Schlagwort: Kultur

  • Sahra: „Das Beste aus zwei Welten“

    Sobald man die Tanzfläche des Lido’s in Berlin-Kreuzberg betritt, vibriert der Bass durch den ganzen Körper. Auf der Tanzfläche schreit eine Gruppe Frauen zu einem House-Remix von Nancy Ajram mit. Als der nächste Song mit einem Dabke-Rhythmus einsetzt, bildet sich ein großer Kreis, in dem die Menge gemeinsam tanzt. Die Energie ist ansteckend.

    Diese Energie trägt einen Namen: Sahra – arabisch für Ausgehen. Die queer-feministische Partyreihe findet regelmäßig in Berlin statt und ist eine der ersten ihrer Art, die arabische Popmusik, elektronische Beats und queere-feministische Werte miteinander verbindet. Gründerin Nour hat mit Sahra einen Raum für Sichtbarkeit und Empowerment geschaffen.

    „The best of both worlds“

    Sahra begann als eine Reihe von Geburtstagspartys. Mittlerweile hat sich die Party zu einer festen Größe im Berliner Nachtleben entwickelt und wurde 2024 sogar mit dem Berliner Club Award für Newcomer ausgezeichnet. Doch der Weg dorthin war alles andere als einfach: Viele Clubs hatten zunächst Bedenken, ein Event mit arabischer Musik an einem Wochenende zu hosten. Doch Nour und ihr Team haben sich nicht entmutigen lassen und schufen mit Sahra eine einzigartige Veranstaltungsreihe.

    Die Partys vereinen elektronische Musik mit arabischem Pop und traditionellen Rhythmen – „the best of both worlds“, wie Nour es nennt. Aber Sahra ist weit mehr als nur Musik. Die Partys sind auch ein Ort der Begegnung und Kreativität. Mit einem Line-up aus arabischen DJs aus Berlin und der internationalen Szene entsteht eine besondere Atmosphäre. Eine Atmosphäre in der Melodik, Bass und Nostalgie verschmelzen. Sahra prägt ein neues internationales Musikgenre: „Electro Swana‘“ –  ein Begriff, der die Region Südwestasien und Nordafrika (Swana) aus einer antikolonialistischen Perspektive beschreibt.

    Teil des Sahra-Kollektivs ist Hiba Salameh, eine DJ und Musikproduzentin aus Haifa. Laut dem Musikmagazin Mixmag gehört sie zu den palästinensischen DJs, die man unbedingt kennen sollte.  Auch Rizan Said, ein syrischer Komponist und Produzent, hat die Bühne von Sahra bereits betreten. Seine Stücke prägen die syrische Musikszene bis heute, und er hat in der Vergangenheit eng mit der Musikikone Omar Souleyman zusammengearbeitet.

    Doch es sind nicht nur bekannte Namen, die Sahra ausmachen. Besonders stolz ist Nour auf eine Veranstaltung, bei der das gesamte Line-up aus Frauen bestand: „Kommt für eine Nacht vorbei und hört arabischen Frauen zu! Sie machen ihr Ding und haben den Club ausverkauft.“ Es geht um Sichtbarkeit!

    Ein sicherer Raum für alle

    Was Sahra so besonders macht, ist der Raum, der erschaffen wird: ein sicherer Ort für Menschen, die in der Clubszene oft marginalisiert werden. Hier können sie frei und ohne Vorurteile sie selbst sein. Ein ausgebildetes Awareness-Team sorgt dafür, dass alle Gäste sich sicher und respektiert fühlen.

    Seit der Entstehung von Sahra war die Vision, einen solchen Raum zu schaffen, ein zentraler Bestandteil des Konzepts. In dem angespannten politischen Klima, das in den letzten Monaten in Deutschland zunimmt, ist die Schaffung solcher Räume so wichtig. Gerade in herausfordernden Zeiten wie diesen fällt es vielen von uns schwer, sich jeden Tag aufs Neue zu motivieren und die Hoffnung nicht zu verlieren.

    Durch einen Abend bei Sahra lösen sich diese Ängste und Sorgen vielleicht nicht vollständig auf, aber er schenkt uns Momente, in denen wir Teil einer Gemeinschaft sind – gesehen, gehört und respektiert. Es ist dieses Gefühl von Zusammenhalt, das Kraft und Motivation gibt. Nur als Community, nur gemeinsam, können wir diesen Zeiten begegnen und einen Weg nach vorne finden. Sahra ist ein Ort der Hoffnung in einer Zeit, in der Gemeinschaft und Solidarität hart auf die Probe gestellt werden.

    Sahra beendet das Jahr mit einigen Highlights: einem Festival, der ersten internationalen Veranstaltung in Paris und einer Kollaborationsparty mit der amerikanischen Partyreihe Disco Tehran. Für das kommende Jahr können wir uns auf viele spannende Projekte freuen!
    „Wir haben große Pläne für Bookings, Events und internationale Kollaborationen“, verrät Nour begeistert.

    Der Artikel war eigentlich schon fertig und dann kam das plötzliche Update aus Syrien: Das Assad Regime ist gefallen. Nun ist das unvorstellbar passiert: die erste Sahra Party in Damaskus im Januar 2025. Nour berichtete von ihrer Erfahrung: „Selbst als die Veranstaltung begann, war es schwer zu glauben, dass wir wirklich dort waren – zurück in Damaskus, einer Stadt, die viele von uns seit über einem Jahrzehnt nicht mehr betreten hatten. So lange hatten wir nicht geglaubt, dass dieser Moment jemals eintreten würde, und doch waren wir da und tanzten zu den Liedern der Revolution im Herzen der Hauptstadt. SAHRA in Damaskus war mehr als ein Fest; es war ein Akt der Zurückgewinnung von Raum und Identität, bei dem sich Freude, Trauer und Hoffnung vermischten. Gemeinsam ehrten wir die Vergangenheit, feierten die Freiheit und hielten an dem gemeinsamen Traum von einer besseren Zukunft fest.“

  • Moin und Salam – wie ein Bildband muslimisches Leben repräsentiert

    Das Projekt beginnt damit, dass Julius Matuschik, Fotojournalist und damaliger Empfänger des Praxis-Fellowships an der Akademie für Islam in Wissenschaft und Gesellschaft (AIWG), sich mit dem Anliegen an die AIWG wendet, muslimisches Leben, so wie es wirklich ist, durch seine Fotografien abbilden zu wollen. Es sollen Fotos entstehen, in denen sich die meisten Muslim*innen wiederfinden können. Er reflektiert über die Repräsentation des Islam in der deutschen Gesellschaft: „Für mich als Fotojournalist ist die Frage nach meiner Verantwortung als Medienschaffender von großer Bedeutung, insbesondere die Frage danach, wie Fotografien wirken.“ Die Idee zu „Moin und Salam“ ist geboren.

    Was als Blog beginnt, wird über ein zusätzliches Publikationsvorhaben erweitert, wodurch im April 2024 der Bildband im Kerber Verlag veröffentlicht wird. Raida Chbib, Wissenschaftlerin und Geschäftsführerin der Akademie für Islam in Wissenschaft und Gesellschaft an der Goethe-Universität Frankfurt, liefert den Kontext und formuliert die Texte.  Julius Matuschik steuert das Bildmaterial bei. Die Autor*innen wollen ein differenziertes Bild von Muslim*innen präsentieren und begeben sich dazu auf eine Reise durch die historischen Anfänge muslimischen Lebens in Deutschland bis hin zum Leben in der muslimischen Community heute.

    Statt Stereotype zu bedienen, sollen echte Lebensrealitäten Raum finden. „Erschreckend war für mich, wie sehr die mediale Darstellung muslimischen Lebens in Deutschland von der Realität abweicht“, bemängelt Julius Matuschik die oft einseitige und negativ geprägte Repräsentation in den deutschen Medien. Dass der Islam und Muslim*innen längst ein integraler Bestandteil der deutschen Gesellschaft sind, wird oft unterschlagen.

     

    Polarisierung führt zu Anfeindungen und Übergriffen gegen Muslim*innen

    Durch politische Debatten konzentriert sich die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit häufig auf problematische Aspekte in Verbindung mit dem Islam. Radikalisierung und Terrorismus finden in den Medien eine Überrepräsentation und verstärken so Vorurteile gegenüber Menschen muslimischen Glaubens und dem Islam. „Leider gerät dadurch das weitgehend gelungene gesellschaftliche Alltagsleben der Mehrheit der Muslim*innen in Deutschland in den Hintergrund“, kritisiert Raida Chbib. Das kann schnell gefährlich werden. Polarisierung führt zu Anfeindungen und Übergriffen gegen Muslim*innen. Das bestätigen auch zahlreiche Untersuchungen, zuletzt die Studie der Europäischen Grundrechteagentur FRA zur Diskriminierung von Muslim*innen in der EU, wie Raida Chbib erwähnt.

    In einer Pressemitteilung vom Juni 2024 verzeichnet die Allianz gegen Islam- und Muslimfeindlichkeit (CLAIM) einen Anstieg von antimuslimischen Straftaten um 114 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Raida Chbib verweist auf den „Religionsmonitor 2023“ der Bertelsmann Stiftung und eine Untersuchung des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung, die beide eine Zunahme antimuslimischer Einstellungen und islamfeindlicher Straftaten in Deutschland zeigen. Auch die 2020 veröffentlichte Studie „Muslimfeindlichkeit“ vom Bundesinnenministerium bestätigt den Zusammenhang zwischen negativ verzerrten Generalisierungen in den Medien und der zunehmenden Wahrnehmung von Muslim*innen als Bedrohung.

     

    „Eine der häufigsten Fehlannahmen ist, dass Menschen muslimischen Glaubens eine homogene Gruppe mit einheitlichen Werten und Verhaltensweisen seien, die im Widerspruch zur deutschen Gesellschaft stünden“

     

    Den politischen Debatten liegt oft auch die Fehlannahme zugrunde, dass Muslim*innen generell mit Migration gleichzusetzen seien. Muslimische Deutsche sind aber längst Teil der deutschen Gesellschaft, betont auch Raida Chbib. Im öffentlichen Diskurs wünscht sie sich deshalb mehr Differenzierung für eine vielfältige Gemeinschaft. „Eine der häufigsten Fehlannahmen ist, dass Menschen muslimischen Glaubens eine homogene Gruppe mit einheitlichen Werten und Verhaltensweisen seien, die im Widerspruch zur deutschen Gesellschaft stünden“, kritisiert Raida Chbib. Dabei unterschieden sich Muslim*innen deutlich in kulturellen Hintergründen und der Art, wie sie ihren Glauben auslegen und ausleben.

     

    AIWG/Aynur Caglar

    Bei der Arbeit am Bildband hat Julius Matuschik viele Erkenntnisse. Zum Beispiel, dass der Islam nicht erst mit den sogenannten Gastarbeiter*innen nach Deutschland gekommen ist. „Zu sehen, dass es historische Bezüge ins Mittelalter und darüber hinaus gibt, hat mich sehr überrascht“, gesteht Julius Matuschik. Und nicht nur ihn. Auch Raida Chbib war von der fotografischen Dokumentation dieser Historie beeindruckt. Dass Julius Matuschik überhaupt so viel Zeit hatte, die Archive zu sichten, ist der Pandemie geschuldet. Was zunächst in Form von Beschränkungen als große Herausforderung beginnt, entwickelt sich zu einer spannenden Reise in die Vergangenheit. Etliches Bildmaterial muslimischen Lebens in Deutschland auch schon vor dem Zweiten Weltkrieg weckt die Neugierde der Autor*innen.

     

    „Mich hat es jedes Mal beeindruckt, wie die Gläubigen es geschafft haben, hier eine spirituelle, andächtige Atmosphäre zu gestalten“

     

    Um die muslimische Vielfalt in Deutschland zu zeigen, fotografiert Julius Matuschik in allen Bundesländern und lernt etliche Moscheen kennen. Für eine Lieblingsmoschee kann er sich dennoch nicht entscheiden. Besonders berührt haben ihn zweckentfremdete Moscheen. Ehemalige Werkstätten, Büroräume, Kirchen, Wohnungen. Sogenannte Hinterhofmoscheen. Einmal fotografiert Julius Matuschik sogar eine Moschee in einer ehemaligen Tiefgarage. „Mich hat es jedes Mal beeindruckt, wie die Gläubigen es geschafft haben, hier eine spirituelle, andächtige Atmosphäre zu gestalten“, erzählt er.

     

    AIWG/Aynur Caglar

    Der Bildband soll vor allem neugierig machen. Man kann mal hier und mal da haften bleiben und sich in ein Thema vertiefen oder von Anfang bis Ende lesen. Wer mal eine Pause von der Lektüre braucht, kann sie ungeniert auf dem Kaffeetisch liegen lassen, denn schön ist der Bildband allemal.

    „Für mich bleibt ein Buch zeitlos“, beschreibt Raida Chbib ihre Motivation, das digitale Format des Blogs in ein analoges zu verwandeln. Drei Jahre lang arbeiteten die beiden an Blog und Bildband. Für Julius Matuschik bisher sein größtes Projekt als Fotojournalist. Jetzt freut er sich auf den Austausch mit den Leser*innen. „Es ist nicht meine erste Publikation, aber die schönste“, sagt Raida Chbib dazu. Diese jetzt in den Händen halten zu können, ist für sie ein besonderes Erlebnis.


     

    Den Bildband „Moin und Salam“ kannst du im Online-Shop von kohero kaufen. Aufgrund der deutschen Buchpreisbindung bezahlst du also nicht mehr, wenn du bei kleinen unabhängigen Shops wie unserem bestellst. Mit deinem Kauf unter https://kohero-shop.de/products/moin-und-salam unterstützt du gemeinnützigen Journalismus!

     

    Hier kannst du dich mit dem AIWG connecten:

    Facebook: https://www.facebook.com/AIWG.DE/

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  • Duftgeschichten aus meiner Heimat – der Zauber von Bukhoor

    Sonntags gehört mein Zuhause der Welt. Freunde, Familie, Nachbarn – sie alle finden sich an meinem Tisch ein, der einer kleinen Festtafel gleicht. Der Duft von warmem Blätterteig mischt sich mit der Salzigkeit frischer Oliven und dem feinen Aroma goldgelber Eier. Zwischen den Schalen mit süßen Datteln, leuchtendem Obst und samtigen Marmeladen thront die Kanne Schwarztee, dampfend und voller Geheimnisse. Dieser Tee, mit Rosenknospen durchsetzt, hat seinen Ursprung auf einem kleinen Basar, verborgen in den Gassen Erbils. Sein Duft gleicht einem Gedicht: leicht blumig, zart herb und doch unvergleichlich sanft. Doch auch wenn das Frühstück für sich bereits aufwändige Aromenkunst ist, bleibt es nur die Bühne für ein anderes Schauspiel. Denn in meinem Zuhause verschmilzt der Duft von Speisen mit einem subtilen, beständigen Wohlgeruch, der die Sinne umschmeichelt, ohne sie zu überwältigen. 

    „Hier riecht es immer so toll“, sagen meine Gäste; und sie tun es jedes Mal. Dieser Duft – eine Mischung aus sauberem, pudrigem Moschus und gelegentlich einer sanften floralen Nuance – ist wie eine unsichtbare Umarmung. Er erinnert an die Reinheit alter Moscheen, an einen Ort, an dem Zeit keine Rolle spielt und die Luft voller Geschichten schwebt. Heute möchte ich dieses Geheimnis lüften. Betrachte es als eine Einladung in meine Welt . Der Duft, der meine Räume erfüllt, nennt sich Bukhoor.

    Was ist Bukhoor?

    Bukhoor ist weit mehr als ein Duft; es ist eine jahrhundertealte Tradition, ein Ritual, das die Luft, die Menschen und manchmal auch die Seele reinigt. Der Begriff bezeichnet kleine Duftchips, oft aus getränktem Holz, um Räume mit Wohlgeruch zu füllen. Anders als Parfum, das die Haut schmückt, gehört Bukhoor dem Raum – es wird zelebriert, nicht einfach versprüht. Die Basis eines guten Bukhoor sind sorgfältig ausgewählte Hölzer, meist Adlerholz, die mit einer Mischung aus ätherischen Ölen, Harzen und Gewürzen getränkt werden. Die Kombination variiert je nach Herkunftsland, Tradition und manchmal auch nach Familienrezepten. Mein persönlicher Favorit vereint weißen Moschus, Rosenblüten und einen Hauch von Amber – eine Komposition, die wie eine leise Umarmung in der Luft schwebt.

    Das Ritual des Bukhoor

    Bukhoor zu verbrennen ist ein Ritual, das Ruhe erfordert. Auf einer kleinen Kohle oder einem elektrischen Räuchergefäß entfalten die Chips ihren Duft langsam, wie ein kostbares Geheimnis, das nur in Schichten offenbart wird. Anfangs ist es rauchig, intensiv, beinahe feierlich – ein Duft, der Raum einnimmt, ohne sich aufzudrängen. Doch dann, nach wenigen Minuten, wird der Rauch weicher. Er umarmt Kissen, Vorhänge und Wände, bis alles in eine unsichtbare Wolke aus Sanftheit gehüllt ist. Doch Bukhoor ist nicht nur ein Geschenk für Räume, sondern auch für uns selbst. In den raffiniertesten Traditionen wird der feine Rauch genutzt, um Haare und Kleidung zu beduften. Die duftenden Schwaden ziehen sich durch die Haarsträhnen, legen sich sanft auf Stoffe und verleihen ihnen einen dezenten, langanhaltenden Hauch von Luxus. 

    Für viele, die mein Zuhause betreten, ist Bukhoor eine neue Entdeckung. „Wie heißt das?“, fragen sie und ich sehe in ihren Augen die Neugier, die ich so liebe. Vielleicht ist das der wahre Zauber dieses Dufts: Er bringt Menschen zusammen, eröffnet Gespräche und lädt dazu ein, die Welt ein kleines bisschen anders wahrzunehmen. Wenn du das nächste Mal deine Liebsten empfängst, probiere es doch gerne aus. Zünde Bukhoor an, lass den Rauch durch deine Räume ziehen, über deine Kleidung und vielleicht auch durch dein Haar gleiten – und sieh, was geschieht. 


    In einer früheren Version dieses Artikels kam wiederholt der Begriff „Orient“ vor. Unsere Autorin hat diesen Begriff genutzt, um alle im westasiatischen Raum vertretenen Kulturen zusammenzufassen und für die Leser*innen zugänglich zu schreiben. Um den Lesefluss nicht zu stören, hat sie sich dagegen entschieden, jede gemeinte Kultur aufzuzählen. Bei dem Begriff „Orient“ handelt es sich allerdings um eine westliche und koloniale Fremdbezeichnung, die wir nicht reproduzieren sollten und zukünftig werden. Zudem enthielt der Beitrag Passagen, die dieses koloniale Narrativ reproduzieren und von unserer Community als unsensibel erkannt wurden. Dafür bitten wir um Entschuldigung. Wir haben den Text dementsprechend angepasst. Vielen Dank, dass ihr eure Kritik so offen kommuniziert habt!

  • Wie die Welt Advent feiert: Reise durch Bräuche und Traditionen

    In Äthiopien, einem der ältesten christlichen Länder der Welt, beginnt der Advent nicht mit Kränzen oder Kalendern, sondern mit einer strengen Fastenzeit, die als „Tsome Nebiyat“ bekannt ist. Diese Fastenzeit dauert 43 Tage und endet am 7. Januar, dem Tag, an dem in Äthiopien Weihnachten gefeiert wird.

    Während dieser Zeit verzichten viele auf tierische Produkte und nehmen an täglichen Gottesdiensten teil. Kirchen spielen eine zentrale Rolle im Advent. Sie sind oft mit beeindruckender Architektur wie den Felsenkirchen von Lalibela ein spiritueller Anziehungspunkt. Hier versammeln sich Gläubige, in weiße Gewänder gehüllt, um gemeinsam zu beten. Die Atmosphäre ist geprägt von Gesängen und traditionellen Instrumenten, die eine fast zeitlose Stimmung schaffen.

    In ländlichen Gebieten wird der Advent auch genutzt, um Häuser zu reinigen und einfache Geschenke vorzubereiten, die am Weihnachtsfest mit Nachbar*innen geteilt werden. Gemeinschaft und Spiritualität stehen dabei im Vordergrund.

    Lebendige Straßenfeste und spirituelle Traditionen in Brasilien

    Auch in Brasilien verschmelzen katholische Bräuche mit afrikanischen und indigenen Traditionen zu einem einzigartigen Adventserlebnis. Besonders in Städten wie Salvador und Rio de Janeiro wird der Advent mit einem Mix aus Feierlichkeiten und Spiritualität begangen.

    In der Adventszeit sind Kirchen und Straßen festlich geschmückt, und viele Gemeinden veranstalten Prozessionen, bei denen Bilder von Maria und anderen Heiligen durch die Straßen getragen werden. Traditionelle Lieder und Tänze begleiten diese Ereignisse, oft untermalt von Trommelklängen, die afrikanischen Einflüssen entstammen.

    Ein besonderes Highlight sind die „Folia de Reis“ –, eine Tradition, die den Besuch der Heiligen Drei Könige nachstellt. Gruppen von Musiker*innen ziehen dabei von Haus zu Haus, singen Weihnachtslieder und bringen Segnungen. Oft werden sie von Gastgeber*innen mit Speisen und Getränken bewirtet, was das Gemeinschaftsgefühl stärkt.

    Zur Vorbereitung auf Weihnachten gehört auch der Aufbau von kunstvollen Krippen, die in vielen Haushalten und Kirchen zu finden sind. Diese werden oft mit großer Hingabe gestaltet und erzählen die Weihnachtsgeschichte auf visuell beeindruckende Weise.

    Fest der Lichter und der Gemeinschaft

    Doch auf den Philippinen, dem größten christlichen Land Asiens, beginnt die weihnachtliche Stimmung bereits im September. Die Adventszeit selbst, die Mitte Dezember in den Mittelpunkt Vordergrund rückt, wird besonders durch die „Simbang Gabi“ geprägt, eine Serie von neun Frühmessen.

    Die Messen finden oft vor Sonnenaufgang statt, und die Gläubigen versammeln sich mit handgefertigten Sternlaternen, den sogenannten „Parols“, die den Stern von Bethlehem symbolisieren. Diese Laternen gehören zu den wichtigsten Dekorationen der Weihnachtszeit und leuchten in allen Farben des Regenbogens.

    Ein besonderes Spektakel bietet das „Giant Lantern Festival“ in San Fernando. Hier präsentieren verschiedene Gemeinden riesige, kunstvoll gestaltete Laternen, die oft synchron zur Musik aufleuchten. Dieses Lichterfest zieht jedes Jahr zahlreiche Besucher*innen an und symbolisiert Hoffnung und Freude.

    Auch die Kulinarik spielt eine wichtige Rolle. Nach den Frühmessen werden traditionelle Speisen wie „Puto Bumbong“, ein klebriger Reiskuchen, angeboten, die oft in geselliger Runde genossen werden.

    Ruhe und Spiritualität in Kerala

    In Indien wird der Advent besonders in Kerala gefeiert, wo eine lebendige christliche Gemeinschaft existiert. Hier vereinen sich die Traditionen der syrisch-orthodoxen Kirche mit lokalen Bräuchen, die Jahrhunderte zurückreichen.

    Während der Adventszeit bereiten sich die Gläubigen durch Fasten und Gebete auf Weihnachten vor. Kirchen erstrahlen in warmem Licht von Öllampen, und die Menschen kommen zu Gottesdiensten und gemeinsamen Gesängen zusammen.

    In den Familien wird besonderes Augenmerk auf Gemeinschaft gelegt. Mahlzeiten wie „Appam“ und „Stew“, die mit Gewürzen und regionalen Zutaten zubereitet werden, sind ein fester Bestandteil der Adventstradition. Am Abend versammeln sich Familien und Freund*innen, um Adventslieder zu singen und die festliche Stimmung zu genießen.

    Rollschuhe und Morgendämmerung

    Hingegen wird der Advent in Venezuela auf fröhliche und einzigartige Weise gefeiert. Ein besonderes Merkmal ist die Tradition der „Misas de Aguinaldo“ –, Frühmessen, die zwischen dem 16. und 24. Dezember stattfinden.

    Was diese Tradition besonders macht, ist die Anreise der Gläubigen zur Kirche – auf Rollschuhen. In den frühen Morgenstunden gleiten Kinder und Erwachsene durch die Straßen, die eigens für den Verkehr gesperrt werden. Entlang des Weges verteilen Anwohner*innen heiße Schokolade und traditionelle Speisen wie „Hallacas“ –, eine Art gefüllte Maistasche.

    Nach den Messen geht die Feier oft mit Musik, Tanz und geselligem Beisammensein weiter. Die fröhliche Atmosphäre unterstreicht die Bedeutung der Gemeinschaft und die Freude über das bevorstehende Weihnachtsfest.

    Einheit in Vielfalt: Was der globale Advent lehrt

    Die Adventstraditionen weltweit zeigen eine beeindruckende Vielfalt, die tief in den Kulturen der Menschen verwurzelt ist. Vom stillen Fasten in Äthiopien bis zu den lebhaften Straßenfesten in Brasilien, von den bunten Laternen der Philippinen bis zu den ungewöhnlichen Rollschuhprozessionen in Venezuela – überall steht der Advent für Besinnung, Hoffnung und Gemeinschaft.

    Diese Vielfalt lädt dazu ein, auch den eigenen Advent mit neuen Perspektiven und Impulsen zu bereichern. Ob durch spirituelle Rituale, kreative Traditionen oder das Öffnen für andere Kulturen – der Advent kann zu einer Feier der Einheit in der Vielfalt werden und eine universelle Botschaft von Zusammenhalt und Hoffnung vermitteln.

  • Der Essener Weihnachtsmarkt: Treffpunkt der Kulturen und Traditionen

    Wenn die Dunkelheit des Winters Essen in ein sanftes Licht taucht, verwandelt sich die Stadt in eine funkelnde Weihnachtswelt. Der 52. Internationale Weihnachtsmarkt ist dabei das Herzstück dieses Zaubers und zieht Besucher*innen in seinen Bann. Über 170 geschmückte Stände breiten sich wie ein bunter Basar aus, an dem Kulturen aus mehr als 20 Ländern aufeinandertreffen. Zwischen dem Duft von Glühwein, gebrannten Mandeln und Gewürzen entfaltet sich ein Ort, der mehr als nur ein Markt ist – eine Bühne für Begegnungen, Geschichten und Traditionen, die die Welt im Glanz der Festtage vereinen.

    Peruanische Spezialitäten und ein kultureller Austausch  

    Yolanda Keitel, 56, ist eine von vielen internationalen Standbetreiber*innen, die den Essener Weihnachtsmarkt zu einem besonderen Erlebnis machen. Ursprünglich aus Peru, lebt sie seit 2019 in Deutschland und bringt seitdem peruanische Spezialitäten auf den Markt. An ihrem Stand serviert sie „papas rellenas“, gefüllte Kartoffeln mit Rindfleisch, und vegetarische Varianten mit Champignons. Dazu wird heiße Schokolade angeboten, zubereitet aus hochwertigem peruanischem Kakao.

    „Die Menschen sind neugierig und probieren gern etwas Neues“, erzählt Yolanda mit einem Lächeln. „Viele sind überrascht, dass wir in Peru auch warme Getränke zu Weihnachten genießen – allerdings keinen Glühwein. Bei uns ist heiße Schokolade das traditionelle Weihnachtsgetränk. Ich finde es spannend, wie unterschiedlich die Bräuche sind.“

    Weiter erklärt Yolanda, dass Weihnachten in Peru oft im Kreis der Familie gefeiert wird, mit großen Mahlzeiten und festlichen Getränken. „In Deutschland gehört Glühwein einfach dazu. Er schafft diese warme, gemütliche Atmosphäre auf den Weihnachtsmärkten. Bei uns ist es die Schokolade – ein Geschmack, der Kindheitserinnerungen weckt.“

    Neben Yolandas peruanischen Gerichten locken viele andere Stände mit internationalen Köstlichkeiten. Türkische Baklava, italienische Panettone und ungarische Langos sind nur einige der Highlights. Besonders beeindruckend ist die Vielfalt an Halal-Gerichten, die auf dem Markt angeboten werden. Amin sagt: „Es ist schön zu sehen, dass unsere Speisen hier so geschätzt werden. Menschen aus allen Kulturen probieren sie und fragen oft nach den Geschichten dahinter.“

    Diese Geschichten machen den Essener Weihnachtsmarkt so einzigartig. Neben den traditionellen deutschen Weihnachtsklassikern wie Bratwurst gibt es auch Gerichte anderer Länder, die Besucher*innen auf eine kulinarische Weltreise mitnehmen.

    Tradition trifft Moderne  

    Auch handwerkliche Produkte spielen eine große Rolle. Auf dem Flachsmarkt, der als historischer Mittelaltermarkt gestaltet ist, werden Weihnachtsfiguren aus Holz neben handgefertigtem Schmuck aus Südamerika präsentiert. Ein Stand mit afrikanischen Textilien und Skulpturen zieht ebenso die Aufmerksamkeit der Besucher*innen auf sich. Die Vielfalt der Produkte spiegelt die Vielfalt der Kulturen wider, die hier zusammenkommen.

    Die Besucher*innen und Besucher des Marktes zeigen sich begeistert von der kulturellen Vielfalt. Lie, eine junge Besucherin aus Japan, beschreibt ihre Eindrücke: „Es ist, als ob man durch verschiedene Länder reist, ohne die Stadt zu verlassen. Die Stände, die Lichter und die Gerüche – das alles schafft eine magische Atmosphäre.“

    Eben ergänzt ein Paar aus dem Irak: „Wir kommen jedes Jahr nach Essen, weil dieser Weihnachtsmarkt so besonders ist. Es ist faszinierend, wie viele internationale Einflüsse hier vereint sind. Man fühlt sich überall ein bisschen zu Hause.“

    Auch Saad, albanischer Besucher, lobt die Integration von Halal-Gerichten: „Es ist großartig, dass hier auch auf unsere Traditionen Rücksicht genommen wird. Gleichzeitig probiere ich Gerichte wie die gefüllten Kartoffeln aus Peru – sie schmecken fantastisch!“

    Eine deutsche Besucherin resümiert: „Der Essener Weihnachtsmarkt ist ein Ort der Begegnung. Hier feiert man Weihnachten als Fest der Gemeinschaft.“

    Foto: Emad Almansour

    Nachhaltigkeit und festlicher Glanz  

    Ein Highlight des Essener Weihnachtsmarkts ist die beeindruckende Lichtkrone über dem Kennedyplatz. Mit 100.000 LED-Lichtern sorgt sie für eine einzigartige Atmosphäre. Essen ist bundesweit die erste Stadt, die ihre Festbeleuchtung vollständig auf LED-Technik umgestellt hat. Die Veranstalter*innen legen großen Wert auf Nachhaltigkeit: Der gesamte Markt wird mit grünem Strom betrieben, Plastikgeschirr ist verboten, und Glühweintassen werden über ein Pfandsystem wiederverwendet.

    Der Essener Weihnachtsmarkt ist weit mehr als ein Ort für Geschenke und festliche Speisen. Er ist ein lebendiges Beispiel dafür, wie Traditionen aus aller Welt zu einem einzigartigen Erlebnis verschmelzen. Yolanda bringt es auf den Punkt: „Weihnachten bedeutet, zusammenzukommen und die Vielfalt zu feiern. Dieser Markt zeigt, dass wir gemeinsam eine wunderschöne Atmosphäre schaffen können – egal, woher wir kommen.“

     

  • Friedhöfe – ein Spiegel der Gesellschaft und des Wandels?

    Vor ein paar Wochen war ich auf der Friedhofsverwalter*innen-Tagung im Sepulkralmuseum in Kassel und habe einiges über den schlechten Zustand der Friedhöfe in Deutschland gelernt.

    Das Museum für Sepulkralkultur in Kassel ist ein kulturgeschichtliches Museum, das sich den Themen Sterben, Tod, Bestattung, Trauer und Gedenken im deutschsprachigen Raum widmet. Bei dieser Tagung kamen Expert*innen und Verwalter*innen aus Kirche und Kommune zusammen, um die aktuellen Herausforderungen und Handlungsansätze im Bereich der Friedhofsverwaltung zu diskutieren.

    Das zentrale Thema der Tagung war: Ein Drittel der Friedhöfe in Deutschland steht unter kirchlicher Verwaltung, die immer mehr an Beliebtheit verlieren und vielerorts vor Schulden zu ersticken drohen.

    Es ging um Themen wie den Rückgang von Ehrenamtlichen, finanzielle Engpässe für notwendige Sanierungen (viele Gebäude sind denkmalgeschützt), Imageprobleme der Kirchen sowie den demografischen Wandel und den Verlust kirchlicher Mitglieder. Sogenannte moderne und alternative Bestattungsformen wie Feuerbestattungen und Friedwälder sind eine ernstzunehmende Konkurrenz. Es wird damit gerechnet, dass zwei Drittel der Fläche auf Friedhöfen bis 2050 nicht mehr gebraucht werden. Das liegt vor allem daran, dass immer weniger Menschen Erdgräber wollen (teilweise nur noch 20 Prozent), und dadurch viel Fläche auf den Friedhöfen frei wird. Es ist daher dringend notwendig, Pläne für die jetzt schon immer leerer werdenden Friedhöfe zu machen.

    Trotz aller Klagen wurde aber auch klar, dass viele Friedhöfe kaum wirtschaftlich betrieben wurden und es wenig zusätzliche Einnahmequellen außer der Friedhofsgebühren gibt. Ich war überrascht, als ich erfahren habe, dass Friedhöfe nicht durch Kirchensteuern finanziert werden. Als Argument wurde genannt, dass die Kirchen öffentliche Pflichtaufgaben übernehmen und die Kirchensteuern deshalb nicht zweckentfremdet werden dürfen. Ich frage mich, ob den Kirchen der Tod so wenig wert ist und was die Mitglieder dazu sagen.

    Zudem wurde klar, dass viele Bürger*innen und Bestatter*innen nicht wissen, was kommunale und kirchliche Friedhöfe alles bieten, weil diese kaum Öffentlichkeitsarbeit leisten. Es fehlen auch vielerorts innovative Ideen, um die Friedhöfe für die Öffentlichkeit attraktiver zu machen.

    Alle waren sich einig, dass Friedhöfe wieder mehr als wichtige Bestandteile unserer Gemeinschaft wahrgenommen werden sollten. Immer mehr Friedhofsverwaltungen verstehen, dass der Trend in Richtung öffentlicher Friedhöfe geht, die Orte der Rituale und Gemeinschaft für alle Bürger*innen sind, unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit.

    Ich kann dem nur zustimmen, denn ich bin in einer Großstadt aufgewachsen und für mich sind Friedhöfe eine grüne Lunge und ein Ort der Ruhe in der Stadt. Schon als Kind bin ich gerne mit meinen Großeltern auf den Waldfriedhof gegangen, wo unsere Vorfahren liegen. Ich habe Eicheln gesammelt, bin den Eichhörnchen hinterhergerannt und habe mir die Namen der Gräber angeschaut. Außerdem erinnern uns Friedhöfe ständig an eine Realität, die viele, vor allem privilegierte Menschen im Alltag gerne verdrängen: dass jedes Leben einmal endet.

    Ich habe auf der Tagung mehrfach gehört, dass „Bestattungskultur ein Spiegel der Gesellschaft ist“. Die Art und Weise, wie Menschen ihre Toten bestatten, ist ein direktes Abbild der gesellschaftlichen Werte. Jedoch habe ich wenig Bewusstsein dafür gespürt, dass Deutschland eine Einwanderungsgesellschaft ist, deren Bevölkerung von verschiedensten Bestattungskulturen und -bedürfnissen geprägt ist.

    Friedhöfe sind weltweit zentrale Orte, an denen man trauern, sich erinnern und zusammenkommen kann. In vielen Kulturen und Religionen haben Erdgräber und Friedhöfe nicht an Bedeutung verloren und der Anteil dieser Menschen in Deutschland wächst stetig. Viele Gemeinschaften, vor allem auch mit migrantischem Hintergrund, schätzen die Möglichkeit, ihre eigenen Rituale und Traditionen zu pflegen.

    Einige hier aus der Newsletter-Community haben mir geschrieben, dass sie aus religiösen Gründen keine Zugänge zu den Friedhöfen haben, die direkt in ihrer Nähe sind. Ich habe schon aus allen Teilen Deutschlands gehört, dass es nur einen einzigen (wenn überhaupt) Friedhof für muslimische Gräber oder andere Religionen in der Stadt gibt und sie deshalb große Strecken zurücklegen müssen, um ihre Verstorbenen zu besuchen und zu betrauern. Ich frage mich, ob diese Realitäten genügend mit in die Kalkulationen und Zukunftspläne der kommunalen und kirchlichen Friedhofsverwaltungen einbezogen werden. Denn das sollten sie.

    Es wäre nicht nur ökonomisch und ökologisch, sondern auch gesellschaftlich gewinnbringend, Friedhöfe für die Öffentlichkeit stärker zu öffnen und inklusivere und transkulturelle Räume zu schaffen. Selbst wenn religiöse und institutionelle Bedürfnisse zurückgehen, gibt es für viele im Tod immer noch ein starkes rituelles und spirituelles Bedürfnis, dem Friedhöfe gerecht werden können und müssen.

    Hast du Gedanken, Fragen, Anmerkungen oder Themenvorschläge, die dir beim Lesen dieses Newsletters kamen oder die du gerne im Newsletter sehen würdest? Sei ehrlich!

    Schreibe mir gerne deine Antworten an anjuli@kohero-magazin.de oder über Instagram @deathindiaspora. Ich antworte auf jede Nachricht und freue mich, dich kennenzulernen!

    Liebe Grüße

    Deine Anjuli

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  • Die Ellerstraße – Marokko im Herzen von NRW

    Wer die Ellerstraße besucht, taucht in eine Welt der Sinne ein: Der Duft von gegrilltem Lamm, süßem Minztee und Gewürzen erfüllt die Luft. Marktstände und Geschäfte säumen die Straßen und bieten eine bunte Vielfalt an Oliven, Datteln und traditionellen marokkanischen Produkten. Menschen unterhalten sich auf Arabisch und Tamazight, während sie durch die lebhaften Straßen schlendern. Doch ein Blick auf ein Straßenschild verrät: Wir befinden uns nicht in einem marokkanischen Souk, sondern mitten in Düsseldorf.

    Arabisch auf dem Straßenschild 

    Dieses Straßenschild der Ellerstraße trägt nicht nur den vertrauten deutschen Namen, sondern auch arabische Schriftzeichen: „شارع إلَرْ“. Es ist ein kleines, aber symbolträchtiges Detail, das zeigt, wie tief die marokkanische Kultur im Viertel Oberbilk verwurzelt ist. Oberbilk, Heimat vieler marokkanischer Familien, ist längst für seine arabisch und tamazigh geprägten Märkte, Restaurants und Geschäfte bekannt. Mit der offiziellen arabischen Beschriftung auf dem Straßenschild wird diese kulturelle Vielfalt nun auch im Stadtbild gewürdigt.

    Die Ellerstraße ist heute das Herzstück der marokkanischen und arabischen Gemeinschaft in Düsseldorf. Hier reihen sich dutzende Geschäfte, Restaurants und Cafés aneinander, die authentische Produkte aus der arabischen Welt anbieten. Besucher kommen aus umliegenden Städten wie Duisburg, Essen und Dortmund, um in den Läden einzukaufen und die vielfältige marokkanische Küche zu genießen. Die Restaurants servieren Spezialitäten wie Harira, die berühmte marokkanische Suppe, und Lamm-Tajine, was der Straße den Spitznamen „Nador-Straße“ eingebracht hat – benannt nach der nordmarokkanischen Stadt, aus der viele Ladenbesitzer*innen stammen.

    Das eigene Land mitgebracht 

    Für die marokkanische Gemeinschaft, die seit den 1960er und 1970er Jahren Teil der Stadt ist, ist die Ellerstraße weit mehr als nur ein Einkaufsziel. Sie ist ein Treffpunkt und ein Ort der Begegnung, an dem Traditionen gepflegt und weitergegeben werden. Das beobachtet auch Ladenbesitzer Mohammad. Er migrierte vor über 40 Jahren nach Deutschland. „Als ich damals kam, gab es hier nur ein Geschäft. Heute ist die Ellerstraße voll mit marokkanischen Cafés, Restaurants, Konditoreien, Büchershops bis zu Möbelgeschäften“, erzählt er. In seinem Laden gibt es neben Gewürzen, Arganöl sowie Olivenöl auch marokkanisches Kunsthandwerk – Produkte, die für viele eine wichtige Verbindung zu ihrer Heimat darstellen.

    Zwischen zwei Welten

    Die Geschichte der marokkanischen Migrant*innen in Düsseldorf begann vor mehr als einem halben Jahrhundert, als viele von ihnen als Gastarbeiter*innen in die Stadt kamen. Deutschland benötigte damals dringend Arbeitskräfte, und so machten sich viele Marokkaner*innen auf den Weg, um sich hier ein neues Leben aufzubauen. Was als vorübergehender Aufenthalt geplant war, entwickelte sich für viele zu einem dauerhaften Neuanfang. Heute sind die Kinder und Enkel der ersten Generation fester Bestandteil der deutschen Gesellschaft, besuchen deutsche Schulen und Universitäten, während sie gleichzeitig ihre marokkanischen Wurzeln bewahren.

    Die Ellerstraße ist ein Ort, an dem diese Verbindung von Tradition und Moderne sichtbar wird. Hier leben Deutsche und Marokkaner*innen Tür an Tür, und die Grenzen zwischen den Kulturen verschwimmen zunehmend. „Unsere deutschen Nachbarn kommen oft in den Laden und kaufen Minze oder Olivenöl“, erzählt der Mitarbeiter Nabil lachend. „Manchmal sogar mehr als die Marokkaner!“

    Die Heimat im Herzen getragen 

    Neben den Geschäften und Restaurants gibt es auch Moscheen und Hammams, die im einzigartigen Flair der marokkanischen Architektur gestaltet sind. Besonders die Moscheen spielen eine zentrale Rolle im sozialen Leben der Gemeinschaft, da sie nicht nur religiöse Orte sind, sondern auch Räume für Hochzeiten, Feste und andere gesellschaftliche Anlässe bieten. „Die Moschee ist das lebendige Herz unserer Gemeinschaft – hier verschmelzen Glaube, Kultur und Leben zu einem Puls, der uns alle verbindet“, sagt Salim, ein regelmäßiger Besucher der Omar-ibn-Al-Khattab-Moschee.

    Ein weiteres Highlight des Viertels ist das „Café Mamounia“. Dieses Café am Beginn der Ellerstraße ist mehr als nur ein Ort, um Kaffee oder Tee zu trinken. Es ist ein Treffpunkt, an dem Menschen sich versammeln, um gemeinsam Fußball zu schauen, über aktuelle Ereignisse zu diskutieren oder einfach bei einem süßen Gebäck den Alltag zu vergessen. „Es fühlt sich an wie zu Hause“, sagt Mohammad, ein Stammgast, während er einen Minztee genießt.

    Tradition trifft Moderne

    In unmittelbarer Nähe hat sich zudem ein neues Highlight etabliert: ein traditioneller Hamam. Der Eingang ist kunstvoll aus Kupfer und andalusischen Ornamenten gestaltet. Hier können Besucher*innen bei Dampfbädern und traditionellen Massagen entspannen und die jahrhundertealte Badekultur hautnah erleben. „Sobald man die Türschwelle übertritt, fühlt man sich, als wäre man weit weg – mitten im Herzen des Orients“, schwärmt Khaled, ein begeisterter Gast.

    Die Kombination aus der Ellerstraße und der nahegelegenen Kölner Straße, die ebenfalls für ihre kulturelle Vielfalt bekannt ist, zeigt das multikulturelle Gesicht Düsseldorfs in seiner schönsten Form.

    In Zeiten, in denen das Thema Migration oft polarisiert, bietet die Ellerstraße ein anderes Bild: Sie zeigt, wie Kulturen friedlich und bereichernd nebeneinander existieren können. Die arabischen Schriftzeichen auf dem Straßenschild sind mehr als nur eine symbolische Geste. Sie stehen für die Verwurzelung der marokkanischen Kultur in Düsseldorf und erinnern daran, dass kulturelle Identität dynamisch ist – ein Prozess des ständigen Austauschs und der Weiterentwicklung. Hier in Oberbilk zeigt sich, dass kulturelle Vielfalt nicht nur Herausforderungen, sondern auch große Chancen und Bereicherungen für alle Seiten mit sich bringt.

     

  • Ein Stück Heimat in der Ferne: Das migrantische Leben in Dortmund

    Geschäftiges Treiben, das von unterschiedlichen Düften, lebhaften Gesprächen und bunten Märkten geprägt ist. Eine Atmosphäre, die an die belebten Straßen von Damaskus, Marrakesch und Beirut erinnert. Dortmund ist ein faszinierendes Beispiel für multikulturelles Leben in Deutschland. Besonders in der Nordstadt, wo sich Münsterstraße und Mallinckordtstraße kreuzen, bei Vielen als die „Straße der Araber“ bekannt.

    Traditionelles Brot aus dem Herzen Kurdistans

    Schon am frühen Morgen strömt der verführerische Duft von frisch gebackenem Fladenbrot durch die Straßen und zieht Passanten an. Die Bäckerei „Ahmad“ ist ein echter Schatz für die, die traditionelles Brothandwerk suchen. Hier wird das Brot frisch und traditionell in einem Lehmofen gebacken. Die Kunden können nicht nur beobachten, wie die Teiglinge kunstvoll geformt werden, sondern auch die einzigartige Atmosphäre genießen, die die kurdische Gastfreundschaft widerspiegelt. Die Vielfalt an Brotsorten macht die Bäckerei „Ahmad“ zu einem unverzichtbaren Teil des kulinarischen Lebens der Stadt.

    Im nahegelegenen Lebensmittelladen „Khair al-Sham“ tummeln sich Menschen, um frisches Brot, Gemüse und Gewürze zu kaufen. Die Aromen von Kardamom und Minze wecken Erinnerungen an die Heimatländer der arabischen Kund*innen und Verkäufer*innen und schaffen ein belebtes Ambiente, das an die Märkte im Nahen Osten erinnert.

    Marokkanische Begegnungsstätten

    Ein beliebter Treffpunkt für die marokkanische Gemeinschaft ist das Café „Al Riff“. Hier wird traditionell zubereiteter Minztee mit süßem marokkanischem Gebäck serviert. Für Osman, einen 21-jährigen Wirtschaftsinformatik-Studenten aus Marokko, ist der Besuch des Cafés ein Rückzugsort: „Hier vergesse ich den Stress des Studiums und fühle mich, als wäre ich zurück in den Straßen meiner Heimat.“

    Im Café „Al-Firdous“, einem weiteren beliebten Ort, tauschen junge Menschen Geschichten über ihr Leben in Deutschland aus und feiern ihre Traditionen. Reda, ein 22-jähriger BWL-Student, beschreibt die Cafés als „Stücke von Marokko in Dortmund“, wo man sich mit anderen verbindet.

    Ägyptische Köstlichkeiten in Dortmund

    Neben syrischen und marokkanischen Einflüssen hat auch die ägyptische Küche in Dortmund ihren Platz gefunden. Im Restaurant „Beim Ägypter“ können Gäste das traditionelle Gericht Koshari genießen, eine herzhaft-pikante Mischung aus Linsen, Reis, Nudeln und Tomatensauce. Dieses Gericht bringt die Aromen Ägyptens nach Dortmund und ergänzt die kulinarische Vielfalt der Stadt.

    Kulinarische Höhepunkte: Ein Geschmack von Heimat

    Die arabische Küche ist ein zentraler Bestandteil des Lebens in Dortmunds Nordstadt. Im Restaurant „Golden Grill“ können Gäste ein herzhaftes Frühstück genießen, das Gerichte wie Falafel, Foul, Hummus und Fatteh umfasst – alles Speisen, die viele Syrer*innen und Libanes*innen an ihre Kindheit erinnern. Die Restaurants in diesem Viertel bieten nicht nur kulinarische Erlebnisse, sondern auch einen Ort, an dem sich die Besucher*innen ihrer Heimat nahe fühlen können.

    Darüber hinaus haben die Restaurants „Shami Chicken“ und „Bethlehem“ in der Stadt an Popularität gewonnen. Besonders die Shawarma der beiden Etablissements zieht täglich Gäste aus verschiedenen Kulturen an. Im Geschäft „Der König“ finden sich auch orientalische Süßwaren wie Kunafa, Galaktoboureko und Baklava, die die Atmosphäre eines traditionellen Basars nach Dortmund bringen.

    Orte der Begegnung und Integration

    Die Münsterstraße bietet nicht nur kulinarische Highlights, sondern auch praktische Dienstleistungen, die auf die arabische Gemeinschaft zugeschnitten sind. Apotheken, Arztpraxen und Gesundheitszentren bieten Beratung auf Arabisch, Türkisch und anderen Sprachen an. Das hilft Neuankömmlingen, sich in ihrem neuen Zuhause schnell zurechtzufinden. Die Stadt Dortmund fördert diese Integration, indem sie öffentliche Informationen in mehreren Sprachen bereitstellt. Die Vielfalt in der Stadt wird hier eindrücklich sichtbar.

    Gemeinschaft und Sport: Begegnungen über alle Kulturen hinweg

    Ein wichtiger Ort für die arabische und internationale Gemeinschaft ist der Max-Michallek-Platz, wo Kinder und Jugendliche aus aller Welt im neuen Fußballkäfig spielen. Dieser Platz symbolisiert den Zusammenhalt und die Freude am Sport. Im Café „Barcelona“ verfolgen Fußballfans gemeinsam spannende Spiele auf großen Bildschirmen, was das Gemeinschaftsgefühl stärkt.

    Dortmund: Ein attraktives Zuhause für viele

    Für die migrantische Community ist Dortmund mehr als nur eine Stadt – es ist ein Ort, an dem sie ihre Kultur leben und gleichzeitig Teil der deutschen Gesellschaft sein können. Die Kombination aus Cafés, Märkten und Restaurants schafft eine Atmosphäre, in der die Menschen ein Stück ihrer Heimat in der Ferne finden.

    Durch die Begegnung verschiedener kultureller Einflüsse zeigt sich, wie Kulturen gemeinsam eine Stadt bereichern können. Dortmund, insbesondere die Münsterstraße, ist ein lebendiges Beispiel dafür, wie Vielfalt und Integration Hand in Hand gehen – und wie diese Vielfalt das Stadtbild prägt.

  • Ein Abend voller Umarmungen – “Ahmadjan und der Wiedehopf”

    Ein altes Fabrikgebäude mit hohen Decken und guter Akustik im Hamburger Stadtteil Ottensen. Etwa 150 Menschen haben sich im Hauptsitz des Carlsen Verlags versammelt, um gemeinsam die Veröffentlichung des Buches „Ahmadjan und der Wiedehopf“ zu feiern. Neben ersten Einblicken in das Buch erwarten sie afghanische Musik mit Sitar, einem Saiteninstrument, und Gesang. Gegen den Hunger gibt es verschiedene afghanische Kleinigkeiten – und Butterkuchen. Matthias Heller vom NDR moderiert.

    Die Graphic Novel handelt vom Leben des Vaters Ahmadjan, geboren im Pandschir-Tal in Afghanistan, dem Tal der fünf Löwen. Zuerst geht der junge Ahmadjan nach Kabul an ein Internat. In den 70ern, mit gerade einmal 19 Jahren, reiste er von Afghanistan nach Deutschland, um Künstler zu werden. „Ich brauchte damals kein Visum“, sagt der fast 70-Jährige und blickt in viele überraschte Gesichter im Publikum. „Das muss man sich mal vorstellen“, sagt er.

    Die Machtübernahme der Taliban im August 2021 trifft die Familie Amini schwer. Der Vater verarbeitet es künstlerisch, will mit einem Auto und einem Videoprojektor durch ganz Hamburg fahren und allen Menschen zeigen, was in seinem Land passiert. Maren stoppt ihn. „Ich wollte eigentlich nur, dass du aufhörst, diese Videos zu gucken“, beschreibt sie die Situation vor drei Jahren mit schwerer Stimme.

     

    Wie das Buch entstand

    Das ist der Auftakt für ihre gemeinsame Arbeit am Buch. Das Vater-Tochter-Duo will den Leser*innen das Land näher bringen, das viele Deutsche nur aus den Nachrichten kennen. Doch nicht nur das: „Mit dem Buch zeigen wir unsere Solidarität mit den Künstlern aus Afghanistan, die ihre Kunst nicht zeigen können“, fügt Maren hinzu. Diese Freiheit wurde den Menschen vor Ort genommen. Maren selbst war noch nie in Afghanistan. Ein Flugticket habe sie vor vielen Jahren storniert, weil sie ein „Angsthase“ sei. Ob sie nochmal die Chance bekommen wird, das Land ihres Vaters kennenzulernen, ist heute ungewiss.

    Die Arbeit am Buch beginnt damit, dass Maren sich an alte Anekdoten ihres Vaters erinnert und Fragen stellt. „Komm, ich erzähl´ dir alles“, habe Ahmadjan daraufhin gesagt. Als sich Vater und Tochter das erste Mal zusammensetzen, treffen sie sich um neun Uhr morgens. Bis Ahmadjan seine Erzählung beendet, ist es 18 Uhr. Zeit und Raum um sich herum hätten sie völlig vergessen, auch nicht zu Mittag gegessen. Die Zusammenarbeit sei sehr harmonisch gewesen. „Wir haben nicht gestritten“, sagt Maren. Einmal die Woche treffen sich die beiden, um entstandenes Material zu besprechen und Neues zu planen.

    Ihre Zeichnungen hält Maren bewusst reduziert, damit Leser*innen sich darin wiedererkennen können. „Mit dem Buch will ich die innere Welt zeigen“, sagt sie. Die Gemeinsamkeiten der Gefühlswelten aller Menschen sollen dadurch sichtbar gemacht werden. Das gelingt ihr, findet auch Moderator Matthias Heller.

    Welche Zeichnungen im Buch nun von Maren sind, welche von Ahmadjan, ist auf den ersten Blick nicht ersichtlich. Vielleicht ist es nicht von Bedeutung. Vielleicht ist es auch nicht klar zu trennen. Das Titelbild, beschreibt Maren, haben sie in Zusammenarbeit entwickelt. Aus einer unter Ahmadjans Arm eingeklemmten Kunstmappe sprießen unzählige Farbstreifen, die meterhoch über ihn hinausragen und an deren Ende sich kleine Vogelköpfe bilden. Auch der Wiedehopf ist erkennbar, wenn man ganz genau hinsieht.

    Ahmadjan und der Wiedehopf
    Carlsen Verlag

     

    Früher schenkte Maren den Bildern ihres Vaters nicht viel Aufmerksamkeit. Sie hingen eben im Hintergrund. Als sie älter wurde, entwickelte sie Interesse an der Herkunft des Vaters, ihren eigenen Wurzeln. Maren fing an, Farsi zu lernen. Als erstes Projekt übersetzten ihr Vater und sie das Lied „Dile Aadam“ auf Deutsch. „Das Herz des Menschen“ ist ein Gedicht des afghanischen Poeten Sakhi Rahi.

    Das Symbol des Vogels

    Einen roten Faden durch das Buch ziehen Maren und Ahmadjan anhand der „Konferenz der Vögel“, einer persischen Gedichtesammlung aus dem 12. Jahrhundert von Fariduddin Attar. Zeitlos findet Maren die Erzählung. In der „Konferenz der Vögel“ suchen die Vögel über sieben Täler hinweg nach ihrem König Simurgh, der sie aus dem Elend herausführen soll. Die Welt der Vögel ist erfüllt von Kriegen, Unruhen, Naturkatastrophen, Armut.

    Ahmadjans Lebensweg wird parallel dazu über sieben Täler hinweg beschrieben. Im Buch begegnen dem Vater verschiedene Vögel, die ihn begleiten. Durchgehend an seiner Seite ist der Wiedehopf. Dieser sei ein „Symbol für ein Sehnsuchtsgefühl“, erklärt Maren. Und: „Der Wiedehopf treibt meinen Vater an, motiviert ihn, weiterzumachen, weiterzugehen.“ Die Idee, das Buch anhand der „Konferenz der Vögel“ auszurichten, kam Maren durch die aktuellen Arbeiten des Vaters, die mit den eröffnenden Worten im Buch beschrieben werden: „Papa hat 1000 Vögel gemalt, denn die Welt gerät aus den Fugen.“

     

    Credits: Carlsen Verlag

     

    „Papa“, so nennt Maren ihren Vater über den Abend hinweg, wenn sie ihn anspricht. Ihre Stimme ist warm.

    Was der Höhepunkt der Arbeit am gemeinsamen Buch gewesen sei, fragt eine Person aus dem Publikum. „Die Kommunikation mit meiner Tochter“, sagt Ahmadjan. „Der heutige Abend“, ergänzt Maren. Damit unterstreichen beide eine Herzlichkeit, die man schon beim Ankommen im Raum spüren konnte. Genauso wie in den vielen Umarmungen der Anwesenden und in Marens Antworten. Diese sind oft einsilbig, fast gedankenverloren. Nur bei den Dankesbekundungen fallen ihr immer noch mehr Menschen ein, die erwähnenswert sind. Dann sagt sie: „Wenn ihr wollt, singe ich für euch.“ Und bevor eine Rückmeldung aus dem Publikum kommen kann, ertönt die erste Silbe von „Dile Aadam“, a cappella, mit klarer Stimme und ohne einen Funken von Nervosität vorgetragen. Mit geschlossenen Augen meint man, das Tal der fünf Löwen sehen zu können.

  • Die 4. Muslimische Kulturwoche in Berlin: Vielfalt, Sichtbarkeit & Community

    Arabische Kalligraphie, indonesische Kulinarik, eine islamische Interpretation von Kant und Volksmärchen vom Balkan all das erlebten Besucher*innen der 4. Muslimischen Kulturwoche in Berlin. Vom 28. September bis zum 6. Oktober besuchten Interessierte unter dem Motto „Näher kommen & Frieden schaffen“ verschiedene Workshops, Konzerte, Ausstellungen und vieles mehr: Über die Stadt verteilt boten über 30 Organisationen Angebote an. Der Regisseur Mirza Odabasi führte etwa in die Kunst des Filmemachens ein und es fand ein muslimischer Poesie-Abend statt. Bei einem interreligiösen Stammtisch konnte man sich über „Die Kunst des Zusammenlebens“ austauschen und für Kinder spielte zum Beispiel ein türkischsprachiges Schattentheater.

    Am Montag, dem 30. September, wurde die Muslimische Kulturwoche mit der Veranstaltung „Rhythmen der Welt“ eröffnet. In einem Konzert präsentierten verschiedene Künstler*innen  Musik aus verschiedenen muslimischen Kulturen. Das Zusammenspiel beschreiben Zuschauer*innen später als sehr harmonisch, obwohl sich die meisten der Musikschaffenden vor der Veranstaltung nicht kannten. Berlins Kultursenator Joe Chialo hielt ein Grußwort und die Festrede kam von dem Religionsphilosophen Prof. Dr. Milad Karimi.

     

    Die Kulturwoche als Ort der Begegnung

    Im Laufe der Woche zeigen sich ganz unterschiedliche Gesprächsbedarfe bei den Besucher*innen. An einem Abend in der St. Jacobi Kirche offenbarten sich diese sehr eindrücklich. Dr. Bettina Gräf und Julia Tieke stellten das Buch „111 Orte in Berlin, die vom Islam erzählen“ vor. In dem anschließenden Gespräch begegneten sich verschiedene Positionen in offener Atmosphäre, die sich abseits der Muslimischen Kulturwoche so wohl nicht getroffen hätten: Während sich die einen Teilnehmenden Sorgen um wachsende Diskriminierung auch aus der Politik heraus machten, kämpften die anderen mit Misstrauen zwischen Gruppen oder damit, die eigenen Vorurteile zu überwinden. Eine Mini-Buchmesse im Altarraum der Kirche zeigte anschließend Bücher zum Thema Islam und Koranübersetzungen, auch eine Kunstausstellung befand sich dort.

    Die Kulturwoche solle einen Zugang zu muslimischer Kultur ermöglichen und in diesem Raum Austausch innerhalb der muslimischen Community und über diese hinaus schaffen, erklärt Levent Kılıçoğlu vom Forum Dialog e.V. und Leiter der Muslimischen Kulturwoche. „Der große Andrang freut uns sehr für die Sichtbarkeit von muslimischen Communities in Berlin“, meint Kılıçoğlu. Bei der Repräsentation von Muslim*innen solle vor allem ihre Vielfalt betont werden. Die Woche stelle daher einen kulturell definierten Islam dar, im Gegensatz zu einem politisch oder theologisch definierten. Daher sei es toll, dass in jedem Jahr mehr Organisationen an der Muslimischen Kulturwoche teilnehmen, die verschiedene Länder und Glaubenspraxen repräsentieren.

    Entstanden sei das Projekt durch die Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt, auf Anstoß von Hartmut Rhein, dem Beauftragten für Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften. Forum Dialog e.V. und I-ISIN e.V. sind Träger und Organisatoren der Woche. Die Förderung der Veranstaltung erfolgt weiterhin durch die Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt. Vor allem jedoch lebe die Muslimische Kulturwoche von der „unermüdlichen Unterstützung unserer Ehrenamtlichen, die den reibungslosen Ablauf der Woche erst möglich gemacht haben“, so Kılıçoğlu. Es freue ihn überaus, jedes Jahr neue Gesichter zu sehen, die das Projekt tatkräftig unterstützten. Wer Lust habe, sich zu engagieren, könne sich einfach melden.

     

    „Ein voller Erfolg“

    Alle Veranstaltungen sind kostenlos, jedoch müsse man sich aus organisatorischen Gründen anmelden, berichtet Rümeysa Yılmaz, ebenfalls von Forum Dialog e.V. Obwohl die Räumlichkeiten oft nicht sehr groß seien, werde in der Regel niemand abgewiesen. Und wenn doch zu einem Programmpunkt sehr viele Menschen auftauchen? „Dann wird’s kuschelig“, lacht Yılmaz. Zu einem indonesischen Abend seien diese Woche statt der angemeldeten 30 an die 100 Gäste gekommen.

    Die Zahl der teilnehmenden Organisationen ist von zehn im letzten Jahr auf 30 in diesem Jahr stark angewachsen. Auch die Zahl der Veranstaltungen hat sich von circa 20 im letzten Jahr zu über 40 gut besuchten Programmpunkten in der diesjährigen Muslimischen Kulturwoche sehr gesteigert. Abschließend resümiert Kılıçoğlu: „Die diesjährige Muslimische Kulturwoche war ein großer Erfolg. Wir hatten gut besuchte Veranstaltungen und ein vielfältiges Teilnehmerprofil. Außerdem haben wir neue Formate, wie den Malwettbewerb, den Podcast und die Mini-Buchmesse, ins Programm aufgenommen. Mit diesen Erfahrungen werden wir bestimmt im nächsten Jahr wieder ein Stück wachsen und vielleicht neue Formate aufnehmen.“

     

    Gemeinsame Gebete von Muslim*innen, Jüd*innen und Christ*innen

    Den Abschluss fand die Woche am Sonntag, dem 6. Oktober, mit einem interreligiösen Friedensgebet in der Wilmersdorfer Moschee. An diesem historischen Ort, der ältesten erhaltenen Moschee Deutschlands, kamen an diesem Tag Rabbiner Andreas Nachama, Pfarrerin Marion Gardei und Imam Kadir Sanci von dem Projekt „House of One“, sowie Imam Amir Aziz von der Wilmersdorfer Moschee zusammen. Das Thema war „Gemeinsam gegen Gewalt – für Frieden in der Welt“.

    Der helle, freundliche Raum war gut gefüllt, trotz aufgestellter Stühle saß die Mehrzahl der Leute auf dem Teppich, mehrere Kameras nahmen auf. Alle vier Geistlichen bezogen sich angesichts des Datums auf den Überfall der Hamas vom 7. Oktober 2023 und den Krieg in Palästina, Israel und Libanon. Imam Amir Aziz eröffnete die Veranstaltung mit einem Gebet „von Herzen für Frieden, Liebe und Harmonie für die ganze Welt.“ Es folgten verschiedene Gebete und Suren auf Arabisch, Bittgebete auf Hebräisch und deren Übersetzungen sowie Zitate aus der Bibel.

    Imam Kadir Sanci sprach unter anderem die Sure 49, Vers 10 bis 13 und sagte, dass Unterschiede zwischen den Menschen von Gott gewollt seien, denn er habe sie so geschaffen, und hoffte auf ein „Leuchtfeuer der Hoffnung“, das von dem heutigen gemeinsamen Gebet ausgehen solle. Rabbiner Andreas Nachama erklärte die hebräische Bedeutung von Frieden, die immer auch Frieden jenseits der Grenzen einschließe und erinnerte an den Auszug der Israeliten aus Ägypten. Gott habe die Verfolger zwar im Meer ertrinken lassen, habe allerdings den Engeln verboten, fröhlich zu sein, da der Tod irgendeines seiner Geschöpfe immer Anlass zur Trauer sei. Pfarrerin Marion Gardei zitierte die Bergpredigt und mahnte Zivilcourage an. Zum Schluss reichten sich alle Geistlichen der verschiedenen Religionen die Hände in einer Geste der Verbundenheit.

    Am Abend folgte die Abschlussveranstaltung, ein Konzert des Ensembles Al Firdaus in der Universität der Künste. Wiederum war der Saal gut besetzt und die Mischung aus andalusischer Musik und Sufi-Klängen und Gesang erinnerte an die Verschränkung der Traditionen verschiedener Kulturen und Religionen. Die 2012 von Ali Keeler in Granada gegründete Gruppe umfasst sieben Personen aus Marokko, Spanien und England und ziehe ihre Inspiration aus dem Nicht-Wahrnehmbaren, so Keeler in seiner Moderation des Konzerts. Der hohe Joseph-Joachim-Saal der Universität der Künste war erfüllt von spirituellen Klängen und vielleicht spürte der eine oder die andere den Frieden und die Verbundenheit, die diese vierte Muslimische Kulturwoche vermitteln wollte.

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