Schlagwort: Kultur

  • Festival Identidades – die Erinnerung umarmen

    Mir wurde gesagt: Das Tor der Sonne liegt im Norden Chiles. In einer Region, die nicht immer Teil Chiles war, sondern Boliviens. Antofagasta. Die Stadt formt für eine Vielfalt von Menschen ein Zuhause: den indigenen Bevölkerungen, wie den Aymara, Migrant*innen aus Peru und Bolivien und der sich selbst identifizierenden Chilen*innen. Die fremde Nähe gibt mir ein unerwartetes Gefühl von Zugehörigkeit. Ich aus Berlin, chilenische Migrantin zweiter Generation, auf einmal mitten in der trockensten Wüste der Welt. Erschreckend stelle ich fest, wie stark die Spuren des Kolonialismus der Engländer und Spanier deutlich in den Straßen zu erkennen sind und Ungleichheit die Stadt beherrscht. Da Antofagasta besonders für die Produktion von Kupfer und Lithiumcarbonat gekennzeichnet ist, findet der Großteil ihrer Bevölkerung Arbeit in den Mienen. Sie gehören dadurch zu den niedrigst gestellten sozioökonomischen Einwohner*innen Chiles. Kunst ist an diesem Ort Zuflucht.

    Das „Festival Identidades“ strebt danach, die Erinnerung zu bewahren und einen Raum für die regionale Gemeinschaft zu erschaffen, in dem sie Kultur genießen kann. Der Schmerz der Postdiktatur prägte das Programm der neunten Ausgabe des Festivals, das in „Las Ruinas de Huanchaca“ stattfand. Eine besondere Eigenschaft des Festivals ist die Anerkennung und Einbeziehung indigener Traditionen und Künstler*innen, was in Chile eine Rarität darstellt, da die eurozentrische Darstellung oft als Leitkultur betrachtet wird. Das Festival möchte die Erinnerung bewahren und einen Raum für die regionale Gemeinschaft erschaffen, in denen sie Kultur genießen können. Der Schmerz der Militärdiktatur Pinochets prägt das Programm der neunten Ausgabe.

    Trueque – Geben und Nehmen

    Dies möchte die Produktion unter der Leitung von Alejandra Rojas Pinto aktiv ändern. Selbst in Antofagasta aufgewachsen, wurde ihr früh bewusst, welche Bedeutung die lokalen Einflüsse für das Festival haben. Durch das Prinzip des Gebens und Nehmens wird im Rahmen des Mapuche-Synonyms Trueque ein kultureller Austausch zwischen eingeladenen und regionalen Künstlerinnen ermöglicht. In der einst englischen, deutschen Salpeterregion Chacabuco durfte ich erleben, wie Künstler*innen des Theaters Teatro Huellas, mit dem argentinischen Tanzkollektiv Noestango interagierten. Ckuris, Seelen des Windes, vollendeten eine Reinigungszeremonie mit Andeninstrumenten, Blumen und der Heilpflanze Ruda, bevor Noestango den Trueque mit einem stummen Tanz im Staub der Ruinen der ehemaligen Wohnsiedlungen der Salpeterarbeiter und des späteren Internierungslagers für Gegner der Militärdiktatur Pinochets, weiterführte. Seitdem brennen mir die Wörter Rojas im Kopf: „Die Wüste birgt viele Erinnerungen.“

    Als ich die Pampinas kennenlernen durfte, erinnerte ich mich sofort an meine abuelita, meine Großmutter. Am Strand La Rinconada traf ich auf zehn Frauen unterschiedlicher Altersgruppen beim Nähen und Besticken von bunten, glitzernden Stoffen – eine Tätigkeit, die meiner Mamá seit Generationen weitergegeben wurde. „Wenn wir uns treffen, haben wir Zeit, Ruhe zu finden. Unsere Werkstätten haben was ganz Meditatives und gedenken unsere Geschichten“, erzählt eine der Frauen den Künstlern Malicho Vaca Valenzuela und Analí Muñoz Dahm von der Performance „Reminiscencia“. Zwischen ihnen fand ein Trueque statt, was das Beibringen von Nähen und Flechten von Traumfängern gegen das Singen von Liedern austauschte. Beim Singen verspürte ich ein großes Zugehörigkeitsgefühl, weil die Lieder von Generationserfahrungen erzählten, die mir meine Eltern seitdem ich klein war beschrieben hatten. Ich fühlte mich Teil ihrer Geschichte.

    Eine Kultur des Schweigens

    Das Theaterstück „El traje de Novio“ stellte für mich eine weitere unausgesprochenen Realität Chiles dar. Sie behandelt die Wiedervereinigung von Mutter und Sohn, die von Geburt an voneinander getrennt wurden. Die Auswirkungen der über 200.000 Fälle von vermissten Kindern, die während der Militärdiktatur Pinochets mithilfe kirchlicher Gemeinschaften wie der Opus Dei systematisch entführt und europäischen Familien zur Adoption übergeben wurden, wird in diesem Drama repräsentiert. Regisseur Hektor Morales schafft durch ein detailreiches Zusammenspiel von Humor und Stille einen intimen Raum. Das Treffen entfremdeter Familienmitglieder wird mit Sarkasmus überspielt und Körperkontakt wird auf das Nötigste reduziert. Denn „der Schmerz soll nicht angeeignet werden“, erzählt mir Morales. Die Realität der Betroffenen wurde mit großem Respekt behandelt, da sie oft vom chilenischen Staat instrumentalisiert statt rehabilitiert wurden. Mir wird klar, was bleibt, ist eine Kultur des Schweigens, umgeben von Ignoranz. El traje de Novio will dieses Schweigen brechen und die Erinnerung an das Geschehene wachhalten.

    Während meines Aufenthaltes in Antofagasta schrie es mehrmals in meinen Kopf: „Das wusste ich nicht!” Als ich mit anderen über meine Erfahrung reden möchte, fange ich an zu verstehen: Viele wollen es nicht wissen. In einem Land, wo die Regierung Geschichte zu ihren Gunsten erzählt, vertuscht und keine Konsequenzen zieht, bleiben Erinnerungen verborgen. Bis sie vergessen werden. „Hay que abrazar la memoria”, denn ohne sie vergessen wir, was war und wer wir sind.

     

    Weitere Beiträge aus Consuelos Kolumne Auf der Suche nach Zugehörigkeit findest du hier.

    Bildcredits: Ricardo Rodríguez

  • Landsfrau – ein autofiktionales Theaterstück

    Sie betritt die Bühne erneut, in der Hand hält sie einen Koffer. Als sie den Koffer auf der Bühne abstellt und öffnet, entpuppt sich ein Harmonium. Sie fragt die Zuschauer, ob sie etwas für sie singen soll, dann kehrt Stille ein, bis diese von lang gehaltenen, durchdringenden Tönen durchbrochen wird, welche sie mit ihrer Stimme erzeugt, bevor eine Begleitung durch Harmonium und Trommeln einsetzt.

    „Ich bin eine Frau. Ihr hört meine Stimme, ihr seht meinen Körper“, sagt sie am Ende ihrer Performance. Sie spricht auf Dari, während die Übersetzung parallel auf Deutsch und Englisch an die Wände projiziert wird. Sie spricht über die Sicht- und Unsichtbarkeit von Frauen und von wem sie bestimmt wird. 

    Das Stück Landsfrau, bei welchem Mariann Yar als einzige Spielerin auf der Bühne steht, bildet eine autofiktionale Erzählung, geschildert durch die deutsch-afghanische Schlüsselfigur Ariana, ab. Dieser ist der Zugang zu dem Heimatland ihrer Eltern verwehrt, seit sich am 26. August 2021 die Grenzen geschlossen haben und die Bundeswehr ihre Evakuierungsoperation beendet hat. 

    Sie zeichnet entlang der Performance ihre Erinnerungen und Verknüpfungen mit dem Land ihrer Eltern nach, welche sich aus den Bildern und Erzählungen speisen, die ihr geblieben sind. Am Ende stellt sie fest, dass dieses Land, von dem sie träumt und erzählt, nie wieder jenes Land aus den Erzählungen und Erinnerungen ihrer Eltern sein wird. 

    Die Inszenierung ist collagenhaft. Durch Licht und Musik wird der Zuschauer aus einer Szenerie in die nächste geworfen. Das Stück baut sich aus einer Zusammenstellung an Musik, Gesang, Tanz und gesprochener Performance zusammen, bei welcher häufiger die vierte Wand zum Publikum durchbrochen wird. Auch wenn ich keine aktive Rolle einnehmen musste, fühlte ich mich durch diese Taktik als Teil des Geschehens und auf einer persönlichen und dadurch emotionalen Ebene angesprochen. Dies ist mir eindrücklich in Erinnerung geblieben. 

    Wer ist Mariann Yar?

    Mariann Yar ist Schauspielerin, Performerin und Sprecherin (als @mariannyar auf Instagram). 

    Sie absolvierte ein Schauspielstudium an der Universität der Künste in Berlin, in jener Stadt, in der sie noch heute lebt und arbeitet. Sie ist Teil des Projektmanagements und des Leitungskollektivs des Ringtheaters Berlin, als Schauspielerin an einer Vielzahl von Produktionen beteiligt und auf den Bühnen Deutschlands unterwegs. 

    Sie ist die Tochter afghanischer Eltern und engagiert sich im Verein Stabiler Rücken e. V., bei welchem sie im Vorstand sitzt, für eine diverse und inklusive Film- und Theaterlandschaft im deutschsprachigen Raum. 

    Landsfrau wurde im Rahmen des fluctoplasma Festivals in Hamburg auf der Plattform Bühne des Ernst-Deutsch Theater aufgeführt.

    Das Genre Autofiktion

    Autofiktion ist eine Literaturkategorie, welche sich als Mischform der Autobiografie und Fiktion versteht. Niemand weiß, wie viel Wahrheitsgehalt in den Erzählungen von Ariana steckt und wie nah sich ihre fiktionale Person an Mariann bewegt. Menschliche Erinnerungen sind keine standhaften Gebilde. Sie sind leicht zu manipulieren und können auch unter der Berücksichtigung der Tatsache, dass niemand eine objektive Realität erlebt, nur in Teilen einer allgemeinen Wahrheit entsprechen.

    Mit der vorgeschalteten Aufschrift als Autofiktion, wird die Erzählung unverletzlich und bietet Ariana einen sicheren Raum, ihre Erinnerungen anzuschauen, sie in Teilen neu zu durchleben, zu hinterfragen und eigene Schlüsse daraus zu ziehen. Diese setzen sich mit dem Gefühl von Verlust und Schuld sowie mit dem Bedürfnis nach Aufbruch und Tatendrang auseinander. 

    Im Raum war gerade durch die Anwesenheit von persönlich Betroffenen ein hohes Maß an Emotionalität zu verspüren und ich habe die ein oder andere Träne fließen sehen, als ich die Reihen der Zuschauer entlang schaute. Ariana und Mariann ist es gelungen, die Zuschauer auf eine Reise zu schicken, die viele in Erinnerung behalten werden. 

     

  • Hamida Shamat: Zahnärztin zwischen Welten

    Hamida Shamat, 25 Jahre alt, ist eine frisch approbierte Zahnärztin. Sie bezeichnet sich selbst als jemanden, der „Zuhause zwischen den Welten“ ist und gerne reist. Zusätzlich schreibt sie Gedichte und Spoken-Word-Texte über Themen wie Heimat, Identität und Gesellschaftskritik, die sie gerne auf Bühnen präsentiert. Hamida hat in verschiedenen Teilen Deutschlands gelebt, darunter in West- und Ostdeutschland. Berlin und Hamburg sind für sie „zwei Herzensstädte“, und der Begriff Heimat ist für sie nicht leicht zu definieren. „Möglicherweise liegt Heimat dort, wo die Familie ist, obwohl dieser Ort sich ständig ändern kann“, sagt sie.

    Die Berufung zur Zahnmedizin

    Schon seit ihrem 16. Lebensjahr hegt Hamida den Traum, in die Zahnmedizin einzusteigen. „Vielleicht, weil ich selbst einige Stunden auf dem Stuhl meiner Kieferorthopädin verbracht habe“, sagt sie. Im Abitur hat sie sich sehr bemüht, den entsprechenden Schnitt zu erreichen, und schließlich ihr Abitur unter den 20 Besten des gesamten Schuljahrgangs abgeschlossen. Das reichte jedoch nicht aus, um einen Studienplatz zu bekommen. Sie hat ein Jahr lang gelernt und mehrmals an einem europaweiten Medizinertest teilgenommen, um an einem Universitätsklinikum zugelassen zu werden. 

    Sie betont: „Ich liebe meinen Beruf, etwas ausüben zu dürfen, womit man tatkräftig anpacken kann und helfen kann, gleichzeitig im konstanten zwischenmenschlichen Kontakt mit Menschen aller Art zu sein, ganz unabhängig von sozialer Schicht, Religion oder Herkunft.“ Nach ihrem Studium führte Hamidas Berufung sie zu einem zahnmedizinischen Einsatz in Westafrika mit SOS-Kinderdörfer. Dabei wurde deutlich, dass ihre Arbeit nicht nur aus altruistischen Motiven entstand, sondern auch eine persönliche Bereicherung darstellte. Mit einem klaren Bewusstsein für soziale Ungleichheit betont Hamida, dass in Westafrika zwar ein guter Zugang zu guten Ärzt*innen besteht, dies jedoch eher für die Reichen oder die Mittelklasse gilt. Die sozial benachteiligte Schicht fällt oft durch das Netz.

    Es dankt einem nicht jeder

    Ihr Einsatz vor Ort verdeutlichte nicht nur die Bedeutung einfacher medizinischer Eingriffe, sondern auch den nachhaltigen Einfluss, den individuelles Engagement auf Gemeinschaften haben kann. „Ähnliches haben wir aber auch vor der eigenen Tür. In Hamburg gibt es eine ‚Praxis ohne Grenzen‘, wo Menschen ohne Krankenversicherung oder bei bestimmten Kosten behandelt werden, die nicht von der Krankenkasse gedeckt werden. Sofern es einen selbst oder das unmittelbare Umfeld nicht betrifft, weiß man das oft nicht.“

    Die treibende Kraft hinter Hamidas Arbeit sind klare Werte: „Weitergeben, jeden Menschen gleich behandeln, immer nach bestem Gewissen arbeiten und dabei akzeptieren, dass es einem nicht immer jeder dankt.“ Darüber hinaus betont sie, „dass der Dank und Lohn für die Arbeit allein von Allah kommen sollten. Von Patienten, die oft wenig begeistert sind, zum Zahnarzt zu gehen, diesen zu erwarten, wäre unpassend. Es ist entscheidend, die Motivation aus inneren Überzeugungen zu schöpfen.“ Obwohl ihre Eltern zunächst Schwierigkeiten hatten, ihre Entscheidung für die Medizin zu „verstehen“, haben sie Hamida schließlich unterstützt, als sie ihre Entschlossenheit erkannten.

    Erfahrungen als Person mit Migrationsgeschichte

    Die Erfahrungen als Person mit Migrationsgeschichte und als Muslima haben von Anfang an „entscheidende Weichen“ in ihrem Leben gestellt. Hamida hatte seit ihrer Grundschulzeit mit Vorurteilen und Diskriminierung aufgrund ihres Migrationshintergrunds und als sichtbare Muslima mit Kopftuch zu kämpfen. In NRW besuchte sie die Grundschule und in der 4. Klasse entschieden die Lehrer*innen, auf welche weiterführende Schule sie gehen durfte.

    „Obwohl ich einen guten Notendurchschnitt hatte, sagte meine Lehrerin zu meinen Eltern: ‚Hamida wird sowieso sehr jung zwangsverheiratet und dann nur noch Hausfrau und Mutter. Der Platz für sie auf dem Gymnasium wäre eine Verschwendung. Die Realschule sollte reichen.‘ Dank des unerschütterlichen Willens meines Vaters, uns hier in Deutschland alle Möglichkeiten zu eröffnen, durfte ich einen Probeschultag am Gymnasium machen und nach weiteren Diskussionen dort auf Probe ins Schuljahr starten. Meine Grundschullehrer wichen damals von ihrem Standpunkt nicht ab.“

    Während ihres Studiums hat Hamida „immer wieder überall“ bemerkt, wie man „als nicht rein deutsch gelesene Person immer ein wenig mehr geben muss, bzw. sich weniger Fehler erlauben sollte als der Durchschnitt, weil man immer ein wenig mehr im Fokus steht“. Sie sagt: „Es sind diese subtilen Dinge, die man dann nicht mal abwehren kann, und wenn man sie benennt, wird einem vorgeworfen, man übertreibe.“

    Diese Erfahrungen haben ihren Weg beeinflusst und sie dazu motiviert, sich gegen Diskriminierung und Ungerechtigkeit einzusetzen. „Neben der Medizin beschäftige ich mich durch mein Studium und meinen Beruf mit gesellschaftlichen Problemen, Identität, der Frage von Heimat als Mensch in der Diaspora, Religion, etc. Und diese Themen spielen auch immer wieder eine wichtige Rolle in meinen Texten, die ich auf der Bühne performe.“

    Bereicherung durch den Migrationshintergrund

    Hamida ist der Meinung, dass der Migrationshintergrund sie bereichert hat. „Meine Mama ist Deutsche, mein Vater Ägypter. Und ich bin dankbar für jedes Erleben und Kennenlernen dürfen. Man gehört zu beiden nie ganz dazu und wird es auch nie. Diesen Fakt muss man akzeptieren; man gehört zu dieser Zwischengruppe. Man ist halt Zuhause zwischen den Welten. Ich habe diesen Satz verinnerlicht und sehe es als Bereicherung im Leben, sich an mehreren Orten heimisch fühlen zu können, da jeder Ort einen kleinen Schatz trägt.“ Doch sie sagt auch: „Ich bin halb ägyptisch und sichtbare Muslima mit meinem Kopftuch. Ich denke, dadurch fällt man in dieser Gesellschaft vor allem in das Feindbild: Islam.“

    Zu der Frage, welche Perspektiven ihr in öffentlichen Diskussionen zu Flucht und Migration fehlen, beklagt Hamida die bestehende Klassenmigration und Vorurteile gegenüber bestimmten Gruppen, insbesondere gegenüber Muslimen. Sie sieht jedoch keinen Mehrwert darin, ihre Energie in den Frust darüber zu investieren. „In der Öffentlichkeit stört mich ganz klar diese Klassenmigration. Die einen Migranten und Geflüchteten sind einem lieber als die anderen, und wir Muslime sind sowieso ganz unten auf der Sympathie-Skala. Ich könnte an dieser Stelle tausend Worte darüber verlieren, aber um ehrlich zu sein, sehe ich auch nicht mehr den Mehrwert darin, seine Energie in den Frust darüber zu investieren.“

    Vielleicht kommt man nie ganz an

    Hamida wird sich „immer und immer wieder gegen Diskriminierung, Unterdrückung und Ungerechtigkeit“einsetzen. Ihr Glaube und die Hoffnung bzw. das Vertrauen auf Allah motivieren sie, weiterzukämpfen und sich den Herausforderungen zu stellen. In ihrem Leben begleiten Hamida einige Weisheiten, die sie auch mit anderen Menschen teilen möchte: 

    „Komme an zwischen den Welten, denn ein vollständiges Ankommen gibt es nicht.“

    Verfolge immer deinen Traum und erst, wenn du alles dafür getan hast und es immer noch nicht geklappt hat, dann kann man sagen, vielleicht hat Allah etwas Besseres für einen vorgesehen. Aber wäre es nicht traurig, später einmal dazusitzen und zu sagen: „Ich wollte immer, aber habe nicht …“

    „Sei offen für Neues und verurteile nicht, wenn andere Dinge anders machen. Gerade unter uns Muslimen … es gibt mashaAllah so viele Muslime auf dieser Welt in so vielen verschiedenen Kulturen und Ländern, und allein, dass die meisten das gleiche Glaubensverständnis haben, ist schon wunderbar. Warum also wird an Kleinigkeiten sich so lange aufgehalten, wenn am Ende jeder doch allein vor Gott steht.“

    Hamida betont die Bedeutung von Offenheit, dem Verfolgen von Träumen und der Akzeptanz, dass man möglicherweise nie ganz ankommt. Sie zeigt sich als eine starke Persönlichkeit, die ihre Identität und Leidenschaften aktiv gestaltet und dabei fest in ihrem Glauben verwurzelt ist.

  • Dan Thy Nguyen: Eher Reformer als Revolutionär

    „Ein großes Thema, das bei allem, was ich mache, darüber steht, ist radikale Gleichberechtigung. Dass alles als gleich angesehen wird, also eine multiperspektivische Gleichheit von allen Menschen.“ Dan Thy Nguyen (38) ist freier Theaterregisseur, Schauspieler, Schriftsteller, Sänger, Essayist, gründete und leitet das fluctoplasma – das Hamburger Festival für Kunst, Diskurs und Diversität.

    Mit seiner Forderung nach radikaler Gleichheit liegt es nicht fern, dass das diesjährige fluctoplasma unter dem Motto „crush your egosystems“ steht. Zum 4. Mal stehen ab Donnerstag wieder vielfältige Künstler*innen, Speaker*innen und Kollektive auf den Bühnen. „Bei uns geht es um Kultur, Demokratie und Solidarität“, heißt es auf der Website des Kunstfestivals. Das gilt nicht nur für die Artists, sondern auch für das Organisationsteam. Neben all dem Logistischen, das bei einem Festival organisiert werden muss, stehen für Dan Thy die Menschen besonders im Vordergrund.

    All die Perspektiven und Persönlichkeiten als Team zusammenzubringen und Bedürfnisse wahrzunehmen, ist in diesen Tagen Dan Thys größte Aufgabe. „Ich bin wie ein Maulwurf mit einem Hammer – ich grabe mich gerne ein und wenn ich dann mal wichtig bin und gebraucht werde, dann mache ich action.“

    Nicht immer hatte Dan Thy so viele Menschen wie heute um sich herum, die mit ihm gemeinsam für ein Miteinander einstehen. „Die allerersten Jahre in Hamburg war ich komplett alleine. Ich hatte aber das Glück, im Laufe meines Lebens dann viele tolle Menschen zu treffen“, erinnert sich Dan Thy.

     

    „Ich glaube, das Studium hat mich am meisten politisiert“

     

    Mitte der 2000er Jahre beginnt er, Islamwissenschaften zu studieren und belegt Kurse für Arabisch, Türkisch und Farsi. „Ich glaube, das Studium hat mich am meisten politisiert“, sagt er. Es ist aber auch die Auseinandersetzung mit seiner eigenen Lebensgeschichte, die Dan Thy prägt. „Ich komme aus einer sehr konservativen Familie, die stellenweise auch ein bisschen rassistisch war. Meine eigene Familiengeschichte, nicht nur die Flucht- und Migrationsgeschichte, auch die Auseinandersetzung mit dem politischen Denken in meiner Familie und der Widerstand gegen ihre Überzeugungen, haben mich sehr geprägt“, erzählt er. Und auch in linken Diskursen fehlt ihm die Auseinandersetzung mit Diskriminierung unter marginalisierten Gruppen: „Antirassismus bedeutet, genau hier tiefer reinzuschauen und festzustellen, wo Rassismus reproduziert wird.“

     

    Antirassismus in Kunst und Kultur

     

    Dan Thy wächst in einer Zeit auf, in der Kunst noch nicht so politisch wie heute war. In seinem Umfeld waren viele Menschen von Kunst und Kultur enttäuscht; es gab viele identitätspolitische Kämpfe, so Dan Thy. Die wichtigste Forderung dabei war, antirassistische Strukturen gesamtgesellschaftlich zu schaffen. „Wir müssen da mit allen Menschen, und dazu gehören auch PoC-Perspektiven, dran arbeiten. Du siehst, ich bin eher der Reformer, als ein Revolutionär.“

    Besonders als 2015/16 Tausende Menschen nach Europa flüchten, sucht Dan Thy nach einer aufrichtigen und nachhaltigen Form von Solidarität. „Wie können wir Strukturen der Solidarität aufbauen, damit wir diese nicht nur kurz auf Demos offenbaren, sondern Infrastrukturen für Antirassismus bauen?“ „Sind die etablierten Kultur- und Bildungsinstitutionen im Sinne einer gleichberechtigten Gesellschaft reformierbar?“, fragt er sich. Es ging ihm auch darum, Kulturarbeit mit Antirassismus und Antisemitismus zu verbinden.  Seine Antwort auf diese Fragen ist 2020 die Gründung des Studio Marshmallows und des fluctoplasmas. Der Gedanke von Repräsentation und radikaler Gleichberechtigung bekommt eine Bühne – oder gleich mehrere, verteilt in Hamburg.

    Doch was kommt nach der Repräsentation? Diese Frage hat sich Dan Thy schon in der kohero Printausgabe 8: „Wem gehört Schönheit?“, gefragt. Eine Antwort hat er noch nicht, dafür aber neue Fragen: „Ich glaube, dass Repräsentation, oder eine Repräsentationsquote, nur ein Tool ist, um Sichtbarkeit zu schaffen. Aber ich frage mich manchmal, was nach den Geschichten von Flucht und Migration kommt. Was passiert, wenn diese Geschichten zur Norm geworden sind und wir nur noch menschliche Geschichten erzählen?“ Doch dafür müsse man die komplette Wissensstruktur aufbrechen, damit nicht nur über nationale, sondern über globale Geschichte gesprochen und gelehrt wird.

    Nach dem aktuellen fluctoplasma wird sich das Studio Marshmallow einem Forschungsschwerpunkt bezüglich Diversität in Ost- und Westperspektiven widmen. „Wir glauben, dass der Großteil des Diversitäts- und Antirassismus-Diskurses ein westdeutscher ist. Man könnte auch sagen, ein westeuropäisch oder anglo-amerikanisch geprägter Diskurs. Da wollen wir unseren Festivalansatz nutzen, um Austausch zu schaffen. Wir müssen die Perspektiven aus Ostdeutschland und dem sogenannten Osteuropa dazuholen, um wirklich über Diversität sprechen zu können“, sagt Dan Thy.

     

    „Die politische Seite von Superheldencomics interessiert mich sehr“

     

    Der private Dan Thy macht gerne Musik aus Sounds von Wäscheständern und Geigenbögen, übt Blockflöte und entspannt sich mit Horrorfilmen. Wirklich trennen kann man das Private und das Politische in ihm aber nicht. Er erzählt: „Mich haben nicht nur mein Studium und meine eigene Migrationsgeschichte politisiert, sondern auch jüdische und Exilliteratur und insgesamt meine literarische Arbeit. Das führt häufig dazu, dass ich nicht von meinen beruflichen Themen abschalten kann, weil die eben so spannend sind.“

    Um mal wirklich runterzukommen, greift Dan Thy eher zu Superheldencomics. „Die mochte ich übrigens, bevor sie cool wurden“, wirft er ein und lacht. Doch er wäre nicht Dan Thy, wenn er nicht auch den Kampf für Gleichberechtigung von Charles Xavier von den X-Men mit Martin Luther King und Malcolm X in Verbindung setzen würde.

     

  • Avraham Rosenblum: Hummus und Diskussionen

    „Sollte Europa ehemals kolonisierte Länder entschädigen?“
    „Kann man heute noch mit gutem Gewissen im Mittelmeer schwimmen?“
    „Brauchen wir ein gesellschaftliches Pflichtjahr?“

    Zu diesen und vielen anderen Fragen diskutieren Menschen bei Hummustopia, einer Veranstaltungsreihe, die Avraham Rosenblum seit 2019 organisiert. „Die Idee ist ganz simpel“, erklärt Avraham: „Jeweils zwei Menschen sitzen zusammen, teilen Essen und diskutieren über ein Thema, das ihnen zugelost wird.“ Unterschiedliche Ansichten und angeregtes Diskutieren sind ausdrücklich erlaubt – nur eine Regel gibt es: zum Schluss sollen die Teilnehmer*innen eine Gemeinsamkeit in ihren Meinungen finden, egal wie klein sie ist.

    Beim ersten Hummustopia 2019 diskutieren die Teilnehmer*innen über Impfungen – schon damals ein polarisierendes Thema, und vieles lief noch nicht so, wie Avraham es sich gewünscht hatte: „Viele waren sehr emotional und haben sich angegriffen gefühlt, trotz der Konfliktberaterin, die anwesend war.“ Also ändert Avraham das Konzept: „Jetzt führen wir Hummustopia meist im öffentlichen Raum durch, also zum Beispiel bei Stadtfesten. Und die Leute mussten sich mit einer fremden Person an den Tisch setzen. Seitdem läuft es viel besser.“ Sagt Avraham zufrieden.

    Was ihn zu diesem Projekt bewogen hat? „Ich liebe Hummus, und ich bringe gerne Menschen zusammen.“ Die viel beschworene Spaltung der Gesellschaft beobachtet Avraham schon, seitdem er 2007 von Israel nach Deutschland emigrierte. Aufgewachsen ist Avraham in der Nähe von Haifa, eine gemischte Stadt, in der Christen, Muslime und Anhänger*innen anderer Religionen wie Drusen und Bahai leben. Eine komische Zeit sei das gewesen, sagt Avraham: „In meiner Kindheit gab es noch Hoffnung auf Frieden mit den Palästinensern. In Kindergartenliedern und auf Festen ging es immer um Frieden.“ 1994 erhalten die Israels Ministerpräsident Rabin, der palästinensische Politiker Arafat und der israelische Außenminister Peres für ihre Bemühungen im Friedensprozess gar den Friedensnobelpreis.

    „Ich liebe Hummus, und ich bringe gerne Menschen zusammen.“

    Doch dann wird Rabin von einem rechtsradikalen jüdischen Studenten erschossen. Mit der Wahl von Benjamin Netanjahu zum israelischen Präsidenten 1996 steigt der Rechtspopulismus im Land. Avraham arbeitet zu der Zeit als Theaterproduzent in einem Kulturzentrum, „eine Art Mini-Kampnagel“, beschreibt er es. Frustriert mit der politischen und gesellschaftlichen Lage Israels beschließt er, das Land zu verlassen und zu seiner Freundin nach Hamburg zu ziehen.

    „Anfangs zog ich ins wohlhabende Eppendorf und dachte, hey, Deutschland! Allen geht es gut hier.“ Auch von den angeblich 45 % Migrant*innen in Hamburg merkt Avraham anfangs nichts. Erst als er die Arbeit in einer Küche beginnt, bröckelt dieses Bild: „Wenn ich morgens um 6 zur Arbeit fuhr, war mein Viertel plötzlich interkulturell.“ Je länger Avraham in Deutschland wohnt, desto mehr merkt er, dass die Gesellschaft Deutschlands ähnlich ungleich ist wie in Israel. „Es gibt viele unsichtbare Menschen in Deutschland – Menschen, die nachts die Arbeit machen, die sonst niemand übernehmen will. Jene, die tief im Integrationsprozess stecken, oder die, die nach der Arbeit zu erschöpft sind, um sich in eine Kneipe zu setzen.“

    „Es gibt viele unsichtbare Menschen in Deutschland“

    Avraham arbeitet heute in der Zinnschmelze. Dort ist er für die Gestaltung interkultureller Projekte verantwortlich, zum Beispiel die Dokumentation „un/sichtbar“. Sie porträtiert vier Menschen und ihre prekären Arbeitsbedingungen, die kaum jemand sieht. Auch das Hummustopia-Projekt führt er weiterhin, und diese Arbeit macht ihn extrem glücklich, sagt er.

    Für das deutsch-israelische Verhältnis wünscht Avraham sich mehr Austausch und gemeinsame Projekte. Denn im Moment seien es vor allem rechtspopulistische Parteien wie die AfD, die die Nähe zur Israel ausnutzen, um den Rassismus-Vorwurf von sich zu weisen. Auch in der Beurteilung Israels beobachtet Avraham oft Überheblichkeit in Deutschland. Er selbst muss sich bis heute mit Rassismus und fehlplatzierter Neugier auseinandersetzen: an das jüdische Café, in dem er arbeitete, sprühte jemand ein antisemitisches Graffiti.

    Anstatt der Frage nach seiner Herkunft und nach seiner Position im Nahostkonflikt wünscht Avraham sich mehr ernsthaftes Interesse an seiner Person: „Lade mich doch erstmal auf ein Bier ein, vielleicht werden wir Freunde und dann kannst du mich sowieso alles fragen.“ Sei es die israelisch-deutsche Beziehung, der Alltag oder Projekte auf der Arbeit – für Avraham sind es Begegnungen auf Augenhöhe, die zeigen können, dass der Spalt in der Gesellschaft vielleicht weniger groß ist, als wir denken mögen.

    Die nächste Hummustopia Veranstaltung findet im Rahmen des flucto.plasma Festivals am 28. Oktober im MARKK statt.

     

  • Magie der Muttersprache

    Durch meine Muttersprache habe ich die Welt erfahren.

    Ich kann ohne meinen Heimatort leben, aber mich von meiner Muttersprache trennen kann ich nicht. Ich könnte ohne sie existieren, aber nicht leben.

    In der kirgisischen Sprache fließen ineinander ganze Palette von türkischen Sprachen. Zum Beispiel ein Satz, Ich liebe dich, heißt auf  kirgisisch: Men seni zhakshy köröm,

    türkisch: ben seni seviyorum,

    uzbekisch: men seni yaxshi ko roman,

    azerbaizhanisch: men seni sevirem,

    turkmenisch: men seni soyyärin,

    kazachisch: men seni zhakschy koremin.

    Ohne meine Sprache hätte ich meine Verbindung mit dem ganzen zentralen Asien nicht. Das ist mir neulich bewusst geworden. Ich liebe auch die russische Sprache. Die ist ja aus der slawischen Sprachfamilie, zu der Polnisch, Ukrainisch und viele andere gehören. Die russische Sprache verbindet Völker aus Zentralasien und deshalb ist sie für mich auch ein kultureller Reichtum.  Käme ich nicht nach Deutschland, wäre ich es mir nicht bewusst. Es ist für mich ziemlich bereichernd, mit diesen Völkern bekannt zu sein und Ähnlichkeiten in Denkweisen und Erinnerungen an eine sowjetische Kindheit zu haben. Meine deutsche Identität bereichert mich auch auf deren besondere Art. Das sind alte Gebäude, Antikmöbel, Lichter zu Weihnachten, klüge und starke Frauen, die ihre Emanzipation mit viel Kampf und Mühe erreicht haben.

    Es mag für viele Menschen so banal klingen, die eigene Muttersprache so zu vergöttern, wie ich es mache. Wenn man sie nicht verloren hat, kennt man ihren Wert nicht. Ich habe es einmal fast verloren und wieder gefunden. Je mehr ich auf meiner Muttersprache spreche, desto mehr ich an einem verborgenen Reichtum komme. Ich fühle meine Verbindung mit den letzten Jahrhunderten und mit meiner Kindheit. Durch die Muttersprache erscheint mir sogar die Welt in Deutschland normal zu sein.

    Sicherheit, die ich durchs Sprechen bekomme, liegt daran, dass ich als kleines Kind die Welt durch meine Muttersprache kennengelernt habe. Als ich meine ersten Worte wie „apa“, „mama“ „ata“, „papa“ ausgesprochen habe, habe ich die Welt pur mit meiner Seele und Herz, ohne meinen Verstand wahrgenommen. Deshalb habe ich durch meine Muttersprache einen Zugang zu einem reinen Lebensgefühl.

    Autonom durch die Muttersprache

    Kirgisische Sprache macht mich aus.  Durch die Sprache kann ich am besten meine Liebe, Humor, Wut und andere Emotionen gut zum Ausdruck bringen. Ich lebe aber in Deutschland und ich muss auch auf deutsch sprechen. Auch wenn ich Deutsch spreche, bleibe ich als eine Kirgisin. Das heißt, ich übersetzte meine Emotionen auf Deutsch und zeige mich in Originalform. In der Praxis ist es gar nicht einfach. Ich merkte, dass ich Befürchtung habe, von einem Deutschen falsch verstanden zu werden, wenn ich mich nicht wie eine Deutsche ausdrücke. Das heißt, ich habe bestimmte Mimiken, Tonfall und gewisse Denkweisen über die Ordnung in dieser Gesellschaft verinnerlicht, um wie Deutsche zu sein.

    Und wie gewöhnt, sollte ich wie eine Deutsche sein, um nicht abgelehnt zu werden. Ich habe, trotz meiner Unsicherheit, versucht mich autonom zu verhalten. Ich übe es und es klappt sehr gut. Jedoch merkte ich dabei, dass manche Deutsche mich komisch angeguckt haben und  das verunsicherte mich. Ich dachte, dass ich als Kirgisin aus deren Sicht zu einfach und sogar primitiv wirke. Das mag so sein. Es hängt natürlich noch davon ab, mit was für einer Deutschen ich in Kontakt bin. Es gibt ja zu verkopfte Deutsche, die nur noch mit ihrem Verstand leben und es gibt Deutsche, die mit ihrem Herz leben und sie sind dann offen.

    Ist das Leben in seinem wahren Gesicht nicht einfach und primitiv? Ich finde, seine Schönheit liegt in seiner Einfachheit. Das Leben hat keine Angst wie Menschen. Das Feuer ist einfach, ein Wald ist auch sehr einfach, die Erde ist braun und ist auch einfach und verfügbar. Die Natur ist einfach, sie ist still und verfügbar, sie ist verletzbar und unschuldig. Kirgisen haben noch diese natürlichen menschlichen Eigenschaften.

    Typische Konflikte zwischen zwei Kulturen

    Die Sonne war in Bischkek sehr heiß. Wie immer. Menschen beschwerten sich über die Hitze, wie es Menschen in Deutschland über Regen tun. Kirgisen freuen sich, wenn ein paar Wolken im Himmel ziehen und es regnet. Dann ist es ein guter Grund länger draußen zu bleiben und Frische genießen. Als ich dort ankam, konnte ich nicht wie alle andere sein. Ich hatte innere Unruhe.

    Wie wäre es, wenn Hamburg und Bischkek zwei Schwestern wären? Ich habe mir deren Dialog vorgestellt. Sie telefonieren abends und Hamburg sagt zu Bischkek:

    • Wenn du deine Kinder so weiter verwöhnst und aus deren Verhalten keine Konsequenzen ziehst, werden sie nie erwachsen!
    • Sie müssen nicht erwachsen werden.- antwortet Bischkek.- Ich habe nichts dagegen, wenn sie immer meine kleinen Kinder bleiben. Dafür mache ich alles. Du kannst deine Kinder so erziehen, wie es dir passt, so wie du bist, kalt und leistungsorientiert. Ich schenke meinen Kindern die Zeit. Wenn sie es wollen, werden sie irgendwann erwachsen, wenn nicht dann ist es so.
    • Wie du meinst. Aber beschwere dich nicht über eure Leben. Meine Kinder fahren Ferrari und besitzen gute Summen auf ihren Kontos.
    • Das ist doch gut. Freue dich und sei stolz. Dafür siehst du sie einmal im Jahr. Meine Kinder sind immer bei mir.

    Hamburg wusste, dass Streit mit ihrer Schwester zu nichts führt. Bischkek wusste es auch. Deshalb haben sie sich am Ende etwas Nettes gesagt und verabschiedet. Sie wissen beide, dass jeder von ihnen ihre Kinder auf ihre eigene Art liebt.

    Als ich kam, bin ich sofort ins Leben von meinen Verwandten hereingestürzt und war teil von deren Leben. So, als ob es für sie mein deutsches Background-Leben gar nicht gab. Es lag daran, dass sie ein kompliziertes Leben voller Probleme führen, aus meiner Sicht. Mein Bruder war in einer Krise. Seine Frau wollte ihn verlassen. Sie haben vier Kinder und es war bei ihm zu Hause eine traurige Atmosphäre. Die Scheidung ist seit einigen Monate ein Thema, in dem ich bereits in Deutschland ein bisschen involviert war.

    Meine Schwägerin ist eine Chef-Köchin in einem Restaurant, in einem Urlaubsort, Issyk-Kul, tätig. Die Kinder und mein Bruder waren alleine. Meine Tochter und meine Neffen haben sich sehr gefreut und sie haben von morgens bis abends ohne Pause gespielt. Sie sind alle in ähnlichem Alter. Ich persönlich merkte, dass ich in dem Haus mich nicht wohl fühlte, weil mein Bruder seine Kinder auf meine Verantwortung gelassen hatte und sich irgendwie emotional sehr zurückgezogen hatte. Das war mir nach drei Tagen zu viel.

    Ich hatte bereits eine Wohnung gemietet, die wäre erst nach eine Woche frei. Bis dahin wollte ich bei meinem Bruder bleiben. Aber die Zeit war doch sehr anstrengend, dass ich dann mit meiner Tochter zu einer Cousine gegangen bin. Ich habe meinen Bruder so gut ich konnte psychologisch unterstützt und professionelle Meinung zu seiner Situation gegeben. Nach ein paar Wochen sagte er zu mir, dass ich mich so geändert habe, ich sei so erwachsen geworden. Er habe mich bis jetzt immer noch als kleine Schwester betrachtet.  Ich habe in meinem Leben so vieles geschafft und er hat das nicht gesehen. Diesmal hat er mich anerkannt und sich für meine Beratung sehr bedankt. Wir waren auf Augenhöhe.

    In der Heimat einen neuen Schatz gefunden!

    Diesmal wollte ich in Kirgisistan etwas finden, was mir neue Verbindungswege zu Kirgisistan bringt. Das habe ich auch gefunden!!! Huraa!!! Ich freue mich darüber immer noch und ich denke, ich werde es tun, noch restlichen Jahren meines Lebens.

    Ich habe durch meine Cousine einen online-Kurs von einer berühmten Business-Produzentin gefunden. Sie hilft Menschen ihre Ideen online in Geschäft zu verwandeln und eigene Marken zu entwickeln. Ich wollte mein Wissen in Psychologie aus Deutschland auf Kirgisisch übersetzten und es verkaufen. Somit habe ich zumindest online eine Verbindung mit meinen Kirgisen und spreche Kirgisisch. Ich als Expertin aus Deutschland habe bei der Gründerin dieser Kurse und anderen Teilnehmerinnen sofort Anerkennung und Neugier bekommen.

    Sehnsucht nach sich selbst

    Wie ich es bemerkt habe, viele Kirgisen haben eine Sehnsucht nach sich selbst. Es geht ihnen materiell viel besser als in den letzten Jahren und viele suchen Verbindung mit sich selbst. Besonders Frauen sind sehr besorgt und sie suchen aktiv nach mehr, als sie haben. Frauen aus meinem online-Kurs, den ich immer noch mache, sind spannende Persönlichkeiten. Jeder von denen hat ein laufendes Geschäft und sie sind ziemlich erfolgreiche und tüchtige Frauen.

    Fast alle haben mindestens zwei Kinder und mehr. Irgendwie schaffen sie trotz vieler familiärer Pflichten zu arbeiten und Geld zu verdienen. Wenn wir Zoom Konferenz haben, kommt eine Teilnehmerin mit einem Baby im Arm und das trinkt an ihrer Brust. Sie erzählt gelassen über ihren Beruf als Expertin für Finanzen.

    Diese Frauen machen alles, was von dem Kurs verlangt wird. Es wird tatsächlich sehr viel erwartet. Ich habe im Vergleich von denen kein Feuer nach Geld, weil ich seit vielen Jahren in Deutschland lebe und ich muss nicht wie sie nach finanzieller Sicherheit streben. Dieser Hunger ist gestillt. Und gleichzeitig möchte ich mehr Geld auf meinem Konto als jetzt haben. Ich lerne von denen, an mehr Geld zu denken und ich bringe mit mir auch etwas Neues aus Europa, etwas, was für sie tatsächlich neu und anders ist. Besonders strebe ich an diese und andere meine zukünftigen Kunden eine wichtige Sache beizubringen und das ist der Selbstwert!

    Leider sind Frauen in Kirgisistan immer noch Allesmacherinnen. Sie bemuttern alle Menschen in ihrer Umgebung und gleichzeitig wollen sie auch sich verwirklichen. Aber sie wollen nicht sich selbst lieben. Viele laufen mit dicken Schlauchbootlippen und künstlichen Wimpern  herum und sie sind top angezogen und sie sind dabei mega nett und fleißig! Da stimmt irgendwas nicht in ihren Köpfen. Ich war am Anfang meines Aufenthalts innerlich sehr unruhig, als ich mit diesem Problem durch meine Cousinen konfrontiert war.

    Eine davon hat geheiratet, als ich in Deutschland war. Sie war nun hochschwanger. Ich bin dann zu ihr nach Hause gegangen, um ihren Mann und seine Mutter kennenzulernen. Sie haben in einem schönen Garten am Berg einen Tisch reichlich gedeckt, wir saßen am Mittagstisch. Dann kam ihr Mann mit verschlafenen Augen. Er hat geschlafen, während sie mit ihrer Schwiegermutter gekocht hat. Meine Cousine arbeitet noch nebenbei.

    Er wirkte auf mich, wie viele typisch kirgisische Männer: ein bisschen arrogant und verwöhnt. Ich nenne solche Männer „Paschas“ und ich bin gegen sie ziemlich allergisch. Aber ich habe es nicht gezeigt. Ich habe freundlich gelächelt und mich mit allen unterhalten. Innerlich war ich für meine Cousine traurig, dass sie so viel am Tag zu erledigen hat, wie ein Esel. Sie ahnte, dass ich so über sie denke. Sie kennt meine Haltung zum Leben. Aber wir haben kein Wort darüber verloren. Ich wünschte ihr und ihrem Mann alles Gute und gab mein Geschenk aus Deutschland, ein Smoothie Gerät von WMF.

    Die andere Cousine ist auch verheiratet und sie lebt auch in extrem angespannter Lage, zusammen mit ihren Schwiegereltern und lässt nach meiner Meinung einfach viel zu viel zu. Eine andere enge Freundin von mir, Zahnärztin, litt unter schwierigen Beziehungen mit ihrer Schwiegermutter. Ich habe ihr gesagt, sie muss sich einfach mit ihrem Mann und Kindern von ihr trennen.

    Wenn ich offen sage, was ich denke, wie sie leiden, würden sie zuhören, aber nichts ändern. Warum denke ich, dass ich das Recht habe zu denken, dass mein Leben als Single und frei und mit vielen Möglichkeiten mit einer Tochter in Deutschland viel schöner ist als deren Leben?

    In solchen und in vielen anderen Situationen habe ich versucht immer wieder meinen Verstand, meine europäische Ansicht auf das Leben der Menschen in Kirgisistan auszuschalten. Es war wichtig, um harmonische Beziehungen mit meinen Verwandten aufzubewahren. Oder anders ausgedrückt, ich hatte kein Recht, deren Normalität zu beurteilen, als ob ich sie gefragt hätte „Warum geht ihr eigentlich auf die Toilette“?

    Wenn ich in Deutschland sehe, wie viele Menschen täglich in Beschäftigungsmodus leben und wie sie so, ohne Liebe und Nähe auskommen, denke ich, ich kann sie doch auch nicht fragen, warum sie so leben, es wäre genauso, wie dieselbe Frage, „warum geht ihr eigentlich auf die Toilette?“

    Kontraste  des Leben in Bischkek

    Ich habe versucht, alles in meine Heimat so anzunehmen, wie es war. Irgendwann hat es geklappt und ich war ziemlich entspannt und ich habe viel Schönheit und menschliche Wärme erlebt.

    Am Wochenende gab es in dem Stadtteil, in dem ich gewohnt habe, einen Flormarkt.  Eine Frau verkaufte alte, kaputte Sachen wie Münzen, alte Nudelmaschinen und einen männlichen alten Anzug von einem gestorbenen Opa, mit den Orden auf dem Anzug, die er wahrscheinlich, für seine Dienste während des Zweiten Weltkrieges bekommen hat. Sehr viele alte und neue Bücher waren zu kaufen. Alte Bücher, die noch von der Sowjet Union Zeit geblieben sind.  Ich habe ein tolles Buch über Samarkand gesehen und das Buch hat mich angezogen, aber wie es manchmal so ist, habe ich es nicht gekauft. Das war ein altes Buch aus sowjetischer Zeit. Ich habe nachgedacht, warum dieser Reiseführer mich so angezogen hat?

    Irgendwann später, habe ich eine Sehnsucht nach  dem altem Samarkand gespürt. Das ist eine alte Stadt mit vielen alten spannenden Gebäuden, aus den letzten Jahrhunderten. Usbekistan grenzt von Süden Kirgisistan und ich denke, dass dort, früher meine Ahnen waren und ich muss ihre Spuren nach gehen…

    Eine Kontrastierende Welt zum Flomarkt war ein anderer Ort, ziemlich in der Nähe.

    An einem Abend, nach gemeinsamem Abendessen mit meinen Schwestern sind wir in einem neuen Stadtteil spazieren gegangen. Ich habe es noch nie gesehen. Meine Schwestern genießen es, mir neue Orte oder Gebäude zu zeigen. Das war ein Viertel voller Luxushochhäuser. Vier stehende Häuser haben einen eigenen Hof, wo sie nur mit Code reingehen. Das heißt dort sind nur Menschen, die in den Häusern leben.

    Es gab einen französischen Hof, dreihundert Meter weiter einen englischen Hof. Architekten haben vielleicht versucht, durch gewisse europäische Stimmungen den Individualismus zu verleihen. Solche Wohnungen können sich reiche Kirgisen oder Menschen aus dem Ausland leisten. Ein kirgisisches Mädchen mit einem Hund an der Leine, der wie ein Wolf aussah, kam vorbei gelaufen. Sie war ziemlich einfach angezogen, ich hatte das Gefühl, ich wäre in Deutschland.

    Dann dachte ich daran, ob ich in so einem Haus eine Wohnung kaufen würde, oder ein älteres Häuschen außerhalb des Stadtes mit wildem Gras und Bäume im Garten? Natürlich liebte ich den zweiten Gedanken mehr.

    Ein anderes Gefühl, das ich plötzlich während unseres Spaziergangs erlebt habe, war ein Gefühl von Leere. Ich habe einige Jahre, nämlich 17 Jahre der Entwicklung  der Stadt verpasst. Diese Lücken kann ich nicht mehr füllen. Aber einen Monat später, jetzt im September weiß ich, dass 17 Jahren doch keine Lücke waren. Ich hatte in den letzten Jahren, außer, dass ich fleißig war, doch einige schöne Erlebnisse gehabt.

    Zum Beispiel meine Reise nach Teheran. Teheran ist eine schöne Stadt gewesen. Es liegt so zentral und mit Bergen umgegeben. Ich vergesse nie, die Schönheit der Stadt in der Nacht, als ich es vom höchsten Punkt der Bergen betrachtet habe. Es war so, als ob Gott ganz viele Brillanten auf die Stadt geworfen hatte. Lichte von dutzenden Häusern funkelten so lebendig und wunderschön!

    Zurück nach Hamburg

    Nach einer Woche in Hamburg, habe ich mit meinem 18-jährigen Neffe telefoniert. Er sagte zu mir, dass ich am Anfang in Kirgisistan komisch war und am Ende, als er und mein Bruder mich zum Flughafen gebracht haben, sehr aufgeschlossen, fröhlich wie eine Kirgisin war. Dann dachte ich, Gott sei Dank, ich habe wieder von euch etwas gelernt und bin in meinen Schmerzen von Heimatverlust weitergekommen. Ich habe gelernt, wie wichtig es ist, die Muttersprache zu beherrschen!

      

  • Shangyrak: Übergänge, Sprachen und Träume

    Menschen sind wie Verwandte von Vögeln. Sie verlassen ihr gemütliches Nest, damit sie in einer neuen Heimat ein neues Nest aufbauen können. Ich habe ein spannendes Gedicht von einer kirgisischen Dichterin namens Nuriza Ömurbaeva gehört, der übersetzt „Heimatlose Vögel“ heißt. In ihrem Gedicht vergleicht sie die Menschen mit den Vögeln. Am besten hat mich ein Satz berührt, den ich auf folgende Weise übersetzt habe:  „Vögel, die ihre Heimat verlassen, bei denen ist es nicht bekannt, wann und ob sie überhaupt in ihre Heimat zurückkommen“.

    Es klingt für mich wie eine Berührung mit dem Tod selbst. Oder leichter ausgedrückt mit dem geistigen Tod. Als ich zum ersten Mal meine Heimat verlassen habe, war es für gebliebene Menschen so, als ob ich in eine andere Welt ausgewandert war und sie mich nie wieder finden würden. Meine große Familie musste mich sprachlos und hilflos loslassen. Dieses Gefühl von Ohnmacht fühle ich immer noch selbst, wenn ich mich von ihnen verabschieden und nach Deutschland fliegen muss.

    Während ein Vogel von einem Land ins andere Land fliegt, verbraucht er viel Energie. Es ist bei Menschen auch so. Bei Menschen ist es sogar noch komplizierter als bei Vögeln, weil wir denkende Wesen sind.

    In dieser Kolumne möchte ich gerne über Übergänge zwischen meinen Reisen und psychischen Zuständen erzählen, die ich besonders anstrengend finde. Ein Gegenteil zu Übergängen sind dann Phasen im Leben, in denen ich im Prozess bin, das heißt, mein Leben fühlt sich fließend und weich an.

    Übergänge zwischen Kirgisistan und Deutschland

    Für mich sind Flugzeuge ein Symbol für Vögel, die Menschen erfunden haben, um ihr Bedürfnis nach Freiheit zu erfüllen. Eine Übergangsphase fängt für mich an, wenn ich weiß, dass ich in einer Woche Deutschland verlassen und nach Kirgisistan fliegen werde. Ich bin oft innerlich unruhig und versuche diese Unruhe mit Beschäftigungen aller Art zu kontrollieren. Ich gehe zum Beispiel viel zu oft einkaufen und gebe einfach mehr Geld, als es nötig ist, aus. Es kommen viele Gedanken durcheinander und es entsteht in meiner inneren Welt ein Chaos. Gedanklich bin ich schon in Kirgisistan, obwohl ich körperlich noch in Deutschland bin. Dann kommt endlich der Tag des Fluges.

    Für mich ist es schon eine Erleichterung, weil ich dann in eine Sekte der Fluggesellschaft eintreten werde. Im Flughafen Gepäck abgeben und danach Abschied von begleitenden Person nehmen und durch Passportkontrollen gehen und anschließend im Wartebereich warten. All das fühlt sich an wie Rituale der Fluggesellschaft. Diese geben mir gewisse Erleichterung und Halt in diesen Übergangsphasen.

    Von Flughafen Hamburg nach Flughafen Istanbul dauert es ca. 3 Stunden. Ich bin dann mit meiner Tochter in einem Flugzeug, in der Luft, im Himmel und nirgendswo auf der Erde. Es ist doch eine Mystik des Lebens! Eine kleine Gruppe aus Menschen aller möglicher Nationalitäten sitzen gemütlich im Flugzeug und sie versuchen, diesen Mini-Alltag im Flugzeug möglichst gut zu überstehen. Viele haben Angst vor Abstürzen. Ich habe es auch. Aber alle geben ihr Bestes und es herrscht ein gewisser Frieden.

    „Ich werde dann in eine Sekte der Fluggesellschaft eintreten“

    An Istanbuls Flughafen fühlte ich mich diesmal müde und ich wünschte, dass Istanbul Kirgisistan wäre. Ich mag lange Flüge nicht. Diesmal war ich eher enttäuscht, dass ich nach Kirgisistan fliege. Ich wollte aber auch nicht zurück nach Hamburg. Irgendwie wollte ich gar nichts. Dieses Gefühl war ein Zeichen von Müdigkeit, mich mit dem Thema ich und Heimat zu beschäftigen… Ich fühlte mich so, als ob ich irgendwo in einem Raum stecken geblieben bin. Vielleicht wäre ein drittes Land eine gute Lösung! Oder einfach in Istanbul bleiben oder noch besser, irgendwo anders hinfliegen?

    Nach 6 Stunden Flug landeten wir in Bischkek, Flughafen Manas. Es dauerte sehr lange, bis ich mit meiner Tochter endlich eine Passkontrolle durchgegangen bin. Draußen warteten auf uns mein Bruder mit meinem Neffen. Wir fuhren zu unserem Elternhaus und unterhielten uns über belanglose Themen, wie meinen Flug und die Hitze in Bischkek.

    „Irgendwie wollte ich gar nichts“

    Ich war schon auf dieses Treffen vorbereitet. Ich hatte meine Haltung. Meine Haltung hieß „ich freue mich euch zu sehen, aber ich will mich nicht verstellen. Ich will keine Maske tragen“, weil ich an meiner Seite stehe und weiß, wie es verdammt emotional schwer ist, Deutschland zu verlassen und ins Heimatland zurückzukommen. Durch körperliche Müdigkeit wurde meine emotionale Sensibilität verstärkt. Ich wusste, dass meine Verwandten von meinem Zustand keine Ahnung hatten, weil sie mich mit deren Augen gesehen haben.

    Ich hatte das Gefühl, dass sie die materielle Seite meines Lebens gesehen haben. Dabei fallen mir solche Begriffe ein wie Deutschland, Macht, Geld, Stärke, emotionale Kälte. Immer wenn ich da ankomme, fällt ihnen meine emotionale Kälte auf. Ich bin nicht so warm wie sie. Was heißt denn für sie Emotionalität? Heimatverlust? Langer Flug? Innerlich zwischen zwei Ländern und Kulturen zerrissen zu sein?

    „Ich will keine Maske tragen“

    Nach dem langem Flug habe ich mich ausgeschlafen und es kam der nächste Tag. Am nächsten Tag merkte ich, dass ich immer noch in einer gewissen Übergangsphase war. Ich war noch nicht angekommen. Ich fühlte mich anders als alle andere Frauen in Kirgisistan. Kirgisen ( meine weiblichen Verwandten) in Kirgisistan haben eine selbstverständliche Haltung, dass ich als Deutsche cool bin, aber ich soll es nicht zeigen. Ich soll am besten so wie sie denken und handeln.

    Was heißt denn eine Bio-Kirgisin zu sein? Das bedeutet, ich darf mich nicht von anderen emotional distanzieren. Ich soll offen sein, über alles erzählen und emotional sehr verfügbar und hilfsbereit sein. Aber nach 15 Jahren in Deutschland bin ich schon ein anderer Mensch. Ich benötige unbedingt freien Raum. Diesmal habe ich zwei Tage gebraucht, um mich körperlich vom langen Flug zu entspannen und zwei Wochen, um seelisch im Land anzukommen.

    In den ersten Tagen war ich wie in einem Traumland, in dem es kein konkretes Land gibt, ein Land, das chaotisch ist und das keinen Boden hat. Trotz dieses Zustands bin ich nach zweit Tagen in die Stadt gefahren. Bischkek war fremd. Die Luft, Gebäude, Gerüche, Menschen, ALLES war einfach fremd. Ich war fremd und alles war für mich fremd. Ich wollte innerlich einen Ort finden, wo ich mich wieder entspannt und wohl fühlen konnte. Aber es funktionierte nicht.

    „Ich war fremd und alles war für mich fremd“

    Ich konnte nicht wieder in Hamburg sein und ich konnte nicht in ein anderes Land fliehen. Kommunikation mit meinen Landsleuten kam mir auch komisch vor. Ich kam mir zu verspannt, distanziert vor und als ob sie mich so nicht mochten. Zum Glück hatte ich enge Freundinnen aus meiner Kindheit, die mich so wie ich war selbstverständlich angenommen haben. Nach zwei Wochen fühlte ich mich viel besser und zufriedener als am ersten Tag. Ich wusste, dass ich endlich in meiner Heimat angekommen war.

    Dann fühlte sich mein Leben in der Heimat wie ein Fluss an. Es war ein Prozess und nicht mehr Übergang. Ich konnte mich immer wieder mit meinen Freundinnen, Verwandten, Natur und Gegenwart in der Stadt verbinden.

    Übergänge zwischen Sprachen

    Es gib einen bekannten Spruch, wie viele Sprache du sprichst, so viele Menschen hast du in dir. Ich finde es ist sehr gut gesagt und es ist für mich nachvollziehbar. Jedoch sind Übergange zwischen Sprachen, die ich spreche, ein spannendes Phänomen an sich.

    Sprachen in mir repräsentieren Menschen, die aus verschiedenen Kulturen kommen. Je unterschiedlicher diese Kulturen sind, desto mehr Reibung zwischen denen gibt es. Psychische Schmerzen, während ich von einer Sprache oder Kultur in die andere gewechselt habe, waren früher so stark, dass ich am besten keinen Wechsel gewünscht habe.

    „Ein spannendes Phänomen an sich“

    Da ich in russischer und in kirgisischer Sprache aufgewachsen war, sind diese Sprachen in Frieden miteinander. Sie fließen leicht ineinander und trennen sich auch leicht voneinander, oder ich spreche manchmal gemischt. Später habe ich Englisch gelernt. Englisch ist meine angenehme Gastsprache oder sogar eine Luxussprache, die ich manchmal benutze. Die macht mir keine Probleme.

    Die deutsche Sprache habe ich gelernt, als ich 21 Jahre alt war. Später kam ich nach Deutschland und diese Sprache nahm viel Raum in meiner innen Welt ein. Ich habe sie sehr intensiv gelernt und immer mehr vertieft, damit ich sie wie meine Muttersprache beherrschen kann. Mit der Zeit merkte ich jedoch, dass mein neues Ich, das durch die deutsche Sprache entstanden war, über meinem kirgisischen Ich stand.

    Ich dachte, ich muss etwas tun, damit sie wieder ins Gleichgewicht kommen. Dafür habe ich konkrete Übungen gemacht. Als ich, in Deutschland, mit einer meiner Tanten telefoniert habe, habe ich ihr auf Kirgisisch kurze Momente aus meinem Alltag in Deutschland erzählt. Diese schienen mir viel ärmer als ihre Erzählungen aus ihrem Alltag zu sein. Sie sprach von einem reichen sozialen Leben, das sie in Kirgisistan geführt hatte. Als ich über meinen Alltag erzählt habe, zum Beispiel, was bei meiner Arbeit passiert war und was ich nach der Arbeit gemacht habe, empfand ich starke Schamgefühle.

    „Englisch ist meine angenehme Gastsprache“

    Es war mir peinlich, dass ich so ein bescheidenes Leben geführt habe. Trotzdem erzählte ich ihr regelmäßig von meinem Alltag, bis ich irgendwann kaum Schamgefühle empfunden habe. Schamgefühle entstanden dadurch, dass in Kirgisistan Menschen sehr viel mehr Wert auf Beziehungen und Nähe legen als in Deutschland. Da ich in einem neuen Land und in einer neuen Gesellschaft gelebt habe, konnte ich nicht mehr wie in Kirgisistan, wie eine Kirgisin leben. Das war die Normalität. So denke ich jetzt, aber damals habe ich unter dieser Normalität gelitten.

    Andersrum habe ich über mein altes Leben in Kirgisistan, über meine Kultur, meinen deutschen Kolleg*innen und Klient*innen bei der Arbeit erzählt. Ich habe mit einer Kollegin eine Frauengruppe geführt. Für den Inhalt unserer Gruppe mochte ich gerne biografische Arbeit mit Klienten durchzuführen. Klientinnen haben über ihre Kindheit erzählt und ich habe dann auch einige Erlebnisse aus meiner Kindheit und über Orte in meiner Heimat erzählt.

    Dabei empfand ich auch Schamgefühle, als ob ich eine verbotene Kiste, die mit Erinnerungen aus der Vergangenheit gefüllt war, geöffnet hätte, obwohl das harmlose Ereignisse aus meiner Kindheit waren. Jedoch empfand ich in mir starke Widerstände. Mit der Zeit merkte ich, dass solche Übungen mich bei meinem inneren Identitätskonflikt weitergebracht haben. Ich empfand immer weniger Schamgefühle für mich und für mein Leben zwischen zwei Kulturen.

    “ Damals habe ich unter dieser Normalität gelitten“

    In letzter Zeit frage ich mich oft, warum eigentlich habe ich viele Jahre in Deutschland mich für meinen deutschen Bekanntenkreis bequem gemacht. Warum musste ich für sie leicht angepasst sein und quasi meine andere, kirgisische Seite verbergen? Warum konnten sie sich nicht bemühen, mich als Kirgisin zu verstehen? Warum habe ich, als ich nach Kirgisistan geflogen war, meine deutschen Seiten verborgen und mich eher brav verhalten? Hat es mir Spaß gemacht, in Spaltung zu leben? Wozu war das gut? Warum konnte ich mich selbst nicht für das harte Leben in Deutschland anerkennen und das auch von meinen Kirgisen erwarten?

    Jetzt weiß ich die Antwort: Menschen, egal ob sie Europäer oder Asiaten sind, bestehen aus Mainstream. Dieser Mainstream war, bewusst oder unbewusst, blind für solche freien Vögel wie mich.

    Jetzt ist es so, dass ich in mir eine innere Instanz habe, die für Wechsel zwischen Sprachen und Kulturen zuständig ist. Diese Instanz oder Energie sehe ich als Etwas, das darauf achtet, dass ich während Übergangsphasen möglichst wenig Reibungen und Schmerzen empfinden und gut für mich sorgen kann. Deshalb sind Deutsche und kirgisische Kulturen in mir meistens im Gleichgewicht. Keine ist besser oder schlechte als die andere. Jede hat ihre Stärken und Schwächen und das wichtigste ist, dass ich eine nice Person werde.

    Übergänge in meinen Träumen

    Träume, die wir in der Nacht träumen, gehören zu uns. Seitdem ich im erwachsenem Alter das Trauma des Heimatverlust erlebt habe, habe ich viele Jahren ähnliche Szenarien geträumt.

    Ich habe immer auf sie geachtet und versucht, sie zu verstehen. Diese Träume zeigten mir einen Konflikt zwischen zwei Kulturen. Dieser Konflikt wurde von meinem Unterbewusstsein als eine Stadt an sich kreiert. Ein Ort, an dem diese Schmerzen leben dürften. In dem Traum, in anfänglichen Jahren, habe ich oft geträumt, dass ich in einer Stadt war und mit meinen Siebensachen auf einer Kutsche saß und meine Kutsche sich sehr langsam nach vorne bewegte. Um mich herum war eine Überschwemmung.

    Eine andere Art von Übergangskonflikt zwischen zwei Kulturen ähnelte den Träumen einer meiner Freundinnen. Als wir uns darüber unterhielten, erzählte sie mir ein ziemlich ähnliches Szenario zu meinem Traum. In dem Traum wollte ich um jeden Preis einen Flug aus Kirgisistan nach Deutschland kriegen. Ich habe es nicht geschafft, weil ich mit einer schweren, schmerzvollen Kraft beladen war und deshalb konnte ich mich nicht bewegen. Später änderte sich dieses Szenario andersrum. Ich konnte vom Flughafen Hamburg den Flug nach Kirgisistan nicht hinkriegen.

    „Ein Ort, an dem Schmerzen leben dürfen“

    Mit der Untersuchung meiner Schmerzen, die vom Verlust der Heimat kamen, war ich immer besser in der Lage, mit ihnen umzugehen. Sinn meines Gewinns lag daran, dass ich Stück für Stück diese Schmerzen angenommen und ausgedrückt habe.

    Übergänge sind gut. Sie quälen mich zwar, aber irgendwie überstehe ich sie, so dass am Ende meine Flügel stärker als vorher geworden sind, damit ich mich zwischen Länder und Kulturen frei bewegen kann.

    Übergänge sind gut. Sie holen uns aus Komfortzonen raus und lassen uns in völlig neue Situationen, in denen der Tod selbst uns kitzelt, damit wir später weniger Angst vor ihm haben und lachen können.

     

  • Rezenzion zu Nat Isabel: Hot Mixed Girl (2023)

    Im Buch finden viele Prozesse gleichzeitig statt: Man stößt neben der Dekonstruktion (Aufzeigen von Diskurs), im ersten Teil, auf eine allmähliche Rekonstruktion (zeithistorische Aufarbeitung des Schwarzseins in einem deutschen Kontext) und schlussendlich auch eine Konstruktion (Analyse anhand der eigenen Erfahrung) der Autorin Nat Isabel von sich selbst und ihrer Geschichte, das jedoch im zweiten Teil. Hierin wird das Kernthema – die Existenz im weiblichen Schwarzen Körper in Deutschland – ontologisch subjektiviert. Die Autorin führt diesen Prozess anhand ihrer eigenen Person durch (subjektiv), wobei sie eine einzigartige Diskursübersicht anbietet (objektiv).

    Vom Objekt zum Subjekt

    In diesem beidseitigen Kontext wird ein ganzes ,,Portfolio“ an Themen diskursiv neu verhandelt, grundlegend sowie gegenwartsbezogen vertieft, so dass dabei gleichzeitig auch ein ablesbarer Emanzipationsprozess eingeleitet wird.

    Hierbei geht die Autorin den Weg vom Objekt zum Subjekt, von der Theorie in die Praxis, womit sie eine erkenntnistheoretische Pionierarbeit darlegt. Der einerseits wissenschaftliche und objektive Blickwinkel wird durch etwas Neues ergänzt: eine Komponente der Fallstudie, die sich mit der Belletristik vermischt, somit einen Meilenstein in der Wissensproduktion darstellt.

    Andererseits erzielt Nat Isabel mit ihrer Arbeit eine Transnationalisierung, indem sie den aufgearbeiteten Diskurs in der deutschen Historie verortet. Diesen diskursiven Zusammenhang verantwortet sie auch bewusst bis zu einem zielführenden Punkt, dass sie sogar aufkommende bzw. kontextuelle Fragen diversifiziert beantworten kann. Hierzu werden gleichzeitig auch urbane Phänomene aus anderen nationalen Kontexten herangezogen. Während Sie in einer tatsächlichen bahnbrechenden Leistung sowohl Argumente als auch Analysen zusammenführt, um es letztlich in einer zentralen Achse zu sortieren, welche zuvor voneinander isoliert waren.

    Des Weiteren bedient sie sich vieler nicht-deutschsprachiger Quellen. Zumal es in deutschsprachigen Literaturquellen an wissenschaftlicher Aufarbeitung zum Themenspektrum mangelt. Dagegen bemüht sich die Autorin um eine ehrliche Stimme, die oftmals eine nicht weiße, männliche Leserschaft impliziert. Diesen mutet sie trotzdem durch das vorliegende Werk auch mehr historische Verantwortung sowie persönliche Reflektion zu.

    Die „deutsche“ Psyche

    Über jeden Zweifel erhaben, führt die Autorin Leser*innen in der Ich-Perspektive nicht nur durch den von ihrer aufgearbeiteten bzw. hilfreichen Diskursübersicht, sondern auch couragiert durch die eigene nachgezeichnete lebensweltliche Geschichte. Dabei verschriftlicht sie beinahe minutiös, neben ausgewählten Zitaten von z.B. James Baldwin, Bell Hooks sowie May Ayim, ein persönliches Ereignis.

    Der Autorin gelingt es, die gelebten Realitäten mit den Erfahrungswerten und -horizonten anderer zu verbinden, wobei sie relativ viel, aber gleichzeitig nichts Dingfestes über sich selbst preisgibt. Sie verbleibt stets in der durchaus bewertenden Hauptrolle, behält aus der Eigenansicht die diskursive Oberhand – auch wenn es darum geht, erweiterte Perspektiven anzubieten.

    Mit einer beeindruckenden Präzision, aber auch behutsam genug, befasst sich Nat Isabel mit „deutscher“ Psyche aus ihrer Erfahrungs- und Erlebniswelt. Diese historische Verankerung besteht wahrscheinlich aus dem altbekannten Status, eine „verspätete Nation“ seit dem Zeitalter der westlichen Moderne zu sein, womit ein Hadern mit der Bildung bzw. Eigendefinition der nationalen Identität verbunden ist.

    Den Leser*innen wird somit Aufschluss über eine tief verwurzelte Tradition eines deutschen „exotisierenden“ Rassismus vermittelt. In diesem Kontext gibt sie uns zahlreiche Anhaltspunkte darüber, wie sich diese historischen Mehrdeutigkeiten beispielsweise am Konzept des Schwarzen „Anderen“ entladen konnten.

    Eine „biologische Fixierung“

    Ein wichtiger, vielleicht zunächst nicht ganz offensichtlicher Grundpfeiler der Analyse, ist die eingenommene Perspektive aus der sie wissenschaftlich forscht, gleichzeitig erzählt sowie stetig nachzeichnet. Kritisch betrachtet, nähert sich die Autorin ihrem Thema aus einer privilegierten Position heraus, welche durchaus in Verbindung mit Bordieus „sozialem und kulturellem Kapital“ steht.

    Dadurch ist es ihr möglich, ins Zentrum der Kernthematik vorzudringen sowie anverwandte Spielarten der gegenwärtigen Diskriminierungen herauszuarbeiten: in deutschen öffentlichen Debatten werden diese um das Thema Rassismus oft miteinander vermengt. Es gibt also wenig scharfe Trennung, was durchaus ein Ablenkungsmanöver sein kann, damit das Kernproblem Rassismus statisch, bisweilen unberührt, bleibt.    

    Im Diskurs geht es hauptsächlich um einige wenige Themenfelder, die den Rassismus auf den Plan rufen: Kultur, Religion, Herkunft, Armut oder Aufenthaltserlaubnis. Nat Isabel erweitert es ausdrücklich durch ihre Dekonstruktion um eine weitere Kategorie. Vielmehr geht es bei in dem Buch um eine mehr oder minder ,,biologische Fixierung“, d.h. um eine besondere Erscheinungsform des Rassismus. Dieser kann vorliegend als zentrales Problem „isoliert“ betrachtet werden kann.

    Wieso?

    Ein Mensch, welcher inmitten der Elite einer Gesellschaft verankert ist, kann schwer aufgrund anderer vermeintlicher „Mängel“ neben dem Schwarzsein Diskriminierungen erfahren: an dieser wunden Stelle genau, gelingt es Nat Isabel, andere, oberflächliche Diskussionen versiert zu vertiefen, um den vielen Gesprächspartner*innen den diskursiven Spiegel vorzuhalten, um erfolgreich die toten Winkel der öffentlichen Debatten zu durchleuchten.

    Was macht nun die Arbeit Nat Isabels aus, wenn man es in drei Begriffen wiedergeben möchte?

    Wahrlich kann die Antwort darauf nur Geschlecht, Sexualität und Rassismus lauten. Sie sind die zentralen Ankerpunkte ihrer Analyse anhand derer Beobachtungen austariert werden, die sich wiederum wie ein roter Faden durch das Buch ziehen. Hierbei kommt dem Körper, in dem sich die erzählende Autorin analytisch befindet, sowie die damit verbundenen Bedeutungen und Privilegien, eine wesentliche Rolle zu.

    Noch vor Beginn des ersten Kapitels finden Leser*innen eine „Triggerwarnung“, die auf explizite Schilderungen sexueller und rassifizierter Gewalt hinweist. Diese ist durchaus berechtigt, denn Nat Isabel beschreibt ihr zugestoßene Geschehnisse in einer Form, die auch schmerzhafte Details enthalten kann.

    Zwischen Enttabuisierung und Normalisierung

    Hierdurch findet nicht nur eine notwendige Enttabuisierung statt, sondern dem Diskurs wird etwas mehr Menschlichkeit vorgetragen, indem eine lebensweltliche Geschichte inmitten unästhetischer, hässlicher Erlebnisse darin kontextualisiert wird. Es mag für Leser*innen eine Gratwanderung darstellen, in der neben der einleitend angekündigten Dekonstruktion auch eine persönliche Geschichte erzählt wird, die bis ins Mark trifft. Insbesondere in den persönlichen Erzählungen, in denen Leser*innen einen intimen Einblick erhalten dürfen, wird ein gewisser Voyeurismus bedient, der aber gleichzeitig auch auf einer emotionalen Ebene tangiert und die Analyse plastisch macht – ein Element, welches sonst fehlen würde.

    Genau an dieser Stelle ist Kritik angebracht. Es wird mit den zunehmenden Kapiteln deutlicher, an welcher Stelle der Rotstift leicht bis schwer angesetzt wurde und eben diese teils voyeuristisch anmutenden Ausführungen der Sittsamkeit halber beschnitten wurden. Denn es sind jene adressierten Stellen an potenzielle Leserinnen, um sozialen Phänomenen ein wirkliches Gesicht zu verleihen: Beispielsweise in der Episode, in der Nat Isabel sich in der unbequemen Zwickmühle zwischen ihrem weißen Freund, wie sie ihn nennt „Adel auf dem Radl“-Partner, und dem kolonial angehauchten Sommerfest seines Gesellschaftsclubs, welches wahrlich nur so vor kultureller Aneignungen bis hin zu spürbarer Respektlosigkeit strotzt.

    Anhand dieser analytisch erzählten Geschichte wird das Machtgefälle zwischen einem weißen Mann und einer nichtweißen Frau nochmals verdeutlicht. Damit geht eine starke Portion an Ignoranz mit der zwischenmenschlichen Inkompatibilität von Rassismus und Liebe einher, die die Autorin exemplarisch aufzeigt.  

    Ein Schreibstil voller Humor und Wut

    Nat Isabel schreibt mit klarer, teils bissiger Stimme. Ihr fehlt es aber auch nicht an Humor, sondern es ist auch eine gewisse Wut zu vernehmen. Denn Wut ist eine Grundvoraussetzung, um sich ernsthaft dem Schreiben in diesem Stil für einen langen Zeitraum widmen zu können. Das einleitende Kapitel beginnt mit der Überschrift „Fangen wir an“: Es bereitet die Leser*innen darauf vor, aus welchen toten gesellschaftlichen Blickwinkeln der nicht angenehme Wind historisch-kollektiv sowie gegenwärtig-individuell her weht.    

    In den letzten Kapiteln wird offensichtlich, dass es sich bei der De- und Rekonstruktion auch um eine therapeutische Maßnahme gehandelt haben muss. Es ist ein aus sich ,,Herausschreiben“ von Nat Isabel, wobei gleichzeitig Wissen in die Leser*innenwelt hinausproduziert wird. Demnach findet durch diesen Beitrag gegenwärtig die Grundsteinlegung für einen couragierten, deutschsprachigen Diskurs statt.

    Letztlich gelangt dieses Buch zu einem vielleicht etwas Nihilistischem, aber nicht unerfreulichen Abschluss: Es erblickt den eher tristen Tatsachen tief ins Auge, dennoch erkennt sie darin eine gewisse Schönheit, die in alltäglichen Lebenswelten vorzufinden sein können.

  • Abdullah Alqaseer: „Im Film kritisiere ich Klischees“

    Der 24-minütige Film ADNAN des syrischen Schriftstellers und Regisseurs Abdullah Alqaseer mit Omar Shalash in der Hauptrolle und Regieassistenz, thematisiert Rassismus und setzt sich mit vielen diskriminierenden Stereotypen auseinander. Allerdings rückt er auch andere Vorurteile in den Fokus, die sonst in der Gesellschaft wenig sichtbar sind. Die Erstellung des Films war ein gemeinsames Projekt. Abdullah schrieb das Drehbuch und Omar Shalash (Protagonist und Regieassistent) lektorierte und übersetzte es ins Deutsche. Ihr ständiger Gedankenaustausch und die gemeinsamen Diskussionen führte sie zu einem Film, der stereotypischen Klischees mit filmischen Mitteln gegenübertritt. 

     

    Auch hier bedienen wir uns des journalistischen Klischees und fragen: Woher kam die Idee? 

    Die Aufgabe des Schriftstellers ist laut Abdullah* eine aktive Auseinandersetzung mit dem Thema. Dabei beschäftigt sich dieser mit den verschiedenen Nuancen des Films. Er nutzt seine Vorstellungskraft, um die Inspiration in eine konkrete Idee zu verwandeln. Hierbei werden Elemente miteinander kombiniert, verändert oder neu interpretiert, um etwas Einzigartiges zu schaffen. Es geht uns darum, eine legitime Welt zu schaffen.

    Im Kern geht es dann im Zentrum um das Handwerk eines Regisseurs bzw. Schriftstellers, indem er Spannungen aufbaut und das Publikum mit unbekannten Lösungen und Auflösungen konfrontiert. Und für die Behandlung des Films ist wichtig: Rassismus ist etwas, was filmisch nicht selten thematisiert wurde. Aber die wichtigste und herausforderndste Frage für jeden Schriftsteller bleibt: Wie gehe ich mit diesem Thema um? 

     

    Hast du eine Antwort auf die Frage gefunden, wie man mit bereits bekannten Filminhalten umgehen und daraus etwas Neues kreieren kann? 

    Abdullah hat sich vor dem Drehbuchschreiben mittellange bis lange Spielfilme angesehen. Er möchte dabei nicht pauschalisierend sagen, dass viele dieser Filme „ausgelutscht“ sind. Allerdings behandelten sie Rassismus in Teilen auf eine sehr unschöne Art. Die Ideen stammen dabei laut Abdullah von bestimmten Subthemen, die mit Rassismus in Verbindung stehen.

    Dramaturgisch haben solche Filme einen bestimmten Aufbau, der mit einer rassistischen Auseinandersetzung beginnt. Als zweiten Schritt versucht der Regisseur, das Opfer dieser rassistischen Auseinandersetzung zu einem Helden zu machen. Man zeigt, dass das Opfer von Rassismus ein normaler Mensch ist. Und dies ist für Abdullah das Toxische bzw. Giftige in diesen Filmen gewesen. Genau diesen dargestellten Umgang wollte er mit seinem Film kritisieren und durchbrechen.

    Die Anreihung solcher filmischer Gedanken führe zu Klischees in der Filmindustrie. Ein „Ausländer“ sollte sich nicht gegenüber einem „Inländer“ benachteiligt fühlen. Er muss sich nicht für seine Menschlichkeit rechtfertigen und ist genauso Mensch wie alle anderen. Genau hierauf möchte Abdullah eingehen, allerdings anders und im Kontrast zu anderen Filmen. 

     

    Es geht also darum, filmisch auszudrücken, dass wir uns alle gegenseitig ganz selbstverständlich annehmen sollten? 

    Laut Abdullah sollte man einen Menschen so annehmen, wie er ist, selbst wenn Klischees vorhanden sind. Wichtig ist zu betonen, dass diese Klischees sich von der Wirklichkeit bzw. Realität abheben. Die Faust am Ende des Films war Ausdruck eines Protestes, Menschen in klischeehafte Schienen, Zwänge oder Strukturen zu pressen. Manche Menschen bringen bei der Produktion dieser Filme „ihre eigene, kurzsichtige Gedankenwelt“ ein und haben einen großen Einfluss auf das Werk, wobei der Autor oder Regisseur die Hoheit über die Erstellung des Filmes hat. 

     

    Hast du die Erfahrungen gemacht, dass westliche Regisseur*innen versuchen, Leuten, die nicht westlichen Klischees entsprechen, bestimmte Rollen etwa des Opfers oder der Held*innen zuzuweisen? 

    Abdullah glaubt, dass es nicht sinnvoll ist, Regisseure und Künstler in den Westen und Osten zu unterteilen. Die künstlerische Vision ist von Regisseur zu Regisseur unterschiedlich und nicht von Kontinent zu Kontinent. Laut Abdullah sind solche Stichworte wie „Opfer“ zentral für die Werkzeuge bei solchen Filmen. Allerdings sind alle Menschen „Opfer“. Ein gutes Beispiel dafür ist der Musikinstrumentenbauer in dem Film.

    Er ist Schauspieler, aber auch Geflüchteter. Letzteres ist für den Zuschauer nicht sofort sichtbar bzw. nur zwischen den Zeilen. Der Musikinstrumentenbauer ist dreifach Geflüchteter, da er aus Palästina stammt und über Syrien nach Deutschland geflüchtet ist. Und der Regisseur ist ein reiner Syrer, der „sich jetzt nicht noch die Meinung von eingebildeten Idioten aus dem Flüchtlingslager anhören muss“. In der deutschen Übersetzung ist diese Aussage nicht so ohne weiteres zu erkennen. Im Film rastet der Schauspieler aus und versucht sein Recht einzufordern, anerkannt zu werden. 

     

    Auf welche Arten wird Rassismus denn im Film thematisiert? 

    Man muss den Mut haben, über all die Aspekte zu sprechen, die Rassismus in der Welt verbirgt, findet Abdullah und stimmt damit Doudou Diene zu, der sagt: „Rassismus gedeiht dort, wo er geleugnet wird.“ Das lässt sich, wie Abdullah sagt, auch aus Situationen in Syrien ableiten, da es dort zwischen verschiedenen Gruppen, Reibungspunkte und Auseinandersetzungen gibt.

    Es sind laut Abdullah die palästinensischen Geflüchteten, die seit 1948 in Syrien leben und das schon in der 3. bzw. 4.Generation. Diese Geflüchteten haben zwar Freundschaften und sind gut integriert, allerdings bilden sie aus der Sicht der gesamten Gesellschaft betrachtet Subgruppen. Aber auch in Deutschland hat man laut Abdullah den Blick auf eine Minderheit, wenn man Syrer ist. Zwar ist die Integration auf einem guten Niveau, aber man ist eine Minderheit. Der Film soll Rassismus in seiner Form delegitimieren und diesem sozusagen „keine Chance geben“. Und dabei muss man sich klar sein, dass es rassistische Strukturen in allen Ländern der Welt gibt. 

     

    Hast du noch weitere Filme nach dem Stil geplant, die ähnlich sind? 

    Dieser Film Adnan ist durch die Kooperation zwischen dem VEMO Halleschen Verein (der sich u.a. Thematiken wie Flucht widmet) und Abdullah entstanden. Die Idee sei gewesen, mehrere Filme zu drehen, aus denen dieser Film entstanden sei. Auf der anderen Seite arbeitet Abdullah gerade an einem anderen Spielfilm über Syrer, die geflüchtet sind, aber noch stark geistig in ihrer Heimat verwurzelt sind.

    Für viele Deutsche sei nicht klar, welche Bedeutung die aktuellen Ereignisse wie das Erdbeben für die in Deutschland lebenden Syrer haben. Man muss sagen, das sind Dinge, die sich anfühlen, als wären sie um die Ecke gewesen, obwohl man als Geflüchteter in Deutschland und nicht in Syrien ist. Diese Themen sind seit der Revolution 2011 besser geworden, bewegen den Syrer aber immer noch. Sie beschäftigen ihn immer noch wie vor 2011. 

     

    Was war denn bei der Erarbeitung der Figuren wichtig, um diese tiefen Empfindungen darzustellen? 

    Die Arbeit an der Figur des Films Adnan war die schwierigste Aufgabe von Abdullah und mir, weil Adnan Transformationen in seiner Persönlichkeit durchmacht, und diese Transformationen erfordern einige Veränderungen in der Natur des Charakters. Was von uns auch gut vorbereitet wurde, war die Schlussszene. Diese Szene konnte mit nur einem Shot erfolgreich gedreht werden. 

     

    Und wie bist du dazu gekommen, als Schauspieler in diesem Film mitzuwirken? 

    Abdullah und ich saßen oft im Schrebergarten und überlegten, einen Film zu drehen. Ich bin selbst Filmemacher und habe Abdullah durch einen der letzten Dokumentarfilme kennengelernt. Viele Ereignisse und Orte im Film verbinden Abdullah und mich. Im Film kommt das Instrument der Oud vor. Abdullah spielt die Oud und ich baue das Instrument, zum anderen ist der Drehort des Ateliers in dem Film auch in der Realität mein Atelier. Ich sah die Mitarbeit in dem Film als Überzeugung an. Die Sympathie zwischen mir und Abdullah zeigt sich auch darin, dass Abdullah mich von vorneherein für die Rolle vorgesehen hatte. Dabei ist sehr viel auch persönlicher Sympathie zu verdanken. 

     

    Inwieweit hat deine persönliche Geschichte die Darstellung der Rolle beeinflusst? 

    Zum einen hat Abdullah mich für die Hauptrolle vorgesehen und zum anderen habe ich einen starken Bezug zu Deutschland. Ich bin seit 2010 hier, habe hier studiert und eine Familie gegründet. Zum anderen leben seine Erzählungen von der Darstellung der Heimat, vor allem wenn es um Arabisch geht. Und in diesem Kontext treffen wir uns beide.

    Ich stamme ursprünglich aus dem Norden Palästinas. Der Besuch Syriens ist daher für mich immer ein großer Traum gewesen. Die Möglichkeit mit einem berühmten syrischen Schauspieler wie Bassam Daoud zusammenzuarbeiten, war für mich daher ebenfalls wie der Besuch Syriens immer nur ein Traum. Und dann am Set zu stehen und zu drehen ist dann eine Vorstellung gewesen, die Wirklichkeit geworden wäre. Abdullah und ich teilen gemeinsame Assoziationen, was beispielsweise die Wahrnehmung ihrer Herkunftsdörfer angeht. Von der Bedeutung her, ging es darum Grenzen zu überwinden bzw. zu sehen, dass es eigentlich keine gibt. Und der Film Adnan ist dabei ein konkretes Format, an dem wir beide angefangen haben, zu arbeiten. 

     

    *Im Interview spricht überwiegend Omar, der die Antworten von Abdullah aus dem Arabischen ins Deutsche übersetzt hat.

  • Shangyrak: Meine Jurte

    Jurte bedeutet auf kirgisisch und türkisch – Heim. Mikrokosmos. Ein Shangyrak ist ein kreuzähnliches Element in der Jurte. Aus Holz gemacht, befindet es sich an der Decke. Dort verbindet die kuppelförmige Öffnung. Der Shangyrak ist ein wichtiger Teil einer Jurte, weil durch ihn Sonnenlicht herein kommt und Rauch vom Feuer entweicht.

    Die Jurte ist für mich ein Symbol für das Heim, für das Zuhause. Deshalb will ich auch diesen Artikel mit einer Beschreibung meiner persönlichen Jurte anfangen!

    Heute möchte ich dich in meine private Jurte einladen und über Neuigkeiten aus meinem Leben von der letzten Zeit erzählen.

    Wanduhr und Kalender in der Jurte  

    Wenn du reinkommst, hängen auf der rechten Seite vom roten Holzbalken der Jurte, der Wandfunktion hat, zwei Gegenstände: eine runde Wanduhr und ein Kalender. Diese Gegenstände haben mir in den letzten Jahren in Deutschland einen gewissen Halt und Orientierung gegeben.

    Lineare Zeit ist ein besonderer Teil des kapitalistischen Systems in Deutschland, weil sie konkret und getaktet ist. Seitdem ich in Deutschland bin (2006), ist das auch in meinem Geist ein fester Bestandteil geworden. Ich habe mich immer an der linearen Uhrzeit orientiert und mich streng daran gehalten. Überall wollte ich pünktlich sein und in den 24 Stunden möglichst viele Aufgaben erledigen.

    Wochentage waren ebenso wichtig. Jeder Wochentag hatte für mich einen Charakter. Als ich noch als Angestellte gearbeitet habe, war der Montag für mich ein freier Tag. Während viele Menschen in die Arbeit gingen, bin ich an dem Tag zum Yoga gegangen oder habe andere Dinge gemacht. Deshalb war er für mich ein Lieblingstag.

    Dienstag war für mich der Anfang der Arbeitswoche, an dem ich gearbeitet habe, mich um meine Tochter gekümmert und den Haushalt erledigt habe. Es war ein gewöhnlicher Tag ohne ein bestimmtes Merkmal. Mittwoch war für mich wie ein kuscheliger Teddybär, weil er irgendwie neutral war, und er befand sich zwischen Anfang und Ende der Woche. Es war so, als ob ich mitten in einem Prozess bin. Auch wenn am Tag viel los war, war es erträglich, weil es eben Mittwoch war.

    Donnerstag fühlte sich maskulin an: streng, zurückhaltend und kontrollierend. Als ob er wüsste, dass morgen Freitag kommt und dann ist alles vorbei, keiner will mehr arbeiten. Freitag habe ich hingegen als weiblich wahrgenommen: entspannt, sanft und offen. Offen für eine Feier, eine Abendveranstaltung. Und er bedeutete einen Übergang vom Arbeitstag in den freien Tag, den Samstag. Am Freitag wünschten sich viele „schönes Wochenende“. Keiner sagte etwas anderes.

    Samstag ist anstrengend. Er ist wie eine weise Mutter, die jedoch von vielen emotionalen Herausforderungen ihrer Familie und Gesellschaft überfordert ist. Für mich war das ein Tag, an dem ich aufgeregt war. Es war ein Tag, an dem ich allem, was ich unter der Woche unterdrückt und nicht gelebt habe, jetzt Raum gegeben habe. Irgendwie durfte am Samstag alles sein: Einkäufe, Besuch, Spaß, Streit.

    Sonntag fühlte sich für mich wie ein gelassener Vater an. Er fühlte sich ruhiger an und ich konnte dann alles, was vom Samstag übrig geblieben war, aufräumen oder weiter erledigen. Sonntagnachmittag war ich oft traurig, als ob ich dann Abschied von der Freizeit nehmen und mich innerlich auf die neue Woche vorbereiten musste. Viele wünschten sich einen „guten Start in die neue Woche“.

    Diese zeitlichen Rahmen haben langsam von Jahr zu Jahr meines Aufenthaltes in Deutschland einen festen Platz in meinem Geist genommen. Irgendwann hatte ich oft das Gefühl, dass meine innere Zeitwahrnehmung  geschrumpft war. So, als ob ich nun außer linearer Zeit und Wochentagen keine andere Zeit im Leben hätte. Dieser künstliche Rhythmus hatte meinen biologischen Rhythmus unterdrückt, sodass ich immer das Gefühl hatte, ich hätte nie genug Zeit für irgendetwas. Ich fühlte mich oft in Eile.

    So ein Leben führte automatisch zu innerer Unruhe und raubte meine Lebenskraft. Letztes Jahr wusste ich schon, dass diese künstlichen Rahmen mich irgendwie innerlich auch künstlich gemacht haben. Ich war davon richtig genervt und ich habe meine feste Arbeitsstelle gekündigt. Das war Oktober 2022. Hoppla. Auf einmal hatte ich viel Zeit, obwohl ich  mich weiterhin um meine Tochter kümmern und überlegen musste, was ich beruflich demnächst machen will.

    Zum Glück habe ich Unterstützung vom Staat bekommen. Finanziell musste ich mir bezüglich meiner Miete und Essen keine Sorgen machen. Aber emotional fühlte ich mich ziemlich schlecht, weil ich in der deutschen Gesellschaft auf einmal eine Nummer geworden war: Kundennummer bei der Arbeitsagentur.

     

     „Die Illusion der Leistungsfamilie“ 

    Ich möchte dir das nächste Bild zeigen, das auch an der Holzwand neben Uhr und Kalender aufgehängt ist. Es heißt „Illusion der Leistungsfamilie“. Das ist eine wunderschöne Abstraktion. Darstellung von Chaos. Durch meine fast ständige Leistung, seitdem ich in Deutschland bin, war ich durch diese wunderschöne Illusion der Zugehörigkeit bezaubert.

    Wie ich schon oben geschrieben habe, musste ich mich im Oktober 2022 von dem Wunder trennen. Das war für mich der Anfang von dunklem Winter. Ich denke, wir sind alle auf dieser Erde, um uns von Menschen, Dingen, Vorstellungen, die wir lieben oder an die wir uns gewöhnt haben, zu trennen, damit es uns besser geht. Gewöhnlich ist es so, dass nach einem Loslassen viel Kraft und Platz für Neues entsteht, wenn man es geschafft hat, etwas Unfruchtbares loszulassen. Es ist jedoch hart, den Übergang vom Festhalten zum Loslassen und vom Loslassen bis zum Neuen zu schaffen. Ich hatte dieses Mal ein Gefühl, dass der Winter in Hamburg nie endet.

    Es ist immer leichter, im Mainstream als dagegen zu schwimmen. Es ist schwer, gegen den Mainstream zu schwimmen, weil es viel Angst macht und in einem ein großer Widerstand entsteht. Nach dem Verlust meiner Arbeit hatte ich fast täglich soziale Isolationsgefühle. Ich musste feststellen, dass 70% meiner sozialen Kontakte durch meine Arbeit entstanden waren und somit hatten sie mein Bedürfnis nach Zugehörigkeit erfüllt. Auf einmal hatte ich keine Kollegen und Klienten mehr, keine Gemeinschaft.

    Obwohl ich immer geahnt habe, dass meine Arbeitsbeziehungen nur durch Arbeitszeiten und manchmal darüber hinaus bedingt waren. Große Zweifel, Scham und Schuldgefühle erfüllten mich. Sie waren jeden Morgen präsent und belasteten mich. Ich fühlte mich schwach und nutzlos, obwohl ich eine Tochter und ein Paar Freunde und viele Bekannte hatte und mir von Tag zu Tag neue Beschäftigungen, die ich schon lange machen wollte, aufgebaut hatte.

    Ich hatte oft Gedanken, dass ich falsch bin und deshalb nicht wie alle anderen sein kann. Alle „anderen“,  die zur „Leistungsfamilie“ gehörten, schienen mir glücklicher als ich zu sein. Sie gingen vor mir mit zufriedenen Gesichtern und sie konsumierten, sie gingen essen, sie planten ihre Zeit für den nächsten Urlaub, sie plauderten leicht über belanglose Dinge, sie waren irgendwie immer beschäftigt. Und was mir noch aufgefallen war: Sie waren oder wirkten immer gestresst.

    „Gestresst sein“ ist ja ein Wort, das in dieser Gesellschaft bedeutet, dass man „okay“ ist, ein anderes Synonym dafür ist „akzeptiert“. Also ich bin „gestresst“ heißt, ich bin „akzeptiert“,  „Ich lebe im Zeitdruck, die Zeit fehlt mir, um alle Dinge, die noch auf meinem To Do Liste stehen, zu erledigen“.

    Ich fühlte mich so, als ob ich anders bin als sie. Ich gehörte nicht mehr zur Leistungsfamilie, weil ich anders war. Positiv ausgedrückt, ich habe Geld vom Staat bekommen und ich durfte nun so leben wie ich es wollte. Aber wie wollte ich denn nun ohne meine gewöhnte Zugehörigkeit zur Arbeitswelt leben? Allein, wie ein Mensch in der Wüste? Nein. Nach der Kündigung der belastenden Arbeit habe ich Freiheit pur und Glück erwartet! Aber nein.

    Ich war hingegen viel traurig und ich habe viel geweint. Diese Trauer war Ergebnis von der rücksichtslosen Beziehung zu mir selbst, die ich in Deutschland geführt habe: rücksichtslos zu meinem Körper und meiner Seele. So wie die „anderen“, habe ich alles gemacht, um mein Bedürfnis, dazu zu gehören, zu stillen. Nach dem Verlust der Arbeit sah ich, dass ich mich doch geirrt hatte.

    Keiner bekommt in Deutschland Akzeptanz

    In Deutschland bekommt keiner Akzeptanz für sein Menschsein. Akzeptanz der Gesellschaft ist für mich ein Gefühl, mit dem ich zum Beispiel im Bus fahre und mich von fremden Menschen angenommen fühle. Ich bin dann innerlich entspannt. Wenn ich einkaufen gehe, bin ich auch entspannt, weil ich in gewisser brüderlicher und schwesterlicher Verbundenheit mit der Verkäuferin und anderen Käufern stehe. Ich könnte, ohne nachzudenken, dass ich jemanden störe, kurz ins Plaudern kommen.

    Ich habe oft gedacht, ich fühle mich in Deutschland nicht akzeptiert, weil ich Ausländerin bin. Es war aber nach meiner Ansicht ein Quatsch. Viele Deutsche fühlen sich auch nicht akzeptiert. Sie fühlen sich eher von ihren Hunden als von Menschen angenommen. Ja, Hunde und Kinder, das sind die Wesen, die wirklich diese göttliche Magie beherrschen. Eichhörnchen oder dicke und freche Möwen beherrschen es nicht!

    In Kirgisistan fühlte ich mich wieder akzeptiert. Das merke ich daran, dass ich entspannt bin. Ich bin entspannt und mache mir keine Sorgen, dass jemand mich ablehnen könnte. In Hamburg bin ich auch entspannt, aber das ist nicht dieselbe Qualität. Wenn ich hier unterwegs bin, fühle ich mich isoliert.

    Es gibt von der deutschen Gesellschaft keine echte Akzeptanz. Es ist nur ein Versprechen davon! Wenn du dich noch mehr als jetzt anstrengst, wenn du noch eine weitere Weiterbildung machst, wenn du noch dickere Lippen hast, wenn du noch schlanker wirst und wenn du noch klüger wirst, wenn du noch mehr kaufst und wenn du bitte mal schneller arbeitest! Dann vielleicht kriegst du erstmal eine Anerkennung, dass du toll bist, mehr aber nicht.

    Man läuft hinter diesem Versprechen her, aber am Ende bekommt man keine Akzeptanz, sondern Erschöpfung und Enttäuschung. Solange man leistet, bekommt man eine gewisse Zugehörigkeit. Sobald man krank oder nicht leistungsfähig wird, ist diese Zugehörigkeit sehr wackelig und kann einen in Todesangst treiben. Deshalb gibt es viele durchschnittlich entwickelte Menschen, die fanatisch viel arbeiten, um nicht krank zu werden und schön leistungsfähig zu bleiben. So ein Preis, den diese Gesellschaft Menschen für „akzeptiert zu sein“ abverlangt, ist für mich persönlich sehr hoch und fühlt sich nach echtem Betrug an.

    Ich denke, jeder in Deutschland muss sich ernsthaft fragen: Wer bin ich ohne meine Arbeit? Wenn als Antwort eine Leere kommt, ist es die Warnung einer seelischen Katastrophe, die früher oder später eintreten kann.

    Zum Glück habe ich diese Katastrophe früh genug erlebt, um in weiteren Lebensjahren entspannter zu leben. Ich habe es im dunklen Winter geschafft, mich von meiner Arbeitsidentität in Deutschland zu entfernen. Ich habe jetzt von dieser Maske Abstand.  Ab jetzt tue ich, was mich erfüllt und mir Kraft gibt. Ich liebe es, beschäftigt zu sein. Ich habe viele Kompetenzen und Arbeitserfahrung. Aber bei einer Arbeit muss ich nicht mehr unter linearen Zeitdruck, Stress und Wochentagen erstickt sein, weil ich ein Mensch und keine Maschine bin. Lineare Zeit und Kalender werden mir bei meiner nächsten Arbeit als Hilfsmittel dienen.

     

    „Altyn Sandygym“ „Meine goldene Truhe“ in der Jurte 

    Die Zeit verging. Langsam kam der Frühling. Meine Jurte war nicht mehr so dunkel. Es kam immer mehr Licht rein. Ich fühlte mich entspannter,  gruselige Gefühle von Schuld und Angst ließen nach und ich empfand mehr Freude.  Ich merkte, dass ich morgens mit weniger seelischen Schmerzen aufwachte, als im Winter. Ich fühlte eine gewisse Kraft in mir, die immer mehr wurde.

    Und ich möchte dir den nächsten Reichtum von mir präsentieren, das ist meine goldene Truhe. Sie steht als Symbol für meine persönlichen Talente, die ich immer hatte. Leider habe ich ihr zu wenig Platz in meinem Leben gegeben. Ich habe meine Truhe aufgemacht und ich habe darin viele Schätze gesehen. Da waren so viele  Schätze, dass ich sie immer vor Angst wieder zu machen musste. Ein wichtiger Schatz, den ich entdeckt habe, war die Musik.

    Als Kind bin ich mit fünf Jahren in eine Musikschule gegangen und habe dort Unterricht in Klavier, Chor, Theorie der Noten und Geige genommen. Mein Vater war ein anerkannter Komponist in Kirgisistan. Er wollte unbedingt, dass ich eine professionelle Musikerin werde. Ich habe es geschafft, drei Jahre dorthin  zu gehen. Danach hatte ich doch keine Lust mehr und ich habe angefangen, Unterricht zu versäumen. Mein Vater hat es gelassen, mich zu motivieren, dahin  zu gehen. Nun, mit 40 Jahren, habe ich für mich wieder Klavier entdeckt und das hat mich wieder mit einer magischen Sprache der Musik verbunden. Besonders finde ich die Sprache der Noten spannend und ungewöhnlich. Ja und ich lerne schnell und leicht, wie es meine Lehrerin behauptet!

    Der nächste Schatz, den ich wiederentdeckt habe, waren das Schreiben und meine Muttersprache, kirgisisch. Plötzlich klang sie für mich wie eine neue Fremdsprache, weil ich sie wie nie zuvor mit Liebe betrachtet habe. Ich habe Radio und Lieder auf Kirgisisch sehr aufmerksam zugehört, Treffen mit meinen Landsleuten organisiert und Poesie in meiner Muttersprache gelauscht. Ah, mein geliebter Vater, als ich mit der Schule fertig war, bestand darauf, dass ich Lehramt für russische Sprache und Literatur studieren soll, obwohl ich so gerne das Fach für Journalistik wählen wollte. Ich habe meinem Vater nachgegeben.

    Ich war in meinem Leben ein paar Mal als Lehrerin beschäftigt. Es gefiel mir, aber es war nicht so leidenschaftlich wie das Schreiben. Als Kind habe ich viele Märchen von meinem Vater gehört und ich selbst konnte spontan Geschichten erzählen. Ich weiß noch, wie aufmerksam meine Cousinen meinen Geschichten zugehört haben. Ich liebte es, in meine Geschichte fantastische und gruselige Akzente zu setzen. Als Gegenleistung mussten die Cousinen meine Hände massieren. Im Frühling 2023 habe ich innerhalb von drei Monaten einen kurzen Roman in meiner Muttersprache geschrieben.

    Welche Talente ich noch habe, weiß ich noch nicht. Es ist erstmal nur der Anfang. Meine goldene Truhe aus Kirgisistan ist noch voll mit unentdecktem Reichtum. Natürlich ohne meine Freunde, Bekannten und manche besonders starken Menschen, die mich in dunkle Zeiten begleitet haben, wäre ich nicht so schnell wieder stabil. Das war tatsächlich ein schwerer Weg, weil ich mich weder zu Deutschen noch zu kirgisischen Gesellschaften zugehörig fühlte. Ja, ich schwinge immer noch zwischen einem Gefühl von frei zu sein und doch in einer Leere gefangen zu sein. Um nicht umzufallen, helfen mir meine Ausdruckskraft und Seelenverwandten in Deutschland und in Kirgisistan.

     

kohero-magazin.com