Schlagwort: Interview

  • Dana von Suffrin im Interview

    Vor einigen Wochen habe ich den für den diesjährigen Deutschen Buchpreis nominierten Roman „Nochmal von vorne“ der jüdisch-deutschen Autorin Dana von Suffrin vorgestellt. Anlässlich des ersten Jahrestags des Hamas-Angriffs auf Israel und des Beginns eines verheerenden Kriegs habe ich mit ihr über Antisemitismus in der deutschen Kulturszene sowie über ihre Arbeit und ihr Schreiben gesprochen. Von Suffrins Texte zeichnen sich durch einen bitteren Humor aus, der die Leser*innen dazu bringt, ihre Bücher kaum aus der Hand legen zu können. Auch über diesen speziellen Humor haben wir gesprochen.

    In deinen beiden Romanen steckt viel Humor, aber auch Melancholie. Welche Rolle spielt der Humor für dich als literarisches Mittel, um schwierige Themen wie Migration, Verlust und Identität zu verarbeiten?

    Ich habe nur eine einzige Erzählung geschrieben, die ziemlich humorlos ist. Ich halte es da wie Freud, der sagt, dass Humor „die siegreich behauptete Unverletzlichkeit des Ichs“ herstellt. Meine Protagonist*innen sind ja immer völlig beschädigt und angegriffen, so erhalten sie ein wenig Würde zurück, finde ich.

    Wie erlebst du den deutschen Literaturbetrieb, insbesondere als Autorin mit jüdischer Identität? Gibt es Entwicklungen in den letzten Jahren, die du als positiv oder herausfordernd empfindest?

    Ich schwanke zwischen Entsetzen und Begeisterung. Vor dem 7. Oktober habe ich mich immer beschwert, dass immer eine sehr typische, ja, stereotype Darstellung von Juden in der Kunst gewünscht wird: Juden als Opfer, als weise, kluge, einsichtige Menschen, gerne auch tot. Nervige, anstrengende, lustige Juden fand man nicht so gut. Das ist aber nur die inhaltliche Ebene, ich habe es öfter erlebt, dass man sich über meine Arbeit beschwert hat, zum Beispiel war der Held meines ersten Romans manchen Lesern zu unverschämt, zu uneinsichtig, zu negativ.

     

    „Familie formt uns, sie verletzt uns, sie schafft uns, sie zerstört uns“

     

    Nach dem 7. Oktober 2023 hat sich die Diskussion um jüdisches Leben und Antisemitismus in Deutschland stark verändert. Wie nimmst du die Rolle der deutschen Kulturszene in diesen Debatten wahr, und welche Verantwortung trägt die Literatur aus deiner Sicht?

    Ich war schon ein bisschen entsetzt, als ich gesehen habe, dass diverse Kolleginnen und Kollegen, quasi als die israelischen Leichen noch warm waren, einem entsetzlichen Antisemitismus freien Lauf gelassen haben. Das hätte ich von Intellektuellen nicht erwartet. Ich finde schon, dass man von Literaten erwarten kann, dass sie eine komplexe Situation angemessen bewerten, statt sich als moralische Institution aufzuspielen und Propaganda zu verbreiten. Die Literatur sollte dieser Anforderung gerecht werden, aber die Leute, die sie schreiben, sind halt auch nur Menschen.

    Beide deiner Romane beschäftigen sich mit komplexen Familiengeschichten und Neuanfängen. Was treibt dich an, immer wieder auf diese Themen zurückzukommen, und inwiefern spiegeln sie auch deine eigene Biografie wider?

    Ich finde: Familie ist das interessanteste Thema der Welt, wo sonst haben wir einen so bekloppten, aber auch unentrinnbaren Mikrokosmos noch? Familie formt uns, sie verletzt uns, sie schafft uns, sie zerstört uns, in ihr passieren die lustigsten und die traurigsten Ereignisse – das ist natürlich für eine Autorin ein geniales Thema, finde ich. Ich schreibe nicht autofiktional, aber ich arbeite gerne mit dem Milieu, das ich gut kenne.

    Könntest du uns zwei oder drei literarische oder non-fiction Werke nennen, die dein Schreiben und deinen Werdegang als Autorin geprägt haben?

    Benny Barbasch, mein erster Sony; Natalia Ginzburg, Familienlexikon; Isaak Babel, Reiterarmee.

  • Im Spotlight: YASEMIN ŞAMDERELI

    Yasemin Şamdereli kennt man von ihrer wahnsinnig erfolgreichen Komödie „Almanya – Willkommen in Deutschland“. Mit „Samia“ hat sie jetzt ein Biopic über die somalische Leichtathletin Samia Yusuf Omar gedreht, die 2008 an den Olympischen Spielen in Peking teilnahm und vier Jahre später im Mittelmeer ertrank. Ich habe mit Yasemin Şamdereli im Rahmen des Filmfests München über die Verfilmung dieser unfassbaren Geschichte gesprochen.

     

    Yasemin, wann hast du zum ersten Mal von Samia und ihrer Lebensgeschichte erfahren?

    Ich muss zugeben, dass ich nichts von Samia gewusst habe. Erst als ich von den italienischen Produzenten kontaktiert wurde, habe ich von ihrer Geschichte erfahren. Der Film ist ja eine internationale Co-Produktion zwischen Deutschland und Italien. Mir wurde der biografische Roman „Sag nicht, dass du Angst hast“ von Giuseppe Catozzella geschickt, den ich dann mit meiner Schwester Nesrin gelesen habe. Wir waren beide total ergriffen, weil es schockierend und unglaublich traurig ist, dass jemand mit 17 Jahren das schafft, was Samia geschafft hat, und dann vier Jahre später im Mittelmeer ertrinkt. Für uns war sofort klar, dass wir alles dafür tun müssen, um diesen Film zu machen.

    Der Film ist in Zusammenarbeit mit der Filmemacherin Deka Mohamed Osman entstanden. Wie kann man sich das vorstellen?

    Nesrin und ich sind keine Somalierinnen, aber für uns war von Anfang an klar, dass der Film auf somalisch und mit somalischen Darsteller*innen gedreht werden muss. Anders hätten wir das gar nicht machen können. Es brauchte aber eine Person an unserer Seite, die diese Welt verstanden hat. Wir hatten das große Glück, dass wir Deka und ihre Familie in der Vorbereitungsphase in Turin getroffen haben. Deka war gerade dabei, selbst Film zu studieren. Ich hatte mal wieder mehr Glück als Verstand, so eine tolle Partnerin gefunden zu haben. Dadurch wurde uns vieles in der Vorbereitung und auch beim Drehen ermöglicht.

    Ich fand den Film sehr respektvoll im Umgang mit der somalischen Kultur und den Figuren, wo es in anderen deutschen Produktionen vielleicht mehr Vorurteile gegeben hätte. Wie seid ihr vorangegangen?

    Es hat geholfen, dass ich einen muslimischen Hintergrund habe. Ich verstehe also vieles von der somalischen Kultur, auch wenn ich türkische Wurzeln habe. Kultur ist immer etwas Vielfältiges, Menschen sind so komplex und wundervoll und es war mir ein großes Anliegen, Samias Familie so darzustellen, wie Familien überall auf der Welt vorhanden sind. Es gibt sehr religiöse Menschen, es gibt weniger religiöse Menschen und wir wollten zeigen, dass Samias Familie zwar auch muslimisch ist, aber sie kein Problem damit hat, dass eine Tochter Läuferin ist oder ihre andere Tochter singt. Sie sehen keinen Konflikt darin mit der Auslegung ihrer Religion.

    Und wir respektieren das aus dem Verständnis heraus, dass das eine ganz normale Familie ist, die genauso blöde Witze und Bemerkungen macht wie andere. Da wird rumgealbert, gestritten, gelacht und da wird auch sehr viel geliebt. Wir müssen unseren Blick und unser Herz öffnen, damit wir gar nicht erst auf die Idee kommen, dass es etwas gäbe, was uns alle voneinander unterscheidet.

    Auch bei der Vaterfigur in „Samia“ ist es sehr auffällig, wie lieb und verständnisvoll sie dargestellt ist, was an sich ja normal sein sollte. Aber bei anderen Filmen über diese Region und diesen Kulturkreis sind wir herbe männliche Charakterisierungen gewohnt.

    Absolut. Uns war ganz wichtig zu zeigen, dass man als Tochter einer muslimischen Familie Freiheiten bekommt. Das sind Freiheiten, die meine Familie mir gegeben hat. Wir wollten zeigen, dass viele muslimische Väter kein Problem damit haben, dass ihre Kinder ihren Weg gehen. Das heißt nicht, dass Eltern immer alles toll finden, was ihre Kinder machen. Es heißt einfach, dass Eltern auch diesen Schritt wagen. Unser Bruder war hier eine Referenz für uns. Das ist der liebste Mensch auf dem Planeten. Und dauernd müssen wir bei Filmen mit Bildern kämpfen, die ihn als muslimischen Mann besonders anpacken. Natürlich gibt es auch muslimische Männer, die nicht so sind wie Samias Vater, aber genauso gibt es ja auch den Deutschen, der durchdreht, weil seine Frau ihn verlassen hat. Sowas gibt es leider überall.

    Hattet ihr Kontakt zur echten Familie von Samia?

    Ich persönlich nicht, weil ich einfach nicht nach Somalia konnte, aber ja, wir haben Kontakt. Suad Osman, die Mutter von Deka und unserer Hauptdarstellerin Ilham, die war unglaublich wichtig für dieses Projekt. Samia hat zwar eine Schwester in Finnland, aber in Mogadischu war es gar nicht leicht herauszufinden, wo Samias Familie lebt. Also hat Suad für uns Leute gefragt und recherchiert. Nach einer wirklich langen Suche ist sie auf die Mutter und Samias Brüder gestoßen. Und hat denen von unserem Projekt erzählt, was wir machen wollen. Sie hat deren Segen für das Projekt eingeholt. Dadurch sind sie in das Projekt eingebunden, was uns natürlich wichtig war.

    Die Flucht von Samia ist ein zentraler Bestandteil ihres Lebens und auch des Films. Wie habt ihr sichergestellt, dass die Menschen nicht traumatisiert werden?

    Die Szenen auf dem Boot waren ganz hart für alle. Ganz viele Menschen, die als Statist*innen dabei waren, hatten ähnliches durchgemacht. Das hat natürlich viele getriggert. Wir hatten eine Psychologin am Set, weil bei vielen Darsteller*innen und Statist*innen sehr schreckliche Erinnerungen hochkamen. Diese Menschen haben wir natürlich rausgeholt und ihnen gesagt, dass sie nicht mitmachen müssen. Aber am nächsten Tag kamen viele wieder und sie hatten die Haltung, dass sie mitmachen möchten, weil andere Menschen den Film sehen und verstehen werden, was Flucht bedeutet – das hat sie motiviert. Sie haben es auch alle für Samia gemacht.

    Der Film erscheint in einem politisch sehr aufgeladenen Klima. Verstehst du „Samia“ auch als Statement auf Politik und Medien?

    Absolut. Es wird mit Zahlen und Statistiken so viel Angst gemacht. Dabei gibt es eigentlich nichts, was uns unterscheidet. Nur weil Menschen uns Angst machen, wir würden etwas verlieren, wenn Menschen hierher flüchten, dürfen wir uns nicht in die Irre führen lassen. Nur weil wir das Glück haben, irgendwo zu sein, wo vieles toll funktioniert, dürfen wir nicht unser Herz verschließen. Darum geht es im Film.

  • „Ich wollte diesen Charakter nicht verraten“

    Die Berliner Filmemacherin Aslı Özarslan hat an der Filmakademie Baden-Württemberg studiert und mit ihrem Dokumentarfilm „Dil Leyla“ auf Festivals Bekanntheit erlangt. Nun hat sie ihr Spielfilmdebüt gedreht und einen geliebten Roman, nämlich „Ellbogen“ der Autorin Fatma Aydemir, für die große Leinwand adaptiert. Die Geschichte handelt von Hazal, einer jungen Frau aus Berlin, die aus einer deutsch-türkischen Arbeiterfamilie kommt und auf Vorurteile auf dem Jobmarkt stößt. Nach einem fatalen Unfall muss sie nach Istanbul flüchten und untertauchen. Ich habe mit Aslı Özarslan über ihren Film, über die Figur Hazal und vieles mehr gesprochen.

     

    Aslı, was war für dich ausschlaggebend, den Roman „Ellbogen“ von Fatma Aydemir als dein Spielfilmdebüt zu wählen?

    Für mich war mitunter das Ende des Romans sehr wesentlich. Die Frage, wie viel gesellschaftliche Verantwortung auch „wir“ tragen, hat mich stark zum Nachdenken gebracht. Und was in der Gesellschaft schiefläuft, wenn man eine bestimmte Gruppe von Jugendlichen nicht als Individuen wahrnimmt, sondern nur als Projektionsfläche sieht. Wenn man selbst eigentlich gar kein Problem mit sich selbst hat, aber von außen immer eine Problematik auf deine Identität projiziert wird, das hat mich sehr berührt. Wer kann Hazal sein? Wer ist sie und wie wird sie gesehen? Als junge Frau ist sie auch nicht frei von dieser Auseinandersetzung, sie ist selbst auf der Suche nach Antworten. Dieses Spannungsfeld fand ich sehr interessant.

    Welche Gespräche hättest du mit der Hauptdarstellerin Melia Kara, die in „Ellbogen“ ihr Filmdebüt gibt, über die Figur von Hazal?

    Die Figur Hazal ist wahnsinnig verletzlich. Und gerade für eine Laiendarstellerin ist es schwierig, sich da „nackt“ zu machen und zu zeigen, wie verletzlich sie ist. Daran haben wir stark gearbeitet, wir haben viele Workshops gemacht. Diese Verletzlichkeit mussten wir durchgehend zeigen, damit man an der Figur dranbleibt und nicht nach der Hälfte aussteigt.

    Wir haben auch viel über die Figur gesprochen. Warum handelt Hazal so, wie sie handelt? Für mich ist ein ausschlaggebender Punkt zu sagen, pass auf, Hazal ist wahnsinnig klug. Aber sie spürt, dass diese Gesellschaft ihr nicht vertraut. Sie kann dieses Gefühl nicht in Worte fassen, aber wie kann sie dann der Gesellschaft vertrauen? Das ist der Kernpunkt der Figur. Sie weiß zwar nicht, was sie will, aber sie weiß, was sie nicht will. Sie kann ein großes Nein in die Welt rausschreien.

    Dieses Nein, dieses Privileg, das haben sehr viele junge Menschen vielleicht, aber Hazal kann sich das eigentlich nicht leisten. Sie kommt aus einer Arbeiterfamilie, sie hat nicht das Privileg, bockig zu sein. Man erlaubt ihr das gar nicht. Weil man gleich etwas auf sie projiziert. Aber das Tolle an dieser Figur ist, dass sie sich das rausnimmt und weder Opfer noch Täterin ist. Sie passt in keine Schublade. Und wir haben sie nicht weichgespült, nur damit sie akzeptiert wird.

    In einer Szene sieht Hazal ein Foto von sich, wo sie sich unbeobachtet fühlt und sagt, dass sie sich gar nicht wiedererkennt. Wie war das für Melia Kara und die weiteren Schauspielerinnen, dass du sie für die große Leinwand inszeniert hast und war es dir wichtig für dich als Regisseurin, dass du sie an die Hand nimmst, um sie durch den Prozess nach Ende der Dreharbeiten zu führen?

    Zu der ersten Frage müsstest du Melia und die anderen fragen, wie es für sie war, sich zum ersten Mal zu sehen. Zu der zweiten Frage, da hatte ich natürlich am Anfang schon gedacht, dass ich sie alle beschützen muss. Vor allem, wenn Journalist*innen Fragen gestellt haben, die vielleicht gar nichts mit dem Film zu tun haben. Für Melia ist die Branche und alles ja ganz neu. Aber ich war so stolz, dass sie da so selbstbewusst war. Nicht, dass ich ihr das nicht zugetraut hätte, aber ich konnte wirklich einen Schritt zurück machen.

    Mit welchen Herausforderungen hattest du bei deinem Spielfilmdebüt selbst zu kämpfen?

    Für alle Debütant*innen, die aus der Filmhochschule kommen ist es ähnlich, ich würde nicht sagen, dass ich es besonders schwer hatte. Wir sehen uns nicht als Konkurrenz, aber in der Branche gibt es eine bestimmte Begrenzung an Filmen, die man machen kann und eine bestimmte Begrenzung an Debütfilmen. Das ist hammerhart, aber das gilt für uns alle. Für mich kommt noch dazu, dass ich eine Frau bin und einen Migrationsbezug habe. „Ellbogen“ ist eine sehr spezifische Geschichte, weil das Ende so polarisiert.

    Wir konnten den Film verwirklichen dank Leuten, die wirklich an diesen Film geglaubt haben. Die eben das Potenzial dieses Films gesehen haben. Sie haben gesehen, dass der Film für eine gewisse Repräsentation steht. Auch bei den Förderentscheidungen war das ausschlaggebend. Aber die Frage mit der Herausforderung greift noch viel früher. Wer darf eigentlich Filme machen? Das hat etwas mit Klasse zu tun. Es spielt eine Rolle, ob man aus der Arbeiterklasse oder aus einem bürgerlichen Haushalt stammt. Können dich deine Eltern unterstützen oder nicht? Ich würde mir wünschen, dass Leute, die nicht das Privileg haben, Filme zu machen, die Möglichkeiten dafür bekommen.

    Ich habe in einer Kritik zum Film gelesen, dass „Ellbogen“ sowas wie eine Gen-Z Version von „Gegen die Wand“ ist, den internationalen Durchbruch des Regisseurs Fatih Akin. Wie würdest du das kommentieren?

    „Gegen die Wand“ ist ein unglaublich prägender Film für unsere ganze Generation gewesen, aber ich hatte den Film an sich überhaupt nicht im Kopf, weil ich die Figuren nicht zusammenbringen konnte. Emotional vielleicht, aber in den Handlungen nicht. In „Gegen die Wand“ geht es auch um eine jüngere Frau, aber Sibel sitzt zwischen den Kulturen, mit ihrer Familie zum Beispiel. In meinem Film geht es gar nicht darum.

    Und das finde ich manchmal so interessant, wenn in manchen Kritiken steht, dass Hazal auch eine Figur zwischen zwei Kulturen ist. Ich verstehe das nicht. Ich glaube, das ist ein Automatismus von manchen Journalist*innen in Deutschland, dass sie eine deutsch-türkische Figur automatisch zwischen zwei Kulturen lesen. Aber dieses Thema behandle ich gar nicht, es geht nicht darum, dass Hazal gefangen wäre oder irgendwie unter kulturellem Druck stehen würde durch ihre Eltern.

    Hazal ist eine junge 17-jährige Frau, die kein Abi hat, die einen nicht-deutschen Namen trägt, aber sich voll und ganz als Berlinerin sieht, eine junge Frau, die mitten aus unserer Gesellschaft stammt, aber künstlich von der Gesellschaft an den Rand gedrängt wird. Das ist für mich nicht die Geschichte, wo man denkt, es geht um deutsch-türkische Kultur, die zu Problemen führt. Es geht hier um gesellschaftspolitische Fragen, was bedeutet Chancengleichheit in unserer Gesellschaft? Was bedeutet Bildungsgerechtigkeit in unserer Gesellschaft? Es geht um eine junge Frau, die eine Chance sucht. Nicht aus kultureller Hinsicht, sondern aus der Perspektive eines Arbeiterkindes. Ihre Eltern kommen aus der Arbeiterklasse und wollen, dass sie arbeitet.

    Wäre es vielleicht fairer zu sagen, dass es keine Geschichte von zwei Kulturen, aber dafür zwei Städten ist? Berlin und Istanbul sind prominent in Szene gesetzt.

    Mir war es eher wichtig, dass die Städte ineinanderfließen. Für mich hätte das auch in Deutschland und Spanien spielen können. Ich zeige ja keine Totalen. Man sieht immer nur Hazal. Natürlich entdeckt sie auch etwas über ihre Identität in Istanbul. Im Roman ist das sehr facettenreich erzählt und dort macht das auch total viel Sinn. Aber ich wollte das eben etwas universeller erzählen. Deswegen habe ich das, was der Roman durch Details erreicht hat, hier eher reduziert.

    Hazal geht zu Mehmet, weil er der einzige ist, den sie außerhalb von Berlin, außerhalb von Deutschland kennt. Aber wäre er in Portugal, dann würde sie wahrscheinlich nach Portugal fahren. Nochmal zu der vorherigen Frage mit „Gegen die Wand“, wenn ich so darüber nachdenke, dann ist es vielleicht die Dynamik, die beide Filme verbindet. „Gegen die Wand“ ist sehr rough und hat eine bestimmte Dynamik, und es kann sein, dass die Leute diesen Drive auch in „Ellbogen“ spüren.

    Ich habe mich, als ich diesen Film gemacht habe, komplett an Hazal und ihren Drive orientiert. Und diesen Drive habe ich in den Film übertragen. Das war das Wichtigste für mich. Ich wollte diesem Charakter treu bleiben. Diesen Charakter nicht verraten. Und dadurch ist dieser Film entstanden.

    Dieses Interview ist im Newsletter „roots & reels“ veröffentlicht worden. Abonniere ihn hier!

  • Interkulturellle Öffnung im TV Fischbek

    Die Vereinslandschaft in Deutschland ist ein Ort der gelebten Demokratie und gilt dadurch auch als Stütze und Spiegel unserer Gesellschaft. Viele Sportvereine haben es sich deshalb zur Aufgabe gemacht, den migrantischen Bevölkerungsanteil in unserem Land auch in der Vereinslandschaft abzubilden. „Interkulturelle Öffnung“ lautet das Geheimrezept. Dabei reicht es allerdings nicht nur, die Türen für Menschen mit Migrations- und Fluchtgeschichte zu öffnen. Vielmehr geht es darum, eine Umgebung zu schaffen, in der sich migrantische Menschen wohl und sicher fühlen. Es geht darum, Menschen mit diverser Herkunft in Entscheidungsprozesse mit einzubeziehen und sie nicht mit dem Etikett „Integration erfolgreich“ abzustempeln.

    Integration sollte in diesem Kontext ein zweispuriges Konstrukt darstellen, das alle Beteiligten gleichermaßen bereichert. Doch dafür braucht es mehr als nur gute Vorsätze, um den Punkt von der To-do-Liste zu streichen. Bei interkultureller Öffnung bedarf es einer Menge Selbstreflexion und des kontinuierlichen Anspruchs, einen internen Entwicklungsprozess voranzutreiben.

    Der TV Fischbek gilt, was Integrationsarbeit anbelangt, als Urgestein und agiert seit 2001 als Stützpunktverein des Bundesprogramms „Integration und Sport“. Ich habe mit Angelika Czaplinski, der Integrationsbeauftragten des Traditionsvereins, gesprochen, um zu erfahren, wie interkulturelle Öffnung funktioniert, welche Maßnahmen bereits ergriffen werden und welche Stellen ausbaufähig sind.

     

    „Interkulturelle Öffnung hat einen sehr hohen Stellenwert bei uns.“

     

    Wie lange bist du schon im TV Fischbek beschäftigt und was ist deine Hauptaufgabe? 

    Ich bin schon als Kind durch das Kinderturnen im TV Fischbek eingetreten, habe Handball gespielt und war lange im Wettkampfsport als Trainerin aktiv. Ich bin dann irgendwann ehrenamtliche Jugendleiterin geworden und mittlerweile bin ich Übungsleiterin und Integrationsbeauftragte. Im Jahr 2001 haben mich zwei Mitarbeiter besucht und mir das Bundesprogramm „Integration durch Sport“, das vom Hamburger Sportbund (HSB) initiiert wurde, vorgestellt. Seit 2002 sind wir Stützpunktverein des Programms und versuchen, integrative Gruppen zu gründen, die über den Sport hinausgehen.

     

    Welchen Stellenwert hat die interkulturelle Öffnung für den TV Fischbek? 

    Interkulturelle Öffnung hat einen sehr hohen Stellenwert bei uns. Nicht nur intern im Verein, sondern auch im Stadtteil werden wir für unseren Einsatz sehr geschätzt. Wir haben gemerkt, wie gut die interkulturelle Öffnung bei uns funktioniert, als 2015 viele Geflüchtete zu uns gekommen sind. Wir haben dann mit den Menschen Sport gemacht und sie bei organisatorischen Aufgaben unterstützt. Somit haben wir den ersten Grundstein gesetzt, die Geflüchteten in unsere Gemeinschaft aufzunehmen.

     

    „Einmal im Monat gibt es auch ein Freundschaftsspiel“

     

    Gibt es weitere Maßnahmen, die der TV Fischbek unternimmt, um sich interkulturell zu öffnen? 

    Wir haben das Programm „Integration durch Sport und Sprechen“ und dabei gibt es mehrere Bausteine. Einmal eine wöchentliche Gruppe, und zwar „mit Büchern und Bewegung die Stadt entdecken“. Dabei versuchen wir, mit migrantischen Kindern aus der Nachbarschaft, viel draußen zu sein und die Stadt zu entdecken. Bei schlechtem Wetter sind wir in einem Bewegungsraum, wo wir gemeinsam lesen, Musik hören und Spiele spielen.

    Mit diesem Projekt haben wir uns auch für den Nachbarschaftspreis beworben. Einmal im Monat gibt es auch ein Freundschaftsspiel, das als Familiensport konzipiert ist, bei dem wir mit einem gemeinsamen Frühstück starten. Dabei entsteht ein munterer Austausch zum gesunden und günstigen Kochen und Einkaufen. Zusätzlich organisieren wir auch interkulturelle Familienfreizeiten über ein verlängertes Wochenende oder in den Ferien.

     

    Unterstützt ihr mit euren Maßnahmen eher größere Gruppen oder auch einzelne Menschen? 

    Wir unterstützen auch jeden Einzelnen. Letztes Jahr hatten wir zum Beispiel ein Programm namens „sei dabei“, bei dem wir migrantischen Menschen ein dreimonatiges Praktikum angeboten haben. Nach erfolgreichem Abschluss haben die Praktikanten eine Bescheinigung bekommen und das Angebot, bei uns im Verein mit einem kleinen Job tätig zu sein. Ursprünglich haben wir das gemacht, um Menschen mit Migrations- und Fluchtgeschichte als Übungsleiter zu gewinnen, allerdings konnten viele dadurch Selbstbewusstsein aufbauen und haben dadurch oftmals einen anderen Job gefunden.

     

    Wie viele Menschen mit Migrations- und Fluchtgeschichte sind derzeit im Ehrenamt oder als Übungsleiter*innen tätig? 

    Viele, und zwar nicht nur als Übungsleiter. Mittlerweile konnten wir nämlich auch migrantische Menschen als Abteilungsleiter für unseren Verein gewinnen. Mir fällt auch direkt eine migrantische Trainerin ein, die über das Mentoren- und Mentee-Programm von „Integration durch Sport“ Abteilungsleiterin geworden ist.

    „Seit dem Programm sind wir sensibler geworden.“

     

    Wie sieht es in eurer Führungsebene aus?

    In unserer Führungsebene im Vorstand selbst gibt es derzeit noch niemanden mit Migrations- oder Fluchtgeschichte. Das liegt daran, dass wir einfach noch niemanden hatten, den wir ganz lange begleitet haben. Ich arbeite derzeit daran, eine migrantische Frau und ein längeres Vereinsmitglied als meine Nachfolgerin aufzustellen. Allerdings ist das auch ein Prozess, sie mit den Vereinsstrukturen bekannt zu machen. Ich habe mittlerweile ein großes Netzwerk aufgebaut, was einfach Zeit braucht. Mein Ziel ist, dass die nächste Integrationsbeauftragte mit Migrations- oder Fluchtgeschichte eng mit dem Vorstand zusammenarbeitet.

     

    Was hat sich im TV Fischbek durch das Bundesprogramm „Integration durch Sport“ verändert? 

    Wir sind viel mehr aus unserer Komfortzone herausgekommen. Wir hatten auch früher schon starke Abteilungen und einen guten Zusammenhalt, aber ich glaube, wir haben es vielen Leuten von außen sehr schwer gemacht, zu uns zu kommen. Seit dem Programm sind wir sensibler geworden. Wir mussten auch intern einiges tun und konnten uns langsam immer mehr und erfolgreicher öffnen.

    Da wir als Verein schließlich eine soziale Verpflichtung haben, uns interkulturell zu öffnen, sind wir mit voller Kraft dabei, immer mehr dafür zu tun. Ziel ist es, den migrantischen Bevölkerungsanteil prozentual auch bei uns im Verein abzubilden. Wichtig zu verstehen ist, dass Integration keine Aufgabe einer Abteilung ist, sondern eine Querschnittsaufgabe des gesamten Vereins. Mittlerweile können wir auf unsere Erfolge sehr stolz sein.

    „Persönlicher Kontakt ist das A und O.“

     

    Hast du Tipps für andere Vereine, wie man eine ganzheitliche interkulturelle Öffnung schafft?

    Vereine müssen bei dem Vorhaben ganz klar auf Kontinuität setzen. Das klappt nicht von Anfang an, es ist ganz klar ein Prozess. Übungsleiter müssen auf jeden Fall auch viel Geduld und Toleranz mitbringen. Es kommt oft vor, dass Geflüchtete andere Prioritäten entwickeln, was man respektieren muss. Wir hatten eine migrantische Läufer-Gruppe, die über das Laufen den Stadtteil erobert hat. Das Deutsch der Läufer ist immer besser geworden und irgendwann konnten sie sich einen Job suchen.

    Es ist auch wichtig zu verstehen, dass der Sport, der ihnen geholfen hat, nicht zwangsläufig immer an erster Stelle steht. Wenn man mit Menschen mit Fluchtgeschichte arbeitet, braucht man eine gewisse Hartnäckigkeit Behörden, Verbänden und Unterkünften gegenüber. Persönlicher Kontakt ist dabei das A und O.

     

     

    Übergeordnetes Ziel der kulturellen Öffnung ist es, migrantische Menschen auch in der Führungsebene zu positionieren, was dem TV Fischbek bislang nicht gelungen ist. Dennoch lässt sich an den vielen Maßnahmen erkennen, dass der Traditionsverein einen Wandel durchlebt und interkulturelle Öffnung und Diversität als interne Herzensaufgabe begreift. Wenn du mehr darüber erfahren möchtest und dich das Thema Sportvereine und Diversität interessiert, abonniere gerne unseren Newsletter „Hamburg in Bewegung“.

  • Zentrum ÜBERLEBEN: psychological care for refugees

    Mr. Diab, what services are available for refugees at Zentrum ÜBERLEBEN?

    Our therapeutic services – the day clinic, the outpatient department for adults, and the children’s and adolescents‘ department – are meant for refugees who have experienced torture, persecution, war, or human trafficking in their home country or during their flight, and as a result have suffered psychological distress in the form of trauma and trauma-related disorders.

    In turn, the Paulo Freire Vocational School and the Department for Refugee Assistance can serve a much broader group of migrants and refugees. Language and computer courses, school-leaving qualifications, vocational preparation courses, and training and further education are offered there.

    In addition, we offer low-threshold services such as the specialist office of the Berlin Network for Vulnerable Refugees. The network includes seven organizations in Berlin that carry out an initial diagnosis and determine the special need for protection for LGBTIQ+ people, people with disabilities, women, pregnant women as well as minors, among other things. The specialist office at the centre in this frame is the contact and counselling centre for traumatized people and victims of severe violence.

     

    A diverse Team is the key to success

     

    Which countries do your patients in the day clinic come from?

    People from all crisis areas of the last 30 to 35 years that are within reach of Europe find their way to us. For example, from the sub-Saharan region, West and East Africa, the Middle East, Asian countries such as Azerbaijan, Turkmenistan or Afghanistan, and the Balkans. Last year, we had a significant increase in requests from Afghanistan and Iran, understandably because of the Taliban takeover and protests in Iran. Such events have a direct impact on our work. Currently there are also many requests from refugees from Turkey.

     

    „Word-for-word translation is only part of their job“

     

    Refugees who are treated in the day clinic usually speak different languages and come from different cultures and political contexts. How do you and your colleagues adjust to this?

    We are pretty diverse team. While this can improve even more, we have colleagues that come from Africa or Asia, colleagues that speak French, Farsi or, like myself, Arabic as their mother tongue. This offers a variety of starting points for our patients.

    Likewise, the colleagues who grew up here contribute a lot to the treatment concept with their experience. But most of all, our language and cultural mediators are of enormous importance: the word-for-word translation is only one part of their work. Sometimes, as a therapist, one has the feeling that something remains hidden, which can have linguistic or cultural reasons. The language and cultural mediators know how things are expressed or addressed in the respective countries and they are able to read between the lines. This helps to understand what is going on in the patient’s mind.

     

    Trauma sequelae disorder – the danger of splitting

     

    How difficult is it for your patients to talk about their problems?

    Most struggle to put their experiences into words. This is to do with the traumatic experiences themselves on the one hand and the way traumatic experiences are processed on the other. Central here is the notion of splitting. When we experience something horrible, our psyche tries to protect us by splitting off and pushing aside troublesome things to ensure survivability in such a threat scenario. This is a sensible process in order to survive the threat.

    But when the threat is over and there is no success in integrating the experiences into the rest of the psychological events, the splitting off remains. The risk of developing trauma sequelae disorder in the sense of post-traumatic stress disorder is then very high.

     

    “Images that are so powerful that the person feels like they are reliving the trauma”

     

    What are the symptoms associated with post-traumatic stress disorder?

    A central symptom is hyperarousal. People are in a state of permanent tension towards their environment. Every noise, every movement or stress from outside can quickly lead to sensory overload.

    The re-experiencing is a second, very important factor. Triggered by a key stimulus, the traumatic experience returns and controls the sufferer’s perception. The most common form is flashbacks. These are images so strong that the person feels that he or she is reliving the trauma or parts of it, sometimes even accompanied by the physical pain associated with the original torture. The images can occur while awake and in the form of nightmares.

    Another symptom is avoidance behavior: Due to the inundation of stimuli and flashbacks triggered by everyday life, affected individuals tend to avoid situations that could evoke memories of the trauma. This significantly affects people’s everyday lives and, in some cases, can lead to complete isolation.

    To what extent do the mental ailments make themselves felt physically?

    Repressed trauma material and the associated emotional states that have not been processed or expressed in a timely manner can quickly result in physical ailments. Many struggle with back pain or headaches.

     

    „Regaining trust in the sovereignty of one’s own body”

    In addition, the perception of one’s own body may be disturbed. After all, we are talking about a body that has experienced an assault in the sense of torture, human trafficking or sexualized violence. Especially in the case of sexualized violence, the body is often perceived as something shameful, vulnerable and repulsive and not as something lovable and enjoyable.

    Regaining trust in the sovereignty of one’s own body and experiencing anew the mutual positive influence of psyche and body can contribute a lot to a successful therapeutic process. For this reason, about one third of our therapy offers are body-related. Examples of this are mindfulness training, dance therapy, sports and relaxation techniques

     

    Methods and means of Zentrum Überleben

     

    Why is the focus in the day clinic on group therapies?

    People whose complaints are chronic and who can no longer cope with everyday life come to us in the day clinic. Building trust and dealing with other people is a major challenge for many. Group services have the advantage that difficulties can be experienced on site and  direct intervention is possible. What people experience outside in everyday life they also experience in our groups, except that here they are accompanied therapeutically and are in a protected space.

    When problems arise, there is an opportunity to try things out and explore new avenues. Our services can be roughly divided into body-based, creative and speech-based therapies. In addition to the group therapies, we offer individual sessions with therapists, physiotherapy and social work sessions. Especially the meetings with the social workers are very important, because our patients are not only struggling with psychological stress, but also with the challenge of being in a country where they do not know how everything works.

    How do refugees find their way to Zentrum ÜBERLEBEN?

    Most patients are referred to us by their first aiders in their shared accommodation. Hospitals, outpatient clinics, colleagues in private practice, counselling centres or semi-professional support systems also send many people to us. It also happens that people who speak English find us on the Internet. Some of them find us through the community.

     

    „Anyone who has health insurance can be treated at our clinic“

     

    How does the centre finance itself?

    Each department has its own concept and funding. The day clinic currently has 24 places. We are relatively well positioned because we are financed by the health insurance funds. Anyone who has health insurance can be treated at our clinic. That doesn’t cover our costs, but it covers a good part of them.

    Other areas, such as the outpatient department, are financed in a mixed way by the Association of Statutory Health Insurance Physicians, project funds and donations. Zentrum ÜBERLEBEN has a budget of 8 million euros, and this comes from all kinds of sources: the federal government, the state, health insurance companies, districts, the Association of Statutory Health Insurance Physicians, private individuals and so on. That doesn’t exactly make things easy.

     

    Poor psychosocial care in rural areas

     

    The psychological care needs of refugees in Germany are far from being met. What needs to change from your point of view?

    We are better positioned in Berlin than in any other federal state, but even here the situation is often precarious. If you look outside the city, the situation is even disastrous in some cases. There are entire landscapes where there is no provision for refugees. Due to the language barrier, many opportunities remain closed to these people.

    This is where the legislator is needed. For years it has been pointed out that the right to treatment does not end with the infrastructure and the availability of doctors, therapists and nurses, but that mediation is also part of it. The costs for interpreters are still not covered. There must be a change in the law so that the health insurance companies cover these costs.

     

    „The focus should rather be on how we can create a pluralistic society with all these differences, but also clear boundaries“

     

    These grievances do not only affect the psychiatric and psychotherapeutic field. There are many diseases that are overlooked and thus remain untreated. We often diagnose high blood pressure, diabetes and infectious diseases along the way. This goes completely under the radar because people don’t have adequate access to the healthcare system.

    How do you feel about the image of refugees conveyed by the media in light of the stories you are confronted with every day?

    I find the reporting in the media to be very one-sided. It does not do justice to the complexity and diversity of this group. My personal impression is that integration is shifted onto those affected. The accusation that they don’t integrate and abide by the rules often resonates within reporting.
    I understand integration differently. Integration is a joint process. In my view, however, the main responsibility lies with the political decision-makers and not with those who are „stranded“ and isolated here. Politics has missed out on a few things here.

    The political discourse should not be about all migrants and refugees becoming Germans. The focus should rather be on how we can create a pluralistic society with all these differences, but also clear boundaries. From my experience as a therapist working with very diverse groups, I can say that this can indeed work.

     

    This article was also published in German

     

  • Abdullah Alqaseer: „Im Film kritisiere ich Klischees“

    Der 24-minütige Film ADNAN des syrischen Schriftstellers und Regisseurs Abdullah Alqaseer mit Omar Shalash in der Hauptrolle und Regieassistenz, thematisiert Rassismus und setzt sich mit vielen diskriminierenden Stereotypen auseinander. Allerdings rückt er auch andere Vorurteile in den Fokus, die sonst in der Gesellschaft wenig sichtbar sind. Die Erstellung des Films war ein gemeinsames Projekt. Abdullah schrieb das Drehbuch und Omar Shalash (Protagonist und Regieassistent) lektorierte und übersetzte es ins Deutsche. Ihr ständiger Gedankenaustausch und die gemeinsamen Diskussionen führte sie zu einem Film, der stereotypischen Klischees mit filmischen Mitteln gegenübertritt. 

     

    Auch hier bedienen wir uns des journalistischen Klischees und fragen: Woher kam die Idee? 

    Die Aufgabe des Schriftstellers ist laut Abdullah* eine aktive Auseinandersetzung mit dem Thema. Dabei beschäftigt sich dieser mit den verschiedenen Nuancen des Films. Er nutzt seine Vorstellungskraft, um die Inspiration in eine konkrete Idee zu verwandeln. Hierbei werden Elemente miteinander kombiniert, verändert oder neu interpretiert, um etwas Einzigartiges zu schaffen. Es geht uns darum, eine legitime Welt zu schaffen.

    Im Kern geht es dann im Zentrum um das Handwerk eines Regisseurs bzw. Schriftstellers, indem er Spannungen aufbaut und das Publikum mit unbekannten Lösungen und Auflösungen konfrontiert. Und für die Behandlung des Films ist wichtig: Rassismus ist etwas, was filmisch nicht selten thematisiert wurde. Aber die wichtigste und herausforderndste Frage für jeden Schriftsteller bleibt: Wie gehe ich mit diesem Thema um? 

     

    Hast du eine Antwort auf die Frage gefunden, wie man mit bereits bekannten Filminhalten umgehen und daraus etwas Neues kreieren kann? 

    Abdullah hat sich vor dem Drehbuchschreiben mittellange bis lange Spielfilme angesehen. Er möchte dabei nicht pauschalisierend sagen, dass viele dieser Filme „ausgelutscht“ sind. Allerdings behandelten sie Rassismus in Teilen auf eine sehr unschöne Art. Die Ideen stammen dabei laut Abdullah von bestimmten Subthemen, die mit Rassismus in Verbindung stehen.

    Dramaturgisch haben solche Filme einen bestimmten Aufbau, der mit einer rassistischen Auseinandersetzung beginnt. Als zweiten Schritt versucht der Regisseur, das Opfer dieser rassistischen Auseinandersetzung zu einem Helden zu machen. Man zeigt, dass das Opfer von Rassismus ein normaler Mensch ist. Und dies ist für Abdullah das Toxische bzw. Giftige in diesen Filmen gewesen. Genau diesen dargestellten Umgang wollte er mit seinem Film kritisieren und durchbrechen.

    Die Anreihung solcher filmischer Gedanken führe zu Klischees in der Filmindustrie. Ein „Ausländer“ sollte sich nicht gegenüber einem „Inländer“ benachteiligt fühlen. Er muss sich nicht für seine Menschlichkeit rechtfertigen und ist genauso Mensch wie alle anderen. Genau hierauf möchte Abdullah eingehen, allerdings anders und im Kontrast zu anderen Filmen. 

     

    Es geht also darum, filmisch auszudrücken, dass wir uns alle gegenseitig ganz selbstverständlich annehmen sollten? 

    Laut Abdullah sollte man einen Menschen so annehmen, wie er ist, selbst wenn Klischees vorhanden sind. Wichtig ist zu betonen, dass diese Klischees sich von der Wirklichkeit bzw. Realität abheben. Die Faust am Ende des Films war Ausdruck eines Protestes, Menschen in klischeehafte Schienen, Zwänge oder Strukturen zu pressen. Manche Menschen bringen bei der Produktion dieser Filme „ihre eigene, kurzsichtige Gedankenwelt“ ein und haben einen großen Einfluss auf das Werk, wobei der Autor oder Regisseur die Hoheit über die Erstellung des Filmes hat. 

     

    Hast du die Erfahrungen gemacht, dass westliche Regisseur*innen versuchen, Leuten, die nicht westlichen Klischees entsprechen, bestimmte Rollen etwa des Opfers oder der Held*innen zuzuweisen? 

    Abdullah glaubt, dass es nicht sinnvoll ist, Regisseure und Künstler in den Westen und Osten zu unterteilen. Die künstlerische Vision ist von Regisseur zu Regisseur unterschiedlich und nicht von Kontinent zu Kontinent. Laut Abdullah sind solche Stichworte wie „Opfer“ zentral für die Werkzeuge bei solchen Filmen. Allerdings sind alle Menschen „Opfer“. Ein gutes Beispiel dafür ist der Musikinstrumentenbauer in dem Film.

    Er ist Schauspieler, aber auch Geflüchteter. Letzteres ist für den Zuschauer nicht sofort sichtbar bzw. nur zwischen den Zeilen. Der Musikinstrumentenbauer ist dreifach Geflüchteter, da er aus Palästina stammt und über Syrien nach Deutschland geflüchtet ist. Und der Regisseur ist ein reiner Syrer, der „sich jetzt nicht noch die Meinung von eingebildeten Idioten aus dem Flüchtlingslager anhören muss“. In der deutschen Übersetzung ist diese Aussage nicht so ohne weiteres zu erkennen. Im Film rastet der Schauspieler aus und versucht sein Recht einzufordern, anerkannt zu werden. 

     

    Auf welche Arten wird Rassismus denn im Film thematisiert? 

    Man muss den Mut haben, über all die Aspekte zu sprechen, die Rassismus in der Welt verbirgt, findet Abdullah und stimmt damit Doudou Diene zu, der sagt: „Rassismus gedeiht dort, wo er geleugnet wird.“ Das lässt sich, wie Abdullah sagt, auch aus Situationen in Syrien ableiten, da es dort zwischen verschiedenen Gruppen, Reibungspunkte und Auseinandersetzungen gibt.

    Es sind laut Abdullah die palästinensischen Geflüchteten, die seit 1948 in Syrien leben und das schon in der 3. bzw. 4.Generation. Diese Geflüchteten haben zwar Freundschaften und sind gut integriert, allerdings bilden sie aus der Sicht der gesamten Gesellschaft betrachtet Subgruppen. Aber auch in Deutschland hat man laut Abdullah den Blick auf eine Minderheit, wenn man Syrer ist. Zwar ist die Integration auf einem guten Niveau, aber man ist eine Minderheit. Der Film soll Rassismus in seiner Form delegitimieren und diesem sozusagen „keine Chance geben“. Und dabei muss man sich klar sein, dass es rassistische Strukturen in allen Ländern der Welt gibt. 

     

    Hast du noch weitere Filme nach dem Stil geplant, die ähnlich sind? 

    Dieser Film Adnan ist durch die Kooperation zwischen dem VEMO Halleschen Verein (der sich u.a. Thematiken wie Flucht widmet) und Abdullah entstanden. Die Idee sei gewesen, mehrere Filme zu drehen, aus denen dieser Film entstanden sei. Auf der anderen Seite arbeitet Abdullah gerade an einem anderen Spielfilm über Syrer, die geflüchtet sind, aber noch stark geistig in ihrer Heimat verwurzelt sind.

    Für viele Deutsche sei nicht klar, welche Bedeutung die aktuellen Ereignisse wie das Erdbeben für die in Deutschland lebenden Syrer haben. Man muss sagen, das sind Dinge, die sich anfühlen, als wären sie um die Ecke gewesen, obwohl man als Geflüchteter in Deutschland und nicht in Syrien ist. Diese Themen sind seit der Revolution 2011 besser geworden, bewegen den Syrer aber immer noch. Sie beschäftigen ihn immer noch wie vor 2011. 

     

    Was war denn bei der Erarbeitung der Figuren wichtig, um diese tiefen Empfindungen darzustellen? 

    Die Arbeit an der Figur des Films Adnan war die schwierigste Aufgabe von Abdullah und mir, weil Adnan Transformationen in seiner Persönlichkeit durchmacht, und diese Transformationen erfordern einige Veränderungen in der Natur des Charakters. Was von uns auch gut vorbereitet wurde, war die Schlussszene. Diese Szene konnte mit nur einem Shot erfolgreich gedreht werden. 

     

    Und wie bist du dazu gekommen, als Schauspieler in diesem Film mitzuwirken? 

    Abdullah und ich saßen oft im Schrebergarten und überlegten, einen Film zu drehen. Ich bin selbst Filmemacher und habe Abdullah durch einen der letzten Dokumentarfilme kennengelernt. Viele Ereignisse und Orte im Film verbinden Abdullah und mich. Im Film kommt das Instrument der Oud vor. Abdullah spielt die Oud und ich baue das Instrument, zum anderen ist der Drehort des Ateliers in dem Film auch in der Realität mein Atelier. Ich sah die Mitarbeit in dem Film als Überzeugung an. Die Sympathie zwischen mir und Abdullah zeigt sich auch darin, dass Abdullah mich von vorneherein für die Rolle vorgesehen hatte. Dabei ist sehr viel auch persönlicher Sympathie zu verdanken. 

     

    Inwieweit hat deine persönliche Geschichte die Darstellung der Rolle beeinflusst? 

    Zum einen hat Abdullah mich für die Hauptrolle vorgesehen und zum anderen habe ich einen starken Bezug zu Deutschland. Ich bin seit 2010 hier, habe hier studiert und eine Familie gegründet. Zum anderen leben seine Erzählungen von der Darstellung der Heimat, vor allem wenn es um Arabisch geht. Und in diesem Kontext treffen wir uns beide.

    Ich stamme ursprünglich aus dem Norden Palästinas. Der Besuch Syriens ist daher für mich immer ein großer Traum gewesen. Die Möglichkeit mit einem berühmten syrischen Schauspieler wie Bassam Daoud zusammenzuarbeiten, war für mich daher ebenfalls wie der Besuch Syriens immer nur ein Traum. Und dann am Set zu stehen und zu drehen ist dann eine Vorstellung gewesen, die Wirklichkeit geworden wäre. Abdullah und ich teilen gemeinsame Assoziationen, was beispielsweise die Wahrnehmung ihrer Herkunftsdörfer angeht. Von der Bedeutung her, ging es darum Grenzen zu überwinden bzw. zu sehen, dass es eigentlich keine gibt. Und der Film Adnan ist dabei ein konkretes Format, an dem wir beide angefangen haben, zu arbeiten. 

     

    *Im Interview spricht überwiegend Omar, der die Antworten von Abdullah aus dem Arabischen ins Deutsche übersetzt hat.

  • Warum Diversität im Ehrenamt so wichtig ist

    Sportvereine sind auf ehrenamtliche Beteiligung angewiesen, doch besonders viele Menschen mit Migrations- und Fluchtgeschichte findet man in solchen Positionen nicht. Dabei könnte eine homogene Vereinskultur mit mangelnder Diversität in Sportvereinen zusammenhängen. Warum es so wichtig ist, dass Menschen mit Migrations- und Fluchtgeschichte im Ehrenamt vertreten sind, erfahren wir von Dave Rahimi, einem afghanischen Geflüchteten, der sich seit 5 Jahren im Sportverein Eidelstedt engagiert.

     

    Wie engagierst du dich zurzeit im Sportverein?

    Ich bin beim Sportverein Eidelstedt als Boxtrainer tätig. Ich bin fast jedes zweite Wochenende mit meinen Jungs in ganz Deutschland unterwegs zu Turnieren und Kämpfen. National und international. Seit 10 Jahren bin ich Hamburger Jugendwart, da mache ich sehr viel – von deutscher Meisterschaften bis zu internationalen Turnieren. Seit mindestens 20 Jahren arbeite ich bereits mit Kindern und Jugendlichen zusammen.

     

    Wie bist du dazu gekommen, dich ehrenamtlich zu engagieren?

    Das ist eine lange Geschichte. Ich bin in Afghanistan in Gefangenschaft geraten, das war natürlich Horror und da betete ich zum lieben Gott und sagte: “Bitte hilf mir. Wenn du mir hilfst, werde ich mein ganzes Leben lang Kindern und Jugendlichen helfen.“ Tatsächlich wurde ich gerettet. Der liebe Gott hat mir geholfen und seitdem helfe ich.

     

    Wusstest du damals schon, dass du Kindern und Jugendlichen mit Boxen helfen wirst?

    Nein. Ich habe die Leidenschaft fürs Boxen gehabt, leider war ich wegen dem ganzen Krieg nie richtig frei, kopfmäßig, aber es hat mir immer geholfen. Dann kam ich irgendwann nach Hamburg und habe meine Frau kennengelernt. Als ich ihr erzählt habe, dass ich gerne wieder boxen würde, hat meine Frau einen Boxclub für mich gefunden. Als meine beiden Kinder selbst mit Boxen angefangen haben, habe ich den Trainerschein gemacht. Dabei habe ich gemerkt, dass ich nicht nur meinen Kindern helfen kann, sondern auch anderen. Und das ist eigentlich genau das, was ich mir wünsche. Derzeit arbeite ich mit Kindern und Jugendlichen im Gymnasium Dörpsweg als Pädagoge und Sportlehrer. Durch den SVE und mein Ehrenamt habe ich dort eine Festanstellung bekommen.

     

    Wie war der Zugang für dich zum Ehrenamt?

    Als mein Sohn mit 13 Jahren zur deutschen Meisterschaft nominiert wurde, habe ich jemanden aus dem Verband kennengelernt, der zu mir meinte: “Du bist der richtige Mensch, um anderen zu helfen und es wäre schön, wenn du das nächste Mal im Verein kandidierst.“ Ich habe zu dem Zeitpunkt schon 1-2 Jahre im Verein gearbeitet, die Leute kannten mich schon und dann habe ich es einfach probiert und bin dann tatsächlich zweiter Jugendwart geworden.

     

    Welchen Vorteil hast du im Ehrenamt mit deiner Fluchtgeschichte?

    Verständnis für die Kinder. Ich verstehe sie sehr gut. Wie sie reden, was sie erzählen. Mittlerweile spreche ich mehrere Sprachen. Von arabisch bis russisch über persisch und afghanisch und darüber hinaus. Ich arbeite in der Schule auch mit Kindern aus verschiedenen Ländern zusammen. Wenn du auf jemanden zugehst und seine Sprache sprichst, schaut er dich an, vertraut dir, öffnet sich und kommt zu dir. Als ich hierherkam, war das ganz anders, da wurde ich angeguckt, „sprich Deutsch“, obwohl ich diese Sprache noch nie vorher gehört habe. Dadurch, dass ich einiges erlebt habe, gehe ich mit den Kindern auch ganz anders um und die Kinder lieben mich und ich sie auch.

     

    Braucht es mehr Menschen mit Fluchtgeschichte im Ehrenamt in Sportvereinen?

    Ja. Es ist sehr wichtig. Gerade die Kinder, die jetzt kommen, die haben nichts Gutes erlebt. Die wenigsten haben freiwillig ihr Zuhause, ihr Leben verlassen, um irgendwohin zu gehen. Da muss man auf die Kinder ganz anders eingehen, sie aufbauen und integrieren. Sport ist dabei ein wichtiger Zugang und Katalysator.

     

    Mehr zum Thema Diversität im Sport erfährst Du in unserer Printausgabe #6: „In Bewegung

    Wenn du mehr über die Zugänge für Menschen mit Flucht- und Migrationsgeschichte im Hamburger Sport erfahren möchtest, abonniere den Hamburg in Bewegung-Newsletter!

     

  • Rassismus in Kitas: Selbstreflexion als Schlüssel

    Dr. Seyran Bostancı arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) in Berlin. Dort ist sie für die wissenschaftliche Begleitung der „Demokratie leben!“-Projekte zum Thema Vielfalt zuständig. Zudem forscht sie zu institutionellem Rassismus in Kitas im Rahmen des Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitors (NaDiRa) und arbeitet als Referentin für vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung bei der Fachstelle Kinderwelten, die Kitas auf dem Weg zu einer inklusiven Organisationsentwicklung begleitet.

     

    Dr. Seyran Bostancı, warum widmen Sie sich in Ihrer Forschung Themen wie Rassismus, Diversität, Migration und Inklusion?

    Durch mein Praktikum bei der Fachstelle Kinderwelten begann ich, mich mit diesen Themen auseinanderzusetzen. In meiner Schulzeit oder in meinem Bachelorstudium der Sozialwissenschaften wurden diese Themen nie behandelt. Es war für mich aufwühlend, zu verstehen, dass es für dieses Bauchgefühl und Unbehagen, was ich während meiner Ausbildung oft hatte, Konzepte und Begriffe gibt.

    Die Fachstelle Kinderwelten beschäftigt sich mit Diskriminierungsverhältnissen im Kitabereich. Das hat mich begeistert und ich hatte die romantische Vorstellung, dass eine Veränderung im Kitabereich gesamtgesellschaftliche Synergieeffekte haben könnte.

    Beim Thema Rassismus denken viele Menschen, dass es ausschließlich um Vorurteile oder Diskriminierung gehe. Wie definieren Sie Rassismus?

    Ich begreife Rassismus nicht nur auf der Ebene der individuellen Vorurteile. Ich verstehe Rassismus vielmehr als gesellschaftliches Strukturprinzip, das dazu führt, dass Menschen, die aufgrund von Rassismus benachteiligt werden, der Zugang zu gesellschaftlich relevanten Ressourcen wie Bildung, Arbeitsmarkt oder Gesundheit erschwert oder sogar verwehrt wird. Rassismus kann sich durch Normalitätsvorstellungen, Routinen und Verfahrensweisen auch innerhalb von Organisationen einschreiben, sich institutionell verankern und so zu einem Alltagsphänomen werden.

     

    Kaum Vermittlung interkultureller Kompetenzen in der Erzieher*innenausbildung

     

    In Deutschland besteht ein Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz. Allerdings gibt es viel zu wenig Kitaplätze. Spielt bei der Vergabe von Kitaplätzen Rassismus eine Rolle?

    Es gibt Studien, die Segregationsprozesse beleuchten. Bisher wurde jedoch oft der Fokus auf die elterlichen Wahlentscheidungen gelegt. Es wurde also argumentiert, dass migrantische Familien ihre Kinder entweder zu spät anmelden oder vielleicht gar nicht den Wunsch haben. Interessanterweise wurde in den bisherigen Studien kaum untersucht, wie sich Rassismus in diesen Zugangsprozessen einschreibt.

    Genau dazu forsche ich gerade mit meinem Kollegen Benedikt Wirth. Wir befinden uns allerdings erst in der Erhebungsphase. Auf Basis des bisherigen Forschungsstandes lässt sich aber bereits sagen, dass es Hinweise darauf gibt. Statistisch wird deutlich, dass Kinder mit Migrationshintergrund seltener in Kitas anzutreffen sind, vor allem bei den unter Dreijährigen. Gleichzeitig ist der Betreuungswunsch dieser Familien höher als die Anzahl der tatsächlich vergebenen Kitaplätze.

    Inwiefern werden bei der Ausbildung von Erzieher*innen interkulturelle Kompetenzen vermittelt und Rassismus thematisiert?

    Viel zu wenig! Ich gebe Fort- und Weiterbildungen für pädagogische Fachkräfte. Da stelle ich immer wieder fest, dass sie kaum professionelle Kompetenzen im Umgang mit Vielfalt und Diskriminierung haben. Viele wissen nicht, wie sie mit Beschwerden umgehen sollen.

    Meine Studie hat ergeben, dass Familien, die sich wegen rassistischer Diskriminierungserfahrungen beschweren, Glück haben müssen, an eine pädagogische Fachkraft zu geraten, die das Thema für wichtig erachtet und dem nachgehen möchte. Es gibt leider keine etablierten Beschwerdeverfahren. Der Umgang mit Migration und Vielfalt müsste eigentlich in der Ausbildung als Querschnittsthema gedacht werden, das ist bislang aber nicht der Fall. Es bleibt ein Sonderthema und deshalb empfinden es wahrscheinlich viele pädagogische Fachkräfte als zusätzliche Aufgabe, sich damt auseinandersetzen zu müssen.

     

    „Vor allem mit der jüngeren Generation, die jetzt in die Kitas einsteigt, verändert sich der Diskurs allmählich“

     

    Neben Ihrer Arbeit als Wissenschaftlerin sind Sie seit 2010 Praxisberaterin und Coachin für Diversity und Inklusionsprozesse in frühkindlichen Bildungseinrichtungen tätig. Lassen sich pädagogische Fachkräfte darauf ein, sich kritisch zu reflektieren?

    Natürlich gibt es manchmal ein Irritationsmoment bei den pädagogischen Fachkräften: Auf der einen Seite ist das dieses Selbstverständnis, ein guter Mensch zu sein und das Beste für die Kinder zu wollen, auf der anderen Seite müssen sie sich plötzlich ihrer eigenen Prägung durch Vorurteile und rassistisches Wissen bewusst werden. Das kann Unbehagen auslösen, das sich gelegentlich in Form von Widerständen äußert.

    Pädagogische Fachkräfte sind zudem oft der Ansicht, dass sie alle Kinder gleich behandeln und es für sie keine Rolle spielt, wie jemand aussieht. Es kommt jedoch nicht auf ihre persönliche Meinung an. Kinder werden aufgrund ihres Aussehens und ihrer gesellschaftlichen Positionierung gesamtgesellschaftlich unterschiedlich bewertet und dadurch auch benachteiligt. Das aufzubrechen, ist nicht immer einfach, aber es gelingt zunehmend. Vor allem mit der jüngeren Generation, die jetzt in die Kitas einsteigt, verändert sich der Diskurs allmählich.

     

    Warum Vielfalt in Kitas sichtbar sein muss

     

    Wieso ist es wichtig, diversitätsbewusste Bücher und Spielsachen in Kitas zu verwenden?

    Das ist vor allem für die Identitätsentwicklung der Kinder von großer Bedeutung. Aus der Lerntheorie wissen wir, dass Lernprozesse dann besonders gut in Gang gesetzt werden, wenn sich Kinder wohl fühlen und sich in ihrer Identität widergespiegelt sehen. Erhalten Kinder dagegen immer wieder die Botschaft, dass sie nicht „normal“ sind, nicht dazugehören und in Spielmaterialien oder Büchern nicht dargestellt werden, dann entwickeln sie ein Gefühl der Nichtzugehörigkeit – das hemmt Lernprozesse.

    Können sich Kleinkinder bereits rassistisch äußern?

    In der Praxis ist zu beobachten, dass Kinder rassistische Wissen, das sie umgibt, in Interaktionen und bei der Durchsetzung ihrer Spielinteressen durchaus anwenden und auch Abneigungen gegenüber bestimmten sozialen Gruppen zeigen. Kinder können Vorformen von Vorurteilen haben. Das mag positiv klingen, weil es sich um Vorformen und nicht um manifeste Urteile handelt.

    Umso wichtiger ist es jedoch, dass pädagogische Fachkräfte intervenieren und auf die Unzulässigkeit von Diskriminierung hinweisen. Bei Kleinkindern kann Rassismus noch dekonstruiert werden. Erwachsenen fällt das Verlernen weitaus schwieriger.

     

    „Kinder können Vorformen von Vorurteilen haben“

     

    Welche weiteren Tipps geben Sie Erzieher*innen mit auf den Weg?

    Es gibt keine Checkliste, aber es hilft, sich immer wieder in einen Prozess der Selbstreflexion zu begeben. Dieser ganze Prozess ist als lebenslange Reise zu verstehen, die nie endet, weil sich Gruppen, Eltern- und Familienschaften verändern. Das, was man vielleicht einmal als gutes Verfahren oder pädagogische Methode etabliert hat, ist bei der nächsten Gruppe möglicherweise nicht mehr fruchtbar.

    Deswegen ist es wichtig, für sich selbst und im Team regelmäßig Räume zu schaffen, um in diese kritische Selbstreflexion zu kommen. Eine Leitungskraft, die diese Themen andauernd auf die Tagesordnung setzt und das Team dazu anregt, die eigene Praxis kritisch zu hinterfragen, hat eine hohe Wirkungskraft.

     

    Wie Eltern Rassismus in der Kita begegnen

     

    Sie haben kürzlich eine qualitative Pilotstudie zum Umgang mit institutionellem Rassismus in Berliner Kitas durchgeführt und hierfür 16 Eltern interviewt. Welche Rassismuserfahrungen haben diese gemacht?
    Klassische Beispiele sind die Nicht-Repräsentation in den Spielmaterialien, das Singen von rassistisch konnotierten Liedern oder das Etikettieren von Kindern. Eltern haben unterschiedliche Strategien, um Rassismus in der Kita zu thematisieren.

    Wie sehen diese Strategien aus?
    Eine Strategie ist das sogenannte „Hacking“: Weil Familien antizipieren, dass Rassismus vorkommen könnte, versuchen sie die Diskriminierung zu umgehen. Zum Beispiel wird die Herkunft bei der Kitaanmeldung verschwiegen. Andere wiederum setzen auf Intervention.

    Oft sind Eltern jedoch nicht in der Lage, Veränderungsprozesse anzustoßen, da ihre Beschwerden zum Teil blockiert oder nicht ernst genommen werden. Die Familien versuchen dann eher, außerhalb der Kita ihre Kinder zu stärken, um eine Art Schadensbegrenzung zu betreiben. Manche Familien spielen Diskriminierungserfahrungen in der Kita auch herunter, weil sie befürchten, dass die Beziehung zwischen der pädagogischen Fachkraft und ihrem Kind Schaden nehmen könnte. Es besteht ja ein Abhängigkeitsverhältnis.

    Es kommt vor, dass Familien sich von Beginn an nicht trauen, etwas zu sagen, aus Angst, als nervige Eltern abgestempelt zu werden und den Kitaplatz zu gefährden. Die vielleicht logischste Strategie ist die Exit-Strategie, also das Kind abzumelden. Allerdings geschieht das selten, zum einen aufgrund des Mangels an Kitaplätzen und zum anderen aufgrund der Ungewissheit, ob es in einer anderen Kita besser laufen würde.

     

    „Diskriminierungserfahrungen werden zum Teil von den pädagogischen Fachkräften heruntergespielt“

     

    Wie reagieren Kitas auf Beschwerden von Seiten der Eltern?

    Diskriminierungserfahrungen werden zum Teil von den pädagogischen Fachkräften heruntergespielt. Um zu zeigen, dass sie Vielfalt feiern, weisen manche darauf hin, dass sie mit den Kindern Lieder wie „Drei Chinesen mit dem Kontrabass“ singen, was an sich schon rassistisch ist. Nicht selten werden die verschiedenen Diskriminierungsdimensionen auch gegeneinander ausgespielt – man wolle sich beispielsweise auf das Thema Gender konzentrieren und habe keine Zeit für das Thema Rassismus. Die krasseste Strategie bei Beschwerden von Eltern ist die Kündigung seitens der Kita mit der Begründung, das Vertrauensverhältnis sei gestört.

    Warum gibt es bisher so wenig Forschung zu dem Themengebiet Rassismus in Kitas?

    Zum einen aufgrund der Vorstellung, junge Kinder hätten mit dem Thema Rassismus nichts am Hut, und zum anderen kommt hier der Adultismus – also das ungleiche Machtverhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern – zum Tragen. Das konnte man verstärkt während der Corona-Pandemie beobachten. Wenn es um das Bildungssystem ging, dann stand immer nur die Schule im Fokus. Der Kitabereich wird leider häufig vernachlässigt.

     

     

    Mehr zu unserem Fokusthema Bildungsgerechtigkeit erfährst du im zu.flucht-Podcast, in unserer neuen Printausgabe „Was weiß ich?“ und in unserem zu.flucht-Newsletter!

  • Artikel 21 – Hilfe für queere Menschen im Asylverfahren

    Joe, auch Josefine genannt, engagiert sich im Projekt Artikel 21, welches sich für geflüchtete Personen aus der LGBTQIA+ Community im Asylverfahren einsetzt. Sie selbst ist 2015 aus Syrien nach Deutschland geflüchtet. Wir treffen uns bei Joe zuhause, sitzen auf dem Balkon und essen die diversen Snacks, die Joe vorbereitet hat.

     

    Welche Erfahrungen hast Du mit der Gesundheitsversorgung während deines Asylverfahrens in Deutschland gemacht?

    Mir ging es gar nicht gut, weil ich mich nicht sicher gefühlt habe und mir meine queere Identität abgesprochen wurde. Queere geflüchtete Personen werden in Deutschland in Sammelunterkünfte abgeschoben und sind dort sehr alleine und haben keinen Zugang zur queeren Community. Dort gibt es Täter*innen, homo- und transfeindlichen Personen. Der Platz, an dem du eigentlich die Möglichkeit haben solltest, dich zurückzuziehen, ist unsicher. Zudem baut das Asylverfahren auf einem heteronormativen System auf.

     

    „Ich hatte große Angst vor der Zukunft“

     

    Wie wirkt sich das aus?

    Das bedeutet, dass zum Beispiel in der persönlichen Anhörung im Asylverfahren Personen und Übersetzer*innen sitzen, die nicht sensibilisiert sind. Bei meinem ersten Gespräch wurden Dinge ins Protokoll geschrieben, die ich nicht gesagt habe. Über mein Aussehen mit Bart wurde darauf geschlossen, dass ich nicht queer sein kann. Auch auf der Straße werde ich komisch angeschaut. Das hat dazu geführt, dass ich Depressionen bekommen habe.

    Hast Du Unterstützung bekommen?

    In meiner Unterkunft gab es keine Beratungsstelle für queere Menschen. Die Mitarbeiter*innen von der Wohnunterkunft konnten mir nach erfahrener oder beobachteter Gewalt nicht weiterhelfen. Sozialarbeiter*innen sind nicht weitergebildet, was die Queer-Community angeht. Mir wurde immer gesagt, ich soll der Polizei Bescheid geben. Mich hat das sehr fertig gemacht. Ich hatte große Angst vor der Zukunft. Mein gesundheitlicher Zustand war nicht gut.

     

    „“Artikel 21″ bringt diese Probleme ans Licht“

     

    Konntest Du medizinische Hilfe aufsuchen?

    Die ärztliche Versorgung ist sehr begrenzt zugänglich. 2015 gab es keine Versichertenkarten, sondern Behandlungsscheine und es war nicht möglich, ganz normal zu Ärzt*innen zu gehen. Du bist abhängig von den vorgegebenen Zeiträumen. Im Asylverfahren gibt es trans* Personen, die gerade an einem wichtigen Punkt ihrer Transition sind und keine Unterstützung bekommen.

    Wie bist Du zu dem Projekt „Artikel 21“ gekommen?

    „Artikel 21“ bringt diese Probleme ans Licht und macht insbesondere auf die Situation von geflüchteten Personen aus der LGBTQIA+ Community im Asylverfahren aufmerksam. Ich kenne das Projekt von anderen Organisationen wie Refugees Sisters oder Queer Refugees Support. Dort habe ich Hilfe bekommen und das hat meine Motivation geweckt, auch anderen Personen zu helfen, die genauso unter der Situation leiden. In dem Projekt sprechen queere Personen über deren Erfahrungen im Asylverfahren.

    Was fordert ihr?

    Wir fordern, dass es Unterkünfte extra für queere Personen und Schutz ab dem ersten Tag des Asylverfahrens gibt. Dafür haben wir auch eine Petition gestartet. Wir wollen, dass der Schutz wirklich passiert und die Traumatisierung nicht weitergeht. Wir wollen das System der Erstaufnahme in Frage stellen. Es bedarf Schutz gerade vom ersten Augenblick an. Wir fordern Zugang zu Beratungsstellen und Schulungen für die Mitarbeiter*innen, die am Asylverfahren beteiligt sind, und eine bessere medizinische und psychologische Versorgung. Wenn wir Ausstellungen machen, dann gibt es aber immer eine offene Liste, als Möglichkeit, uns weitere Forderungen und Ideen mitzuteilen. Da kommt immer wieder was dazu. Das hilft uns, weiterzukommen.

     

    Mehr zu unserem Fokusthema Gesundheit erfahrt ihr im zu.flucht-Podcast, im Online-Magazin und hier in unserem zu.flucht-Newsletter!

     

     

  • Zentrum ÜBERLEBEN: Psychologische Versorgung Geflüchteter

    Herr Diab, welche Angebote für Geflüchtete gibt es am Zentrum ÜBERLEBEN?

    Unsere therapeutischen Angebote – die Tagesklinik, die ambulante Abteilung für Erwachsene und die Kinder- und Jugendabteilung – sind für Geflüchtete gedacht, die in ihrem Heimatland oder während der Flucht Folter, Verfolgung, Krieg oder Menschenhandel erlebt haben und infolgedessen psychische Belastungen in Form von Trauma und Traumafolgestörungen erlitten haben.

    Die Berufsfachschule Paulo Freire und die Abteilung für Flüchtlingshilfen können wiederum eine deutlich breitere Gruppe von Migrant*innen und geflüchteten Menschen bedienen. Dort werden Sprach- und Computerkurse, das Nachholen von Schulabschlüssen, Berufsvorbereitungskurse sowie Aus- und Weiterbildungen angeboten.

    Zudem haben wir niedrigschwellige Angebote wie die Fachstelle des Berliner Netzwerk für besonders schutzbedürftige geflüchtete Menschen. Zu dem Netzwerk gehören sieben Organisationen in Berlin, die unter anderem eine Erstdiagnostik durchführen und die besondere Schutzbedürftigkeit für LSBTIQ+-Menschen, Menschen mit Behinderung, Frauen, Schwangere sowie Minderjährige feststellen. Die Fachstelle im Zentrum ist in diesem Rahmen die Kontakt- und Beratungsstelle für traumatisierte Menschen und Opfer schwerer Gewalt.

     

    Diverses Team als Schlüssel zum Erfolg

    Aus welchen Ländern stammen Ihre Patient*innen in der Tagesklinik?

    Menschen aus allen Krisengebieten der letzten 30 bis 35 Jahre, die in Reichweite Europas liegen, finden den Weg zu uns. Zum Beispiel aus der Subsahararegion, West- und Ostafrika, dem Nahen Osten, asiatischen Ländern wie Aserbaidschan, Turkmenistan oder Afghanistan und dem Balkan. Im letzten Jahr hatten wir einen deutlichen Anstieg von Anfragen aus Afghanistan und dem Iran, verständlicherweise wegen der Machtübernahme der Taliban und der Proteste im Iran. Solche Ereignisse haben einen direkten Einfluss auf unsere Arbeit. Zurzeit gibt es auch viele Anfragen von Geflüchteten aus der Türkei.

     

    „Die wortgenaue Übersetzung ist nur ein Teil ihrer Arbeit“

     

    Geflüchtete, die in der Tagesklinik behandelt werden, sprechen in der Regel verschiedene Sprachen und kommen aus unterschiedlichen Kulturen und politischen Kontexten. Wie stellen Sie und Ihre Kolleg*innen sich darauf ein?

    Wir sind ein ziemlich diverses Team. Das kann zwar noch besser werden, wir haben jedoch Mitarbeitende, die aus Afrika oder Asien stammen, Kolleg*innen, die Französisch, Farsi oder wie ich Arabisch als Muttersprache sprechen. Dies bietet vielfältige Anknüpfungspunkte für unsere Patient*innen.

    Genauso tragen die Kolleg:innen, die hier aufgewachsen sind, mit ihren Erfahrungen viel zum Behandlungskonzept bei. Aber vor allem sind unsere Sprach- und Kulturmittler*innen von enormer Wichtigkeit: Die wortgenaue Übersetzung ist nur ein Teil ihrer Arbeit. Manchmal hat man als Therapeut*in das Gefühl, dass etwas im Verborgenen bleibt, was sprachliche oder kulturelle Gründe haben kann. Die Sprach- und Kulturmittler*innen wissen, wie man sich in den jeweiligen Ländern ausdrückt oder Dinge anspricht und sie können zwischen den Zeilen lesen. Das hilft, um zu verstehen, was in den Patient*innen vorgeht.

     

    Traumafolgestörung – die Gefahr der Abspaltung

    Wie schwer tun sich Ihre Patient*innen damit, über Probleme zu reden?

    Die meisten haben Schwierigkeiten, das Geschehene in Worte zu fassen, was zum einen mit den traumatischen Ereignissen selbst zu tun hat und zum anderen mit der Art und Weise, wie traumatische Erlebnisse verarbeitet werden.

    Zentral ist hier der Begriff der Spaltung. Wenn wir etwas Grauenvolles erleben, versucht unsere Psyche uns zu schützen, indem sie Belastendes abspaltet und beiseite schiebt, um die Überlebensfähigkeit in einem solchen Bedrohungsszenario zu sichern. Das ist ein sinnvoller Prozess, um die Bedrohung zu überstehen.

    Aber wenn die Bedrohung vorbei ist und es nicht gelingt, die Erlebnisse in den Rest des psychischen Geschehens zu integrieren, dann bleibt die Abspaltung bestehen. Die Gefahr der Entstehung einer Traumafolgestörung im Sinne einer Posttraumatischen Belastungsstörung ist dann sehr hoch.

     

    „Bilder, die so stark sind, dass die Person das Gefühl hat, das Trauma oder Teile davon erneut zu durchleben“

     

    Welche Symptome sind mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung verbunden?

    Ein zentrales Symptom ist das Hyperarousal. Menschen befinden sich in einer permanenten Anspannung gegenüber ihrer Umwelt. Jedes Geräusch, jede Bewegung oder Belastung von außen kann schnell zu einer Reizüberflutung führen.

    Das Widererleben ist ein zweiter, sehr wichtiger Faktor. Ausgelöst durch einen Schlüsselreiz, kehrt die traumatische Erfahrung zurück und kontrolliert die Wahrnehmung der Betroffenen. Die häufigste Form sind Flashbacks. Das sind Bilder, die so stark sind, dass die Person das Gefühl hat, das Trauma oder Teile davon erneut zu durchleben, manchmal sogar begleitet von den körperlichen Schmerzen, die mit der ursprünglichen Folter verbunden waren. Die Bilder können im Wachzustand und in Form von Albträumen auftreten.

    Ein weiteres Symptom ist Vermeidungsverhalten: Aufgrund der Überflutung an Reizen und der durch den Alltag ausgelösten Flashbacks neigen Betroffene dazu, Situationen zu meiden, die Erinnerungen an das Trauma hervorrufen könnten. Das beeinflusst den Alltag der Menschen erheblich und kann in einigen Fällen zu vollständiger Isolation führen.

     

    Inwiefern machen sich die seelischen Beschwerden auch körperlich bemerkbar?

    Verdrängtes Traumamaterial und damit verbundene Gefühlslagen, die nicht rechtzeitig verarbeitet oder geäußert wurden, können schnell in körperliche Beschwerden münden. Viele haben mit Rücken- oder Kopfschmerzen zu kämpfen.

    „Vertrauen in die Souveränität des eigenen Körpers zurückzugewinnen“

    Zudem kann die Wahrnehmung des eigenen Körpers gestört sein. Immerhin sprechen wir von einem Körper, der einen Übergriff im Sinne von Folter, Menschenhandel oder sexualisierter Gewalt erlebt hat. Gerade bei sexualisierter Gewalt wird der Körper oft als etwas Beschämendes, Verletzliches und Abstoßendes empfunden und nicht als etwas Liebenswertes und Genussvolles.

    Vertrauen in die Souveränität des eigenen Körpers zurückzugewinnen und die gegenseitige positive Beeinflussung von Psyche und Körper neu zu erfahren, kann viel zu einem gelungenen therapeutischen Prozess beitragen. Aus diesem Grund sind etwa ein Drittel unserer Therapieangebote körperbezogen. Beispiele hierfür sind Achtsamkeitstraining, Tanztherapie, Sport und Entspannungstechniken.

     

    Methoden und Mittel des Zentrum ÜBERLEBEN

    Warum liegt der Fokus in der Tagesklinik auf Gruppentherapien?

    Zu uns in die Tagesklinik kommen Menschen, deren Beschwerden chronisch sind und die den Alltag nicht mehr bewältigen können. Der Aufbau von Vertrauen und der Umgang mit anderen Menschen ist für viele eine große Herausforderung. Gruppenangebote haben den Vorteil, dass Schwierigkeiten vor Ort erlebbar sind und eine Intervention direkt möglich ist. Das, was den Menschen draußen im Alltag widerfährt, erleben sie auch in unseren Gruppen, nur dass sie hier therapeutisch begleitet werden und sich in einem geschützten Raum befinden.

    Wenn Probleme auftauchen, gibt es die Möglichkeit, Dinge auszuprobieren und neue Wege zu gehen. Unsere Angebote lassen sich grob in körperbezogene, kreative und sprachbasierte Therapien einteilen. Außerdem bieten wir neben den Gruppentherapien Einzelsitzungen mit Therapeut*innen, Physiotherapie und sozialarbeiterische Sitzungen an. Gerade die Treffen mit den Sozialarbeiter*innen sind sehr wichtig, denn unsere Patient*innen haben nicht nur mit psychischen Belastungen zu kämpfen, sondern ebenso mit der Herausforderung, in einem Land zu sein, in dem sie nicht wissen, wie alles funktioniert.

     

    Wie finden Geflüchtete den Weg zum Zentrum ÜBERLEBEN?

    Die meisten Patient:innen werden von ihren Ersthelfer*innen in ihrer Gemeinschaftsunterkunft an uns verwiesen. Krankenhäuser, Ambulanzen, niedergelassene Kolleg*innen, Beratungsstellen oder semiprofessionelle Hilfesysteme schicken ebenfalls viele Menschen zu uns. Es kommt auch vor, dass Betroffene, die Englisch beherrschen, uns im Internet finden. Manche stoßen wiederum über die Community auf uns.

     

    Wie finanziert sich das Zentrum?

    Jede Abteilung hat ein eigenes Konzept und eine eigene Finanzierung. Die Tagesklinik hat zurzeit 24 Plätze. Wir sind relativ gut aufgestellt, weil wir kassenfinanziert sind. Jeder, der eine Krankenversicherung hat, kann bei uns behandelt werden. Das deckt zwar nicht unsere Kosten, aber einen guten Teil davon.

    Andere Bereiche, wie die ambulante Abteilung, werden gemischt finanziert durch die Kassenärztliche Vereinigung, Projektmittel und Spenden. Das Zentrum Überleben hat einen Etat von 8 Millionen Euro und dieser kommt von allen möglichen Stellen: vom Bund, vom Land, von den Krankenkassen, Bezirken, der Kassenärztlichen Vereinigung, von Privatpersonen und so weiter. Das macht die Sache nicht gerade einfach.

     

    Schlechte psychosoziale Versorgung im ländlichen Raum

    Der psychologische Versorgungsbedarf von Geflüchteten ist in Deutschland bei weitem nicht gedeckt. Was müsste sich aus Ihrer Sicht ändern?

    Wir sind in Berlin so gut aufgestellt wie in keinem anderen Bundesland, aber selbst hier ist die Situation oft prekär. Wenn man sich außerhalb umschaut, ist die Lage zum Teil sogar desaströs. Es gibt ganze Landschaften, in denen es keine Versorgung für Geflüchtete gibt. Aufgrund der Sprachbarriere bleiben diesen Menschen viele Möglichkeiten verschlossen.

    Hier ist der Gesetzgeber gefragt. Seit Jahren wird darauf hingewiesen, dass das Recht auf Behandlung nicht bei der Infrastruktur und dem Vorhandensein von Ärzt*innen, Therapeut*innen und Pfleger*innen aufhört, sondern dass auch die Vermittlung dazugehört. Die Kosten für Dolmetschende werden immer noch nicht übernommen. Es muss eine Gesetzesänderung geben, damit die Krankenkassen diese Kosten tragen.

    Diese Missstände betreffen nicht nur den psychiatrischen und psychotherapeutischen Bereich. Es gibt viele Erkrankungen, die übersehen werden und damit unbehandelt bleiben. Bei uns werden oft nebenbei Bluthochdruck, Diabetes und Infektionserkrankungen diagnostiziert. Das läuft völlig unter dem Radar, weil die Menschen keinen ausreichenden Zugang zum Gesundheitssystem haben.

     

    Wie empfinden Sie das medial vermittelte Bild von Geflüchteten angesichts der Geschichten, mit denen Sie tagtäglich konfrontiert werden?

    Ich empfinde die Berichterstattung in den Medien als sehr einseitig. Sie wird der Komplexität und Vielfalt dieser Gruppe nicht gerecht. Mein persönlicher Eindruck ist, dass Integration auf die Betroffenen abgewälzt wird. Es schwingt häufig der Vorwurf mit, sie würden sich nicht integrieren und an die Regeln halten.

    Ich verstehe Integration anders. Integration ist ein gemeinsamer Prozess. Die Hauptverantwortung liegt aus meiner Sicht allerdings bei den politischen Entscheidungsträger*innen und nicht bei denen, die hier „gestrandet“ und isoliert sind. Hier hat die Politik einiges versäumt.

    Der politische Diskurs sollte nicht dahin gehen, dass alle Migrant:innen und Geflüchtete Deutsche werden. Der Fokus sollte viel eher darauf liegen, wie wir eine pluralistische Gesellschaft mit all diesen Unterschieden, aber auch klaren Grenzen, hinbekommen. Aus meiner Erfahrung als Therapeut, der mit sehr diversen Gruppen arbeitet, kann ich sagen, dass das durchaus funktionieren kann.

     

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