

    … und der Welt

    Tote im Mittelmeer

    Auch wenn die Aufmerksamkeit vieler Medien gerade auf der Flucht aus der Ukraine liegt, versuchen auch weiterhin täglich Menschen über das Mittelmeer nach Europa zu kommen. Es ist eine der gefährlichsten Fluchtrouten der Welt. In den vergangenen zwei Wochen sind vor der Küste Libyens mindestens 70 Menschen ums Leben gekommen oder werden vermisst. Ein Boot mit 25 Personen an Bord hatte im Osten Libyens einen Schiffbruch erlitten. Ende Februar ist bereits ein Boot bei hohem Wellengang gekentert. In den Tagen danach wurden 15 Leichen an Land gespült, darunter die eines Babys. Momentan werden noch 70 Personen vermisst.

     

    Instagram und Facebook-Verbot

    In Russland hat ein Gericht die sozialen Netzwerke Instagram und Facebook verboten. Das Urteil wurde durch angeblich extremistische Aktivitäten der Netzwerke begründet. Diese würden nämlich gegen Russland und dessen Streitkräfte handeln. Es ist offensichtlich, dass Russland darum bemüht ist, kritische Berichterstattung und Informationen über das Vorgehen der russischen Streitkräfte in der Ukraine zu zensieren. Auch freie Medien und die Zivilgesellschaft werden in Russland zunehmend unter Druck gesetzt. Tatsächlich drohen lange Haftstrafen, wenn man die russische Invasion öffentlich als „Krieg“ bezeichnet. 

     

    Hinrichtungen im Iran

    Im vergangenen Jahr wurden im Iran mindestens 280 Menschen hingerichtet. Darunter mindestens zehn Frauen und drei minderjährige Personen. Etwa 30 Prozent der getöteten Menschen wurden zuvor wegen Drogendelikten verurteilt. Es gibt Berichte, die zeigen, dass in Fällen, bei denen die Todesstrafe drohe, Geständnisse unter Folter erpresst würden. Zuletzt gibt es noch eine Zahl von Todesfällen, die in Haft verstorben sind und die Umstände unklar sind. 

     

    Anerkennung des Völkermord in Myanmar

    Die USA stuft die Verbrechen gegen die muslimische Rohingya-Minderheit in Myanmar nun formal als Völkermord ein. Die Rohingya werden in ihrem Heimatland Myanmar brutal verfolgt. Myanmars Militär werden systematische Morde, sexuelle Gewalt, Angriffe auf Dörfer und Massaker nachgesagt. Tausende Menschen wurden ermordet, Frauen und Kinder vergewaltigt, Dörfer dem Erdboden gleichgemacht und Menschen lebendig in ihren Häusern verbrannt. Etwa 740.000 Rohingya mussten fliehen und leben nun in überfüllten Lagern im Nachbarstaat Bangladesch. Menschenrechtsgruppen forderten die US-Regierung seit langem dazu auf, die Gräueltaten als Genozid zu bezeichnen. Direkte Konsequenzen hat die Einstufung als Genozid aber erst mal nicht.

    Mehr dazu hier.

  • Foodprints – so vielfältig is(s)t Hamburg

    Bo La Lot, Bacalhau und Injera – beim Schauen von Foodprints Hamburg läuft einem nicht nur das Wasser im Mund zusammen, sondern man erfährt auch jede Menge Interessantes über die kochenden Protagonist*innen. Diese erzählen – wie es Foodprints im Filmtitel schon erahnen lässt – unter anderem über ihre kulturellen Wurzeln, die Bedeutung von Essen und ihre Beziehung zu Hamburg. Außerdem zeigt der Film historische Zusammenhänge und spannende Fakten zum Thema Migration nach Hamburg.

    Foodprints Hamburg – eine kulinarische Reise

    Regisseur Mohammed Adawulahi und die Sängerin und Fotografin Anri Coza besuchen im Film zuerst die Schwestern Trinh und Trang. Beim Essen erzählen die Hamburgerinnen von ihrer Mutter, die aus Vietnam flüchtete und vom Rettungsschiff Cap Anamur gerettet wurde. Trinh und Trang kochen Bo La Lot (Rindfleisch in Lotusblättern), ein traditionelles vietnamesisches Gericht, das ihnen ihre Mutter beibrachte. Auch die Portugiesin Diana bereitet ein Familienrezept zu: Bacalhau, ein Kabeljaugericht. Sie kam ursprünglich mit ihrem Exmann nach Hamburg.

    Mittlerweile hat Diana ihre ehemalige toxische Beziehung hinter sich gelassen. Als Life Coach will sie anderen helfen, ihr Leben ebenfalls zu verbessern. Das dritte Gericht des Films – Injera, Sauerteig-Fladenbrot mit Gemüse – wird von Asmara, Samuel und Semere gekocht. Sie reden unter anderem über den Rassismus, den sowohl die in Deutschland geborene Asmara als auch die aus Eritrea geflüchteten Samuel und Semere erleben mussten und müssen. Auch Asmaras Eltern waren aus Eritrea geflohen. Ihr Verein Asmara´s World unterstützt Geflüchtete bei Behördengängen, mit kostenlosen Kursen und vielem mehr.

    Esstisch als interkultureller Brückenbauer

    „Essen sagt so viel über Menschen aus. Die beste Möglichkeit Menschen kennenzulernen, ist rund um den Esstisch, denn da finden die besten Gespräche statt“, sagt Mohammed bei der Premiere seines Films im Metropolis Kino in Hamburg. Passend zu diesem Statement treffen Alina und ich ihn ein paar Tage später zum Interview im Restaurant Hadjia und essen Jollof Reis und Plantain. Mohammed führt seinen Gedanken weiter aus: „Essen zu teilen kann auf eine Art und Weise kulturelle Grenzen überwinden, wie es Worte unmöglich können. Zu Hause am eigenen Esstisch fühlen sich die Menschen am wohlsten und sind deshalb am offensten.“

    Beim Essen denkt Mohammed oft an seine Kindheit zurück: Er wuchs in Ghana auf und aß drei Mal pro Tag gemeinsam mit seiner Familie. „Wir aßen alle von einem Topf mit den Händen.“ Mit 17 Jahren zog Mohammed in die USA und studierte und arbeitete dort. Vor sieben Jahren kam er schließlich für sein Master-Studium in Politics, Economics, Philosophy (PEP) nach Hamburg.

     

    Flucht und Migration hat es schon immer gegeben

    Mohammed hat zu allen Personen, die in Foodprints Hamburg gezeigt werden, eine persönliche Beziehung. Mit Asmara organisierte er bereits diverse Events, zum Beispiel im Rahmen vom Black History Month. Er lernte sie 2017 im Rahmen seiner Masterarbeit kennen, welche sich mit der Geschichte der Integration von Geflüchteten in Deutschland ab 1945 befasst. Darin schrieb er unter anderem auch über die etwa 14 Millionen deutschstämmigen Vertriebenen, die nach dem Zweiten Weltkrieg eine neue Heimat in Deutschland suchten. „Ich könnte mir gut vorstellen, dass viele der Deutschen, die skeptisch gegenüber Geflüchteten sind, selbst Vertriebene in ihrer Familiengeschichte haben“, sagt Mohammed. Er appelliert, dass wir daran denken sollen, dass es schon immer Geflüchtete gab. „Das würde das Thema Flucht normalisieren, das damit leider verbundene Stigma würde kleiner werden und Geflüchtete würden nicht ihr ganzes Leben lang auf ihre Flucht reduziert werden.“

    Nicht nur als Afrikaner gesehen werden

    Auch Mohammed kennt das Gefühl, auf etwas reduziert zu werden. Er kritisiert, dass manchmal von ihm erwartet wird, für ganz Afrika sprechen und den ganzen Kontinent repräsentieren zu können. Alina und ich stimmen zu. Wir sind Deutsche und Schweizerin und von uns würde nie jemand erwarten, für ganz Europa zu stehen. „Als Einzelne*r ganz Afrika repräsentieren zu wollen ist gefährlich“, warnt Mohammed. „Denn wenn die Person dann Fehler macht, wird die ganze afrikanische Community verurteilt.“

    Er ist stolz, Teil der afrikanischen Community zu sein, es ist ihm aber wichtig, Content zu produzieren, der für alle wertvoll ist, nicht „nur“ für Afrikaner*innen. Mohammed schaut sich im Restaurant um und sagt: „Wenn es für jede*n in Hamburg normal wäre, auch mal in einem afrikanischen Restaurant Geburtstag zu feiern, dann würde dies das Image der Afrikaner*innen ebenfalls verbessern.“ Zumal man im Restaurant Hadjia über den Tellerrand blicken kann und schnell mit dem Nachbartisch ins Gespräch kommt.

    Mohammeds Lebensziel: „The Other Project“

    Der Film Foodprints Hamburg ist Teil des Vereins The Other Project, den Mohammed gemeinsam mit Freund*innen gründete. „In Hamburg gibt es viele Menschen, die sich aufgrund ihres kulturellen Hintergrundes nicht zu Hause fühlen. Das wollen wir ändern“, sagt Mohammed. Der Verein entwirft ein Gesellschaftsmodell, in dem alle gleichberechtigt sind und Vielfalt als Chance begriffen wird. Dafür müssen alle auf ökonomischer, sozialer und politischer Ebene integriert sein und das Gefühl haben, wertgeschätzt zu werden. The Other Project will diese Vision mit verschiedenen Programmen verwirklichen. Der Verein startete als Erstes das Work Diversity Mentoring Program. Dieses unterstützt vor allem Menschen mit Flucht- oder Migrationsgeschichte bei ihrer beruflichen Entwicklung. Mittlerweile fördert er den wissenschaftlichen und kulturellen Austausch durch die Konversationsreihe The Other Conversation und das Programm The Other Village. Das neue Programm Fair Justice League soll benachteiligten Bevölkerungsgruppen rechtliche Unterstützung bieten. „The Other Project ist mein Life Goal“, schwärmt Mohammed.

     

    Was bringt die Zukunft?

    Wir werden bestimmt noch viel von The Other Project hören! Der Film Foodprints Hamburg soll nochmal im Metropolis Kino sowie in weiteren Kinos gezeigt werden. Allerdings um ein weiteres Interview verlängert. Auf der Instagram-Seite von The Other Project wird außerdem gerade die Interview-Reihe ZWEIBAHNSTRASSE – Das Leben als PoC in Hamburg gezeigt, in der die Moderatorin und Unternehmerin Layonia People of Color in ihrem Hamburger Zuhause trifft. „Wir wollen in Zukunft allgemein noch mehr Menschen mit unseren Projekten erreichen“, sagt Mohammed. „Es sollen Menschen zusammenkommen, die sich ohne The Other Project nicht getroffen hätten. Wir wollen sie aus ihren Bubbles holen!“

  • Mauern der Sehnsucht – Eltern zwischen zwei Kulturen

    Vor langer Zeit, nach dem Ersten Weltkrieg, wanderten viele Schriftsteller und Dichter auf die amerikanischen Kontinente aus und schufen dort Literatur und Poesie. Diese wurde später als Literatur der Flüchtlinge bezeichnet. Als wir deren Poesie und die Nostalgie und Sehnsucht, die sie mit sich bringt, gelesen haben, haben wir die Bedeutung und ihre Tiefe nicht erkannt. Diese Gedichte haben immer tiefen Schmerz und eine starke Verbundenheit mit der Heimat ausgedrückt. Doch trotz unserer Bewunderung für ihre Bedeutungen und Bilder haben wir die Tiefe dieses Schmerzes nicht gespürt. Der Schmerz, der die Seele verwundet und ihr Feuer löscht. Der seinen Besitzer dazu drängt, kleine Details der Vergangenheit zu leben, an die er vorher nicht gedacht hatte.

    All diese Details haben uns überrascht, und wir haben uns oft gefragt, warum man sich so genau an sie erinnert. Aber mit unseren ersten Schritten außerhalb unserer Heimat begannen wir all diese Bedeutungen klar zu verstehen. Jeder hat seine eigene Art, mit seiner neuen Situation umzugehen, aber wir sind uns alle einig, dass sich in uns etwas verändert hat.

    Es sind diese kleinen Heimaten in uns, an denen wir festhalten wollen.

    Viele von uns trugen so viele persönliche Fotos, Papiere und Dokumente wie möglich mit. Aber wir alle trugen auch Traditionen und Bräuche mit uns, die wir nicht vergessen oder verlieren möchten. Diese Traditionen binden uns nach unserer Überzeugung an unser Mutterland. Wenn wir sie verlieren, verlieren wir mit ihnen unsere Heimat. Auch nach mehreren Jahren in den Asyl-Ländern sind die Erinnerungen noch stark. Sie drängen uns, das Verlorene festzuhalten, sei es durch das Familientreffen bei traditionellen Anlässen, Alltagssituationen oder auch im Geruch traditioneller Speisen. Viele von uns versuchen, sich anzupassen und zu vergessen. Währenddessen empfinden manche Reue, nicht nur sich selbst, sondern auch ihren Kindern gegenüber.

    Wir werden die Hölle, in der wir in unserem Land lebten, und ihre negativen Auswirkungen auf uns alle nie leugnen, aber diese kleinen Details, die unsere kleine Heimat ausmachten, sind in uns, ungeachtet unserer Loyalität zu unserem Land oder unserer Unzufriedenheit mit ihm. Es sind diese kleinen Heimaten in uns, an denen wir festhalten wollen. Darüber hinaus möchten wir unseren Kindern unsere Gefühle vermitteln und ihnen die Liebe zu diesen Ländern einflößen, ohne zu bemerken, dass sie diese Gefühle nicht mit uns gelebt haben.

    Wie können wir uns in die neue Gesellschaft integrieren und gleichzeitig unsere ursprüngliche Identität bewahren? Wie können wir unseren Kindern den Wunsch vermitteln, an der Kultur unseres Heimatlandes festzuhalten? Diese und andere Fragen beschäftigen uns immer, können unsere Gedanken kontrollieren und manchmal zu einer Besessenheit werden oder haben den gegenteiligen Effekt.

    Also bauen sie eine Mauer, hinter der sie leben, um zu schützen, was sie behalten wollen.

    Die meisten von uns glauben, dass Integration zum Vergessen der ursprünglichen kulturellen und religiösen Identität führt. Diese Angst treibt sie dazu, mehr an ihren Werten festzuhalten als offen zu sein für neue Eindrücke und Verständnis für eine andere Kultur. Das betrifft auch die Kinder. Für diese ist es besonders schwer, sich in der neuen Welt zurecht zu finden, wenn sie von zu Hause keine Unterstützung bekommen.

    Die Eltern leben zwischen Heimweh und dem Versuch, ihren Kindern eine Zukunft aufzubauen, die ihren eigenen Charakter tragen muss, sei es in religiöser oder sozialer Hinsicht. Also bauen sie eine Mauer, hinter der sie leben, um zu schützen, was sie behalten wollen. Das kann auch unbeabsichtigt sein.

    Es ist dieselbe Mauer, die die meisten von uns in unseren Ländern aus Angst vor dem mörderischen Regime errichtet haben. Dies wirkt sich negativ auf die Integrationsfähigkeit der Kinder aus und führt sie dazu, einen von zwei Wegen zu wählen. Entweder die Überzeugungen der Eltern anzunehmen und aufrichtig zu verteidigen oder diese Ideen zu bekämpfen und ihnen zu entfliehen. Dies führt also zu einem Konflikt mit deren Eltern. Und wenn sich Fragen in unseren Köpfen einschleichen, lösen sie noch größere Ängste aus. Diese lassen die Mauer höher und höher werden.

    Aber wir müssen diesem Gefängnis, das wir mit uns herumgetragen haben, widerstehen. Wir müssen es überwinden, offener und bewusster sein für das, was um uns herum passiert, damit wir unseren Kindern hier eine stabile Zukunft aufbauen können. Nur so können wir unsere Identität und Traditionen bewahren sowie die Gemeinschaft überzeugen, die meist schon offen für neue Kulturen ist.

     

    Dieser Text ist im Schreibtandem mit Dagmar Esser entstanden.

  • Das Expat-Problem: Von Filterblasen und Privilegien

    Den Begriff „Expatriate“ (kurz „Expat“) zu definieren, ist gar nicht so einfach: Anders als beim Wort „Migrant*in“ oder „Geflüchtete*r“ steht der*die „Expat“ nicht im Duden oder im Asylgesetz. Grundsätzlich aber sind Expats Menschen, die im Ausland leben. Sie studieren oder arbeiten dort, oder sie folgen ihren Familienmitgliedern, die im Ausland arbeiten. Viele sind nur vorrübergehend für einige Monate oder Jahre im Ausland, sie wandern also nicht dauerhaft aus. Ein Expat kann beispielsweise ein chinesischer Student in den USA sein, eine amerikanische NGO-Mitarbeiterin in Afghanistan oder ein Englischlehrer in Japan.

    Expat in Shanghai

    Ich wurde Expat, als ich im September 2018 für ein Auslandssemester nach Shanghai zog. Aus dem einen Semester sind erst zwei, dann drei, dann vier geworden. Denn das Expat-Leben ist süß, und ich bin ziemlich schnell auf den Geschmack gekommen. Ich habe spannende Menschen aus aller Welt kennengelernt, das Nachtleben von Shanghai entdeckt und für meinen Job als Deutschlehrerin wurde ich gut bezahlt. Nachdem ich zurück in Deutschland war, habe ich mich gefragt: Wie problematisch ist Expatriatism eigentlich?

    Expat oder Migrant*in – wer entscheidet das?

    In Shanghai galt ich, eine Austauschstudentin aus Deutschland, als Expat. Warum würde niemand Mary, die philippinische Haushälterin, die meine Mitbewohner und ich beschäftigt haben, als „Expat“ bezeichnen? Wir beide leben schließlich im Ausland – das Kernmerkmal eines Expats. Die Antwort lautet, vielleicht könnt ihr es euch schon denken: White Privilege, also: das Privileg des Weißseins[1]. Ich habe mich aus freien Stücken entschieden, nach China zu migrieren: Der Auslandsaufenthalt ist Teil meines Studiums. Andere Expats werden beispielsweise vom Arbeitgeber in ihrem Heimatland ins Ausland geschickt. Oder sie arbeiten klassischerweise in prestigeträchtigen Jobs wie Journalismus oder der Entwicklungszusammenarbeit.

    Aus der Heimat erhalten sie oft Bewunderung für ihre Arbeit und ihre Entscheidung, ins Ausland zu gehen. Die Lage in ihrem Heimatland ist für gewöhnlich so stabil, dass sie sich jederzeit zu einer Rückkehr entscheiden können. Oft müssen sie das jedoch gar nicht, denn in ihrem Zielland haben sie meist wenig Probleme, ein Visum zu erlangen. Expats migrieren häufig aus dem globalen Norden in den globalen Süden. Das bedeutet auch, dass ihr Geld im Zielland viel mehr wert ist, und ihre Expertise allein aufgrund ihres Weißseins mehr gefragt ist.

    Die Grenze zwischen Expat und Migrant*in verläuft quer durch unseren Geldbeutel

    Vieles davon trifft auch auf mich zu. Dank eines Stipendiums und der Unterstützung meiner Eltern war es nie wirklich ein Problem, ein weiteres Studierendenvisum zu finanzieren. Auch wenn ich manchmal um die Verlängerung meines Visums gebangt habe. Das Schlimmste, was mir hätte passieren können, wäre nach Deutschland zurückkehren zu müssen.

    Ich habe außerdem recht schnell einen gut bezahlten Job als Deutschlehrerin gefunden. Obwohl bis dato meine einzige Qualifikation dazu war, deutsche Muttersprachlerin zu sein. Mit dem Geld konnte ich mir in Shanghai, einer der teuersten Städte der Welt, ein WG-Zimmer in zentraler Lage leisten. Dazu konnte ich Restaurant- und Barbesuche am Wochenende und Reisen nach Tibet, Kambodscha und Südkorea finanzieren.

    Mary, meine Haushälterin, ist jedoch vermutlich wie viele andere Filipinos aus wirtschaftlicher Not nach China gekommen. Und nicht, weil sie besonders Lust darauf hatte. Ihr angespartes Geld ist in Shanghai kaum etwas wert. Sie verdient einen Bruchteil meines Lohns und was davon übrigbleibt, schickt sie vermutlich zurück zu ihrer Familie. Es ist außerdem gut möglich, dass sie wie andere Arbeiter*innen aus Südostasien oder Nordkorea illegal in China lebt.

    Die Grenze zwischen Expat und Migrant*in verläuft also quer durch unseren Geldbeutel. Eingewanderte des globalen Nordens gelten als Expats, die in gut bezahlten Jobs arbeiten und ihr Geld für teures Essen, schöne Wohnungen und Reisen ausgeben können, bis sie sich entscheiden, in ihre Heimat zurückzukehren. Menschen des globalen Südens gelten als Migrant*innen, leben häufiger in prekären Jobsituationen und haben einen unsicheren Aufenthaltsstatus. Schlussendlich müssen viele von ihnen entweder ihre wirtschaftliche Verwertbarkeit beweisen oder ein Leben in Illegalität führen, um nicht von Abschiebung bedroht zu werden.

    Filterblasen und Parallelgesellschaften

    In ihrem Buch „Ausgerechnet Kabul“ beschreibt Ronja von Wurmb-Seibel die sogenannte Kabubble: eine Filterblase der ausländischen Entwicklungshelfer*innen, Reporter*innen und NGO-Mitarbeiter*innen, die in Kabul leben und arbeiten. Die Kabubble ist ein gläserner Käfig aus einer Handvoll Restaurants, Hotels und Geschäften, die als sicher vor Anschlägen gelten, und in denen „viele Ausländer […] ihre Wochenenden mit Saufen, Kiffen und Verkatertsein“[2] verbringen.

    Kabul ist aufgrund der Sicherheitslage ein extremes Beispiel. Doch diese Filterblase konnte auch ich 5.000km weiter in Shanghai beobachten. Expats umgeben sich oft am liebsten mit Ihresgleichen. Ihr Leben spielt sich in Clubs, Bars und Restaurants ab, in denen sie selbstverständlich auf Englisch bestellen und in denen die einzigen Chines*innen hinter dem Tresen stehen. Und sei es Shanghai, Neu-Delhi oder Dubai: Von Expats wird selten erwartet, die Landessprache zu lernen. Für sie gilt: es sich gut gehen zu lassen, ist die Pflicht – sich ernsthaft mit Geschichte, Menschen und Kultur des Ziellandes auseinanderzusetzen, höchstens die Kür. Mit dem Geld, das sie als Englischlehrer*innen oder Manager*innen verdienen, finanzieren sie eine ganze Unterhaltungsindustrie, die ohne sie überhaupt nicht existieren würde.

    Expats migrieren vor allem aus dem globalen Norden in den globalen Süden

    In einem fremden Land, das alles auf den Kopf stellt, was man bisher zu wissen glaubte, Anschluss an etwas Vertrautes zu suchen, an Menschen, die die eigene Sprache sprechen, die die eigenen kulturellen Codes verstehen, die ähnliche Meinungen haben – Nichts daran ist falsch oder verwerflich. Häufig führt das jedoch dazu, dass Expats nie den Schritt aus ihrer Komfort-Zone hinauswagen müssen.  In Europa hingegen und den USA wird schnell von Parallelgesellschaften gesprochen, wenn Migrant*innen in Städten Communities bilden, in denen sie größtenteils unter sich bleiben.

    Die Filterblase der Expats birgt eine weitere Gefahr: Denn ein Auslandsaufenthalt ist kein Garant dafür, dass man rassistische Vorurteile gegenüber dem Zielland abbaut. Wie oben erklärt, migrieren Expats vor allem aus dem globalen Norden in den globalen Süden. Über das Zielland sind sie bestenfalls unzureichend informiert. In einer postkolonialen Welt ist jedoch das Selbstbild weißer Menschen geprägt von Überlegenheitsfantasien, während man auf das Zielland (unbewusst) rassistische Stereotype projiziert – Stichwort white fragility.

    Wer sich nicht darum bemüht, die größtenteils weiße Filterblase der Expats zu verlassen oder sich nicht mit dem eigenen Rassismus auseinandersetzen möchte, der*die wird zu Hause vor allem von Armut und seltsamen Gewohnheiten der Menschen im Zielland berichten und auch in Zukunft rassistische Stereotype reproduzieren. Wer nie den Schritt aus der Expat-Bubble wagt, kommt möglicherweise rassistischer nach Hause zurück, als er*sie gegangen ist – egal, wie ehrbar der Job in der Entwicklungszusammenarbeit oder der NGO nun gewesen sein mag.

    Wie man ein besserer Expat wird

    Uff. Und nun? Wer sich mit den Problemen des Expatriatism beschäftigt, dem vergeht möglicherweise die Lust, auszuwandern. Aber Begegnung und Austausch zwischen Kulturen sind wichtig und wertvoll. Die Lösung kann nicht sein, nicht mehr zu reisen oder zu migrieren. Wenn man sich dazu entscheidet, einen Freiwilligendienst anzutreten, im Ausland zu studieren oder zu arbeiten, dann gibt es jedoch einige Dinge, die man vorher bedenken sollte:

    Tipps

    1. Lern die Sprache deines Ziellandes. Es ist nicht nötig, fließend Chinesisch, Bahasa oder Arabisch zu lernen – das Wichtigste ist, sich darum zu bemühen. Oft reichen schon ein paar Worte aus, um Überraschung oder Begeisterung bei deinem Gegenüber hervorzurufen. Und es macht das Leben vor Ort um einiges leichter.
    2. Setze dich mit y und Postkolonialismus auseinander – besonders, wenn du in Länder des globalen Südens migrierst. Empfehlenswert dazu sind beispielsweise die Bücher „Wir müssen über Rassismus sprechen – was es bedeutet in unserer Gesellschaft weiß zu sein“, von Robin DiAngelo, „EXIT RACISM“, von Tupoka Ogette und „Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten“, von Alice Hasters.
    3. Informiere dich über die Geschichte und Kultur des Landes, in das du reist oder migrierst. Lies Bücher, schaue Dokumentationen und höre Podcasts über dein Zielland. Das erleichtert dir das Ankommen und steigert außerdem die Vorfreude!
    4. Wage den Schritt aus der Expat-Blase! In jeder Stadt gibt es Sprachcafés, Vernetzungstreffen und Initiativen, bei denen du Menschen treffen kannst, die ganz anders sind als du. Es wird sich lohnen, versprochen!

     

    [1] Weißsein bezieht sich hier nicht auf eine biologische Eigenschaft oder eine reele Hautfarbe, sondern auf eine privilegierte Position innerhalb einer rassistisch strukturierten Gesellschaft. Mehr dazu könnt ihr im Glossar für diskriminierungssensible Sprache auf amnesty.de lesen.

    [2] Ausgerechnet Kabul. 13 Geschichten vom Leben im Krieg. Ronja von Wurmb-Seibel. DVA Verlag 2015, 60

  • In einem anderen Land – Ausstellung per Audioguide

    Zuhause – was bedeutet das überhaupt? Wo sind wir zuhause und wie kommen wir dort an? Mit diesen Fragen setzt sich die interaktive OpenAir-Ausstellung der Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen-Anhalt auseinander. In einem Stadtspaziergang können Interessierte zu insgesamt sieben in der Stadt Halle verteilten Schaufenstern schlendern und dort Ausschnitte von Comics betrachten. Per Audioguide mit QR-Codes  kommt man zu Erzählungen der Autor:innen über (gefühlte) Heimat(en), Migrationserfahrungen, Ausgrenzung und Zuflucht.

    “Weggehen und Ankommen liegen nah beieinander. Menschen verlassen ihre Heimat aufgrund von Krieg und Repressionen, aber auch mit dem Wunsch nach einer besseren Zukunft. Und manchmal kommen Menschen in einem anderen Land an, ohne fortzugehen.”

    Spaziergang mit Audioguide weiterhin möglich

    Besonders spannend: Station 5 – Wohnungsfragen. Hier wird unter anderem das “Alphabet des Ankommens” vorgestellt, ein Projekt des Deutschen Comicvereins e.V., bei dem in zwölf Comic-Reportagen über das Thema Ankommen in einem fremden Land berichtet wird.

    Begleitet wird die Ausstellung von einem Audioguide. Hier hört ihr Interviews mit Zeitzeug:innen, Autor:innen und Engagierten. Die Ausstellung in Halle lief nur bis April 2021, aber dank Audioguide könnt ihr auch jetzt noch losspazieren – wo auch immer ihr seid – und über diesen Link reinhören!

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