Schlagwort: Identität

  • Mein Weg zur deutschen Staatsbürgerschaft

    Als kohero-Redaktionsleiterin Natalia bekannt gab, dass das Fokusthema für die nächsten Wochen „Staatsbürgerschaft“ lauten würde, kam mir sofort mein eigener steiniger Weg zum deutschen Pass in den Sinn. Obwohl ich 1986 in Berlin geboren wurde, konnte ich erst mit Anfang 20 den Reiseausweis für Geflüchtete, den man an seiner blauen Farbe und den zwei schwarzen Streifen in der linken oberen Ecke erkennt, gegen einen bordeauxroten Pass für deutsche Staatsbürger*innen eintauschen. Meine Geschichte mag eine besondere und wahrscheinlich extreme sein, aber es gibt da draußen sehr viele Menschen, die wie meine Familie und ich mit den Hürden und der Bürokratie der Einbürgerung zu kämpfen haben.

    Nach der Flucht aus dem Iran: Leben unter falschem Namen in der DDR

    Aber fangen wir erstmal damit an, warum meine Eltern gezwungen waren, ihre Heimat hinter sich zu lassen. Mein Vater war im Iran politisch aktiv. Mit 21 Jahren wurde er, wie so viele zu jener Zeit, ins Gefängnis gesteckt, weil er sich gegen den Schah aufgelehnt hatte. Trotz drei Jahren Haft setzte er seine politischen Aktivitäten auch während der Islamischen Revolution fort und arbeitete als Journalist.

    Er war Mitglied einer linken Partei, die 1983 verboten wurde, nachdem in den Monaten zuvor bereits Tausende von Anhänger*innen verhaftet worden waren. Mein Vater tauchte ein Jahr lang unter und war weiterhin im Untergrund aktiv, bis die Situation zu gefährlich wurde und er in die ehemalige Sowjetrepublik Aserbaidschan fliehen musste.

    Nach einem kurzen Aufenthalt in Baku wurde er von seiner Partei, die inzwischen aus dem Exil heraus agierte, in die DDR geschickt, um mit einer Handvoll anderer für eine linke Zeitung zu arbeiten, die u. a. im Iran heimlich verbreitet wurde. Meine Mutter, die in Moskau russische Philologie studiert hatte, folgte meinem Vater 1985 nach Ost-Berlin, wo ich dann ein Jahr später zur Welt kam. Um die Handelsbeziehungen zum Iran nicht zu gefährden, war die DDR sehr darauf bedacht, die Tatsache, dass sie einigen wenigen Iraner*innen Asyl gewährt hatte, geheim zu halten. Und so erhielten meine Eltern und ich Decknamen und aus einer iranischen Familie wurde auf dem Papier eine pakistanische.

    Der Name als Stolperstein

    Kurz vor dem Fall der Mauer wurden endlich wieder unsere richtigen Namen in unsere DDR-Pässe für politische Immigrant*innen eingetragen. Die Rückgängigmachung der Namensänderung, speziell in meinem Fall, sollte später für meine ganze Familie zum Stolperstein bei der Einbürgerung werden. Nach der Wiedervereinigung stellten meine Eltern bei der Ausländerbehörde in West-Berlin einen Asylantrag, weil unsere bisherigen Pässe dabei waren, ihre Gültigkeit zu verlieren.

    Sie engagierten eine Anwältin, die die Ausländerbehörde darüber informierte, dass die DDR und die BRD unmittelbar vor der deutschen Einheit ein Abkommen unterzeichnet hatten, das die BRD dazu verpflichtete, alle politischen Immigrant*innen der DDR als Geflüchtete anzuerkennen. Durch das Schreiben wurde unser Asylantrag rasch bewilligt, und wir erhielten einen Pass für Geflüchtete, zunächst mit befristetem und nach einigen Jahren mit unbefristetem Aufenthalt.

    Die Einbürgerung klappte erst im zweiten Anlauf, und das nach vielen Jahren

    Ende der 1990er Jahre beantragte meine Mutter die deutsche Staatsangehörigkeit, da sie unheilbar krank war und ein letztes Mal in den Iran reisen wollte. Schon bei der Antragstellung wurden ihr keine Erfolgsaussichten eingeräumt, da unsere Familie auf Sozialhilfe angewiesen war und mein Vater als Studierender BAföG bezog.

    Kurz nach ihrem Tod versuchten wir es 2002 erneut mit einem Einbürgerungsantrag. Dies war vor allem für meinen Vater wichtig, damit wir die Verwandten meiner Mutter im Iran besuchen konnten. Nun nahm das Drama seinen Lauf, das erst nach fünf Jahren enden sollte. Immerhin lag es diesmal nicht an unserer wirtschaftlichen Situation, denn mein Vater arbeitete jetzt als Architekt. Der Grund, warum wir als Familie so lange auf die Bewilligung warten mussten, war, dass in meiner Geburtsurkunde und in meinem Ausweis zwei verschiedene Namen angegeben waren.

    Und obwohl das nur mich betraf, mussten mein Vater und sogar meine vier Jahre jüngere Schwester, die immer ihren richtigen Namen trug, genauso lange wie ich auf ihre deutschen Pässe warten. Die Sachbearbeiterin bestand auf die Vorlage einer Geburtsurkunde mit dem Namen Ajda Omrani, aber ein solches Schriftstück existierte nicht.

    Ein Brief meiner Kindergartenleiterin, die über unsere Decknamen in der DDR-Zeit Bescheid wusste, half nicht weiter, genauso wenig wie diverse Schreiben unseres Anwalts. Irgendwann wurde dann sogar die Vaterschaft meines Papas angezweifelt, was wir nicht einfach durch einen Bluttest widerlegen durften. Wir konnten erst aufatmen, als die Gauck-Behörde meinem Vater Einsicht in unsere Stasi-Akte gewährte. Durch Auszüge aus der Akte ließ sich nämlich endlich unsere Identität feststellen.

    Die Vorteile der deutschen Staatsbürgerschaft

    Ich erinnere mich noch gut an die Überreichung der Einbürgerungsurkunde und daran, wie unsere Sachbearbeiterin wissen wollte, wie ich mich fühle. Wahrscheinlich erwartete sie einen Freudentanz, aber das ganze Verfahren war so zermürbend, dass ich leider nur ein müdes Lächeln aufbringen konnte. Der Ärger verflog jedoch recht schnell und es dauerte nicht lange, bis ich meinen deutschen Pass immer mehr zu schätzen wusste.

    Reisen ist beispielsweise deutlich angenehmer geworden. Während Grenzkontrollen früher jede Menge Zeit in Anspruch nahmen, ist dies mit dem deutschen Pass nicht mehr der Fall. Außerdem belegt der deutsche Pass im Global Passport Ranking von Henley & Partners aktuell den geteilten dritten Rang mit Spanien und gilt damit als einer der mächtigsten Pässe der Welt. Der deutsche Reisepass ermöglicht die visafreie Einreise in 191 Länder.

    Neben dem Reisen ist die Begeisterung für politische Themen eine weitere Leidenschaft von mir. Es bedeutet mir sehr viel, dass ich, seitdem ich die deutsche Staatsangehörigkeit besitze, das Recht habe, bei Wahlen auf europäischer, Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene sowie bei Volksentscheiden abzustimmen und über die politische Ausrichtung mitzuentscheiden. Ich habe noch nie eine Wahl verpasst und betrachte es als ein Privileg, daran teilnehmen zu können, denn es gibt unzählige Menschen auf der Welt, die sich nach freien, gleichen und geheimen Wahlen sehnen. Theoretisch könnte ich sogar selbst für ein politisches Amt kandidieren oder eine Beamtenlaufbahn im öffentlichen Dienst einschlagen, wenn ich wollte.

    Abgesehen von den genannten Vorteilen sorgt die deutsche Staatsbürgerschaft aber auch für ein Gefühl der Zugehörigkeit zur hiesigen Gesellschaft. Um die Identifikation mit den deutschen Werten zu stärken und die Integrationsbemühungen der Menschen zu honorieren, halte ich den Vorschlag der Ampelkoalition, die Einbürgerung nicht erst nach acht Jahren, sondern bereits nach fünf Jahren und bei besonderen Integrationsleistungen sogar schon nach drei Jahren zu ermöglichen, für richtig und längst überfällig.

    Fachkräftemangel macht erleichterte Zuwanderung und Einbürgerung dringend notwendig

    Darüber hinaus müssen die hohen Hürden der Zuwanderung abgebaut werden, woran die Ampelkoalition derzeit ebenfalls arbeitet, um die Leistungsfähigkeit Deutschlands und den Wohlstand im Land zu sichern. Aufgrund des demografischen Wandels und des akuten Fachkräftemangels ist Zuwanderung dringend notwendig. Ohne Gegenmaßnahmen könnte Deutschland bis 2035 ein Arbeitskräftedefizit von sieben Millionen Menschen drohen, so das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, weil deutlich mehr Menschen in den Ruhestand gehen als in den Arbeitsmarkt eintreten werden. An Einwanderung führt also kein Weg vorbei, schließlich müssen all diese Renten irgendwie finanziert werden.

    Deutschland ist bereits eine multikulturelle Gesellschaft, und wenn jetzt noch mehr Menschen aus dem Ausland hinzukommen, sollte sichergestellt werden, dass sie sich als Teil dieses Landes fühlen, und dazu gehört aus meiner Sicht auch ein schnellerer Zugang zur deutschen Staatsbürgerschaft, um so einen Anreiz für Integration zu schaffen. Außerdem wäre dies demokratiefördernd, wenn man bedenkt, dass dem ZDF zufolge 9,7 Millionen Erwachsene von der Bundestagswahl 2021 ausgeschlossen waren, weil sie nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Kein Wunder, wenn sich unter diesen Menschen das Gefühl breit macht, von der Politik nicht repräsentiert zu werden.

    Laut dem Statistischen Bundesamt lag das ausgeschöpfte Einbürgerungspotenzial im Jahr 2021 gerade einmal bei 2,45 %. Bei diesem Wert wird die Anzahl der Einbürgerungen mit der Zahl der Ausländer*innen, die seit mindestens 10 Jahren in Deutschland wohnen, ins Verhältnis gesetzt. Es ist nachvollziehbar, wenn EU-Bürger*innen keinen Grund sehen, sich einbürgern zu lassen, aber bei den anderen stehen die hohen Hürden, die Einbürgerungsgebühr und die Aufgabe der bisherigen Staatsbürgerschaft im Weg.

    Doppelte Staatsbürgerschaft und enge Verbundenheit mit Deutschland schließen sich nicht aus

    Dass die Ampelkoalition den letzten Punkt angehen will, wird viele Migrant*innen erfreuen. Ich selbst habe die doppelte Staatsbürgerschaft. Obwohl ich mich mit der Islamischen Republik Iran, also mit dem derzeitigen Regime, überhaupt nicht identifizieren kann, spiegeln diese beiden Pässe eine Realität wider, nämlich mit zwei Kulturen aufgewachsen zu sein, was ich als absolute Bereicherung empfinde. Dabei steht meine iranische Kultur keineswegs im Widerspruch zu meinem tiefsten Respekt vor der freiheitlich-demokratischen Grundordnung in Deutschland.

    Wenn sich die Opposition in Gestalt von CDU/CSU und AFD gegen den erleichterten Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit ausspricht und befürchtet, der deutsche Pass werde verramscht, wird der Eindruck erweckt, die deutsche Kultur sei etwas Heiliges, Unantastbares und damit anderen Kulturen überlegen. Dabei wird übersehen, dass sich Deutschsein gewandelt hat.

    Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes hat inzwischen mehr als ein Viertel der in Deutschland lebenden Menschen einen Migrationshintergrund. Dem sollte mit einem modernen Staatsangehörigkeits- und Einwanderungsrecht Rechnung getragen werden. Um als Wirtschaftsstandort attraktiv zu sein, muss man mit der Zeit gehen. Vielleicht hat die Opposition aber auch nur Angst vor dem enormen Wählerpotenzial, das dadurch freigesetzt würde. Angesichts der Ressentiments von CDU/CSU und AFD werden diese Menschen vielleicht nicht unbedingt gewillt sein, für diese beiden Parteien zu stimmen.

  • (Re)connecting – Mit Kantom über Stereotype & Identitätsfindung

    Mit welchen Stereotypen werden Südasiat*innen in Deutschland konfrontiert? Und wie gehen wir mit diesem Alltagsrassismus um?
    Wir gehen in einen Austausch darüber, wie es ist, ein Umfeld zu haben, das wenig über Südasien weiß. Denn das Aufwachsen in einer weißen Gesellschaft heißt für viele rassifizierte Menschen eben häufig, dass sie sich anpassen müssen und sich von ihrer Kultur entfremden.
    Wieso werden wir immer wieder für Inderinnen gehalten und was macht das mit uns? Und warum nervt es, ständig Südasien-Expertin spielen zu müssen? Wir erzählen, welche Teile unserer Identität wir gerade versuchen, wiederzufinden und warum es gar nicht so einfach ist, sich Wissen über die eigene Geschichte anzueignen. 
    Folgt Kantom auf Instagram, YouTube und TikTok!
    Wir starten unseren neuen Newsletter. Melde dich hier an, um keine News zu verpassen. Außerdem freuen wir uns, wenn du an unserer Community-Umfrage teilnimmst, damit wir unsere Arbeit reflektieren können. Danke!
    Nur durch deine Spende ist unsere Arbeit möglich. Unterstütze uns hier.
    Du hast Feedback, Themenvorschläge oder Anregungen? Schreib uns!
    Instagram & TikTok: @curryon_podcast
    E-Mail: curryon@kohero-podcast.de
    Musik und Einspieler: Christian Petzold

  • Meine kulturelle Identität

    Auf Wikipedia bedeutet die kulturelle Identität das Zugehörigkeitsgefühl eines Individuums oder einer sozialen Gruppe zu einem bestimmten kulturellen Kollektiv. Dies kann eine Gesellschaft, ein bestimmtes kulturelles Millieu oder auch eine Subkultur sein. Identitätsstiftend ist dabei die Vorstellung, sich von anderen Individuen oder Gruppen kulturell zu unterscheiden, das heißt in einer bestimmten Anzahl gesellschaftlich oder geschichtlich erworbener Aspekte wie Sprache, Religion, Nation, Wertvorstellungen, Sitten und Gebräuchen oder in sonstigen Aspekten der Lebenswelt.

    Ich verstehe kulturelle Identität als etwas Komplexes und Wichtiges. Es ist unsere Verbindung mit dem Leben selbst. Durch meine Muttersprache kann ich mich mit meinen Emotionen verbinden und sie ausdrücken. Alleine durch den Geruch eines traditionell kirgisischen Gerichtes kann ich mich auf emotionale Ebene mit meiner kulturellen Identität verbinden und mich in der Welt vertraut und sicher fühlen.

    „Dieser Traum schien mir und Menschen in meiner Umgebung zu groß und zu frech zu sein, um wahr zu werden“

    Als ich in Kirgisistan gelebt und studiert habe, hatte ich den inneren Drang, in meinem Leben etwas mehr zu erleben und erreichen als ich es mir dort leisten konnte. Ich hätte wahrscheinlich – wie viele Frauen es gemacht haben – nach meinem Studium jemandem geheiratet, Kinder bekommen und als Lehrerin in der Schule gearbeitet. Das war definitiv nicht mein Weg.

    Nach langen Überlegungen und Recherche habe ich durch einer Freundin über einen Programm für Au-Pair-Mädchen erfahren und das war für mich eine gute Möglichkeit, mein Leben zu verändern. Ich wollte sogar in Deutschland studieren. Dieser Traum schien mir und Menschen in meiner Umgebung zu groß und zu frech zu sein, um wahr zu werden. Zum Glück waren Frechheit und Großdenken immer ein Teil meines Charakters.

    Deshalb habe ich es gewagt, alle meine Kräfte dafür zu investieren, um nach Deutschland zu fahren. Und es hat geklappt: Meine Unterlagen beim Konsulat für ein Visum als Au-Pair-Mädchen stimmten, der Abschied mit der Familie und Freunden war wunderbar. Was mich am meisten zufrieden gestellt hat, war meine Gastfamilie! Meine Gasteltern waren ziemlich offene und hilfsbereite Menschen.

    Die Vielfältigkeit und Schönheit Hamburgs und das Freiheitsgefühl von familiären Verpflichtungen haben mir Flügel verliehen. Ich fühlte mich in den ersten Tagen glücklich und stark.

    Ich habe 3 Kinder betreut und bin zu einem intensiven Sprachkurs gegangen. Ich habe schon innerhalb des ersten Jahres in Hamburg eine B2-Sprachprüfung bestanden und einen Platz an der Universität Hamburg bekommen.

    „Wenn ich jetzt nachdenke, hatte ich im wahrsten Sinne des Wortes eine Panikattacke“

    Im Winter 2007 bin ich für einen Monat zurück nach Kirgisistan geflogen.

    Zuerst bin ich nach Moskau geflogen und habe dort 4 Stunden auf den nächsten Flug nach Bischkek gewartet. Erst am Flughafen merkte ich, wie schlecht es mir eigentlich ging. Ich fühlte mich gespalten. Das letzte Jahr in Deutschland war für mich sehr intensiv und anstrengend. Ich war sehr nervös.

    Wenn ich jetzt nachdenke, hatte ich im wahrsten Sinne des Wortes eine Panikattacke. Als ich in Warteraum saß und auf einmal so viele Kirgisen gesehen habe, fühlte ich mich wie eine Verbrecherin, die vor der Polizei auf der Flucht war. Ich hatte Angst, dass jemand mich gleich festnimmt und irgendwo in einem Raum abschließt. Grund für diese starke Schmerzen, waren hauptsächlich meine Schuldgefühle. Ich war „schuldig“, weil ich meine Heimat und alles, was dazu gehört, verlassen hatte, um meinen persönlichen Weg gehen zu können.

    Als ich in Kirgisistan ankam, hat meine Familie mich herzlich angenommen. Sie haben mir Blumen mitgebracht und mich fotografiert. Ich schenkte ihnen mein Lächeln. Aber meine Freude war künstlich. Innerlich war ich immer noch voller Angst. Der Flughafen „Manas“ in Bischkek kam mir alt und klein vor. Menschen schienen in meine Augen auch klein und sogar hässlich.

    Die Wohnung in einem guten Stadtteil in Bischkek, wo ich geboren und aufgewachsen bin, schien mir nun auch alt und sehr bescheiden. Ich fühlte mich in der Wohnung fremd und gespalten. Ich zählte schon die Tage, bis ich wieder nach Deutschland fliegen konnte. Meine Familie, also mein Bruder, Vater und andere haben mich als eine Deutsche wahrgenommen und nicht mehr die Erkeaiym, die ich mal war…

    „Der Verlust meiner kulturellen Identität äußerte sich durch psychische Schwäche und Ängstlichkeit“

    Ich fühlte deren große Erwartungen an mich, stark zu sein, viel Geld zu haben, um ihre emotionalen und finanziellen Bedürfnisse zu erfüllen. Obwohl ich innerhalb von einem Jahr in Deutschland, mit viel Disziplin und Wille, vieles geschafft habe, habe ich von ihnen leider keine Anerkennung bekommen.

    Eigentlich war ich psychisch fertig und ich war auf die emotionale Unterstützung meiner Familie angewiesen. Aber stattdessen habe ich Druck erfahren. Ich musste so sein, wie ich schon immer da gewesen war. Ich sollte die Rolle der jüngeren Schwester spielen und für meine Familie da sein. Oft fühlte ich mich so schwach und ich habe versucht, möglichst alles richtig zu machen. Innerlich empfand ich unheimlich viel Wut. Ich bin oft mit meinen Freundinnen raus gegangen, um meine innere Spannung irgendwie zu dämpfen. Das ist mir teilweise gut gelungen.

    Der Verlust meiner kulturellen Identität äußerte sich durch psychische Schwäche und Ängstlichkeit. Ich war überangepasst. Mit meinen Freundinnen in Kirgisistan und Familienmitgliedern habe ich leise gesprochen und ich konnte nicht allein mit meinen Neffen Bus fahren. Ich fühlte mich vor meinen Landsleuten so schuldig, dass ich nicht noch ein „Verbrechen“ machen wollte, falls meinen Neffen etwas passieren würde.

    Daher haben meine Verwandten mich oft für eine Egoistin gehalten. Sie dachten, dass ich im Westen gelernt habe, nur über mich selbst nachzudenken. Versammlungen mit Verwandten haben mich noch mehr geschwächt und ich fühlte mich wie eine kleine Maus, die jede Minute getötet werden konnte, falls ich etwas Unvorsichtiges gesagt oder gemacht hätte.

    „Die neue deutsche Identität bestand für mich in einem Gefühl, perfekt zu sein“

    Als ich nach meinem Urlaub in Heimatland wieder nach Deutschland kam, war ich froh, wieder in meine „neue deutsche Identität“ zu schlüpfen. Hier in Hamburg hatte ich schon eine feste Beziehung mit einem Freund und viele Freundinnen aus meinem Heimatland. Mein Studium hat angefangen und ich habe Berufspläne gemacht.

    Die neue deutsche Identität bestand für mich in einem Gefühl, perfekt zu sein. Ich fühlte mich wie eine „Deutsche“: stark, zielstrebig, fleißig und konsumorientiert. Ich mochte konsumieren: leckeres Essen, viel ausgehen, viele Klamotten kaufen, viel trinken und Partys feiern. Am besten sozusagen alles, was „kirgisisch“ war, löschen, vernichten, vergessen und nur noch perfekt und dazugehörig sein. „Kirgisisch“ hat alles Schlechte aufgenommen: schwach, arm, dreckig, 3. Welt-Land, schlimme Männer – alles Schlechte war „kirgisisch“.

    Ich sendete Geld an meiner Familie, ab und zu Pakete mit Klamotten und ich telefonierte mit ihnen. Über mich erzählte ich wenig, weil  zwischen uns immer eine dicke Blockade stand. Ich dachte, dass die Familie doch keine Ahnung von Deutschland und dem Leben hier haben. Lieber fragte ich sie, was sie so gemacht haben, wie sie mit ihren Leben zurechtgekommen waren.

    „Was will man mehr?“

    Sie antworteten immer dasselbe: Gelder reichten nicht, Politik war korrupt, alles wurde teuer, Kirgisien als Volk sind ja eher Loser gewesen. Ich lächelte nur und tröstete sie und blieb die Starke in einem „starken Land“.

    Ich habe mein Studium mit 1,6 fertig studiert. Da ich mich immer für menschliche Psychologie interessiert habe, habe ich nach einem halben Jahr einen neuen Job beim ASP (ambulanter sozialpsychiatrischer Dienst) gefunden.

    Danach hatte ich großes Glück, Mutter zu werden. Ich habe eine wunderschöne Tochter bekommen. Als nächsten Schritt wollten ich mit meinem damaligen Partner eine Neubauwohnung in Winterhude kaufen. Alles lief „perfekt“: Neue Wohnung, Beruf läuft und das zweite Kind ist auch schon in Planung, regelmäßige Urlaube in andere Länder, manchmal auch nach Kirgisistan. Was will man mehr?

    „Ich wurde immer unglücklicher und schwermütiger“

    Und dann fing in meinem Leben eine dunkle und schwere Krise an…

    Ich wurde immer unglücklicher und schwermütiger. Meine kulturelle Identität wurde von Jahr zu Jahr zu etwas nicht Realem, Abstraktem… Alles, was mir früher Spaß gemacht hat, war nun für mich langweilig. Als Mutter fühlte ich mich dieser Aufgabe schlecht gewachsen, ich fühlte mich überfordert und einsam. Mein Exmann war immer viel beruflich beschäftigt.

    Im Frühling 2018, bei einem Spaziergang nach der Arbeit, bin ich in den Eilbeker Park gegangen und Tränen flossen aus meinen Augen. Ich fühlte in mir eine unglaubliche Leere und Schmerz. Obwohl ich in letzten Jahren irgendwie oft geweint habe und oft krank war, wollte ich bisher immer weiter machen. Es ging mir so schlecht, dass eine böse Stimme in mir sagte, dass mein Leben nichts mehr wert ist.

    Mein Leben war so leer und ich war so unglücklich, dass ich mir mein Leben nehmen wollte. Aber ich hatte eine wunderschöne Tochter, die mich brauchte. Eine gesunde und eine spirituelle Stimme flüsterte mir zu, dass ich dringend mein Leben verändern muss. Wenn ich jetzt an diesen Moment denke, weiß ich, dass sich in mir meine kirgisischen Wurzeln angefangen haben, zu bewegen.

    „Ich habe entschieden, mich selbst, meine kulturelle Identität wieder ins Leben zu holen“

    Wenn mich jemand in diesem Park ernsthaft gefragt hätte, wer ich war, konnte ich es nicht beantworten. Ich wusste nicht mehr, wer ich war… Es ist eine große Tragödie für einen Menschen, der nicht mehr weiß, wer er ist, woher er kommt, wo seine Wurzeln sind, was er mag und was er nicht mag, welche Werte er hat…

    Ich habe entschieden, mich selbst, meine kulturelle Identität wieder ins Leben zu holen. Egal, was es mich koste. Ich habe meinen Job gekündigt und bin mit meiner damals 4-jährigen Tochter mit einem One-Way-Ticket nach Kirgisistan geflogen. Dadurch waren wir für den Kauf unserer neuen Wohnung nicht mehr kreditwürdig.

    Als ich nach Kirgisistan kam, habe ich eine Wohnung gemietet. Mein Bruder ist allein zum Flughafen gekommen. Ich konnte näheren und längeren Kontakt weder mit meinem Bruder noch mit anderen Familienmitgliedern aushalten. Sie schienen auch gleichgültig zu sein.

    Typische Symptome meines Traumas waren: Lähmung, Angstzustände, Misstrauen in Verwandte und fremde Menschen. Diesmal war es mir aber bewusst, warum ich so war. Ich wusste, dass ich ein Trauma erlebt habe und nicht anders konnte, als meine kulturelle Identität aufzugeben, um in einem neuen Land zurechtzukommen.

    „Ich war die Kranke und die Ärztin in einem Menschen“

    Aber jetzt war ich mit dem inneren Drang erfüllt, mir das zurückzuholen. Ich habe viele Spaziergänge mit meiner Tochter und einer Babysitterin in den Orten, wo ich früher als Kind gewesen war und neue Orte in Bischkek gemacht. Ich habe internationale Cafés besucht, viel Musik gehört und mich viel entspannt. Ich habe nur das gemacht, worauf ich Lust hatte, und nichts gemacht, worauf ich keine Lust hatte. Das ist eine Methode aus der Verhaltenstherapie des russischen Psychologen Michail Labkowski.

    Diese waren erste Schritte zurück in meine kulturelle Identität. Mein Körper und meine Psyche mussten sich wieder erinnern, wer ich war, welche Werte ich hatte, was mir wirklich wichtig ist.

    Wenn ich mich an das Jahr 2019 erinnere, in dem ich den ganzen Sommer in Kirgisistan verbracht habe, komme ich mir wie ein seelisch kranker Mensch vor, deren seelische Krankheit nicht von außen erkennbar ist. Ich habe mich gut kaschiert. Ich war die Kranke und die Ärztin in einem Menschen.

    „In mir ist Platz für beide Länder und Kulturen“

    Ich habe oft von Erdbeben geträumt. Mein Leben war auch auf psychischer Ebene bedroht, weil ich es gewagt habe, mich innerlich vom Deutschland abzuwenden, um wieder zu Kirgisin zu werden. Das hat viel Mut und Kraft und Verluste gekostet.

    Kirgisische Sprache, Fernsehen, Familie, unser Essen, neue Menschen, die ich dort kennengelernt habe, Luft und Natur, kein Zeitdruck, Spontanität und letztendlich die Freiheit, nach vielen Jahren Leistungsdruck endlich mal nichts zu machen, haben mich in meiner schweren Krise gehalten und gestärkt.

    Jetzt kann ich mit einer ruhigen Stimme sagen, dass es sich gelohnt hat, mich auf die Spuren meiner Wurzeln zu begeben, weil ich mich jetzt im Herbst 2022 über den Wind und Regen in Hamburg freuen kann. Erinnerung an den letzten Sommer in Bischkek wärmen mein Herz. In mir ist Platz für beide Länder und Kulturen. Ich bin beides… Aber ich fühle die Trauer um den Verlust meiner Heimat und kulturelle Identität so groß, dass mein Weg der Heilung noch weiter geht…

    Ich wünsche jedem Menschen, der sein Heimatland verloren, den Mut, seine Trauer zu akzeptieren und sie auszudrücken…

  • Bittersüße Diaspora

     

    Wie die meisten Eltern meiner Freunde sind auch meine Eltern aus ihrem Herkunftsland ausgewandert. Meine Eltern kommen ursprünglich aus Ghana, ich aber wurde in Deutschland geboren. Gemessen an der Gesamtbevölkerung leben zwischen 5,6 % und 11,1 % Ghanaer*innen nicht in ihrem Herkunftsland. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen aus dem Jahre 2013 zufolge haben sich ghanaische Migranten in über 33 verschiedenen Ländern angesiedelt. Während viele in den westafrikanischen Nachbarländern Nigeria und Elfenbeinküste verbleiben, verschlägt es auch einen großen Teil nach Europa, Kanada, und in die USA. Meine ganze Familie ist auf dem europäischen und amerikanischen Kontinent verstreut. Es gibt kaum einen Kontinent wo sich keine Tante, Cousine, oder sonstige Verwandte auffinden lassen.

    Was macht die Diaspora aus?

    Der Begriff Diaspora stammt aus dem Griechischen und leitet sich vom Begriff „Verstreuung“ ab. Diaspora beschreibt das Schicksal von Menschen gleicher religiöser, nationaler, kultureller, und ethnischer Zugehörigkeit, die ihr Heimatland verlassen haben. Oder die unfreiwillig aus ihrem Heimatland vertrieben wurden, und dann in der Ferne eigene Gemeinschaften gegründet haben. Sie verbinden daher oftmals die gleichen Probleme wie Rassismus oder Identitätskrisen, die sie an die nächsten Generationen weitergeben. Der Begriff wurde ursprünglich nur für die jüdische Diaspora verwendet, die durch die Zerstörung des jüdischen Reiches, des Tempels, und der Vertreibung der jüdischen Bevölkerung ins Ausland, begründet wurde. Heutzutage findet der Begriff auch für andere kulturelle Gruppen Anwendung.

    Das Gefühl, anders zu sein

    Es ist das Gefühl, wenn sich ausländische Gemeinden ihre eigenen Räume geschaffen haben, in denen sie ungestört religiösen und traditionellen Traditionen nachkommen können. Sei es mit dem Zelebrieren von bestimmten Feiertagen und Festen oder durch traditionelle Restaurants. Beim Gefühl der Ausgrenzung spielen nicht nur kulturelle und religiöse Eigenheiten eine Rolle, sondern auch soziale und ökonomische Hintergründe. Migrant*innen arbeiten oft im Niedriglohnsektor, weshalb sie und ihre Familien nur einen beschränkten Zugang zu sozialer Teilhabe haben. Dieser ist jedoch unerlässlich für die Integration in einem neuen Land. Es entsteht eine Trennwand zwischen den Einheimischen und den Zugewanderten.

    Zudem kommt, dass viele Mitglieder der Diaspora die ersten in ihrer Familie sind, die studieren. Sie verfügen daher weder über finanzielle, noch über akademische Unterstützung und fühlen sich auf sich selbst gestellt. Da ich einen älteren Bruder habe, der sein Studium schon abgeschlossen hat, kann ich mich mit Fragen immer an ihn wenden. Trotzdem muss ich mit dem Gefühl, fehl am Platz zu sein oder mehr als meine Deutschen Kommiliton*innen leisten zu müssen, oft kämpfen. Hinzu  kommt, dass die Migrationsgeschichte von Deutschland in Vergleich zu anderen westlichen Nationen eine relativ neue ist, und Migrant*innen und Menschen mit einem Migrationshintergrund sich erstmal behaupten müssen oder Räume schaffen müssen, indem sie geschützt existieren können. Meine Freund*innen und ich könnten stundenlang über unfaire Behandlung in Schule, Universität oder am Arbeitsplatz erzählen. Seien es unangebrachte Kommentare von Schüler*innen, Arbeitskolleg*innen oder Lehrkräften, sogenannte Mikroaggressionen. Wie die Frage „Woher man den wirklich komme“ oder der Kommentar „Du, sprichst aber gut Deutsch“, die allesamt suggerieren, dass man nicht dazugehört. Bis hin zu offensichtlichen rassistischen Anfeindungen und Beleidigungen. Oder schlechtere Noten in der Schule im Vergleich zu deutschen Mitschülern, und das für die genau gleiche Leistung.

    Ergebnisse einer Studie

    Die Studie „(Biased) Grading of Students Performance: Students Names Perfomance Level, and Implicit Attitudes“ der Uni Mannheim zeigt, dass Grundschulkinder mit Migrationshintergrund bei der gleichen Fehlerzahl wie ihre Mitschüler*innen ohne Migrationshintergrund schlechter benotet werden. Dies lässt sich auf unterbewusste rassistische Vorurteile der Lehrkräfte gegenüber Schülern*innen mit Migrationshintergrund zurückführen. Ähnliche Studien gibt es über die Suche auf dem Wohnungs- oder Arbeitsmarkt. Die Studie „Zwischen Integration und Ausgrenzung – Lebensverhältnisse türkischer Migranten der zweiten Generation“ von der Universität Oldenburg kommt etwa zu dem Schluss, dass Menschen mit Migrationshintergrund oder ausländischem Namen bei der Wohnung und Arbeitssuche benachteiligt werden.

    Hoffnungen und Träume

    Trotz der vielen Hindernisse und Hürde, mit denen Mitglieder der Diaspora täglich konfrontiert werden, fallen im Gespräch mit meinen Freund*innen auch die Begriffe „Hoffnung“ und „Träume“ immer wieder. Es gibt viele Menschen, die ihr Heimatland unfreiwillig verlassen mussten und für die Deutschland sichere politische und ökonomische Verhältnisse bietet. Auch für Menschen, die in Deutschland geboren sind, ist Deutschland ein sehr attraktiver Ort. Genau wie meine Freund*innen verbinde ich mit Deutschland Stabilität, finanzielle Sicherheit und ein schier endloses Angebot an Möglichkeiten. Obwohl das schiere Angebot an Möglichkeiten nur eine Illusion bleibt, die an weitere Faktoren wie Herkunft und den sozioökonomischen Hintergrund geknüpft ist. Mir und meinen Freund*innen ist jedoch auch bewusst, dass uns viele Möglichkeiten in den Heimatländern unserer Eltern verwehrt bleiben würden.

    Hier geht es zum Link zu unserem Podcast „curry on“ über Diasporaschmerz

  • Zuhause auf dem Papier 4: Unheimlich

    Das Verlangen, das mit Zigarettenrauch brannte und unter den Füßen zerbröckelte

    Mein Körper vergisst nie seine Wunden und treibt so die Seele aus mir heraus

    Hatte ich etwa keinen Platz in den Armen der Welt?

     

    Ich bin eine Nacht voller Stürme,

    eine, deren Heimat und Land gestohlen zu sein scheinen

    Warum wurde ich nicht als Geisel genommen?

    Sie haben mich nicht zu Hause eingesperrt

    Ich wurde von einem Boden zum anderen geschoben

    Ohne meinen Willen

    Der Tod in der Heimat soll schöner sein als die Freiheit im Exil

     

    Ich trank das Wasser von sieben Ländern,

    aber kein Wasser war süßer als mein Land

    Das Wasser der Heimatlosigkeit ist bitter,

    bitterer als die Bitterkeit des Endes der Gurke

     

    Was wäre, wenn der einzige Unterschied zwischen den Ländern der Zeitunterschied wäre?

    Was wäre, wenn ich die Heimat überall hin mitnehmen könnte?

    Wie eine Schildkröte sollte sich die Heimat auf meine Schulter legen

    verbunden mit Knochen und Seele

     

    Doch die Heimat liegt nicht auf meiner Schulter

    Die Heimat ist sieben Länder weit weg

     

    Was für ein gottloser Gott,

    der den Tumor des Schmerzes in mir sieht und nichts tut

    Ich denke, vielleicht ist er blind

    Aber ein blinder Gott, der nicht sieht,

    ist nicht zu gebrauchen.

     

    Der Text entstand in Schreibtandem mit Nils Tremel. Maryams Texte werden in ihrer regelmäßigen Kolumne „Zuhause auf dem Papier“ veröffentlicht. Die Reihe wird von Irem Kurt illustriert.

  • Zuhause auf dem Papier 3: Ich

    ICH,

    In allen AbgründenAbfahrt und Bergauf

    ICH,

    Trotz des Glases gebrochener Herzen

    Verdorrte Seele

    tote Stifte

    ICH,

    Mit allen weißen Haaren

    Müde Hände

    Geschlossene Gefäße

    ICH,

    In der schwärzesten schwarzen Asche

    In brennenden Kerzen

    In der Existenz und dem Gewissen eines Wesens

    ICH,

    Im Tal der schmerzlosen Medizin

    In einem Sumpf voller Pillen und voller Schulden

    ICH,

    In vollem Hass mit reinem Herz

    Ich, in all dem

    In allen und allem, was vor mir liegt

    Ich stehe immer noch auf meinen eigenen Beineund gehe selbst meinen Weg:

     

    Der Text entstand in Schreibtandem mit Nils Tremel. Maryams Texte werden in ihrer regelmäßigen Kolumne „Zuhause auf dem Papier“ veröffentlicht. Die Reihe wird von Irem Kurt illustriert.

  • Sprachweh: Nostalgia for the mother tongue

    When I arrived in Germany in 2015, I decided that I wanted to become integrated into society and be a committed member. My first step was to found the kohero magazine (back then called Flüchtling Magazin) together with supporters. At the end of 2017, however, I experienced a shock. For the first time, I saw an ugly side of the German society (as I knew it at the time). For the first time since my arrival, I felt unsafe in Hamburg.

    Back then, I had little contact with other Syrians or Arabic speakers, which may surprise some people. It is often said that refugees and migrants in Germany “keep to themselves”, as if that automatically was a bad thing. At the time, I was very busy building up my magazine and 99% of the time I worked with Germans and German-speaking colleagues. As it all came together, I suddenly felt a deep sense of foreignness and missed my mother tongue, Arabic, very much.

     

    Language is for describing, for dreaming, for thinking, for sharing, for remembering and much more …

    I thought a lot about this feeling because at that time it was new to me. In 2014, I had to flee my home country, Syria. So why did I feel this nostalgia for my mother tongue three years later? I tried to find a word in German that describes my feeling. Because I thought a lot about being homesick (“Heim-weh”), I came up with “Sprach-weh”. I was homesick for my mother tongue.

    For me, homesickness means that a person misses his or her homeland so much that it becomes a longing. Language sickness in return means thinking about my mother tongue a lot and missing it so much because there is no place here in Germany for me to exercise and hear it. I need language to express words, but I also need it for many other things: language is for describing, for dreaming, for thinking, for sharing, for remembering and much more…

    In my opinion, a sense of belonging cannot work without language, either. Friendships rarely work without language. Falling in love and having a relationship needs a common language. The Jewish German thinker Hannah Arendt, who had to flee Germany in 1933, wrote shortly after her arrival in New York: “We lost our language, which means the naturalness of reactions, the simplicity of gestures, the unaffected expression of feelings.”

    I don’t know if people with one mother tongue and one home can imagine what it’s like to go through everyday life multilingual. You can’t tell quick jokes anymore, every word has to be translated carefully in your head first. Two lovers can hear the same song, but only one understands the meaning.

    To express my Sprachweh, in 2019 I started translating a few of my favorite Syrian-Arabic words on my Instagram. I posted the words with the attempt to find similar words in German and thus be able to show my German friends, colleagues, acquaintances, and my future family-in-law more of my mother tongue. At the same time, I was able to engage with my mother tongue again.

     

    “The limits of my language are the limits of my world.”

    Over time, I was able to regain a lot of confidence in German society and felt less like a stranger than I did three years ago. I think I can see the bigger picture today. I realized that German society (and its language) is made up of people who welcome refugees and help them a lot, then and now. And there are also people who are loud and aggressive against refugees (and migration in general). Then, there is also the big majority of people who are somewhere in between. They don’t have the time or the interest to deal with flight and migration.

    Furthermore, I myself have been looking for new ways to stay in touch with my mother tongue. I listen to many Arabic-language podcasts, and I have mixed my social media communities more today. I can’t say yet whether this can really quench my Sprachweh. But it shows me that I can manage to live in two linguistic worlds. I would like to end with a quote from Ludwig Wittgenstein: “The limits of my language mean the limits of my world.”

    This article was published in German and translated into English by Leslie Post.

    https://kohero-magazin.com/sprachweh/

  • Ahmad al Ahmad – der interkulturelle Sensibilisyrer

    Mein Interviewpartner heißt Ahmad al Ahmad. Beziehungsweise eigentlich sind es zwei Interviewpartner. Denn Ahmad heißt zwar Ahmad, aber er spielt gleichzeitig eine humoristische Kunstfigur – die auch Ahmad heißt. Klingt verwirrend? Ein bisschen. Die Grenzen zwischen dem „echten“ Ahmad und der Kunstfigur Ahmad scheinen fließend zu sein. „Ja, es ist ironisch. Aber es hat so viel von mir“, sagt Ahmad. Damit verunsichert er die Leute, bringt sie zum Nachdenken: Wen habe ich da gerade vor mir? Meint er das ernst oder ist das bloß ein Scherz?

    Manchmal ist klar, dass etwas bloß ironisch gemeint ist, wenn er z. B sagt: „Wir machen Sharia“.  Manchmal ist man sich unsicher – und wird dabei mit den eigenen Vorurteilen, konfrontiert: Sagt er wirklich ständig „wallah“? Genau das scheint Ahmads Ziel zu sein. Denn Ahmad, der Echte, bezeichnet sich als „kulturellen Sensibilisyrer“. Mit Videos im Internet und Seminaren möchte er Vorurteile gegen Geflüchtete abbauen.

    Von Syrien nach Hannover

    Fragt man ihn nach seinem Werdegang, spricht Ahmad über das kleine syrische Dorf, aus dem er stammt, von seiner Tante Sihrie, die ihn dort großgezogen hat. Dann schweift er ab – dazu, dass seine Eltern früh gestorben sind und wie klein das Dorf sei, aus dem er stammt. Man finde es nicht mal bei GoogleMaps. Aber er kehrt immer wieder zur Ausgangsfrage zurück.

    Ahmad weiß, dass er erzählt, und er weiß, was er erzählt. Es macht Spaß, ihm zuzuhören. Zwischendurch trinkt er über einen Strohhalm aus seinem Mate-Tee. Auch darüber kann er etwas sagen: Mate komme ursprünglich aus Argentinien. Als nach dem ersten Weltkrieg mehrere Millionen Syrer nach Lateinamerika gingen, brachten sie Mate nach Syrien. Nun sei es ein viel konsumiertes Nationalgetränk in Syrien.

    Von dort war Ahmad 2015 über die Balkanroute nach Hannover gekommen. Die Deutschen seien von Beginn an alle sehr nett gewesen, meint Ahmad – halb-ironisch. „Zum Beispiel war ich bei Edeka oder Aldi und wollte bezahlen. Und dann kommt jemand zu mir und sagt: ,Nein! Das ist ein Schlange, stehen Sie hinten an!´ Ja, alle waren sehr, sehr nett.“

    Umgang mit der eigenen Identität

    Doch nicht nur der Umgang mit den „Biodeutschen“ war anfangs schwierig. Auch mit seiner eigenen Identität hatte Ahmad zu kämpfen. „Als ich hier nach Deutschland gekommen bin, habe ich mich gefragt: Warum habe ich nicht blonde Haare wie Heinz, mein Nachbar? Ich hatte ein Identitätsproblem. Wir müssen für Leute, die hierherkommen, eine positive Identität schaffen. Manchmal fühlt man sich nicht integriert – das tut weh.“

    Und das, obwohl Ahmad einen Integrationskurs machte, Deutsch lernte und arbeitete – im Restaurant, als Fliesenleger, im Dönerladen. Auch wenn er eigentlich gern einen anderen Job machen wollte. „Ich sagte meinem Berater, ich möchte gern mit Menschen arbeiten. Doch er meinte, es gäbe einen Mangel an anderen Arbeitskräften. Sie schicken dich einfach irgendwo hin. Du sitzt da und sie nehmen dich nicht ernst.“

    Gründung des Mansafs

    Schließlich fand Ahmad ein Unternehmen für Kulturkommunikation, bei dem er ein Praktikum absolvierte. Dort eignete er sich die nötige Expertise an, um später seine eigene Initiative zu gründen. Ihr Namensgeber ist ein arabisches Gericht, bestehend aus Lamm und Reis, das auf einem großen Tablett serviert wird: das Mansaf. Die Idee dazu kam ihm während Corona: Als Ahmad und seine Nachbarin Friederike Wagner sich im pandemiebedingten Lockdown anfreundeten und stundenlang über Zoom trafen, beschlossen sie, nach Corona gemeinsam ein Mansaf zu kochen.

    „Ich wollte die Erfahrung, die ich mit Friederike gemacht habe, mit allen Leuten teilen, damit sie sehen, wie das funktioniert. Wenn meine Nachbarin Friederike nett ist, warum dann nicht auch der andere Nachbar Heinz?“ Seitdem drehen die beiden gemeinsam Videos, die sie auf Facebook und YouTube hochladen. Damit möchten sie Menschen kulturell sensibilisieren. Denn für Zugewanderte erleichtere sich die Integration, wenn man die Einheimischen integriert.  So hat Ahmad unterschiedliche Konzepte entwickelt, um Vorurteile zu erkennen und ihnen entgegenzuwirken. Humorvoll bringt er Leuten bei, wie man „aufhört, ein Ignorant zu sein“. Denn: „Prävention beginnt im Kopf“ – um Hass zu verhindern.

    „Ich habe keine Angst mehr vor meiner Identität.“

    Hass und Angst entstehe vor allem, wenn ein Unterschied zwischen sich und „dem Anderen“ gemacht wird. In Deutschland sei dieses Andere immer der Islam und die islamische Geschichte gewesen. Das müsse man verstehen – und bewältigen. „Leuten, die Angst vor mir haben, weil ich sie mit ,Salam Aleikum´ begrüße, sage ich: Ich bin auch einer von euch. Ich liebe euch.“, sagt Ahmad. Er meint: Wenn man sich kennenlernt, ist man nicht nur der Kerl aus der Flüchtlingswelle, sondern ein Freund – und harmlos.

    Immerhin sei in Deutschland dahingehend schon einiges geschafft worden „Viele Leute haben sich für Vielfalt und Demokratie eingesetzt. Ohne Streit geht es zwar auch nicht. Eigentlich muss es Streit geben, das ist normal. Aber Ausgrenzung darf es nicht geben.“

    Es bleibt zu hoffen, dass die deutsche Gesellschaft diesen Fokus auf Verschiedenheiten abschließend überwindet. Die Leute müssten ihre Toleranzgrenzen ausweiten – gegenüber Leuten, die so aussehen wie Ahmad. Insofern sei die Kunstfigur Ahmad eine Art Therapie für den echten Ahmad. Sie habe ihm geholfen, sich zu integrieren. „Ich habe keine Angst mehr vor meiner Identität.“

    Mittlerweile hat Ahmad sogar die deutsche Staatsbürgerschaft. Er erzählt auch, dass er Mitglied in der Facebook-Gruppe „Merz soll Kanzler werden“ sei. Und in seinem Büro würden Bilder berühmter deutscher Persönlichkeiten hängen – unter anderem von „Mutti“ (Angela Merkel), Horst Seehofer, Thilo Sarrazin und Dieter Bohlen. Von dessen Band „Modern Talking“ sei er ein Riesen-Fan. Naja, ironisch natürlich! Oder…?

    Ein Mansaf für alle

    Ganz unironisch verabreden wir uns für die Zukunft zu einem gemeinsamen Mansaf-Essen. Sogar vegetarisch – auch wenn es das normalerweise nicht gebe. „Aber niemand ist vom Mansaf ausgeschlossen. Insbesondere die Biodeutschen – die sind herzlich willkommen bei uns.“

    Wer Interesse hat, Wege aufgezeigt zu bekommen, wie Integration funktionieren kann, kann sich über Ahmads Webseite oder per Mail für eine Stunde bei ihm melden. „Das Mansaf bietet eine hochqualitative, interkulturelle Sensibilisierung.“ Da erzählt er ausnahmsweise mal keinen Quatsch.

  • „Unterdrückung zu benennen ist eine Chance“

    Dr. Emilia Roig ist Politikwissenschaftlerin und kämpft als Aktivistin gegen jegliche Form von Diskriminierung in unserer Gesellschaft. Sie wuchs als Tochter eines jüdisch-algerischen Vaters und einer aus Martinique stammenden Mutter in Frankreich auf. Ein Master-Studium und eine Promotion zum Thema intersektionale Diskriminierung an der Humboldt-Universität Berlin brachten sie nach Deutschland. In ihrem Buch Why We Matter: Das Ende der Unterdrückung analysiert sie anhand einer einzigartigen Mischung aus Forschungsergebnissen und persönlichen Erfahrungen, wie sich Muster der Unterdrückung durch alle Bereiche unseres Lebens ziehen – sei es Zuhause, in der Schule, bei der Arbeit oder in den Medien.

     

    In Ihrem Buchtitel verkünden Sie hoffnungsvoll das Ende der Unterdrückung. Doch von welcher Unterdrückung sprechen Sie genau?

    Ich spreche über den Kapitalismus, das Patriarchat und den Kolonialismus. Das sind die großen Unterdrückungssysteme, auf denen unsere Gesellschaft beruht. Und das ist nicht unbedingt bösartig gemeint, sondern bedeutet lediglich, dass diese Systeme unsere Arbeitsmärkte, das Schulsystem, unser politisches System und die Medien strukturieren. Es ist wichtig zu betonen, dass diese drei Systeme zusammen die Basis der Unterdrückung bilden. Und wenn wir wirklich über Diskriminierung sprechen wollen, dann ist es unmöglich, über Diskriminierung zu sprechen, ohne über diese drei Systeme zu sprechen.

     

    Sie betonen besonders, dass wir diese drei Unterdrückungssysteme zusammen, also intersektional, betrachten müssen, um Ungerechtigkeit effektiv zu bekämpfen. Was bedeutet Intersektionalität genau?

    Das Konzept der Intersektionalität wurde von Schwarzen Frauen in den USA erfunden, um die Lücke in der Gesellschaft zu beschreiben, in der sie sich befinden. Als Schwarze Frauen sind sie einerseits in der Mainstream feministischen Bewegung Rassismus ausgesetzt und andererseits erfahren sie in der Antirassismus-Bewegung patriarchale Gewalt und Sexismus. Intersektionalität heißt Macht und Privilegien, die aufgrund von Gender und Hautfarbe, aber auch aufgrund von anderen multiplen Achsen der Identitäten vergeben werden, innerhalb von Kategorien und Bewegungen sichtbar zu machen. Dabei ist Intersektionalität nicht nur eine Theorie, sondern auch ein politisches Projekt. Es geht darum, Unterdrückung an der Wurzel zu packen und in ihrer Komplexität zu verstehen, um sie besser bekämpfen zu können.

     

    Das heißt, wir müssen auch Diskriminierung innerhalb von Diskriminierung bekämpfen. Doch ein Problem ist, dass wir Menschen oftmals nur die Bereiche wahrnehmen, wo wir diskriminiert oder ungerecht behandelt werden. Die Bereiche, in denen wir Macht und Privilegien besitzen, sind für viele unsichtbar. Warum ist das so? 

    Ich vergleiche Privilegien gerne mit Jokern in einem Kartenspiel. Es gibt Spieler*innen, die eine unbegrenzte Anzahl von Jokern bekommen. Einfach so. Sie wissen aber nicht, dass die anderen Spieler*innen nicht über diese Joker verfügen. Ich glaube, dieser Vergleich ist sehr passend, da Spieler*innen mit Jokern, um zu gewinnen, trotzdem strategisch, konzentriert, motiviert und intelligent sein müssen. Die Joker allein werden nicht reichen, aber sie helfen enorm.

     

    Und so ist es auch mit Privilegien?

    Ja, genau. Menschen, die über Privilegien verfügen, merken nicht, dass ihnen geholfen wird. Sie merken nicht, dass sie gewissen Schwierigkeiten und Barrieren nicht ausgesetzt sind. Und deswegen tendieren sie dazu, davon auszugehen, dass sie sich ihren Erfolg selbst erkämpfen oder verschaffen, indem sie besonders fleißig oder motiviert sind. Aber diese individuellen Eigenschaften sind nicht die einzige Erklärung für Ungleichheiten in unserer Gesellschaft. Es gibt andere – vor allem systematische – Gründe.

     

    „Unterdrückung ist ein System, indem wir alle eine Rolle spielen.“

     

    Zum Beispiel?

    Gründe für Ungleichheit können zum einen auf einer sozialen Ebene stattfinden. Deine Eltern können dir vielleicht helfen, einen Praktikumsplatz zu bekommen, oder haben die Möglichkeit, einen Tutor für Nachhilfe oder dein Studium zu bezahlen. Auf einer anderen Ebene wirkt wiederum Rassismus. Eine weiße Person auf der Straße wird zum Beispiel nie von der Polizei Rassismus erfahren. Und weil das auch nie Teil ihrer Erfahrung war oder sein wird, kann diese Person diese Ebene, nämlich Rassismus, ausblenden.

     

    Die ungleiche Verteilung von Macht und Privilegien wirkt sich auf alle Lebensbereiche aus. Trotzdem wird in politischen Debatten über soziale Ungerechtigkeit, wie zum Beispiel Armut, selten über Unterdrückungsformen wie Rassismus als Mitursache gesprochen. Warum ist das so? 

    Ich glaube das passiert, weil Menschen Unterdrückung sehr stark individualisieren. Das heißt, wir sehen Unterdrückung als etwas Schlechtes, das nur schlechte Menschen tun. Dabei ist Unterdrückung viel abstrakter. Natürlich gibt es auch Fälle, in denen Menschen offenkundig und absichtlich Schlechtes tun. Aber das ist nur die Spitze des Eisbergs. Unterdrückung ist ein System, indem wir alle eingebettet sind. Und wir spielen alle eine Rolle in diesem System.

     

    Wenn Unterdrückung nicht die Schuld des Einzelnen ist, sondern die eines Systems, warum scheuen wir uns trotzdem so davor, dieses System klar zu benennen und zu verurteilen? 

    Unterdrückung beim Namen zu nennen ist eine enorme Chance, aber auch eine Bedrohung für die Gesellschaft, wie sie zurzeit existiert. Wenn wir zugeben, dass unsere Gesellschaft auf diesen Unterdrückungssystemen basiert, dann müssen wir alles neu denken. Wir müssen im Grunde eine tiefe Veränderung vorantreiben. Viele Menschen haben Angst davor, weil sie diese Veränderung als einen Verlust sehen. Die Menschen in der Gesellschaft, die momentan Zugang zu Ressourcen und Macht haben, haben Angst, dass ihnen diese weggenommen werden. Das Problem ist, dass die Verteilung von Macht, Freiheit und Gleichheit oft als ein Zero-sum game, also ein Nullsummenspiel, gesehen wird. Das heißt, wenn einige mehr Macht haben, dann haben die anderen weniger Macht. Das stimmt aber nicht.

     

    Ist das wirklich immer so? Kommt es nicht immer wieder vor, dass Menschen Macht erlangen, indem sie andere unterdrücken? 

    Im jetzigen System kann es in der Tat sein, dass mehr Gleichheit für eine Gruppe mehr Ungleichheit für andere bedeutet. Aber wir müssen etwas am System ändern, damit das nicht mehr der Fall ist. Wenn wir Unterdrückungssysteme wirklich aufbrechen und nicht nur oberflächlich bekämpfen, werden wir an den Punkt kommen, an dem Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit kein Nullsummenspiel, sondern eine Win-Win-Situation für alle sind. Es ist nicht der Sinn von Gleichstellungspolitik, Rechte wegzunehmen. Im Moment wird diese aber leider oft so verstanden und behandelt.

     

    „Spaltung kommt nicht aus den Identitäten, sondern aus dem Widerstand gegen Gerechtigkeit und Gleichstellung.“

     

    An welche Debatten denken Sie dabei? 

    Das Thema Gendergerechte Sprache ist hierfür ein gutes Beispiel. Um das Gendern dreht sich wirklich die absurdeste Diskussion in Deutschland. Das ist eine Debatte, bei der man merkt, dass diejenigen, die Macht haben, versuchen, unsere Gespräche auf öffentlicher Ebene zu lenken. Die Angst ist: Wenn wir gendern, dann haben Männer weniger Macht. Das stimmt überhaupt nicht. Das sind irrationale Ängste, die wir adressieren müssen.

     

    Ängste scheinen derzeit viele Debatten zu beherrschen. Wenn in politischen Debatten versucht wird, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Interessen von marginalisierten Gruppen zu lenken, wird zum Beispiel schnell der Vorwurf laut, dass die sogenannte Identitätspolitik unsere Gesellschaft spaltet. Was sagen Sie dazu?

    Identitätspolitik ist nicht spaltend. Was spaltet, ist die Hierarchie, die hinter unseren Identitäten steckt. Außerdem müssen wir unsere Debatte darüber ändern. Identitätspolitik wird täglich von allen Seiten betrieben. Es ist auch Identitätspolitik, wenn bestimmte Parteien fast nur aus Männern oder weißen Menschen bestehen. Wir müssen erkennen: Spaltung kommt nicht aus den Identitäten, sondern aus dem Widerstand gegen Gerechtigkeit und Gleichstellung.

     

    Hat dieses Interview dein Interesse geweckt? In der neueste Podcastfolge von Multivitamin haben wir mit Emilia Roig über Representation und Intersektionalität gesprochen. Sowohl die Folge als auch Roigs (Hör-)Buch Why we matter: das Ende der Unterdrückung sind auf Spotify zu hören.

  • „Wir sind voller Geschichte, von der wir nichts wissen“

    „Außer sich“ beginnt mit einem Zitat von James Baldwin aus seinem Buch „Eine Straße und kein Name“. Es geht so: „Die Zeit vergeht schnell. Sie bewegt sich nach vorn und zurück und trägt dich weit fort, und keiner weiß mehr über sie als das: sie trägt dich durch ein Element, das du nicht verstehst, in ein anderes, an das du dich nicht erinnern wirst. Aber etwas erinnert sich – wenn man es so will, kann man sagen, daß etwas sich rächt: die Falle des Jahrhunderts, der Gegenstand, der nun vor uns steht.“ Im Interview sprechen Sasha und ich über Identität, das Schreiben an sich, die Schlüsselthemen des Romans und auch über das Zitat, über das ich noch lange nachgedacht habe.

     

    Warum hast du dieses Zitat gewählt und welche Rolle spielt es auch im Hinblick auf den Inhalt des Buches?

    Baldwin war und ist so eine Art literarisches Vorbild von mir. Ich habe exzessiv Baldwin gelesen, zu der Zeit, als ich „Außer sich“ geschrieben habe. Ich gehöre zu den Menschen, die viel lesen, wenn sie schreiben. Manche Leute haben eine Bibel dabei, ich hatte immer das Buch „Eine Straße und kein Name“ dabei. Manchmal ist es so, wie mit der Liebe: Es trifft dich und du kannst es dann rationalisieren und später erklären warum, aber eigentlich ist es egal.

    Es war ein Gefühl. Ich habe es gelesen und ich wusste: DAS IST ES! Ich glaube, wenn ich jetzt versuchen würde das in Worte zu fassen, warum ich dieses Zitat ausgewählt habe, ist es, weil mein ganzes Denken darum kreist, dass wir voller Geschichte sind, von der wir nichts wissen. Wir sind im Zusammenhang mit dieser Geschichte voller Schuld, die wir nicht einsehen wollen oder können.

    Darum kreist sich – eher als Wunde, nicht als Gedanke – alles, wozu ich arbeite. Ich glaube, dass mich Baldwins Worte da einfach trafen. Dass ich dachte, der Gegenstand, der vor uns liegt, ist der, der am schwersten auszuhalten ist. Deswegen gucke ich überall anders hin und wir erzählen uns nette Geschichten über unsere Leben und unsere korrekten Handlungen und wir gehen nie in die Tiefe. Weil es weh tut. Weil man es manchmal nicht aushalten kann und sich das auch nicht leisten kann, es auszuhalten. Bei „Außer sich“ war das einfach so, dass ich dachte, ich bin so sehr verstrickt in so viele unterschiedliche wilde Historien. Was ich mit diesem Buch versuche zu tun ist, mir den Gegenstand, der vor mir liegt, anzuschauen.

     

    Du hast schon ein wenig über deinen Schreibprozess erzählt, dass du dabei viel gelesen hast. Wie war die Zeit der Recherche und des Schreibens für dich?

    Ja, das war irre aufregend, weil es eine Art Identitätskrise war. Du musst dir vorstellen, ich war bis dahin Dramatikerin und wenn man mich gefragt hat, wo ich herkomme, dann habe ich gesagt: Vom Theater! Also einfach alles was ich war, war Theater. Alle wichtigen Erfahrungen, die ich gemacht habe, waren im Theater. Und mein Denken ist sehr dramatisch, also im stilistischen Sinne.

    Ich denke in Dialogen, in Bühnenhandlungen und Licht. Ich war mir sicher, ich würde niemals Prosa schreiben. So wie ich jetzt übrigens sicher bin, dass ich keine Lyrik schreiben werde. Ich liebe Lyrik zu sehr, um mir das zuzutrauen und ich glaube, das hat viele Gründe. Vor allem ein internalisiertes Hochstaplersyndrom. Was Leute wie ich immer haben werden. Als ich „Außer sich“ in den Händen hielt und es einfach nicht fassen konnte. Nicht fassen konnte, dass ich ein Buch geschrieben habe. Und dann dachte ich: Warum eigentlich nicht?

     

    Das Hochstaplersyndrom zeigt sich, wenn jemand die eigenen Fähigkeiten und herausragenden Leistungen nicht anerkennt. Im Extremfall bedeutet es, sich selbst als Hochstapler*in zu fühlen und Angst davor zu haben, andere könnten den vermeintlichen eigenen Mangel an Befähigung bemerken und entlarven. Sasha sagt, Leute wie sie werden das immer haben. Es ist wichtig zu erkennen, dass dieses Phänomen eine strukturelle Ebene hat. Gesellschaftlich marginalisierte Gruppen sind besonders davon betroffen. Rassismus, Diskriminierung und mangelnde Anerkennung prägen das Selbstbild und sorgen dafür, dass sich Menschen weniger zutrauen.

     

    Hast du irgendeine neue Erkenntnis aus dem Schreiben an deinem Roman gewonnen?

    Ich habe nicht das Rad neu erfunden. Ich habe nicht über Literatur plötzlich anders nachgedacht. Aber ich glaube, ich habe selbst angefangen, dem Schreiben eine andere Bedeutung beizumessen. Das es eine Rolle spielt. Ich war auch ein bisschen abgeturnt von Prosa, weil ich dachte, das ist mir zu unpolitisch.

    Ich dachte, Theater ist im Gegensatz per se eine politische Form, weil du immer im Dialog mit dem Außen bist. Romane kannst du auch für die Schublade schreiben – im schlimmsten Fall. Ich wurde dann eines Besseren belehrt. Ich glaube, mein größtes Glück im Unglück war, dass mein Roman rauskam, als die AfD in den Bundestag gewählt wurde. Das heißt, meine Lesereihe wurde zu einer Politik-Talk-Reihe und allein, dass mein Körper in diesen Literaturhäusern saß, hat die Leute aufgestachelt. Ich kam gar nicht dazu, über das Buch zu reden. Das ist doch politischer als ich dachte und es hat mich so bestärkt, dass ich dabeigeblieben bin.

     

    Sasha und ich sprechen auch über die Rolle der Autor*innen. Mich interessiert beim Lesen oft, was sich die schreibende Person wohl dazu gedacht hat. Sasha hat da eine klare Haltung zu:

    Es ist egal, was ich mir dabei gedacht habe. Es könnte nicht unwichtiger sein. Kunst und Bücher, auch deswegen bin ich so begeistert vom Schreiben, funktionieren über einen Dialog. Das Buch entsteht mit dem Lesen genauso wie mit dem Schreiben und deswegen darf die schreibende Person das nicht den Lesenden aufdröseln oder oktroyieren.

     

    Im Kontext des Buches hast du Folgendes gesagt: „Es gibt keine Identität ohne Migration.“ Wie meinst du das?

    Jedes Leben entwickelt eine bestimmte Identität oder bewegt sich innerhalb von bestimmten Identitäten. Weiß, heterosexual, cis-männlich ist auch eine Identität. Ich glaube, der sehr bewusst gemachte Fehler ist, dass Leute wie du und ich Identitäten haben und dann gibt es eine Norm, die hat keine. Der ganze Skandal um alte weiße Männer ist, dass denen klar wird, auch sie sind nur eine Kategorie. Willkommen in der Wirklichkeit! Das ist eine schmerzhafte Erfahrung. Wir werden ihnen keine Taschentücher schicken.

    Aber das ist der eigentliche Skandal. Wenn wir über Identität sprechen, dann sprechen wir natürlich über Bewegung. Identität ist ein mobiles Konstrukt. Identität ist so eine Art Raumschiff. Deswegen bin ich so vorsichtig mit Labels, wie z.B. Migrationshintergrund, weil es natürlich sein kann, dass du mal auf einem anderen Planeten absteigst. Das muss einfach erlaubt sein.

    Identität bedeutet automatisch Migration. Du migrierst von der einen Meinung zur anderen, migrierst von einem Körper zum anderen. Zwischen Ländern, zwischen Sprache, zwischen Denken. Ich würde es gerne ent-exotisieren, diese Migrationsbewegungen, weil ich glaube, dass es den Leuten sehr wichtig ist zu sagen: Jaja, ihr habt ja wilde Geschichten, aber ich war schon immer da. Das ist das eigentliche Exotikum.

     

    Im Buch „Außer sich“ werden die Leben von mehreren Generationen einer Familie erzählt. Ich wünschte mir manchmal, ich könnte auch die Geschichte meiner Eltern, derer Eltern und derer Eltern nachlesen. Sasha erklärt, wie wichtig es ist, sich mit der eigenen Familiengeschichte auseinanderzusetzten, Fragen danach zu stellen, um sich selbst besser zu verstehen.

    Ich kann nicht richtig sagen, dass ich es Leuten vorwerfe, wenn sie das nicht tun. Es ist aber die Essenz meines Denkens und deswegen verstehe ich nicht, warum Leute durch die Gegend laufen und sich diese Fragen nicht stellen. Ich hüte mich vor dem Wort, zu sagen es ist Pflicht, weil ich verstehe, dass sich das nicht alle leisten können – Zeit haben, das Privileg oder Leute, die sie fragen können. Trotzdem finde ich es gerade in der Zeit, in der wir uns befinden, seltsam, das nicht zu tun. Ich finde, dass es eine ständige Suche sein muss.

    Durch eine Frage weiß man erst, was man noch alles fragen könnte. Und ich glaube, dass wir nichts fragen, weil wir Angst vor den Antworten oder keine Lust auf die Antworten haben. Das gilt auch für mich: Ich habe sehr lange gebraucht, um meine Mutter zu fragen, wer von unseren Verwandten im Gulag (Straf- und Arbeitslager der Sowjetunion) war und ich habe offen nach beiden Seiten gefragt. Es muss ja nicht sein, dass sie Internierte waren, denn es kann auch sein, dass sie Henker waren. Natürlich hatte meine Mutter diese Frage noch nie gehört. Es war verboten, das zu denken.

    Denken ist ein Muskel, den man trainieren muss. Bei mir gehört das zum Berufsbild. Ich akzeptiere es nicht, wenn Schreibende das nicht machen. Wir sind alle verstrickt und wir haben eine Verpflichtung, zumindest das anzuerkennen. Es ist nicht egal, dass wir Lager an Europas Außengrenzen haben, das hat etwas mit meinem Lebensstyle zu tun.

     

    Das bringt mich zum Nachdenken. Ich finde es nicht einfach, mit meiner Familie über die Vergangenheit zu sprechen. Wie kann man sowas angehen?

    Ich habe Bücher aus der Zeit gelesen, bevor ich wusste, was ich meine Mutter fragen kann. Also woher sollst du wissen, was alles passiert sein könnte. Das habe ich jetzt für meinen zweiten Roman gemacht. Das war eine abgefuckte Geschichte, kann ich dir sagen. Ich habe exzessiv Bücher von anderen gelesen, um zu wissen, was ich eigentlich wissen will. Meine Mutter und meine Familie wissen überhaupt nichts über die Zeit, in der sie gelebt haben. Aber Schriftsteller*innen wussten das und wenn ich davon gelesen habe, dachte ich, wenn es bei denen so war, wie war das eigentlich bei uns.

     

    Sasha kuratierte mit Max Czollek einen Desintegrationskongress zeitgenössischer jüdischer Positionen. Der Kongress will einen Raum der Selbstreflexion schaffen, um die Frage nach einer jüdischen Identität in der dritten Generation neu zu verhandeln. Dazu führt er sehr unterschiedliche, in Deutschland lebende Gruppen von Jüden*innen zusammen: die sowjetischen Migrant*innen, die Einwanderer*innen aus Israel sowie die Jüd*innen aus der Gruppe deutscher Überlebender oder Rückkehrer*innen. Durch das Motto Desintegration lösen sich die Organisatoren bewusst von gesellschaftlichen Zuschreibungen und distanzieren sich von den Fremdkonstruktionen in Deutschland nach 1945. Jüdische Perspektiven werden meistens an die Shoah geknüpft. Viele Menschen wissen nicht, dass 90% der in Deutschland lebenden Jüd*innen aus der ehemaligen Sowjetunion stammen.

     

    Ich spreche mit Sasha über sein politisches Engagement für jüdisches Leben in Deutschland.

    Deutsche können Juden nur im Zusammenhang mit ihrer Vernichtung denken. Das ist das Problem und ich möchte nicht über den Versuch meiner Vernichtung definiert werden. Ich bin Jude auch außerhalb der Shoah. Das bedeutet nicht, dass die Shoah keine oder eine kleine Rolle spielt. Aber es gab uns schon vorher und es gibt uns auch nachher. Das ist etwas, was für ein deutsches Hirn sehr schwer zu verstehen ist.

    Mein Background ist tatsächlich die Rote Armee. Also wortwörtlich haben meine Urgroßeltern, der Mann, nach dem ich benannt bin, die Scharfschützen von Stalingrad zusammengefegt. Ich bin geboren in der Stadt der Helden, in Stalingrad. Es ging auch anders, Jude zu sein, wenn man in dieser Zeit in einem anderen Landstrich war.

    Wir haben 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland und ich bin voll mit diesem völlig behämmerten Anfragen, dass ich ihnen erzählen soll, wie schlimm es mir geht. Ich habe es satt, danach gefragt zu werden. Wie bei allen Minderheiten und das weiß ich auch als queerer Körper, gehört zu der eigenen Geschichte ein enormer Stolz, der gefeiert werden muss. Stolz wird mit viel Alkohol und zu lauter Musik gefeiert. Das ist das, was ich in Deutschland versuche zu verankern.

     

    Es ist oft so, dass betroffene Personen Mehrarbeit leisten, indem sie nicht nur alltäglichen und strukturellen Rassismus oder Diskriminierung erfahren, sondern auch zusätzlich Bildungsarbeit in diesen Bereichen leisten. Wenn du mehr dazu wissen möchtest, kannst du das zum Beispiel online im Literarischen Tagebuch „Dem Hass kein Echo“ nachlesen. Hier schreiben Max Czollek, Esther Dischereit, Sasha Marianna Salzmann und Levi Israel Ufferfilge.

     

    Zum Abschluss möchte ich noch über Queerness sprechen. Die Hauptperson Ali in „Außer sich“ durchläuft eine geschlechtliche Transition und fühlt sich von den eigenen Eltern nicht gesehen. Viele queere Personen machen die schmerzhafte Erfahrung, von der eigenen Familie verstoßen, nicht verstanden und akzeptiert zu werden. Was würdest du jüdischen und/oder queeren Personen, aber vielleicht auch deren Eltern mitgeben, um mit diesem Konflikt besser umgehen zu können?

    Ich bin mir nicht sicher, ob es in Worte fassbar ist, weil das so komplexe Prozesse sind. Es ist ja nicht so, dass du den Leuten sagen kannst „Akzeptiert eure Kinder“ und dann tun sie das. Ich erzähl dir einfach eine Story, die das enthält, woran ich glaube. Außerhalb des direkten politischen Aktivismus, außerhalb dieser Szene gibt es für mich eine Sache, von der ich weiß, dass sie die Welt verändert und das ist: das Umschreiben der Geschichte

    . Es gab solche Geschichten nicht oft in der Literatur, aber es gab sie. Mich gab es trotzdem schon immer und ich glaube, dass mit dem Einschreiben meiner Realität in einem bestimmten Kanon, das mehr und mehr Leute lesen und verstehen. Erstens verstehen die queeren Personen selbst, dass sie vielleicht ok oder zumindest nicht allein sind. Und was noch wichtiger ist, dass die Eltern das auch verstehen.

    Ich bin nicht auf Social Media. Ich boykottiere Social Media. Aber meine Mutter ist dort. Wir sind einen sehr langen Weg gegangen, aber meine Mutter ist jetzt Erste-Reihe-Aktivistin und kämpft für queere Rechte. Ich bekomme immer wieder E-Mails von jungen Frauen mit einem ähnlichen Hintergrund wie ich. Meistens sind es lesbische, jüdische Ex-Sowjets, die sich bedanken.

    Die bedanken sich dafür, dass ich am Leben bin, weil die sagen, ihre Eltern haben gesehen, dass meine Mutter ein Post abgesetzt hat, und jetzt reden sie anders mit ihren Kindern oder fragen sie mal was. Denn allein die Tatsache, dass es diese Geschichte gibt, verändert etwas in ihrem Leben.

    Die Tatsache, dass es Leute wie Judith Butler gab, hat mir das Leben gerettet, an einem bestimmten Punkt. Das meine ich mit umgeschriebene Geschichte. Es dauert, es ist kein Prozess, bei dem du auf Erfolge hoffen kannst. Aber das ist das, was ich weiß, was funktioniert. Wenn wir unsere Geschichten erzählen, werden es andere lesen und andere Fragen werden gestellt. Das ist was ich beobachte und was ich Leuten mitgeben kann. Sie müssen unbedingt weiterlesen und weitererzählen.

     

    Ich bin beeindruckt von Sashas langem Atem. Mir fällt es manchmal schwer, positive Veränderungen anzuerkennen, weil ich sehe, wie viel sich noch nicht verändert hat. Mich hat Sasha inspiriert, indem sie mir einen Umgang mit diesen Gefühlen vorgeschlagen hat.

    Vielleicht kannst du das parallel laufen lassen. Alles was wir haben, reicht überhaupt nicht aus. Wir sind immer noch nicht gleichwertige Menschen in dieser Gesellschaft. Das heißt aber nicht, dass man Erfolge nicht anerkennen kann. Wenn du Fortschritt siehst, kannst du es einfach benennen. Ich sehe den Fortschritt bei meiner Mutter.

    Wir haben damit angefangen, dass ich geisteskrank bin, und jetzt postet sie Regenbogen auf Facebook. Angela Davis sagt: „Wir müssen damit leben, dass wir die Früchte unserer Arbeit nicht selbst pflücken werden“. Ich denke da sehr oft dran. Ich arbeite für eine Welt, die ich wahrscheinlich nicht erleben werde. Aber du weißt, dass jemand sie erleben wird und dann ist es nicht umsonst. Queere Autor*innen haben ein paar Leuten den Arsch gerettet. Ich finde das ist das, was man maximal von einem Buch erwarten kann.

     

    In wenigen Tagen, diesen September noch, veröffentlicht Sasha den zweiten Roman mit dem Titel „Im Menschen muss alles herrlich sein“ im Suhrkamp Verlag.

kohero-magazin.com