Schlagwort: Kultur

  • Olga Grjasnowa: „Nicht die mutigsten Texte werden gelesen, gekauft, rezipiert“

    Was man besonders an Olga Grjasnowa schätzt – und was ihr auch in diesem neuen Roman „Juli, August, September“ wieder gelingt – ist ihr bitterer Humor, der keine Grenzen kennt. Sie schafft es, tragische Geschichten mit einem Humor zu erzählen, der den Leser*innen zwischen Lachen und Nachdenklichkeit hin- und herreißt. Man ertappt sich dabei, über hochkomplexe und tief ernste Themen zu lachen, denn Olga Grjasnowa setzt sie sich auch diesmal intensiv mit der Frage der Identität auseinander.

     

    Bereits seit der Veröffentlichung deines Debütromans giltst du eine der wichtigsten Stimmen der jungen deutschen Literatur. Behzad Karim Khani sagte zuvor, dem deutschen Literaturbetrieb fehle Schub von der Straße. Daran anknüpfend sagte Shida Bazyar, die unkonventionellen und mutigen Texte gelten eher als Ausnahmen, sozusagen als „Gäste“ in der deutschen Literaturlandschaft. Was sagst du? Spiegelt die gegenwärtige deutsche Literaturlandschaft aus deiner Sicht die Vielfalt der Gesellschaft?

    Ich bin mir nicht sicher, ob es die Literatur – egal in welcher Gesellschaft – es je tut. Ich würde auch gerne festhalten, dass Literatur nicht die Realität ist, sondern die konstruierte und manchmal vereinfachte Abbildung oder auch Vermeidung oder eine Annahme dieser ist. Es gab mehr als genug Versuche, dies in der Literatur zu erreichen, wie etwa in der Sowjetunion, aber es ist nicht sehr gut ausgegangen. Zumindest künstlerisch. Ich glaube auch nicht an die Glorifizierung der Straße, dafür kenne ich zu viele Menschen, die da gelandet sind. Aber, auch, weil ich literarisches Schreiben unterrichte, es wird immer vom Jahrgang zum Jahrgang diverser!

    Ehrlich gesagt, ist es auch nicht die „Schuld“ der Schreibenden, sondern auch die der „Lesenden“ – welche Texte werden am liebsten gelesen, gekauft, rezipiert? Es sind nicht die mutigsten und unkonventionellen. Nur auch da müssen wir zwischen Genre und Biografie unterscheiden, die bedingen sich nicht.

     

    In deinem neuen Roman „Juli, August, September“ erzählst du eine schmerzhafte Familiengeschichte auf eine witzige Weise. Die Geschichte ist extrem bitter, jedoch sehr unterhaltsam. Inwiefern hängt die Art von Erzählen mit deiner eigenen Familiengeschichte und Biografie zusammen?

    In diesem Buch ist es ein Spiel damit, eine Art was wäre wenn. Aber das ist vielleicht auch mein eigener Zugang zum Schreiben, ausgehend von mir alles zu potenzieren. Aber die Geschichte aus „Juli, August, September“ basiert auf den Erzählungen meiner Großmutter, nur Maya ist erfunden.

     

    Entfremdung und Identität sind Fragen, die du in all deinen Werken thematisiert hast. Woher liegt diese Auseinandersetzung mit der Identitätsfrage?

    Eigentlich fand ich immer, ich setzte mich nicht damit auseinander. Nur in den letzten beiden Romanen. Und das sind tatsächlich Fragen, die sich aus meiner Biografie heraus stellten.

     

    Du hast auch ein Sachbuch zur Mehrsprachigkeit veröffentlicht und bist auch selbst mehrsprachig aufgewachsen. Wie prägt die Mehrsprachigkeit dein Schreiben?

    Ich bin eigentlich nur mit Russisch aufgewachsen und habe mit elf Jahren Deutsch gelernt, aber ich war immer in mehrsprachigen Umgebungen. Mein Traum war immer, mehrere Sprachen fließend sprechen zu können, aber ich habe es nur bei Deutsch und Englisch geschafft, was ziemlich traurig ist.

    Eigentlich ist mein Schreiben ausschließlich monolingual deutsch. Bei der Recherche konsumiere ich allerdings alles, auch vieles, was auf Englisch oder Russisch geschrieben wurde.

     

    Könntest du uns zwei oder drei literarische oder non-fiction Werke nennen, die dein Schreiben und deinen Werdegang als Autorin geprägt haben?

    Oh ja! Ich verehre Sigrid Nunez und Percival Everett. „Half of a Yellow Sun“ von Chimamanda Ngozi Adichie hat mich viel über Form gelehrt, und Zadie Smith mich als 19-Jährige darüber, dass Literatur Spaß machen und divers sein kann.

  • Ali Qasemi über das Basteln und den Kampf gegen Depressionen

    Mit Papier basteln – das ist die große Leidenschaft von Ali Qasemi. Der gelernte Edelsteinschleifer aus der afghanischen Stadt Kandahar leidet unter schweren Depressionen und die Arbeit mit Papier, Schere und dem Geodreieck hilft ihm, ein paar Lichtblicke im sonst eher düsteren Alltag zu sehen. „Wenn ich bastel, dann bin ich wie in einer anderen Welt, es lenkt mich von meinen schweren Gedanken ab, gibt mir ein gutes Gefühl und es tut mir gut, mich darauf zu konzentrieren“, beginnt Ali zu erzählen.

    Traumatische Erfahrungen

    Ali hat in seiner Heimat Afghanistan viel Schlechtes, viel Traumatisches erlebt, musste mit ansehen, wie sein Onkel und ein älterer Bruder von den Taliban ermordet wurden, hat unmittelbare Gewalt erfahren. Es sind Bilder, die ihn nicht mehr loslassen, die sich immer wieder in sein Gedächtnis drängen, die jeden Tag präsent sind.

    Im Oktober 2008 flieht Ali zunächst nach Norwegen, wo er fünf Jahre in einer Asylantenunterkunft lebt. Doch er kann dort auf Dauer nicht bleiben, sein Asylantrag wird schlussendlich abgelehnt und Ali wird weiter nach Deutschland geschickt. Die ständige Ungewissheit, wie es zukünftig für ihn weitergehen soll, wird für Ali bald unerträglich.

    In der Psychiatrie 

    Er hat permanent Angst, dass die Behörden ihn zurück nach Afghanistan schicken, schläft schlecht, hat Alpträume, ist unruhig, gestresst und die Depressionen werden immer stärker. „Diese Unsicherheit war für mich nur sehr schwer zu ertragen und war sehr besorgt, dass ich wieder zurück in mein Heimatland muss, wo Krieg herrscht, wo ich nicht sicher bin“, ergänzt Ali.

    In Deutschland wird Ali zunächst in einem Asylantenheim in Ludwigslust untergebracht, wo er sich mit anderen Geflüchteten ein Zimmer teilt – das ist im Mai 2014. Im August desselben Jahres sind seine Depressionen so stark, dass Ali versucht, sich das Leben zu nehmen. Doch er hat Glück, seine Mitbewohner finden ihn gerade noch rechtzeitig und alarmieren den Rettungswagen. Ali wird in die geschlossene Psychiatrie eingeliefert, wo er ganze vier Wochen bleibt.

    Ali berichtet: „Die Zeit dort war komisch, da waren viele andere, psychisch kranke Menschen, viele ziemlich zugedröhnt mit Tabletten, einige waren wie ich depressiv und suizidal, andere hatten beispielsweise Schizophrenie oder eine Borderline-Störung. Aber ich bin dort erstmal zur Ruhe gekommen, wurde medikamentös neu eingestellt.“ Nach einem Monat wurde Ali dann auf die offene Station verlegt, wo er bis zum November 2014 blieb, an Gruppen- und Einzeltherapien teilnahm und sich langsam erholte. Besonders gut gefiel ihm die Ergotherapie, wo er das Basteln mit Papier wieder für sich entdeckte.

    Erinnerungen an die Kindheit 

    „Die Ergotherapie war in dieser Zeit für mich immer ein Lichtblick, es hat wirklich Spaß gemacht, aus Papier filigrane Schachteln, Gebäude oder auch bunte Geschenkverpackungen herzustellen. Das Basteln beruhigt mich, gibt mir ein gutes Gefühl und vor allem lenkt es mich von meinen Depressionen ab. Und es erinnert mich an meine Kindheit“, ergänzt Ali.

    Und Ali hat noch einmal Glück: Die Schelfgemeinde in Schwerin bot ihm von November 2014 bis Juli 2015 Kirchenasyl. In der Schelfgemeinde lernte Ali Annemarie Steinat und Edgar sowie Sabine Hummelsheim kennen. Die drei unterstützen den Afghanen bis heute bei bürokratischen Angelegenheiten, wie beispielsweise bei Arzt- und Anwaltsbesuchen. Und sie haben ihm geholfen, eine eigene Wohnung und eine berufliche Tätigkeit zu finden. Mittlerweile arbeitet Ali in Teilzeit bei einem Malerbetrieb der Dreescher Werkstätten, einer Einrichtung für Menschen mit Beeinträchtigungen.

    Einsamkeit belastet 

    „Ich bin den Dreien wirklich dankbar für ihre Hilfe. In meiner Wohnung ist es nun wesentlich besser, als im Asylantenheim oder im Kirchenasyl, und es ist ein weiterer Schritt in Richtung Selbstständigkeit. Aber ich fühle mich oft einsam und ich vermisse meine Familie. Meine Mutter und meine Geschwister habe ich zuletzt 2008 gesehen, sie fehlen mir sehr“, ergänzt Ali.

    Mit Annemarie Steinat und der Familie Hummelsheim trifft sich Ali auch heute noch regelmäßig. Sie trinken Kaffee zusammen oder kochen gemeinsam, unterhalten sich, tauschen sich aus. „Für die Zukunft wünsche ich mir einfach nur, dass meine Depressionen verschwinden, wobei ich weiß, dass dies wohl niemals der Fall sein wird. Und trotzdem versuche ich, das Beste aus meiner Situation zu machen“, findet Ali abschließende Worte.

     

    Solche filigranen Schachteln bastelt Ali aus Papier.
    Hilfe und Unterstützung bekommt Ali von Annemarie Steinat (links) und dem Ehepaar Hummelsheim.
  • Ghazwan Assaf – über die Reste einer Erinnerung  

    Aus einem abgenutzten schwarzen Notizbuch zieht Ghazwan Assaf eine Zeichnung hervor und legt sie mit bedächtiger Geste auf den Tisch. „Was siehst du hier?“ Seine Augen durchdringen den Raum. Die Zeichnung, schlicht mit Bleistift, zeigt eine gebeugte Gestalt in einem engen Raum. Noch bevor ich antworten kann, lächelt er und sagt: „Weißt du, ich finde dieses Bild nicht traurig. Im Gegenteil, es ist ein Bild der Hoffnung. Jemand hat sich bewegt, damit es entstehen konnte. Gerade die Bewegung, die nötig war, um es zu schaffen, macht es lebendig.“ 

    Ich treffe Ghazwan Assaf an einem stillen Sonntagnachmittag in Berlin, wo er in Zusammenarbeit mit dem Salam Kultur- und Sportclub eine Ausstellung präsentiert. Am Vortag, erzählt er, waren rund 200 Besucher*innen da. Die Ausstellung zeigt Syrien – vor und nach dem Krieg – in Gemälden und Kunstwerken, die sowohl Schönheit als auch Zerstörung einfangen. Die Reaktionen der syrischen Besucher*innen sind vielschichtig: Einige lächeln, andere verlassen den Saal in Tränen.  

    Ghazwan legt mir ein Gästebuch hin, voll mit Notizen in verschiedenen Sprachen, geschrieben von Menschen aller Altersgruppen. Selbst Kinder haben ihre Sehnsüchte nach Syrien hineingezeichnet. „Diese Ausstellung habe ich gemacht, um nicht nur mich auszudrücken“, sagt er, „sondern all jene, die den Krieg nicht in Worte fassen können.“ 

    Ghazwan lebte in Syrien ein gewöhnliches Leben, wie viele seiner Generation. Er ging zur Universität, sein Vater arbeitete in der Agrarwirtschaft, seine Mutter führte den Haushalt. Nie hätte er gedacht, Syrien zu verlassen. Doch als der Krieg kam und die Enge unerträglich wurde, musste er fliehen, um dem Militär zu entgehen. 2015 kam er nach Deutschland. Schon in Syrien hatte er von Kunst und Blumen geschwärmt, doch erst in der Geflüchtetenunterkunft in Deutschland nahm er Stift und Papier zur Hand. „Die ersten Zeichnungen waren überwiegend schwarz“, sagt er leise, „ich glaube, weil unser Leben damals auch so war. Wir haben viel verloren. Die Trauer habe ich mitgebracht, und obwohl ich sie hinter mir gelassen habe, spüre ich sie bis heute.“ 

    Zuerst zeichnete er mit Bleistift, später kam Öl hinzu. Schließlich begann Ghazwan, Miniaturen zu schaffen, vor allem von alten damaszenischen Häusern, die Nostalgie wecken sollten, besonders bei syrischen Betrachter*innen. „Auch wenn du nie in so einem Haus gelebt hast“, sagt er mit einem leichten Lächeln, „kommt es dir vertraut vor, nicht wahr?“ Erst danach ließ er den Krieg in seine Kunst einfließen, eine bittere Realität, die in seinen Werken Einzug hielt, nachdem er die Schönheit festgehalten hatte. 

    „Durch meine Kunst möchte ich die zerstörten Provinzen Syriens wiedergeben“, sagt Ghazwan und zeigt auf eine Miniatur: eine syrische Landkarte, aufgeteilt in 13 Fragmente, jedes steht für die Zerstörung einer Region. Er hat Videos des Krieges gesehen und daraufhin seine Gemälde geschaffen. „Wenn ich die Zerstörung darstelle, denke ich an die Menschen: Wer hat in diesem Haus gelebt? Wo sind sie jetzt? Wer ist gestorben, wer hat überlebt?“ Solche Gedanken zwingen ihn, innezuhalten. „Ich kann so etwas nicht zweimal zeichnen. Diese Gefühle, dieses Leid – es überfordert. Und doch ist es genau dieses Leid, das mich antreibt, weiterzumachen.“ Ein Gemälde nennt er Die Reste einer Erinnerung: Der Krieg soll nur ein Rest sein, nicht alles. Er darf nicht das ganze Leben einnehmen. 

    Ghazwan erzählt, dass ihm heute viele Menschen Bilder ihrer Häuser schicken. Einige haben keine Fotos mehr, weil ihre Häuser im Krieg zerstört wurden, und versuchen, diese aus der Erinnerung für ihn zu zeichnen. Aus diesen Bildern erschafft er für sie Miniaturen. Diese Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten und oft nie wieder dorthin zurückkehren können, sehnen sich nach einem greifbaren Stück ihrer Vergangenheit. 

    Die Miniaturen werden zu einem Symbol für das, was verloren ging, und zugleich zu einem Mittel, um diese Erinnerung an die nächste Generation weiterzugeben. Viele von ihnen stellen die Miniaturen in ihren neuen Wohnungen auf, um ihren Kindern zu zeigen, dass es einmal ein Zuhause gab und dass sie ein richtiges Haus besaßen. 

    Für Ghazwan bleibt die Kunst trotz ihres wachsenden Einflusses ein Hobby. Hauptberuflich hat er eine Ausbildung in der Elektrobetriebstechnik abgeschlossen, was er nun seit dreieinhalb Jahren auch noch studiert. In diesem Bereich möchte er weiterarbeiten. Dennoch lässt ihn die Kunst nicht los. Er plant, weitere Ausstellungen zu machen, die idealerweise über die Grenzen Deutschlands hinaus gezeigt werden. 

    Kunst ist für ihn mehr als nur ein Ausdrucksmittel, sie dient Ghazwan auch als eine Form der Selbsttherapie. „Durch die Kunst kann ich mich ausdrücken“, sagt er, „sie hilft mir, das, was ich über Syrien fühle, zu verarbeiten.“ Über sein Heimatland zu sprechen, fällt ihm schwer. „Ich weiß nicht, was ich über Syrien sagen soll“, erklärt er. Doch wer seine Werke betrachtet, sieht in den Details der Gemälde die Erinnerungen: die Häuser, die er malt, aber auch die Zerstörung. „Ich kann nicht reden“, fügt er hinzu, „meine Kunst spricht für mich. Durch sie kommen meine Gefühle besser zum Ausdruck.“  

  • Narges Kalhor: Ich bin nicht dumm, ich kann nur eure Sprache nicht!

    Narges, dein Film ist ein Mix aus verschiedenen Genres und Stilen. Wie kommt man darauf, einen Stoff in dieser Art und Weise zu erzählen?

    Ich habe viel zu viele Jahre Film studiert. Schon im Iran studierte ich Film. In Deutschland wurde dieses Studium nicht anerkannt, also musste ich hier wieder von vorne anfangen. Ich bin aus diesem Grund seit 20 Jahren auf verschiedenen Festivals und schaue mir ständig Filme an. Ich weiß genau, was jedes Jahr auf Festivals zu sehen sein wird, was in Mode ist. Mir war bewusst, dass ich etwas anderes machen möchte. Und zwar so, damit es nicht in ein bestimmtes Genre reinpasst. „Shahid“ ist kein Musical, aber es ist auch keine Doku. Der Film ist auch keine Fiktion. Es ist nicht so experimentell, aber es ist auch nicht klassisch erzählt. Ich wollte also eine andere Art von Erzählung im Kino zeigen. Das ist das Ergebnis nach so vielen Jahren Filmstudium.

    War das eine Herausforderung, auch im Hinblick auf die Zusammenarbeit mit deinen deutschen Produzenten?

    Es ist immer riskant, solche Art von Filme zu machen. Weil es schwierig ist, einen Film zu produzieren, wo man zum Vergleich keine vorherigen Filme vorlegen kann. Es war also richtig schwierig, diesen Film zu pitchen. Ich hatte das Glück, dass mein Abschlussfilm „In the Name of Scheherazade“ eine gute Vorlage war und meine Produzenten ungefähr abschätzen konnten, in welche Richtung das Ganze gehen wird. Ich war mir sicher, wenn wir eine Zusage von einem Festival, einem guten, großen Festival bekommen, dass es danach gut laufen wird.

    Das habe ich auch damals meinem Produzenten gesagt, dass die Zuschauenden richtig Durst auf etwas Neues haben, sie diesen Film weiterempfehlen werden und alle Vorführungen ausverkauft sein werden, wir müssen nur diese eine Zusage bekommen. Die erste Zusage von der Berlinale war also sehr mutig von ihnen, weil wir davor nicht wussten, ob wir in irgendein Programm reinpassen. Somit ist „Shahid“ für mich nach 15 Jahren in Deutschland eine Art Abschluss.

    Inwiefern?

    Ich bin eine von wenigen Geflüchteten, die direkt nach dem Asylantrag eine Zusage von der Filmhochschule München bekommen haben. Das heißt, ich war als VIP-Filmemacherin bei einem Festival und dann in den Nachrichten wegen meines Vaters, wurde überall präsentiert und dann gleich an der Filmhochschule zugelassen. Dort bin ich dann auch hin. Das heißt, ich bin in dieser Gesellschaft immer in einer Blase gewesen. Ich war sehr willkommen, es war schön, eine Ausländerin zu sein. Es war schön, einen anderen Background zu haben. Ich habe wahnsinnig viel Anerkennung in der deutschen Filmlandschaft bekommen. Aber die Geschichte meines Asylantrags ist nicht alles. Ich habe auch noch andere Geschichten zu erzählen nach 15 Jahren. Ich schätze es sehr, dass ich in Deutschland im deutschen Filmgeschäft Filme mache und auch weiterhin Support bekomme. Doch als Nächstes möchte ich etwas anderes erzählen, nicht mehr nur über mich. Nicht mehr nur mit der Ich-Perspektive.

    Du hast vorhin erwähnt, dass dein Studium in Deutschland nicht anerkannt wurde.

    Ja, ich habe Film und Grafikdesign im Iran studiert. Dann war ich in Deutschland und nichts wurde anerkannt. Das war sehr traurig und frustrierend, weil ich die ganze Theorie neu machen musste und mein Deutsch war nicht so gut. Es war sehr anstrengend, die ersten Jahre an der Filmhochschule. „Hey, ich bin nicht dumm, ich kann nur eure Sprache nicht!“ Doch ich habe nicht nur die Sprache, sondern auch die deutsche Mentalität gelernt und die Strukturen der Filmszene. Im Iran herrscht immer eine außergewöhnliche Situation, wir als Gruppe müssen uns immer spontan umentscheiden. Das heißt, der Filmdreh kann immer schieflaufen und wie wir darauf reagieren und das Beste daraus machen, das zählt. Im Iran gibt es kaum Geld, kaum Equipment, kaum Möglichkeiten, mit dem Staat zusammenzuarbeiten. Fast alles ist illegal und „underground“.

    Aber die Freunde haben Zeit dafür und man setzt sich zusammen und mit dem Geringsten sucht man das Beste. In Deutschland habe ich das Gefühl gehabt, okay, hier gibt es zwar alles, aber es ist unreflektiert und nicht flexibel. Ich finde eine Balance zwischen diesen zwei Herangehensweisen gut, weil ich in Deutschland Planung gelernt habe. Hier hat jeder seine eigene Verantwortung. Teamwork funktioniert richtig, du weißt genau, wer teilnimmt und dabei ist. Im Iran war es eher spontaner. Filme laufen manchmal gut, manchmal schlecht, die Hauptsache ist, dass wir während des Films das Leben genießen.

    Wenn du über diese Balance zwischen dem iranischen und deutschen Filmemachen sprichst, wie ist denn dein Blick auf das Land heute? Vor allem als Exil-Iranerin? Und wie findest du diesen Begriff eigentlich?

    Erstmal zum Begriff Exil-Iranerin, das ist eine Sache, die mich geärgert hat, also ob man mich als Filmemacherin ernst nimmt oder nur als die, die im Exil ist. Wenn es für die Medien besser klingt, bin ich die Iranerin, wenn es im Ausland besser läuft, bin ich die deutsche Regisseurin. Aber egal, wie sie mich nennen. Mein Film läuft in deutschen Kinos. Ich war jetzt in über 15 Screenings in Deutschland und fast alles war ausverkauft. Da sagt auch niemand, Deutsche oder Iranerin. Es geht einfach um einen Menschen, der hier lebt. Ich zeige gerne meinen Film.

    Und zum Thema Iran, die Menschen kämpfen immer noch. Alle meine Freunde sind noch am kämpfen. Besonders wenn sie ihr Auto verlieren, ihr Konto gesperrt wird, sie ihre Arbeit verlieren. In Deutschland wird das so verharmlost, dass Frauen ihr Kopftuch abnehmen und alles ist einfach. Aber sie leiden am meisten. Das muss man einfach so sagen. Und sie sind jetzt wieder in einem tiefen Loch gefangen, genau wie damals, zwei, drei Jahre nach der Grünen Revolution, als ich in Deutschland war. Irgendwann habe ich aufgehört, Nachrichten über den Iran zu lesen, weil ich dachte, ich verliere meine Gegenwart in Deutschland, ich muss zur Filmhochschule, jeden Tag um sechs Uhr aufstehen, ich kann nicht jede Nacht weinen. Und jetzt habe ich dasselbe Gefühl. Die gesamte Weltpolitik ignoriert es. Ich denke, wir Iraner*innen, unabhängig von der Politik, wissen schon, auf welcher Seite der Geschichte wir stehen.

    Wie blickst du heute auf die iranische Filmszene, die ja auch ständig unter schweren Bedingungen arbeiten muss?

    Jetzt kann man mit Handys drehen, Ton und Schnitt sind viel einfacher geworden, Dateien können über Telegram an Festivals verschickt werden. Ich habe früher auch im Iran mit gefälschten Genehmigungen gedreht und musste noch DVDs an Festivals verschicken. Filmemachen für uns Iraner*innen ist verbunden mit unserer Historie und Sprache. Es ist wie unsere Waffe, unsere Pistole. Das war auch vor der Grünen Revolution so. Ich finde es wahnsinnig schön, über Metaphern zu sprechen. Bei uns ist Poesie sehr wichtig und sie ist auch in unsere Filme gewandert. Obwohl ich ganz andere Filme mache als iranische Filmemachende, weil ich eben eine Cinemigrantin bin und versuche, eine Art Brücke zwischen „nicht Deutsch“ und „nicht Iranisch“ zu schlagen, bin ich doch wahnsinnig stolz darauf, dass die Menschen aus dem Iran so tolle Filme machen. Wie sie bewegte Bilder wahrnehmen, ist ganz anders als im Westen, ganz anders als das, was wir hier an Filmhochschulen lernen. Ich bin stolz darauf. Iranische Filmemachende schaffen es immer, mit einem lachenden und weinenden Auge Filme zu erzählen.

  • Derya Uygurlar: Ich möchte starke Frauengeschichten schreiben

    Derya Uygurlar ist 1991 in Siverek (Türkei) geboren und hat lange Zeit in Istanbul gelebt, bevor sie vor zwei Jahren nach Paris gezogen ist. Ihre Leidenschaft zum Schauspiel hat sie zunächst ins Theater geführt. Sie hat zwei Jahre im Staatstheater in Diyarbakır gespielt, wo sie auch ihre eigenen Werke auf der Bühne umgesetzt hat. Anschließend hat sie sich der Filmschauspielerei zugewandt. Mit dem Übergang zum Film kamen, wie sie beschreibt, sehr schöne Projekte auf sie zu, u.a. Filme von Bahman Ghobadi, Mano Khalil und viele internationale Produktionen, an denen sie mitgewirkt hat: „Die weiblichen Figuren, die ich gespielt habe, hatten Geschichten, die mir sowohl sehr nahe als auch sehr fern waren. Das Besondere am Schauspiel ist für mich die Reise, Frauen mit unterschiedlichen Geschichten zu entdecken“.

     

    Als Kind war Derya bereits mit Ghobadis Filmen vertraut, vor allem der Film „Kaplumbağalar da uçar“ (dt. Schildkröten können fliegen) hat sie sehr beeindruckt und den Wunsch geweckt, eines Tages in seinen Filmen mitzuspielen. Heute, als Schauspielerin, hat sich dieser Traum verwirklicht. Darüber hinaus hat sie für ihre Rolle der starken und zugleich naiven Figur Hannah, in Khalils Film „Neighbours“ (dt. Nachbarn), der auf dem 13. Kurdischen Filmfest in Hamburg (2022) als Eröffnungsfilm präsentiert wurde, eine Auszeichnung in Marokko erhalten. Das Losgelöstsein von einem festen Ort beschreibt sie in diesem Zusammenhang als besonders positive Erfahrung: „Ich habe gemerkt, dass ich eine Schauspielerin an verschiedenen Orten sein konnte und das war wirklich eine schöne Zeit“.

    „Ich möchte meine individuellen Erlebnisse aufschreiben, visualisieren und mit allen teilen“

    2012 hat sie das Drehbuch für ihren ersten Kurzfilm „Yavru Karınca“ geschrieben. Es ist eine persönliche Geschichte über ihre Mutter, in der sich Derya mit ihrer eigenen Vulnerabilität auseinandergesetzt hat. Durch ihre künstlerische Tätigkeit verarbeitet sie selbst erlebte Traumata, wobei ihr insbesondere das Schreiben hilft, Ereignisse aufzuarbeiten: „Ich möchte meine individuellen Erlebnisse aufschreiben, visualisieren und mit allen teilen.“ Als alle Planungen für den Kurzfilm abgeschlossen waren, verstarb kurz darauf ihre Mutter an einem Herzinfarkt, weshalb sie das Projekt abgebrochen hat. Sowohl beruflich als auch emotional hat sie sich zunächst davon abgewendet, spürte jedoch beständig, dass sie etwas Unvollendetes hinter sich gelassen hat. Im weiteren Verlauf lernte sie beim Filmfestival in Malatya (2017) den Filmproduzenten (und heute Ehemann) Onur Yağız kennen, der seine Bereitschaft bekundet hat, die Produktion des Kurzfilms zu übernehmen. Schließlich wurde das Werk auf dem 14. Kurdischen Filmfestival in Hamburg vorgeführt und mit einem Preis ausgezeichnet. 

     

    Trotz des Erfolgs begegnet sie in der Filmbranche weiterhin Herausforderungen, wie etwa geschlechterbezogenen Unterschieden und Vorurteilen. Sie kritisiert, dass bei weiblichen Filmschaffenden oft das Geschlecht hervorgehoben wird, sobald Erfolge erzielt werden oder die Annahme besteht, dass es als Frau einfacher sei, Unterstützung für Projekte zu erhalten. Ein weiterer Konflikt, dem sie häufig begegnet, betrifft die kurdische Sprache. Ihr Kurzfilm wurde in türkischer Sprache gedreht und mit kurdischem Untertitel versehen. Daran anknüpfend wurde sie mehrfach mit der Frage konfrontiert, wieso ihr Werk nicht in kurdischer Sprache verfilmt wurde. Durch diese Diskussionen geht die Auseinandersetzung mit den Filminhalten sowie ihrer Rolle als Künstlerin verloren und verschiebt sich zunehmend auf Themen ihrer Identität. 

    „Wir sind Künstler*innen und versuchen unsere Geschichten aus einer menschlichen Perspektive zu erzählen“

    Als Tochter, Mutter, Ehefrau, Schauspielerin, Drehbuchautorin und Regisseurin setzt sie sich speziell mit der Rolle der Frau in ihren Werken auseinander. Im Gespräch betont Derya wiederholt, wie wichtig es ihr ist, sich verstärkt für die Repräsentation von Frauen einzusetzen. Sowohl in Yavru Karınca als auch in ihrem zweiten Drehbuch (an dem sie derzeit arbeitet) sind Frauenfiguren zentral. Dabei zielt sie darauf ab, stereotype Opferrollen und die Mitleidskultur, die insbesondere in kurdischen Filmproduktionen (noch) präsent ist, zu durchbrechen: „Ich möchte aus den Opferrollen ausbrechen und starke Frauengeschichten schreiben. Wir sind keine armen Kurd*innen! Wir sind Künstler*innen und versuchen unsere Geschichten aus einer menschlichen Perspektive zu erzählen“.

     

    Ein Schlagwort, das sie in diesem Kontext verwendet, ist „Agitation“. Oftmals trifft sie auf Regisseur*innen, die bewusst aufrüttelnde Geschichten schreiben, um auf großen Filmfestivals ausgewählt zu werden und Sichtbarkeit zu erlangen: „Zu schreiben, mit dem Ziel einen Preis zu gewinnen, ist ein sehr durchdachter Ansatz und eine kommerzielle Denkweise“. Sie betont, dass man ein Filmprojekt nicht für den äußeren Schein oder die Anerkennung umsetzen soll: „Es ist wie beim Obstverkäufer, der seine schönsten Früchte nach vorne legt, obwohl sie darunter faul sind“. Derya möchte nicht mehr darauf warten, bis sich etwas ändert, sondern selbst aktiv dazu beitragen und die Filmbranche mitgestalten.

  • Julie Otsuka – Als der Kaiser ein Gott war

    Der 2002 erschienene Debütroman von Julie Otsuka behandelt ein Thema, das in Europa eher unbekannt und in ihrer amerikanischen Heimat, wenn bekannt, dann längst vergessen ist: die Internierung japanischstämmiger Menschen in den USA nach dem Angri auf Pearl Harbour.
    1942 Ende April, im fünften Kriegsmonat: Über Nacht erfuhren diese Menschen durch öentliche Bekanntmachungen – an Bäumen, Bushaltestellen, in Schaufenstern von Läden und Warenhäusern, an Telefonmasten, am Postamt – dass sie sich an Sammelpunkten einzufinden hätten für ihre Evakuierung. Jeder Mensch mit japanischen Wurzeln war der Feind an sich: die 5. Kolonne, er wird in Sippenhaft genommen und in Lager deportiert.

    Die Frau, namenlos wie ihre 2 Kinder, ein 10-jähriges Mädchen und ein siebenjähriger Knabe, packte und räumte das Haus leer.
    Ihr Mann war schon im Dezember verhaftet worden. Ab und zu erhielt sie Briefe. Am nächsten Morgen an der Sammelstelle erhielten alle eine Erkennungsmarke und wurden in Züge verfrachtet. Vorsichtig tun sich da Reminiszenzen auf …
    Ein alter langsamer Zug brachte sie nach Utah, in die Wüste. Am Zielort erwarteten sie Hunderte von Baracken aus Teerpappe, von Stacheldraht umhegt, von Wachttürmen mit Scheinwerfern aus beobachtet. Die brütende Sonne der Wüste. Aber keine Kinderbuchwüste mit Oasen, Palmen und Kamelen, es war eine staubige, trostlose Wüste.

    „Eine Mahnung: es könnte uns alle hier und jetzt und überall treen“

    Die Rückkehr nach Ende des Krieges, nach 3 Jahren und 5 Monaten: Die Frau holte den Schlüssel, den sie an einer langen silbernen Kette um den Hals trug und den sie jeden Abend berührte, als sei er ein Stück von ihr geworden, hervor. Und auch hier Reminiszenzen an andere Schlüsselgeschichten, aus der Neuzeit auf einem anderen Kontinent. „Wir waren jetzt wieder freie Menschen, konnten gehen, wohin wir wollten, keine Zäune, keine Wachen und keine Scheinwerfer mehr. Wir würden unser Leben dort leben, wo es aufgehört hatte. Keiner begrüßte uns herzlich, nicht einmal ein „Lange nicht gesehen, waren Sie verreist?“

    Und eines Tages im Dezember kam der Mann zurück. Es war nicht der, den sie kannten. Es war ein alter Mann, in Gedanken weit weg, er misstraute allen und alltägliche Kleinigkeiten heizten ihn zur Weißglut an.
    Das Ende ist ein überraschendes. Ein Clou, ein Gag wie in einem Hollywoodfilm oder eine Anklage? Eine Anklage an das amerikanische Volk und seine „Vollstrecker“? Das ganze Geschehen wird in einem fast emotionslosen Ton geschildert, wie in Aufzählungen, kurz und prägnant und an einen Schulaufsatz erinnernd. Dadurch verliert der Roman nicht an Fassungslosigkeit und Tragik, sondern gewinnt vielmehr eine überzeitliche Gültigkeit. Und vielleicht können sich manche Leser*innen mehr in das Geschehen einfühlen, als wenn es voller gefühlvoller Aufwallungen und entsprechender Dramatik beschrieben wird.

    Ein kleiner lesenswerter Roman, eine Mahnung: es könnte uns alle hier und jetzt und überall treen.
    Der Krieg zwischen den USA und Japan endete übrigens mit dem ersten Atombombenabwurf der bisherigen Geschichte.
  • „Japaner essen nicht jeden Tag Sushi“

    Einige Menschen stellen mir viele Fragen, wenn ich sage, dass ich Japaner bin. Eine Frau in der U-Bahn hat mir von ihrem Urlaub in Japan erzählt. Sie wollte gern wissen, wie sie japanischen Tee machen kann, den sie als Souvenir in Japan gekauft hat. Mein Freund aus meiner Sprachschule, der aus der Türkei kommt, hat mich nach einem TikTok-Video aus Japan gefragt. Und einmal habe ich meiner Lehrerin empfohlen, welche Stadt sie während ihrer Reise durch Japan besuchen sollte. Solche lustigen Gespräche erinnern mich an eine Geografie-Stunde in meiner Schulzeit.

    Gleichartige Gesellschaft in Japan

    In Japan ist es sehr unwahrscheinlich, eine eingewanderte Person kennenzulernen: Fast jede*r versteht Japanisch und 98 % der Bevölkerung sind Japaner*innen. Es gibt zwar ein indisches Restaurant in meiner Heimatstadt, aber die Menschen aus Nepal und Indien, die dort arbeiten, sprechen nur auf Japanisch. Die Wörter auf Hindi, die du dort hörst, sind nur „Namaste“ und „Dhanyavad“. Die japanische Gesellschaft wird von ausländischen Arbeitnehmenden unterstützt, ähnlich wie in Deutschland. Sie arbeiten in einer Fabrik in der Vorstadt oder auf dem Feld, deshalb lernen die Japaner*innen sie nicht oft kennen. 

    Die Lage von Japan oder von ostasiatischen Ländern ist weltweit einzigartig. Während es viele Länder gibt, in denen man ethnische Vielfalt finden kann, sind die Gesellschaften in China, Südkorea und Japan sehr homogen. 

    „Warum gibt es viele Einwanderer aus Italien in Amerika?“

    Das fragte ich einen Mitschüler in der Erdkundestunde. Er antwortete mir: „Weil Italien früher sehr arm war.“ Die Kürze seiner Antwort schockierte mich. Seine Worte waren wohl richtig – der Lehrer hatte genickt – aber für mich waren sie zu einfach. Und nicht respektvoll. Ich hätte mir gewünscht, dass er seine Meinung ausführlicher erklärt, denn natürlich ist es leichter, Dinge mit einer klaren Unterscheidung zu verstehen, aber unsere Welt besteht nicht nur aus schwarz und weiß.

    „Italien war arm“. Die Antwort hatte mich verwirrt. Ich wurde auf die Kürze wütend, weil ich fand, dass seine Antwort die Existenz der Minderheiten vereinfachte und ignorierte. Das Gespräch blieb viele Jahre in meinem Kopf. Wissen ist erforderlich, um andere zu verstehen. Aber Worte, Lehrbücher, Religion und Philosophie sind nicht perfekt. 

    Eine Person, die mir gegenüber sitzt, kann sowohl aus Asien kommen, als auch aus Amerika oder Afrika. Meine Kenntnisse über diese Regionen und das Wissen, was ich in der Vergangenheit gelernt habe, können mir helfen, die andere Person zu verstehen. Wenn ich mich mit dieser Person aber tatsächlich unterhalte, werde ich wahrscheinlich schnell feststellen, dass nicht alles, was ich glaube zu wissen, auch stimmt. Die andere Person wird vielleicht Dinge erzählen, die meinem bisherigen Wissensstand widersprechen.

    Manchmal gibt es zwei Wahrheiten an einem Ort. Das ist die Welt. Das ist das Leben. Bücher, Dokumentarfilme und soziale Netzwerke sind eine gute Strategie, um die Welt zu verstehen. Solche „großen“ Geschichten ignorieren manchmal andere verschiedene kleine Sichtweisen. Ich möchte beides verstehen. 

    Fragen, die ich häufig auf der Straße gefragt werde 

    In Deutschland werden mir jeden Tag Fragen über Japan gestellt: „Essen Japaner jeden Tag Sushi?“, „Ist deine Religion Shintō?“, „Ich habe gehört, dass das Leben in Japan stressig ist. Stimmt das?“

    Einmal trug ich eine Fackel bei einem Fest des Tages der Deutschen Einheit. Eine Frau hat mich „Samurai“ genannt. Manchmal bin ich glücklich und überrascht, weil viele Leute etwas Positives über meine Heimat erzählen. Manche Leute wissen mehr über Japan als ich. Es gibt einen großen Unterschied zwischen Menschen, die nur mit den Stereotypen zufrieden sein können und anderen, die noch mehr wissen wollen. Das ist für mich ein Zeichen von Aufrichtigkeit, Freundlichkeit und Menschlichkeit. Solche Haltung macht die Welt besser.

    „So, essen Japaner jeden Tag Sushi?“

    Neben Antworten, die sich Menschen aus Büchern, Filmen und den sozialen Medien holen können, möchte ich bei Fragen nach Japan gern meine eigenen Erfahrungen mitteilen. Meiner Meinung nach sind Kommunikation und Respekt der Schlüssel, die Welt mehr zu kennen. Sushi ist auch in Japan teuer, daher können reiche Leute jeden Tag Sushi essen. Meine Mutter und ich essen es nur ein- bis dreimal pro Jahr. Meine Familie hat regelmäßig am Abend des Neujahrstages zusammen Sushi gemacht und gegessen, als meine Großmutter gesund war. Diese Veranstaltung ist eine meiner besten Erinnerungen. Wenn ich nach Sushi oder Ramen gefragt werde, fühle ich mich gut. Das Unterhalten über Essen macht mir immer Spaß.

    „Ist meine Religion Shintō?“

    Einige Leute interessieren sich für japanische Religionen und Gedanken. Ich bin nicht sicher, ob ich es gut erklären kann. Es ist sehr schwer, auch für mich, Shintoismus und die geistliche Welt in Japan zu verstehen. Shintō ist eine ethnische Religion in Japan. Shintoismus und Buddhismus haben eine lange gemeinsame Geschichte, deshalb sind nicht immer leicht zu unterscheiden. Im Haus meiner Großmutter gibt es einen buddhistischen Hausaltar, wo sie regelmäßig betet. Neben dem buddhistischen Altar haben wir auch einen shintoistischen. Außerdem feiern wir Halloween, Weihnachten und Valentinstag. 

    Der Moralunterricht in Grundschulen basiert auf Shintoismus, Buddhismus und Konfuzianismus. In Japan überlebt ein Teil des religiösen Denkens durch den alltäglichen Brauch. Einerseits beschreibe ich mich in meinen Dating-App-Profilen als Atheist, andererseits lege ich meine Hände zusammen und sage „Itadakimasu“, bevor ich esse. Diese Gewohnheit stammt aus dem Buddhismus und bedeutet einen Ausdruck von Respekt und Dankbarkeit gegenüber dem Essen und den Personen, die es zubereitet haben. Japanische Kalender und saisonale Veranstaltungen basieren auf Shintō und Buddhismus und meine Familie feiert Neujahr in shintoistischer Tradition. „Ist meine Religion Shintō?“ Im Kurz ist meine Antwort zu meiner Religion immer „Jein“. 

    „Ist das Leben in Japan stressig?“

    Auch dazu habe ich keine klare Antwort. Zwar fühle ich mich gestresst in Japan, aber die Antwort ist abhängig von jeder Situation und Meinung. Ein Friseur hat mich damals gefragt, warum ich nach Deutschland kam. Da habe ich geantwortet, dass das Leben in Japan stressig für mich war. Er war anderer Meinung. Er hat mit seinem Kollegen auf Arabisch gesprochen. Ja, es gibt viele Perspektiven, um zu messen, ob das Leben in Japan stressig ist. 

    Und genau so viele Perspektiven gibt es bei all den anderen Fragen, die Menschen aus einem anderen Herkunftsland in Deutschland ständig gefragt werden. Obwohl Kenntnisse und Stereotypen helfen, eine andere Kultur zu verstehen, sind Erfahrungen durch Kommunikation für das Verständnis anderer Menschen wichtiger. Ohne sensible Kommunikation kann man einander nicht verstehen.

  • Berfin Orman: Dekolonialisierung im Theater

    Berfin, du bezeichnest dich als „transnationale Künstlerin“. Was meinst du damit?

    Der Begriff beinhaltet für mich all die Erfahrungen, die Menschen mit Migrationsgeschichten in Deutschland machen. Diese sind an vielen Orten beheimatet, meistens an Orten, die getrennt voneinander gedacht werden, wie beispielsweise verschiedene Kontinente. Eine transnationale Künstlerin zu sein bedeutet für mich demnach, „ich“ zu sein: ein Mensch, der an mehreren Orten beheimatet ist und zugleich ein Mensch, der politisch die Idee von Nationen hinterfragt. Ich bin nicht nur deutsch und nicht nur kurdisch. Ich fühle mich nicht ausschließlich einer bestimmten Kultur zugehörig. Meine Identität geht über die Kategorie deutsch-kurdisch hinaus.

     

    Wie bezieht sich dieser Begriff auf deine Arbeit?

    Die Idee, von einer Welt, die über nationale Grenzen hinausgeht, versuche ich in meine Arbeiten hineinzuweben. Ich hoffe, dass ich mit meinen Inszenierungen erzählen kann: „Hey Leute, Nationen sind voll überholt! Let’s envision a transnational world, maybe a postnational world“. In meinen Inszenierungen, wie zum Beispiel in „Hawaii“ oder „Hanans Geschichte“, spielt die Vermischung von kulturellen Identitäten eine wichtige Rolle. Ich möchte über die Grenzen Deutschlands hinaus arbeiten und mich vernetzen.

    Für mich ist es wichtig, Theater nicht nur im Kontext meiner Wahlstadt Hamburg zu betrachten, sondern im globalen Kontext zu erkunden. Was bedeutet Kunst, Theater und Gerechtigkeit über meinen Kosmos hinaus? Zusammengefasst sollte das auch bedeuten: weniger Kapitalismus, mehr politische Bündnisse, globale Solidarität und transnationale künstlerische Visionen.

     

    „Mir ist es wichtig, Kolonialität in klassischen Stoffen zu thematisieren“

     

     

    Welche Herausforderungen musstest du als Woman of Color auf dem Weg zur Theaterregisseurin meistern?

    Für mich sind Theater nicht nur Kunst-Institutionen, sondern auch politische Institutionen. Diese Einrichtungen erhalten staatliche Gelder und stellen gesellschaftliche Orte dar. Die politische Dimension des Theaters breiter zu denken, liegt mir am Herzen. Die Institutionen labeln sich gerne als divers. Gleichzeitig erleben marginalisierte Künstler*innen oft Vereinzelungsgefühle und Druck, sich an die Dominanzgesellschaft und an die weißen Institutionen anzupassen. Wir dürfen bloß nicht zu wütend und zu fordernd sein. Ich finde es wichtig, Dialoge einzugehen und Meinungsverschiedenheiten auszuhalten. Ich verändere mich auch täglich UND überdenke meine Meinungen. Doch für einen offenen Dialog brauchen wir neben individueller Selbstkritik unbedingt mehr offene Kritikmöglichkeiten in Richtung der institutionellen Funktionsweisen.

     

    Kannst du ein persönliches Ereignis mit uns teilen?

    In institutionellen Umgebungen empfinde ich häufig den Druck, mich auf eine bestimmte Art und Weise auf Deutsch ausdrücken zu müssen, um ernst genommen zu werden. Diese Herausforderung betrifft nicht nur das Theater, sondern zieht sich durch verschiedene Bereiche. Es ist mir ein Anliegen, die Definition von gutem und schlechtem Deutsch auf der Bühne zu hinterfragen. Als Woman of Color und aufgrund meiner Mehrsprachigkeit, setzte ich mich mit den verschiedenen Nuancen der deutschen Sprache auseinander. Mir ist es wichtig, Kolonialität in klassischen Stoffen zu thematisieren. Sprache ist da für mich ein wichtiges Tool.

     

     

    „Ich will lieber einen Bösewicht von Shakespeare inszenieren, anstatt die „perfekte migrantische Geschichte““

     

    Gibt es klassische Werke, mit denen du dich identifizieren kannst?

    Die Frage ist etwas tricky. Ich kann mich nicht damit identifizieren, wie die Werke in der Mehrheitsgesellschaft gelesen werden. Zugleich finde ich mich sowohl privat als auch als Theaterregisseurin in den Werken von Shakespeare und Gorki wieder. Die Texte beinhalten Dialoge oder einzelne Sätze, wo ich meinen Blick auf die Welt sehe oder die meiner Familie und Freund*innen. Das ist das, wofür ich brenne, sogenannte Kanon-Literatur zu dekolonialisieren. Es ist ein diskriminierender Moment, wenn wir auf der Bühne Figuren mit Diskriminierungserfahrungen nicht als komplexe Figuren, also als Menschen über jene Erfahrungen hinaus, begreifen.

    Deswegen interessiert es mich umso mehr, eine Woman of Color als Bösewicht, eine Liebesgeschichte, in der race offen diskutiert wird, oder Diskussionen um Machtverhältnisse aus Perspektive des globalen Südens zu inszenieren. Das ist der Grund, warum ich lieber einen Bösewicht von Shakespeare inszenieren will, anstatt die „perfekte migrantische Geschichte“. Ich finde dieses Neudenken von alten Erzählungen interessant.


    Wie würdest du demnach Shakespeare neu interpretieren?

    Die Figuren von Shakespeare sind häufig als weiße Personen angelegt und werden in den meisten Fällen nur als weiße Personen gelesen, gedeutet und besetzt. Es gibt wenige BIPoC-Figuren und diese sind oft mit Stereotypen behaftet.
    Zugleich sind die Figurenwelten in den Werken von Shakespeare komplex und die Textsprache sehr poetisch, weshalb die Texte bis heute viel gespielt und immer wieder neu interpretiert werden.

    Was mich interessiert, ist, diese seit Jahren erzählten Figuren zu verändern. Also nicht nur zu sagen, okay, ich besetzte weiße Figuren mit BIPoC-Schauspieler*innen, sondern darüber hinaus die Inszenierung vollständig umzuschreiben. Ich würde liebend gerne die politischen Probleme und Fragen aus meinen Erfahrungen und denen meiner Familie und meines Freundeskreises mit einer neuen poetischen und postmigrantischen Adaption Shakespeares verbinden.

    Es gibt ein Zitat von Maya Angelou, welches ich oft in Panels zitiere. Sie ist eine afro-amerikanische Autorin und Denkerin und war als Kind stumm. Als sie die Sonette von Shakespeare las, erkannte sie sich selbst als Schwarzes Mädchen in den Texten wieder. Mich berührt dieses Zitat sehr. Es steht für mich u. a. für die Idee, dass sich Personen aus marginalisierten Gruppen den Kanon nehmen und es sich zu eigen machen.

     

     

    „Ich wünsche mir mehr Solidarität zwischen dem Globalen Süden und dem Globalen Norden“

     

     

    Was bedeutet es für dich, BIPoC-Perspektiven im Theater zu repräsentieren?

    Ich setze mich dafür ein, dass ich meine Kunst machen kann und dass ich die Themen, die mich beschäftigen, erzählen und zeigen kann. Dazu gehört die Repräsentation von BIPoC-Figuren und die Rechte von BIPoC-Kunstschaffenden.
    Teilweise sind BIPoC repräsentiert, aber wir brauchen mehr Rechte. Daher bin ich im BIPoC-Netzwerk aktiv. Ich wünsche mir mehr Solidarität zwischen dem Globalen Süden und dem Globalen Norden, eine ausgeglichene Welt, eine gerechtere Gesellschaft und vielfältige Perspektiven auf die deutsche Gesellschaft. Ich kann mich nicht für BIPoC-Perspektiven einsetzen, ohne mich für weitere marginalisierte Perspektiven einzusetzen.

     

    Wie möchtest du die Idee der Dekolonialisierung in deinen Inszenierungen weiterdenken?

    Dekolonialisierung ist für mich weit mehr als ein politisches Schlagwort wie z. B. „Jin, Jiyan, Azadî“. Ich setzte mich auch für die Freiheitsbewegung von kurdischen Frauen ein, aber nicht nur mit dem Spruch, den ich auf die Front eines Theaters schreiben kann, denn das reicht nicht aus. Ich versuche vielmehr die Bedeutung dahinter zu verstehen.

    Für mich persönlich bedeutet Dekolonialisierung, konsequent für die Befreiung und Freiheit aller Unterdrückten dieser Welt zu kämpfen und dem Theater wieder mehr politischen Wind und Kraft zu verleihen. Es geht nicht um linke Parolen, sondern darum zu verstehen, was in unserer Welt nicht in Ordnung ist und wie sich das in Kunst und den Institutionen widerspiegelt. Was können wir für einen Wandel tun und welches Potenzial schöpfen Institutionen noch nicht ausreichend aus? Meiner Meinung nach ist das Theater nämlich schnarchig-politisch und es kommt über politisches linkes Marketing oft nicht hinaus, das ist das Problem. Dann wird Dekolonialisierung zu einem Wort und nicht zu einem konsequenten Kampf.


    Welchen Rat würdest du deiner jüngeren Version oder anderen BIPoC-Kunstschaffenden geben, die in die Welt des Theaters einsteigen möchten?


    Um ehrlich zu sein, bin ich ziemlich stolz auf mein jüngeres Ich. Generell würde ich allen Leuten raten, dass man sich nicht zu ernst nimmt. Mal ein- und auszuatmen, bevor man private und berufliche Entscheidungen trifft. Ich bin ein sehr impulsiver Mensch und dafür würde ich meinem jüngeren Ich mehr Geduld und Ausgeglichenheit mit auf den Weg geben. Ich würde meinem inneren Kind mit einem Zitat von Ms Lauryn Hill antworten – auch wenn das etwas kitschig ist. Die Zitate sind aus dem MTV-Unplugged Konzert:

    „I am changing, because God is changing me. I’m evolving.“

    Das sagen auch Alevit*innen, dass die höchste Stufe der Nähe zum Göttlichen ist, sich selbst zu erkennen. Danach versuche ich zu leben.

     

    Berfins Instagram: https://www.instagram.com/berfinwald/

     

    Die nächsten Vorstellungstermine von „Hawaii“ von Cihan Acar finden ab Juni 2024 im Theater Bremen statt.

     

    Die Tickets gibt es auf der Website vom Theater Bremen:

    www.theaterbremen.de

     

     

  • Vom Tee zur Toleranz: Über kulturelle Vielfalt

    Es war ein lauwarmer Sommerabend, als meine Eltern und ich an einem gedeckten Tisch voller kurdischer Gerichte saßen. In der Mitte befand sich ein Korb mit warmem, frisch gebackenem Fladenbrot, wie es sich traditionell gehört. Nur eine Sache fehlte noch: der Schwarztee, oder wie wir ihn nennen, Cay.

    Die Kellner ließen zum Glück nicht lange auf sich warten und brachten uns rasch drei wunderschön verzierte Kristallgläser an den Tisch. Der Tee meines Vaters leuchtete in einem tiefdunklen Braun, wohingegen der Tee meiner Mutter blassorange schimmerte. Mein Tee war irgendwas in der Mitte, weder sonderlich hell noch dunkel. Eigentlich irrelevant, aber für mich eine meiner persönlichen Lieblingsanekdoten, weil die drei unterschiedlichen Cays für mich ein Sinnbild meiner Familie und kulturellen Identität sind.

    Mein Vater kommt aus dem Irak, einem Land, in dem der Schwarztee nicht aus dem Tagesablauf wegzudenken ist. Schon seit ich denken kann, trinkt er jeden Morgen ein Glas zum Frühstück und jeden Abend ein Glas vor dem Schlafengehen. Manchmal auch noch ein paar dazwischen. Meine russische Mutter hingegen bringt aus ihrer Heimat eine andere Teekultur mit – auch sie liebt ihren täglichen Tee ungemein, aber bevorzugt doch lieber Grün- oder Früchtetee. Ich, als in Deutschland geborener Abkömmling dieser beiden Teefanatiker, stehe wie so oft zwischen den Fronten, habe allerdings eine Tendenz hin zum Grün- und damit weg vom Schwarztee.

    Mehr als nur Teegenuss

    Wie man sich sicherlich bereits denken kann, kommt es in unserer Familie auf viel mehr als bloßen Teegenuss an. Sie lebt von gegenseitiger Toleranz und Akzeptanz sowie dem Bewusstsein, dass wir uns über unsere Grenzen hinweg verständigen müssen. Meine Eltern haben mir das mein ganzes Leben lang vorgelebt, sodass ich diese bedeutende Aufgabe in zweiter Generation fortführen möchte.

    Der Austausch von Geschichten und Erfahrungen über Traditionen kann zu einem tieferen Verständnis für die Vielfalt unserer Welt führen. In meiner eigenen Familie erlebe ich dies jeden Tag aufs Neue, wenn wir uns am Tisch versammeln und über die Jugendgeschichten meiner Eltern diskutieren. Diese Gespräche sind mehr als nur eine Diskussion über Kindheitsvorlieben; sie sind ein Fenster in die Vielfalt unserer kulturellen Hintergründe und Traditionen.

    Ich erinnere mich zum Beispiel daran, wie meine Eltern mir von den Teekulturen in ihren Heimatländern erzählt haben. Mein Vater sprach von den Teehäusern im Irak, in denen Menschen aus allen Gesellschaftsschichten zusammenkommen, um Tee zu trinken und Geschichten auszutauschen. Meine Mutter hingegen erzählte von den russischen Samowaren, die in vielen Haushalten eine zentrale Rolle spielen und Tee zu einem festen Bestandteil des Alltags machen.

    Diese Kolumne soll jedoch nicht ein Urteil darüber fällen, wessen Teekultur die bessere ist. Stattdessen möchte ich alle Leser*innen auf den Tee ihrer Wahl dazu einladen, gemeinsam mit mir meine bunte Welt zu erkunden. Zwischen Abend- und Morgenland gibt es viel zu entdecken und zu besprechen, sodass wir uns zu einigen Sitzungen versammeln werden, um gemeinsam die Schönheit dieser Welt zu erkunden. Macht es euch gemütlich und bringt eure Freunde mit.

     

    Dieser Beitrag ist Teil von Linas Kolumne „Salam und Privet: Das Leben zwischen zwei Welten„.

  • Heimatverlust als Tabuthema?

    Warum ist Heimatverlust in der deutschen Gesellschaft ein Tabuthema?

    Diese Frage hat mich in letzter Zeit beunruhigt. Es wird in Medien über Depression, Burnout und andere psychische Krankheiten gesprochen. Als ich im ambulanten psychiatrischen Dienst gearbeitet habe, habe ich viele Migrant*innen auf ihrem Lebensweg begleitet. Wenn ich nachdenke, hatten viele von denen ein Trauma in erwachsenem Alter: den Verlust der Heimat.

    Ich wünsche mir, dass Ärzt*innen diese Art von Trauma ernst nehmen. Dieses Trauma lässt Menschen in ihrer neuen Heimat nicht glücklich sein, bevor sie diese Schmerzen nicht verarbeiten. Sie können materiell erfolgreich sein, aber seelisch nicht. Neulich hatte eine Freundin aus meinem Land ihren Geburtstag gefeiert. Da waren gemischte Gruppen von Deutschen, Kirgis*innen und anderen Nationalitäten. Alle haben, wie es sonst auf Partys üblich ist, über Arbeit, Ausbildungsplatz, Reise und kleine Alltagsproblemchen gesprochen.

    „Mein 2-jähriger Sohn isst zu Hause keinen Brei, die arme Mutter kann nicht nachts gut schlafen, er trinkt viel an der Brust. Aber in der Kita ernährt er sich gut!“

    „Ah ja, diese Sauna soll wirklich gut sein?“

    „Ich muss mich endlich mal bei der Fitness anmelden, sonst bekomme ich Winterspeck!“

    So sprechen blutende Seelen über ihre Scheinheimat, über ihr scheinglückliches Leben. Ich war zu ernst, um an solchen Gesprächen teilzunehmen. Ich denke, warum konnten wir nicht über persönliche Themen sprechen, die uns wirklich beschäftigen?

    Was beschäftigt denn Migrant*innen nach 8 Stunden Arbeit und am Wochenende? Welche Gedanken haben sie so?

    Der Stein in der Seele

    Ich vermute, dass viele trotz ihrer „beschäftigten“ Leben zwischendurch doch an ihre Heimat denken. Vielleicht kommen kurze Erinnerungen an bestimmte Ereignisse aus der Vergangenheit, oder Bilder von alten Häusern und Straßen. Als ich auch, wie diese Menschen auf der Party, eine sehr gut integrierte Migrantin war, habe ich in meiner Freizeit viel unternommen, es war egal was, Hauptsache, möglichst abgelenkt sein.

    Irgendwann haben mich Schmerzen vom Heimatverlust so stark erwischt, dass ich mich nicht mehr ablenken konnte. Die Auseinandersetzung war nicht angenehm, es hat mehrere Jahre in Anspruch genommen, aber es hat sich gelohnt. Ich habe immer noch Schmerzen vom Verlust meiner Heimat. Es fühlt sich manchmal wie ein Stein in meiner Seele an, der mit seiner Anwesenheit meine Freude am Leben verhindert. Dessen Anwesenheit dauert allerdings nicht mehr so lang, sodass ich nicht vor mir fliehen muss.

    In meiner Freizeit beschäftige ich mich mit Musik, Schreiben und ich gehe gerne spazieren und bin mit Menschen zusammen, die mich verstehen. Ja, es klingt doch so, als ob ich nicht mehr vor Schmerzen, bzw. vor mir selbst nicht mehr fliehen muss. Was für ein Segen. Das wünsche ich jedem, der seine Heimat verloren hat. Erfüllende Beschäftigungen tun mir richtig gut und ich tue sie bewusst, um nicht meine Schmerzen zu vermeiden, sondern sie mit Leichtigkeit ertragen zu können.

    Meine Schmerzen sind auch wie zwei große Augen in mir, die in bestimmten Phasen die deutsche Welt nicht sehen und ertragen wollen. Es fühlt sich alles auf einmal fremd an. Obwohl ich weiß, ich lebe hier seit 17 Jahren. Das tut richtig weh und es ist Widerstand zum Leben selbst.

    In so einem Zustand möchte ich nichts machen. Ich will in Widerstand bleiben und meine Tür vor der ganzen deutschen Welt in mir und außerhalb von mir zu machen. Und gleichzeitig verurteile ich mich selbst für diese Abgrenzung. Ich denke, warum soll ich es machen? Habe ich das Recht, das zu machen? Es ist so, als ob diese Augen mir antworten: „Bitte stelle keine Fragen. Akzeptiere diese Schmerzen.“

    Es ist eine Tragödie, die ganze Heimat und damit einen Teil von sich selbst zu verlieren! Erfüllende Dinge, die ich die meiste Zeit tue, Dinge, die mir guttun, helfen mir in solche Augenblicken tatsächlich nichts zu machen und einfach traurig zu sein.

    Warum ist es ein Tabuthema, über Heimatverlust zu sprechen? Warum begraben Migrant*innen ihre wertvolle Vergangenheit, ihre kulturelle Identität? Muss diese Identität jahrelang bluten?

    Ich habe mittlerweile gute Augen für blutende Seelen. Blutende Seelen erkenne ich auch unter Deutschen, die ihre deutsche Identität nicht ausleben dürfen. Wurde es nicht irgendwann nach dem Zweiten Weltkrieg verboten, stolz zu sein, dass man Deutsche*r ist? Das hat zum Verlust der deutschen Identität geführt. Welche*r Deutsche kann laut auf der Straße schreien, stolz deutsch zu sein? Man würde schief angeguckt werden und als Nazi gelten.

    Säulen, die in meine Augen als Identität dienen, sind: Fußball, Bürokratie, Wirtschaft, Qualität der exportierten Waren aus Deutschland und Arbeit. Ich denke, dass auf Dauer diese Säulen nicht mehr als Identität dienen können, weil es Menschen an einer wahren Identität fehlt. Deutsche, die das ausdrücken, laufen Gefahr, als nationalsozialistisch zu gelten. Deshalb können Deutsche sich nur durch Leistung zeigen.

    Unendliche Schuldgefühle aus der Vergangenheit quälen sie immer noch und treibt sie an, Marionetten des kapitalistischen Systems zu sein, statt sich selbst zu lieben und akzeptieren. Aus diesem Grund fehlt in dieser Gesellschaft Zugehörigkeit, ohne Zugehörigkeitsgefühl werden immer mehr Menschen an der Pandemie der Einsamkeit erkranken.

    Die Pandemie der Einsamkeit erkenne ich in den leeren Augen vieler Menschen, die ich auf der Straße sehe; ohne eine Studie kann ich persönlich behaupten, dass Deutschland an der Pandemie der Einsamkeit erkrankt ist, weil Menschen keinen Geist in Gesellschaft, keine Identität haben. Und Wolken mit Regen haben damit nichts zu tun.

    Das ist die Schattenseite, aber es gibt für mich auch andere, helle Seiten in Deutschland, der deutschen Seele, die mich seit 17 Jahren in Deutschland trägt, und ich bereue nicht, dass ich genau hier ausgewandert bin und hier lebe. Um eine Deutsche zu sein, muss ich nicht hier geboren sein. Ich fühle mich schon wie eine Deutsche. Eigenschaften der Deutschen haben mich beeinflusst und meine Seele hat sich mit deren Mentalität zusammengewachsen.

    Was macht mich als Deutsche aus?

    Ich habe in Deutschland nach einem langen Kampf mit mir selbst gelernt, NEIN sagen zu können. Wir kämpfen immer gegen uns selbst, gegen unsere Träume und Wünsche, wenn wir uns nicht genug akzeptieren und lieben. Wir tun uns etwas Gutes und gleich wollen wir uns wieder schaden. Ich wollte mein Bedürfnis, eine Kirgisin zu sein, nicht akzeptieren, ich habe es verdrängt, um wie alle andere zu sein. Nachdem ich jedoch geschafft habe, zu meiner Vergangenheit und Herkunft zu stehen, habe ich daraus viel Kraft und natürliche Lebensfreude gewonnen! Was für ein Segen für mich. Das wünsche ich von ganzem Herzen Deutschen und Migrant*innen.

    Wenn ich ab morgen wieder in Kirgisistan oder woanders leben müsste, würde ich sicherlich Sehnsucht nach meiner deutschen Identität haben, weil ich diese Dinge nicht mehr in meinem Leben hätte: regionale Ernte im Herbst wie Pflaumen, Äpfel, Kartoffeln und Kohl, die brav und frisch auf einer Theke in einem Wochenmarkt liegen. Ältere Menschen mit ihren weisen und nüchternen Augen. Als ich in anderen Städten mit dem Auto oder in der Bahn unterwegs war, liebte ich es, weite Felder voller Raps und Riesenwindmühlen zu beobachten. Wunderschöne Altbauten aus den letzten Jahrhunderten, und Kirchen in Hamburg, Riesenbibliotheken voll mit Wissen, Konzertsäle, Theater und Musik.

    Das Wetter-Phänomen hat hier im Leben von vielen Menschen einen wichtigen Platz hat. Übers Wetter zu sprechen und daran zu denken, jeden Tag sich damit beschäftigen, eigene gute und schlechte Laune auf das Wetter projizieren, die gewisse Kunst, sich Wetter gerecht anzuziehen. Ich habe vor vielen Jahren Gummistiefel gekauft und ich habe sie 2- oder 3-mal getragen, und ich besitze keine Regenjacke, weil ich mit meinem Regenschirm rechne. Ja, gewisse Frische, Wind und Regen sind für mich irgendwie doch sehr vertraut geworden.

    All das ist für mich ein fester und lebendiger Geist der deutschen Identität, der von meiner Seele untrennbar bleibt.

     

     

     

kohero-magazin.com