Schlagwort: Hier und Dort

Die syrische Journalistin Kefah Ali Deeb veranstaltete einen Schreib-Workshop für geflüchtete Frauen. Darin entstanden wundervolle Texte, die wir hier veröffentlichen dürften. Die Frauen schreiben über ihr neues Lebensumfeld Berlin, über ihre Heimat und über den “Frieden zwischen Hier und Dort” – so der Titel der Workshop-Reihe.

  • Girl in Greece – Begegnungen in Griechenland

    „Girl in Greece“ – gibt man diese Wortkombination bei Google ein, dann erscheinen tausend Bilder von jungen Frauen mit langen Haaren in wehenden Kleidern oder kurzen Shorts, die auf weiß getünchten Mäuerchen oder am türkisblauen Wasser posieren. Auf meiner Kamera befindet sich nicht ein einziges dieser Bilder.

    Ich war Ende Juli für zwei Wochen in Thessaloniki, einer Stadt im Norden von Griechenland, um die Flüchtlingsarbeit vor Ort zu sehen. Das heißt konkret: für ein paar Tage bei zwei Care Centern in der Innenstadt mitzuarbeiten, Essenspakete zu packen, Kleidung zu sortieren, Menschen willkommen zu heißen und manchmal auch wegschicken zu müssen.

    Es heißt auch, mich mit anderen Freiwilligen zu treffen, sich kennenzulernen, zu besprechen, gemeinsam zu beten. Das heißt, in die Refugee Camps außerhalb der Stadt zu fahren, Menschen zu treffen, die auf der Reise sind und nicht mehr weiterreisen können, teilweise seit Jahren. Das waren zwei Wochen vollgepackt mit eindrücklichen Erlebnissen, Gesprächen und Blickkontakten.

    Zwei Frauen – zwei Schicksale

    Während meiner Zeit in Griechenland treffe ich viele Menschen. Solche Begegnungen fangen eigentlich immer mit einem Lächeln an. Dann frage ich „Farsi baladi?“ (Spricht du persisch?), die Augen werden groß aufgerissen und der Wortschwall geht los. Die Menschen stellen Fragen, ähnliche Fragen wie meine: Wie heißt du? Wo kommst du her? Wir tauschen uns aus, finden Gemeinsamkeiten, geben uns Komplimente, lächeln und lachen. Das Leben ist schön. Dann frage ich: „Wie lange bist du schon hier?“ Und oft kippt die Stimmung an dieser Stelle. Die Antwort ist meist zwei oder drei Jahre. Sogar vier Jahre habe ich schon gehört. Ich will hier von zwei jungen Frauen erzählen, mit denen ich kurz am selben Ort zur selben Zeit zusammentraf.

    Thymian-Tee und Himbeeren in einem Container in Nordgriechenland

    Diejenigen, die ich im Camp getroffen habe, laden mich in ihr Zuhause ein, drängen mich gar dazu. Ich musste mich entscheiden, mit wem ich mitgehe. Mit dem kleinen Mädel, das mir einen Kuss auf die Wange gedrückt hat? Oder mit der jungen Mama, die mein Alter (23) zu haben scheint, und dessen älteste Tochter sieben Jahre alt ist? Mit der 14-Jährigen, die ihre Haare wie ich kurz trägt, aber nicht der Mode oder Einfachheit halber, sondern wegen der Läuse, die sie vor ein paar Monaten hatte.

    Ich gehe dann mit einer Kurdin aus dem Iran mit, lasse die Sandalen vor der Tür stehen und trete in einen Raum ohne Betten. Und doch schläft man hier, ohne Tisch und Stühle und doch isst und lernt man hier, ein Raum für Mama und Papa, fürs Kind, für die Gäste, ein Raum in einem Container irgendwo im Nirgendwo.

    Griechisch kann sie nicht, wegen Corona war hier schon lange keine Lehrkraft mehr. Aber sie war schon vor Corona hier. Drei Jahre sind es jetzt. Wenn es wieder Unterricht gibt, will sie wieder Englisch lernen oder Deutsch, sowieso werden solche Sprachen eher angeboten. Unterricht wird von Freiwilligen gemacht und die kommen meist aus dem Ausland, das ist großartig. Bloß bleiben sie meist nur eine kurze Zeit, das ist nicht großartig. Sie will nach Deutschland, will Medizin studieren.

    Sie macht Tee, aus Thymian, im Wald gesammelt. Ich habe Himbeeren mitgebracht von Lidl. Der Lidl ist nicht so weit weg von ihrem Camp, aber sie scheint dort selbst nicht hinzugehen, vielleicht geht ihr Mann einkaufen. Sie hat noch nie Himbeeren gesehen, aber so etwas ähnliches schon. Ich weiß nicht, vielleicht Brombeeren? Aber ich kenne den Begriff nicht auf Persisch, also lassen wir das Thema auf sich beruhen.

    Nach einer Weile verabschiede ich mich wieder. Das Camp ist eine Stunde Autofahrt von Thessaloniki entfernt und es ist schon 22 Uhr. Wir stehen vom Boden auf. Meine Beine schmerzen ein wenig vom Schneidersitz und sind zerstochen von den Mücken. Hier gibt es viele Mücken, viel mehr als in der Innenstadt, ich weiß nicht warum. Wir drücken uns fest und lange.

    Ihr Mann bringt mich noch zum Tor. Er versteht nicht, warum ich Kultur und Geschichte an der Uni studiert habe. Ich weiß auch nicht so genau. Ich habe auch Persisch an der Uni gelernt und das ist doch gut, verteidige ich mich. Sonst könnten wir jetzt nicht reden, sage ich ihm. Er antwortet nicht. Vielleicht will er gar nicht mit mir reden können. Wir gehen schweigend weiter, noch ein bisschen bis zum Tor. Meine Beine jucken. Vielleicht sollte ich Biologie oder ähnliches studiere, dann könnte ich mir wahrscheinlich die Frage mit den Mücken erklären.

    Müde Mama mit drei quirligen Jungs und Flugtickets nach Deutschland

    In einem Park in Thessaloniki, der sich an den großen Aristoteles-Platz anschließt, treffe ich an einem Abend auf eine junge Mama mit drei Jungs. Einen stillt sie, einer spielt am Handy, einer fragt dauernd „Baba kodjast?“ (Wo ist Papa?). Sie wartet auf ihren Mann. Er ist noch bei der Arbeit. Nach zweieinhalb Jahren hat er eine Arbeitsstelle bekommen. Aber sie wollen nicht bleiben, heute noch wollen sie Schnelltests machen.

    Übermorgen haben sie Flüge nach Deutschland gebucht. Die Rückflüge auch, denn das wird so verlangt, aber sie werden sie nicht brauchen. Sie will nicht zurück, niemals. Ich frage, warum sie nicht hierbleiben will. Sie erzählt von Diskriminierung, von Ablehnung, sie motz nicht laut, sie spricht leise, scheint auch mir nicht ganz zu vertrauen, zumindest lächelt sie nicht.

    Ihr Blick ist leer. Sie ist müde, körperlich und emotional. Da auch ich warten muss, bleibe ich bei ihr, obwohl unser Gespräch immer wieder abbricht. Wir reden kurz über Afghanistan, dort ist sie geboren, über den Iran, dort hat sie gelebt, dann wieder über Griechenland. Ein Junge kommt dazu. Sie kennt ihn. Er sei immer hier im Park und spielt oft mit ihrem Ältesten. Auch jetzt rennen sie davon.

    Dann kommt ihr Mann, irgendwas hat mit dem Test-Termin nicht funktioniert. Sie müssen den Test morgen Früh machen. Nachdem er davon berichtet hat, kann ich mich vorstellen, er freut sich. Er lacht und lächelt. Das tut gut und ich bin froh, dass die junge traurige Mama einen Mann hat, der herzlich lachen kann. Ich tausche Nummern mit seiner Frau aus. Vielleicht sieht man sich mal in Deutschland. Vielleicht sehe ich sie dann auch mal lachen. Jetzt gehen sie nach Hause. Die Jungs sind hungrig.

    Girl in Greece

    Google hat nicht Unrecht mit seiner Auswahl an Bildern auf die Suchanfrage „Girl in Greece“. Sie waren auch da, die gut situierten Reisenden und Einheimischen. Auch in Massen, wahrscheinlich auch zahlreicher als die Reisenden ohne Papiere, die Einheimischen ohne Eigenheim, aber sie schwirrten um mich herum, verschwommen am Rand, mein Fokus aber lag woanders.

  • Ibtisam Barakat: Die Natur ist die eigentliche Heimat

    Viele Jahre ihrer Kindheit hat die Journalistin und Autorin Ibtisam Barakat im Schatten von Krieg und Flucht gelebt. Sie war drei Jahre alt, als die Familie 1967 im Sechs-Tage-Krieg von ihrem Zuhause in der palästinensischen Stadt Ramallah nach Jordanien fliehen musste. Später kehrte die Familie Barakat nach Ramallah zurück und lebte unter israelischer Besatzung. Ibtisam zog 1986 nach New York City, um als Praktikantin bei der Zeitschrift Nation zu arbeiten. Anschließend studierte sie u.a. Journalismus und begann damit, ihre Erinnerungen an Krieg, Flucht und Besatzungszeit für junge Erwachsene aufzuschreiben.

    In ihren Büchern „Tasting the Sky“ (2007) und „Balkony on the Moon“ (2016) erzählt sie mit großer Unmittelbarkeit aus der Sicht eines palästinensischen Kindes bzw.  jungen Mädchens, das Krieg, Verlust und Zerstörung über viele Jahre erfahren hat, von ihren Erlebnissen, Ängsten und Hoffnungen. Beide Erinnerungsbände wie auch spätere Bücher von ihr wurden mit zahlreichen Preisen gewürdigt.

    Ibtisam wurde schließlich ein US-Delegierter der dritten Weltkonferenz der Vereinten Nationen zur Beseitigung von Rassendiskriminierung. In zahlreichen Interviews setzt sich Ibtisam mit der Bewältigung von Flucht und Kriegstraumata auseinander. Das Erleben von Natur und das Lesen und Erzählen von Geschichten spielen dabei eine wichtige Rolle.

    Im Herbst dieses Jahres, kurz nachdem sie für ihr in arabischer Sprache erhältliches Buch „The Lilac Girl“, mit dem Sheikh Zayed Book Award 2020 ausgezeichnet worden ist, hatte ich Gelegenheit zu einem Interview mit Ibtisam Barakat. Was uns verbindet, ist das Schreiben und das gemeinsame Anliegen, Kindern vielfältige Zugänge zur Literatur wie zur Natur zu ermöglichen. Wir sind im gleichen Jahr geboren, aber in unterschiedlichen Teilen der Welt unter ganz verschiedenen Umständen aufgewachsen.

    Was kann Kinder mit Kriegs- und Fluchterfahrungen Mut schenken?

    Ein Anliegen bewegte mich bei den Vorbereitungen für dieses Interview besonders. Ich wollte wissen: Welche Quellen der Hoffnung und der Ermutigung möchte Ibtisam vor dem Hintergrund eigener Kriegs- und Fluchterfahrungen mit ihrem Schreiben heute an Kinder weitergeben?  Dazu habe ich ihr unter drei Aspekten Fragen gestellt. Und aufschlussreiche Antworten bekommen. Sie werden hier in deutscher Übersetzung wiedergegeben:

    SB: Danke für die Zeit und Bereitschaft zu diesem Interview, liebe Ibtisam. Gern würde ich mit dir zunächst über das Erleben von Natur sprechen. Denn mir ist aufgefallen, dass das in deinen Schilderungen oft ein Thema ist. Damit verbunden spielen Wörter und Bilder, Imagination und Geschichten eine wichtige Rolle. Wo siehst du die besondere Chance und Bedeutung der erlebten Natur? Was erleben Kinder in der Natur? Glaubst du, dass das Erleben der Natur für Kinder, die Krieg, Zerstörung und Flucht erlebt haben, besonders wichtig sein könnte? Und wie hast du das als Kind selbst erlebt?

    IB: Die Natur ist die eigentliche Heimat des menschlichen Seins. Kinder lieben es, die Natur frei zu erkunden und in ihr zu spielen. Die Vögel singen. Der Wind tanzt mit den Bäumen. Das Wasser plätschert. Das Ausmaß an Freiheit, das ein Kind in der Natur empfindet, lässt sich durch kein Spielzeug in gleicher Weise erreichen. Das Geheimnis der Natur mit ihrer großen lebendigen Ausstrahlung weckt in Kindern eine dauerhafte Freude am Forschen und Entdecken.

    Mit dem Regenbogen nach dem Sturm weichen die Ängste zurück

    Ich glaube, dass wir Menschen wie Bäume, Tiere und alle anderen Naturphänomene sind. Wir sind „natürlich“ bereit und mit der Möglichkeit ausgestattet, eine Heilung von Traumata zu erfahren, zu transzendieren und weiterzuleben. Ein Beispiel: Zu sehen, wie ein winziger Spatz mit einem großen Vogel am Himmel ringt, kann bewirken, dass sich ein traumatisiertes Kind gestärkt fühlt gegen seine inneren Dämonen und Tyrannen. Oder die Beobachtung, wie Gras durch den Beton der Autobahn bricht und tonnenschwere Barrieren überwindet, zeigt dem Kind, was auf dem Weg der Heilung alles möglich ist.

    Wenn nach einem Sturm ein Regenbogen aufleuchtet, weichen die Ängste vor dem Sturm zurück. Die Natur ist ein magisches Klassenzimmer. Wenn Kinder sich für die Natur interessieren, wird diese zu einer lebenslangen Quelle der Heilung. Und einige werden die Welt verändern, weil sie sich für Naturphänomene interessieren und damit die Wissenschaft, die Poesie, die Kunst und Medizin und alle Arten von Ausdrucksformen des menschlichen Geistes voranbringen können.

    SB: Als Bibliothekarin und Autorin spielen neben der Natur vor allem Poesie und ganz besonders Kindergeschichten auch in meinem Leben eine wichtige Rolle: Ich denke dabei an Kinderbücher der neueren Literatur, aber auch an traditionelle Märchen und Geschichten aus aller Welt. Meine Vermutung ist, dass viele dieser traditionellen Märchen und Geschichten Werte vermitteln, die weltweit wichtig sind – in allen Religionen und Kulturen.

    Es geht um Empathie, um Frieden, Gerechtigkeit. Es geht um die Hoffnung auf eine Transformation, die zu einem Happy End führt. Glaubst du, dass solche Geschichten Kindern helfen können, Vertrauen in das Leben zu gewinnen? Und fallen dir Beispiele ein, wie Märchen oder Motive daraus eine heilende Wirkung auf die Seelen von Kindern haben können?

    Auf kreative Weise zeigen, wie die Menschheit sein kann

    IB: Ich denke, je mehr Geschichten Kinder lesen und die Möglichkeit haben, mit Geschichten aus der ganzen Welt vertraut zu werden und zu interagieren, desto besser. Die Welt besteht aus Geschichten. Und das Lesen und Hören von Geschichten über „gewisse Charaktere“ zum Beispiel kann wie eine „Impfung“ wirken. Sie zeigen uns:  Ja, es gibt Menschen, die anderen Menschen Schaden zufügen. Es gibt Menschen, die anderen Menschen helfen. Ja, es gibt Leute, die beides tun. Und es gibt unzählige Schattierungen von Menschlichkeit und Interaktionen. Traurige Momente gehören dazu. Und erstaunlich freudige Momente, manchmal am selben Tag.

    Ein Kind beginnt zu erkennen, dass die Welt voller Charaktere und Ereignisse ist, die alle für sich einzigartig sind. Daher muss sich das Urteilsvermögen fortwährend weiter ausdifferenzieren mit der Weiterentwicklung des Denkens und des Fühlens. Geschichten handeln im Wesentlichen vom Überleben der Menschen. Sie sind die Landkarten für das, was menschliches Dasein leitet und begleitet. Geschichten sind voller Warnungen, Einladungen, Bilder, Fragen, Handlungen, Antworten.

    Aber das Leben selbst ist noch reicher als alle Geschichten, die wir kennen. Indem wir Geschichten lesen, beginnen wir, Geschichten zu schreiben. Entweder mit Worten oder mit der Art wie wir leben. So können wir auf neue und kreative Weise der Welt ein lebendiges Beispiel dafür geben, wie die Menschheit sein kann.

    Es braucht viel Mut, einen unvorhersehbaren Weg zu gehen

    Ich finde es toll, dass viele Geschichten auf der Welt von Mut und Abenteuer erzählen. Obwohl viele Kinder im wirklichen Leben davon abgehalten werden, Risiken einzugehen. Die Ideen aber können irgendwann dazu beitragen, sich mit Geist und Herz etwas zuzutrauen. Kinder lieben es, Mut zu wagen. Weil sie damit über die Angst triumphieren. Was für eine großartige Weisheit steckt in unseren menschlichen Genen. Und wie viel Mut braucht es, ein Kind zu sein und den langen und unvorhersehbaren Weg zu gehen, eines Tages erwachsen zu werden. . .

    SB: In Deutschland gibt es viele Familien mit Kindern, die z.B. in Syrien oder Afghanistan Gewalt und Vertreibung erlebt haben und fliehen mussten. In deutschen Bibliotheken fragen wir uns oft: Wie können wir diesen Kindern helfen, ihre eigenen Bilder für eine hoffnungsvolle Zukunft zu entwickeln? Sind dabei vor allem Geschichten in den jeweiligen Muttersprachen und aus den Herkunftsländern von besonderer Bedeutung?  Oder schöpfen die Kinder auch Mut und Vertrauen aus Geschichten und Worten der neuen Sprache und Umgebung?

    „Lebensmittel der Heimat“ für die entwurzelte Seele

    IB: Wir erleben das in Amerika genauso. Und ich bin selbst als Flüchtling aufgewachsen. Das Flüchtlingskind und das erwachsene Kind sehnen sich lange danach, ihre Muttersprache zu hören, die Bilder von zu Hause zu sehen, die vertrauten Speisen zu essen, die vertraute Musik zu hören. Solche „Lebensmittel der Heimat“ sind echte Medikamente für die vertriebenen und entwurzelten Seelen.

    Zugleich müssen sie sich auch in der neuen Umgebung zurechtfinden. Also brauchen sie ebenso die neue Sprache und die Elemente des neuen Zuhauses. Das eine allein ist nicht genug. Zugewanderte gehören mindestens zwei Welten an. Und es ist ganz wichtig, beide Welten zu sehen und zu erleben.

    Wenn ich nach Palästina gehe, vermisse ich das Englische. Und wenn ich in Amerika bin, vermisse ich Palästina. Ich gehöre zu beiden Welten, nicht nur zu einer. Ich lese und schreibe in zwei Sprachen. Das gibt meiner Welt die dringend benötigte Integrität, die Einheimische nicht mit der gleichen Intensität brauchen.

    Weitere Informationen zu Ibtisam Barakat gibt es auf ihrer Homepage.

     

  • Wie kann ich meine Heimaten lieben?

    August 1993.
    Die Passagiere des Flugs Il-96 Sankt Petersburg – Hamburg, werden zum Boarding gebeten. Eine junge Frau, kurze Haare, runde Brille, findet ihren Platz direkt am Fenster. Dies ist ein schicksalhafter Flug für sie. Ihre Gedanken rasen. Sie sucht die Blicke anderer Passagiere, die in die Kabine drängen. Wer beginnt gerade ein neues Leben, bewaffnet nur mit ein paar Habseligkeiten, die ins Handgepäck passen? Manchmal trifft sich ihr Blick mit dem anderer junger Passagiere. Nur für einen Augenblick. Dann schauen beide verlegen weg. Was treibt sie ins Ausland, in das wohlgeordnete Deutschland? Warum schämen sie sich?

    Die junge Frau dreht sich zum Kabinenfenster. Das Terminalgebäude wirkt trostlos und schäbig. Obendrüber schweben riesige, ergraute Lettern: „HELDENSTADT LENINGRAD“. „Heldenstadt“ durften sich sowjetische Städte nennen, die sich im Großen Vaterländischen Krieg mit besonderer Tapferkeit gegen den Faschismus verteidigt und gesiegt hatten. Später wird an diesem Flughafen „Leningrad“ durch „Sankt Petersburg“ ersetzt werden und die „Heldenstadt“ verschwinden. Aber jetzt scheint es der jungen Frau, als hieße „Heldenstadt“ vor allem eins: dass all die jungen Menschen, die dieses Land für immer verlassen wollen, die ihr Glück im Deutschland suchen, nicht mehr dazu gehören. Eine von ihnen bin ich, Katja Fedulova.

    Zu ungeduldig für lange Veränderungsprozesse

    25 Jahre lang lebe und arbeite ich nun schon als Filmemacherin in Deutschland, seit ich den chaotischen Zuständen meines Heimatlandes in den 90ern Jahren entflohen bin. Jenes Land, das mitten im Umbruch war, auf der Suche nach neuen Perspektiven, voller Hoffnungen auf vielleicht Besseres. Ich war zu jung, zu ungeduldig, um an dem langen Veränderungsprozess meines Heimatlandes teilzunehmen. Ich wollte mein Leben auf der Stelle ändern. Und ging nach Deutschland. Um mich in der Fremde zurecht zu finden, wählte ich mir eine neue Identität: Ich wollte deutsch sein. Es hat eine Weile gedauert, bis ich erkannt habe, dass es unmöglich ist, die eigenen Wurzeln komplett zu verleugnen.

    Ich begann über meine Vergangenheit nachzudenken. Warum bin ich und mit mir viele andere junge Russen Anfang der 90er Jahre in den Westen gegangen? Meine Generation machte den Schulabschluss kurz nach der Wende. Russland erlebte damals eine schwere Depression. Unerschwingliche Studiengebühren, dramatisch ansteigende Arbeitslosenzahlen und willkürliche Kriminalität machten uns das Leben schwer. Alkohol- und Drogenprobleme, besonders bei den jungen Männern, waren an der Tagesordnung. Und während die Scheidungsrate zunahm, fanden immer weniger Eheschließungen und Geburten statt.

    Was hat sich seit damals in meinem Land verändert? Mit Ernüchterung stelle ich fest, dass Russland sich zivilisatorisch zurückentwickelt. Die schwächer werdende Wirtschaft und die erstarkende Diktatur verursachen erneut ein Chaos im Land. Andersdenkende werden mit Methoden zum Schweigen gebracht, die an sowjetische Zeiten erinnern. Nationalistische Bewegungen wachsen in bisher unbekanntem Ausmaß. Russisch-orthodoxe Institutionen diktieren der Politik immer dreister eigene Interessen. Die Bürgerrechte werden täglich verletzt. Junge Menschen müssen wieder um ihre Existenz fürchten oder, wie ich damals, ins Ausland gehen.

    Hoffnung und Sorge

    Aber ist Flucht die einzige richtige Lösung, um ein würdiges Leben zu führen? Was kann ich heute für meine alte Heimat tun? Diese Fragen treiben mich immer wieder mit der Kamera nach Russland zurück, begleitet von gemischten Gefühlen: Scham, Zuversicht und dem ungesättigten Bedürfnis nach eigenem Engagement. Meine Sehnsucht ist groß. Habe ich einen differenzierteren und objektiveren Blick auf mein Land als meine Landsleute, die geblieben sind? Kann ich diejenige sein, die meiner neuen Heimat meine alte näher bringen kann? Ist es möglich, mit meinen Protagonisten zusammen für Russland zu hoffen? Kann ich Zeugin, Mitwisserin, am liebsten sogar „Mittäterin“ werden?

    In meinen bisherigen Dokumentarfilmen habe ich Frauen und Männer aus der jungen Generation Russlands porträtiert. Ihre Sichtweise ist zum Teil rechts-nationalistisch und ultrakonservativ. Meine Auswahl traf ich nach politischen und sozialen Kriterien, die ich in der derzeitigen russischen Gesellschaft als gleichermaßen exemplarisch wie alarmierend wahrnehme. Noch bis vor kurzem galten die Werte Europas und insbesondere Deutschlands den meisten russischen Bürgern als Orientierung. Doch in der letzten Zeit werden viele europäische Gesetze von Russen verhöhnt, am stärksten die Toleranz gegenüber Homosexuellen und die Aufnahme von Geflüchteten. Doch auch Deutschland spaltet sich. Das Land, das einst von Toleranz und multinationalem Miteinander schwärmte, zeigt heute zunehmend Unsicherheit und Unstimmigkeit.

    Ich habe Hoffnung für meine alte Heimat, und ich fürchte auch um meine neue. Den russischen Nationalismus kann ich nicht anschauen, ohne den Vergleich mit den neuen nationalistischen Strömungen in Westeuropa zu sehen, das von der Flüchtlingskrise erschüttert wird. Wie kann ich meine Heimaten lieben?

    Katja Fedulova
    Textmitarbeit Calle Overweg / Ulrike Zinke

    Aktuell gibt es 2 Filme von Katja in der 3SAT Mediathek bis Anfang November zu sehen: DER PATRIOT (bis 06.11.2020 in 3SAT Mediathek) . Mein Name ist Khadija (bis 04.11.2020 in 3SAT Mediathek).
  • Erinnerungen und Betrachtungen

    In der Nacht ruht der Lärm und wachen die Erinnerungen auf. In der Nacht beginnt der Kampf zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart, der mörderischen Vergangenheit und der ungewissen Zukunft.

    Ich erinnere mich!

    Ich erinnere mich, dass ich unfähig war, etwas zu tun, während ich tief im Chaos meiner Gefühle steckte. Das war an dem Tag, an dem mein Onkel verschwand, mein Onkel, die Hälfte meines Herzens, mit dem ich zehn Jahre meines Lebens verbracht habe, in denen er ein Vaterersatz für mich war. Für meinen Vater, der seine Vaterrolle und seine Pflicht nicht erfüllen wollte.

    Ich erinnere mich an meinen Cousin, der nicht mehr mit bei mir ist. Mein Cousin war mein Freund, Verwandter und meine Stütze, vor allem nachdem mein Onkel im Gefängnis verschwand, war mein Cousin mein ein und alles. Ich weiß nicht, was mein Onkel sich hat zuschulden kommen lassen, dass er ins Gefängnis gesteckt wurde. Ich glaube auch nicht, dass er das Gefängnis verdient, denn er war der Liebende und Feinsinnige.

    Ich betrachte die Augen meiner Mutter jeden Tag. Sie trägt eine andere und besondere Geschichte in sich. Sie ähnelt in ihrer Kraft der Erhabenheit der Berge und sie steht fest, ebenfalls wie ein Berg. Sie hat mich aufgezogen, damit ich stark bin und das Leben mit Durchhaltevermögen meistere, auch wenn ich allein bin.

    Gestalten ohne Gefühle

    Ich habe manchmal das Gefühl, dass die Menschen um mich herum, nichts anderes sind als Gestalten ohne Gefühle. Ich werde vom Chaos der Gefühle und dem Durcheinander der Gedanken beherrscht. Ich merke plötzlich, dass ich dennoch unter diesen Menschen in einer Gesellschaft, die arrogant und ignorant ist, lebe.

    Ich merke, dass wir nicht frei wählen können, was wir tun und lassen sollen. Bei der Geburt haben wir weder unser Aussehen, unsere soziale Schicht, unsere Religion, noch unsere Heimat ausgewählt. Auch unsere Väter und Mütter haben wir nicht ausgewählt. All dies stand uns nicht zur Auswahl.

    Ich habe das Bedürfnis zu schreiben. Onkel, warum hat das Leiden uns ausgewählt? Ich möchte mich bei dir entschuldigen, aber wie kann ich das machen? Ich frage mich, was du jeden Tag tust, und ob es dir gut geht. Ich hoffe, es geht dir gut, die Hälfte meines Herzens.

    Wir haben viele Qualen durchlebt, du und ich. Du warst immer wieder bemüht, logische Antworten auf meine Fragen zu finden, vergeblich! Ich sagte immer, das ist unser Schicksal! Aber was bedeutet Schicksal?

    Ich verspreche dir, dass ich deinen Schmerz nie vergessen werde. Und ich werde mein ganzes Leben gegen das autoritäre Regime, das dich verhaftet hat, aufschreien. Ich verspreche dir, dass unsere Träume wie ein Vogel frei bleiben.

    Das Schöne in unseren Seelen wird nicht besiegt.

    Die Nacht geht zur Neige und ich erinnere mich, betrachte und warte auf einen schöneren Morgen.

     

     Frieden zwischen Hier und Dort

    „Frieden zwischen Hier und Dort“ ist ein Schreibworkshop-Projekt des Friedenskreis Syrien. Der Verein tritt für einen friedlichen und kooperativen Austausch zwischen Menschen ein und schafft Austauschplattformen für einen konstruktiven Dialog.

    Die Texte sind bereits in veränderter Form in der taz erschienen. Das Projekt wurde in Zusammenarbeit mit Bi´bak, Start with a Friend (SwaF) und Multaka (Treffpunkt Museum) in Berlin durchgeführt und ist durch das Frauen ID Projekt im Rahmen des Kultur macht Stark Förderprogramms / PB und BMBF gefördert.

    In sieben Workshop-Tagen setzten sich die Teilnehmerinnen unter Leitung der syrischen Autorin Kefah Ali Deeb mit der Methode des Schreibens auseinander. Teil des Projekts waren Besuche in einigen Berliner Museen, die sich teilweise in den Geschichten der Frauen widerspiegeln. Entstanden sind Texte über das neue Lebensumfeld Berlin, über Heimat und eben über den “Frieden zwischen Hier und Dort”. Wir veröffentlichen sie nach und nach hier.

  • „Det is Berlin.“

    Zu Berlin habe ich tausend Geschichten in meinem Kopf. Ich gebe zu, dass ich hier viele Fesseln gesprengt und die ersten Buchstaben meiner Persönlichkeit geschrieben habe. Heute erinnere ich mich an die Zeit, als ich neunzehn Jahre alt war. Ich erinnere mich an die große Freude, als ich nach Mitternacht ausging und nur einen billigen Schlafanzug anhatte, von schlechter Qualität und sehr bunt. Mit ungekämmten Haaren ging ich hinaus und lief auf einem der Plätze Berlins herum.

    Heute blicke ich zurück und amüsiere mich über mein damaliges Verhalten. Manchmal denke ich, dass es falsch war, was ich tat und dass ich ein wenig verrückt war. Dann sage ich mir wieder: Das ist doch mein gutes Recht, zu tun und zu lassen, was ich will. Es ist mein Recht, das diejenigen, die die Normen festlegen und sich der Menschen habhaft machen, mir geraubt haben.

    „Det is Berlin.“

    Als ich daran dachte, saß ich in der Bahn direkt hinter der Führerkabine. An einer bestimmten Station stieg der Bahnführer aus, um einem Menschen mit Behinderung beim Einsteigen zu helfen. Seltsamerweise ließ er ihn dann aber doch nicht einsteigen, da er nicht verstanden hatte, wohin dieser Mensch möchte. Der Bahnführer brüllte plötzlich laut durch den Lautsprecher: „Zurückbleiben! Zurückbleiben!“ Die Frau, die neben mir saß, fragte ihren Mann, was mit dem Bahnführer los sei. Ihr Mann versuchte ihr eine Erklärung für das Verhalten des Bahnführers zu geben: „Det is Berlin.“

    Die Bahn setzte die Fahrt fort. Ratter, ratter, ratter… Durch die wiederholte Reibung von Rad und Schiene kamen die Gedanken in meinen Kopf zurück. Ratter, ratter, ratter… Du musst deutsch lernen! Ratter, ratter, ratter… Du musst das Geheule der Bomben und den Tod vergessen! Ratter, ratter, ratter… Du musst dich akklimatisieren und integrieren! Ratter, ratter, ratter… Du musst eine Arbeit finden, studieren und die Prüfungen bestehen! Ratter, ratter, ratter… Du musst…

    Aber was ist mit dem Kulturschock? Was ist mit den Visionen, den Alpträumen, den Sorgen und schlaflosen Nächten? Was hat das alles zu bedeuten? Ratter, ratter, ratter… Wir, die Kinder des Krieges, werden wie eine Ware billig gehandelt! Von den Kriegstreibern, ihren Mittelsmännern und auch der Presse direkt danach. Nämlich von denen, die unsere Narrative, unsere Bilder und Schicksale missbrauchen. Was haben wir davon? Nichts! Denn wir bekommen nichts von dem, was wir am Notwendigsten brauchen. Was wir brauchen ist Stabilität und Sicherheitsgefühl. Aber was ist mit unserer psychischen Sicherheit?

    Hier wartet der Zug nicht auf dich

    Wenn ich die Sprache der Finanzen und der Zeit von früher beherrschen würde, hätte ich in meinem Werdegang sicherlich etwas anders gemacht. Aber ich war damals mit anderen Dingen beschäftigt und suchte einen anderen Sinn. Ich kann den Wert dessen, was ich tat, heute nicht bestimmen. Heute reden alle von Werten und Prinzipien, aber wer hält sich noch an Werte und Prinzipien?

    Det is Berlin. Ja, tatsächlich, das ist Berlin. Hier wartet der Zug morgens nicht auf dich, wenn du verschlafen hast. Keiner interessiert sich dafür, ob du absichtlich den Morgen verschlafen hast oder etwas anderes im Sinn hattest. Keiner wird oder möchte es erfahren.

    Det is Berlin. Die Sirenen in Berlin verstummen nicht, auch wenn die Straßen leer sind oder die Nacht fortgeschritten ist. Diese Stadt braucht unentwegt einen Retter.

    Als wären wir Aliens

    Ich habe aufgehört, die Jahre zu zählen, damit ich die Last weniger spüre. So konnte ich mir die „Integration“ leichter machen. Ich löschte mein Haus aus meinem Gedächtnis und beseitigte noch dazu alle Erinnerungen, die mir im Weg standen. Dort war die Zeit langsamer und leichter. Ich könnte sogar heute sagen, dass die Zeit, ohne dass ich es bemerkt habe, stehen blieb. Die bittere Wahrheit, die mir ins Gesicht springt, ist der Tod. Dort würde ich umgebracht werden. Auf die eine oder die andere Weise. Hier werde ich dazu motiviert, mich selbst umzubringen, mit dem Unterschied, dass ich hier die Wahl habe, auf welche Weise ich es tue.

    Und jetzt, nach dem bitteren Kampf zwischen dem Hier und Dort entschied ich mich, mit meinen 25 Jahren in aller Ruhe hier zu leben und mich von den Konsumenten unserer Erzählungen fernzuhalten. Von denjenigen, die über uns reden, als wären wir Aliens oder Fremdlinge, die auf dem europäischen Kontinent gelandet sind, um als Versuchskaninchen missbraucht werden zu können.

    „Frieden zwischen Hier und Dort“ ist ein Schreibworkshop-Projekt des Friedenskreis Syrien. Der Verein tritt für einen friedlichen und kooperativen Austausch zwischen Menschen ein und schafft Austauschplattformen für einen konstruktiven Dialog.

    Die Texte sind bereits in veränderter Form in der taz erschienen. Das Projekt wurde in Zusammenarbeit mit Bi´bak, Start with a Friend (SwaF) und Multaka (Treffpunkt Museum) in Berlin durchgeführt und ist durch das Frauen ID Projekt im Rahmen des Kultur macht Stark Förderprogramms / PB und BMBF gefördert.

    In sieben Workshop-Tagen setzten sich die Teilnehmerinnen unter Leitung der syrischen Autorin Kefah Ali Deeb mit der Methode des Schreibens auseinander. Teil des Projekts waren Besuche in einigen Berliner Museen, die sich teilweise in den Geschichten der Frauen widerspiegeln. Entstanden sind Texte über das neue Lebensumfeld Berlin, über Heimat und eben über den “Frieden zwischen Hier und Dort”. Wir veröffentlichen sie nach und nach hier.

  • „Auch ich habe Privatsphäre verdient.“

    Zwischen dem Hier und Dort habe ich eine Reise hinter mich gebracht, die mit vielen Gefahren verbunden war. In der Hoffnung, dass ich eines Tages an einem sicheren Ort ankomme, an dem ich meine Träume verwirklichen kann. Meine Sicherheit war aber nicht die einzige Bedingung, um diese Träume zu realisieren.

    Als ich als Flüchtling in Deutschland ankam, in diesem sicheren Land, schickte man mich zunächst, wie alle anderen Flüchtlinge, in eine weit abgelegene Gegend. Ich hatte das Gefühl, ich wäre im Exil. Ich dachte mir zunächst, ich hätte nicht das Recht wie die anderen in einer Stadt zu leben. Und darüber hinaus dachte ich, ich hätte nicht das Recht über mein Schicksal mitzubestimmen. In meinem Heimatland zwang mich der Krieg, das Land zu verlassen. Und so habe ich es getan. Hier legten die zuständigen Behörden meinen Aufenthaltsort fest und trugen mir auf, den Ort nicht zu verlassen. Ich fügte mich der Vorschrift.

    „Sich fügen“ für die Integration

    Ich versuchte mich zu akklimatisieren. Aber wie kann das gehen? Und wie sollte ich mich akklimatisieren? Jeder wollte aus mir eine Kopie von selbst sich machen, mit der Begründung, ich solle mich integrieren. Und jeder definiert den Begriff Integration auf seine eigene Art und Weise. Ich ging dabei zwischen den verschiedenen Bedeutungsfeldern verloren.

    Man sagte mir: Integration ist Sprache lernen. Ich lernte die Sprache. Und man sagte: Integration ist Respekt gegenüber den Gesetzen. Ich machte mich mit den Gesetzen dieses Landes vertraut und respektierte sie, so wie ich denjenigen respektierte, der mir das sagte. Dann sagten sie zu mir: Integration ist Respekt vor sozialen Bräuchen und Normen. Schön. Wir haben auch unsere sozialen Bräuche und Normen, dann respektieren wir auch diese.

    Am Ende stellte ich fest, dass ich nur eine einzige Möglichkeit hatte: Auf die Art zu leben, wie man es mir vorschreibt. Ich sollte mir den Lebensstil zu eigen machen, der mir auferlegt wurde: Ihre Musik hören, ihre Gerichte essen und mich nach ihrem Geschmack kleiden. Das Wichtigste für sie aber ist, dass ich auf meine Kopfbedeckung verzichte, denn sie passt ihnen nicht.

    Ein undankbarer Flüchtling

    Das wollte ich nicht, denn ich habe meinen eigenen Lebensstil und ich bin glücklich damit. Ich lehnte ihre Beschlüsse ab und somit wurde ich als „nicht-integriert“ bezeichnet. Man nannte mich einen undankbaren Flüchtling. Es verbreitete sich die Nachricht, dass ich eine nicht integrationsfähige und kranke Frau sei, die nicht in der Lage ist, sich mit anderen zu verstehen. Das alles nur, weil ich nicht das tat, was mir nicht passte.

    Ich liebe die anderen und freue mich, mit ihnen zu kommunizieren. Aber ich habe es nicht gern, mich in die Privatsphäre und Lebensweise anderer einzumischen, weil ich es nicht gern habe, dass jemand sich in meinen privaten Lebensbereich einmischt und meine Freiheit einschränkt. Alles was ich erwarte ist, dass sie mich wie einen gleichwertigen Menschen behandeln. Wie sie ihre Privatsphäre haben, die ich respektiere, möchte auch ich meine Privatsphäre haben.

    „Frieden zwischen Hier und Dort“ ist ein Schreibworkshop-Projekt des Friedenskreis Syrien. Der Verein tritt für einen friedlichen und kooperativen Austausch zwischen Menschen ein und schafft Austauschplattformen für einen konstruktiven Dialog.

    Die Texte sind bereits in veränderter Form in der taz erschienen. Das Projekt wurde in Zusammenarbeit mit Bi´bak, Start with a Friend (SwaF) und Multaka (Treffpunkt Museum) in Berlin durchgeführt und ist durch das Frauen ID Projekt im Rahmen des Kultur macht Stark Förderprogramms / PB und BMBF gefördert.

    In sieben Workshop-Tagen setzten sich die Teilnehmerinnen unter Leitung der syrischen Autorin Kefah Ali Deeb mit der Methode des Schreibens auseinander. Teil des Projekts waren Besuche in einigen Berliner Museen, die sich teilweise in den Geschichten der Frauen widerspiegeln. Entstanden sind Texte über das neue Lebensumfeld Berlin, über Heimat und eben über den “Frieden zwischen Hier und Dort”. Wir veröffentlichen sie nach und nach hier.

  • Keiner lernt aus den Erfahrungen der anderen

    Ich bin in Aleppo geboren und aus Aleppo vertrieb mich der Krieg, gezwungenermaßen, damit ich hier in Berlin zum Flüchtling werde.

    Ich habe mir nie vorgestellt in einem europäischen Land zu leben. Heute lebe ich in Deutschland. Sogar in der Hauptstadt, mitten in der Hauptstadt Deutschlands. Ich habe hier einen Ort gefunden, an dem ich das Gefühl habe, ich bin zu Hause. Also, fast wie das Haus, das ich hinter mich ließ, in meinem vom Krieg gebeutelten Land.

    Tatsächlich war dies mein Gefühl, als ich das Aleppo-Zimmer im Museum für Islamische Kunst in Berlin besuchte. Ich hatte das Gefühl, als wäre ich im Haus meiner Familie in Aleppo. Mich überkam das Bedürfnis, die Türe aufzumachen und aus den Räumen in den Innenhof hinaus zu treten, wo ich meine Mutter womöglich beim Blumengießen vorfinden würde. Ich bildete mir ein, ich hätte ihre Stimme gehört, dass sie mich bittet, die Blumen weiter zu gießen, während sie das Mittagessen zubereitet.

    Die Farben der Intarsien, der Geruch und alles in dem Aleppo-Zimmer versetzte mich in meine Kindheit zurück, in die Viertel der Altstadt von Aleppo, wo die historischen Häuser, die große Moschee und die mit Souvenirs und Handwerk gefüllten Märkte sind.

    Ein Gefühl von Stolz

    Mit dem Verlassen des Museums für Islamische Kunst begann mein Gedächtnis zu erlahmen. Als ich wiederum das Ischtar-Tor sah, war ich sprachlos, nicht nur wegen der Schönheit der Hohen Kunst, sondern weil es mich an das Glas im alten Aleppo erinnerte. Die Reliefs am Tor waren von unbeschreiblicher Schönheit, insbesondere die Chrysanthemen, das Symbol der syrischen Göttin Ischtar, der Göttin des Ursprungs und die Symbole unserer altsyrischen Götter.

    Ein Gefühl von Stolz auf die Kultur und Kunst, denen ich angehöre, erfasste mich plötzlich. Jeder, der dieses Museum besucht, hat die Chance dadurch mehr über uns und unserer Geschichte zu erfahren. Die Besucher können hier ein anderes Gesicht von meinem Land erfahren, als das was sie durch die Bilder über den Krieg kennen, die von den Medien verbreitet werden.

    Die gemeinsame Erfahrung des Krieges

    Aber wiederholt sich die Geschichte? Und teilen die Völker dasselbe menschliche Leid? Im Museum für Deutsche Geschichte sah ich das Leiden und die Trauer, die das deutsche Volk während der Kriege erfahren hat. Seine Erfahrungen im Krieg ähneln dem, was wir erlebt haben und was wir immer noch erleben. Man verliert die Liebenden, das Heim wird zerstört, das Gedächtnis wird ausgebrannt, der Tod lauert überall. Überall herrschen Barbarei, Seuchen; Flucht und Vertreibung und die Angst vor dem sicheren Tod.

    Eine Geschichte, die sich wiederholt, und Erfahrungen, die sich ähneln, obgleich die Zeiten, die Nationen, die Geographien sich voneinander unterscheiden.

    All diese Dinge haben eins gemeinsam: Den Krieg! Mit dem Krieg verschwinden die Unterschiede zwischen den Menschen. Jeder erlebt bittere Erfahrungen und schwere Zeiten. Alle sind von Flucht und Vertreibung bedroht und haben Angst vor der ungewissen Zukunft, die ihnen auferlegt wird.

    Aber niemand lernt aus der Erfahrung der anderen.

     

    „Frieden zwischen Hier und Dort“ ist ein Schreibworkshop-Projekt des Friedenskreis Syrien. Der Verein tritt für einen friedlichen und kooperativen Austausch zwischen Menschen ein und schafft Austauschplattformen für einen konstruktiven Dialog.

    Die Texte sind bereits in veränderter Form in der taz erschienen. Das Projekt wurde in Zusammenarbeit mit Bi´bak, Start with a Friend (SwaF) und Multaka (Treffpunkt Museum) in Berlin durchgeführt und ist durch das Frauen ID Projekt im Rahmen des Kultur macht Stark Förderprogramms / PB und BMBF gefördert.

    In sieben Workshop-Tagen setzten sich die Teilnehmerinnen unter Leitung der syrischen Autorin Kefah Ali Deeb mit der Methode des Schreibens auseinander. Teil des Projekts waren Besuche in einigen Berliner Museen, die sich teilweise in den Geschichten der Frauen widerspiegeln. Entstanden sind Texte über das neue Lebensumfeld Berlin, über Heimat und eben über den “Frieden zwischen Hier und Dort”. Wir veröffentlichen sie nach und nach hier.

  • Deutschland – der letzte Hafen?

    Am Strand an der Ostsee, an der nordöstlichen Grenze Deutschlands: Ich stand da und ließ die Füße im Sand versinken. Als die kalten Wellen meine Zehen berührten, stieg der Frost hinauf bis in mein Herz. Dann kam die Erinnerung zurück. Ich bin kein Flüchtling. Ich bin in kein Gummiboot zur Flucht eingestiegen und meine Füße zitterten nicht von den mächtigen Wellen des weiten Ozeans. Das musste ich nicht durchmachen, aber andere, die mir so ähnlich sind. Dieser Ähnlichkeit zuliebe, will ich ihnen meine Stimme leihen. Eine Stimme, der die Welt vielleicht kurz zuhört.

    Damals waren es Europäer

    Im Museum der deutschen Geschichte stand ich vor einem Gemälde. Dort war ein brennendes Schiff gemalt. Es sah so echt aus, ich hatte das Gefühl die Flammen springen gleich aus ihren Farben, um meine Wimpern zu erfassen. Die Passagiere flohen von dem Schiff und sprangen aus Angst vor dem Feuer ins Wasser, wie die Herbstblätter, die sich von ihren Zweigen verabschieden und auf die Erde sinken. Das waren Europäer. Damals sind sie emigriert, auf der Suche nach einem besseren Leben. Heute sind sie das Ziel und ermöglichen das Bessere für die anderen.

    Wie oft dreht sich die Zeit? Wir alle glauben daran, dass die Erde eine Kugel ist und dass sie sich dreht. Wenn wir uns dieses Drehen vor Augen hielten und darüber nachdenken würden, wären wir dann weiser und menschlicher? Wir kamen so unterschiedlich wie wir sind und trotz unserer Konflikte zum gleichen Ort. Vereint sind wir durch die Hoffnung, dass die Sonne vielleicht hier aufgeht, wenn sie da, wo wir sie hinter uns gelassen haben, unterging.

    Schmerzhafte Erinnerungen

    Sei es ein Flüchtling, ein Migrant oder ein Reisender auf seinem langen Weg: Dieses Land verspricht uns die Verwirklichung unserer Träume und ihre Natur tröstet uns mit schöner Ablenkung, also vergessen wir langsam unsere Schmerzen. Weil die Sehnsucht nach dem geliebten Syrien manchmal so schmerzhaft ist und einen im Bett aus dem Schlaf aufweckt.

    In Syrien spricht jede Ecke für sich, hat eine klare Identität und ist klar identifizierbar. Hier in Berlin färbt sich jeder Ort mit der Identität der Gruppe, die ihn bewohnt. So findet man auf einer Straße in Berlin mal etwas, was an eine weiche Farbe des schönen Syriens erinnert und auf einer anderen riecht man einen Duft, der den Sinnen vortäuscht, in Syrien zu sein. Wir sehen Damaskus, zerstückelt und verteilt über Berlin, aber das Ganze wohnt in unseren Erinnerungen. Die geliebte Stadt wiederzusehen ist immer ein Ziel, worauf man eine Ewigkeit warten könnte.

    Deutschland war eine Stütze

    Jedenfalls kriegen wir hier auch die Liebe zu spüren. Deutschland, dieses schöne, starke Land. Es ist für uns eine Stütze gewesen und war der Hafen für die Trümmer unserer Seelen. Je länger wir hier sind, um so mehr wächst auch unsere Dankbarkeit. Wenn Deutschland will, werden wir Teil seines Gerüstes und wenn es uns braucht, kommen wir sogleich. Denn wenn man Gutes bekommt, gibt man Gutes zurück. Wir alle wurden, ob wir es wollen oder nicht, eine vielfältige Mischung aus den Erfahrungen unserer Gegenwart hier und den Erlebnissen unserer Vergangenheit, dort.

     

    „Frieden zwischen Hier und Dort“ ist ein Schreibworkshop-Projekt des Friedenskreis Syrien. Der Verein tritt für einen friedlichen und kooperativen Austausch zwischen Menschen ein und schafft Austauschplattformen für einen konstruktiven Dialog.

    Die Texte sind bereits in veränderter Form in der taz erschienen. Das Projekt wurde in Zusammenarbeit mit Bi´bak, Start with a Friend (SwaF) und Multaka (Treffpunkt Museum) in Berlin durchgeführt und ist durch das Frauen ID Projekt im Rahmen des Kultur macht Stark Förderprogramms / PB und BMBF gefördert.

    In sieben Workshop-Tagen setzten sich die Teilnehmerinnen unter Leitung der syrischen Autorin Kefah Ali Deeb mit der Methode des Schreibens auseinander. Teil des Projekts waren Besuche in einigen Berliner Museen, die sich teilweise in den Geschichten der Frauen widerspiegeln. Entstanden sind Texte über das neue Lebensumfeld Berlin, über Heimat und eben über den “Frieden zwischen Hier und Dort”. Wir veröffentlichen sie nach und nach hier.

  • Workshop „Frieden zwischen Hier und Dort“

    Vor etwa fünf Jahren kam ich nach Deutschland. Anfangs verglich ich das neue Land, Deutschland, mit seinen Nuancen und seinem Alltag stets mit meinem Herkunftsland Syrien. Es fiel mir schwer, diese Vergleiche nicht zu ziehen oder mein ständiges Nachdenken darüber einzustellen. Alles führte mich entweder nach Damaskus, die Stadt, die ich liebe, oder nach Latakia, die Stadt, in der ich geboren wurde. Eineinhalb Jahre später begann ich für die taz zu schreiben.

    Ohne zu zögern wählte ich damals den Titel „Hier und dort“ für die Kolumne, die ich heute noch schreibe, und in der ich versuche, meine Gedanken zu formulieren. Immer mehr stellte ich die Bedeutung dieser Kolumne für mich fest; und wie das Schreiben mir half, den Zustand des Flüchtlingsseins zu überwinden.

    Ich schrieb über die Wahrnehmung der Fremde und die damit verbundenen Schwierigkeiten, über den Alltag mit seinen Einzelheiten, die Sehnsucht nach der Vergangenheit und die Angst vor der Zukunft. Nach jedem Text merkte ich, dass ich mehr Zuversicht, Selbstvertrauen, Stolz und Fähigkeit für einen neuen Anfang in mir spürte. Denn meine Stimme wird dankenswerterweise gehört, ich bin nicht allein, ich kann mich mitteilen und ich fühle mich nicht mehr fremd.

    Die eigene Schreiberfahrung teilen

    Aus diesem Hintergrund heraus dachte ich an die Frauen, die mir in Deutschland an verschiedenen Orten, wie Flüchtlingsunterkünften, Integrationskursen, auf der Straße oder beim Jobcenter begegneten. Jede dieser Frauen hat ihr eigenes Narrativ, das sie erzählen könnte, dachte ich. Ich hörte mir ihre Geschichte an und stellte dabei fest, dass jede dieser Geschichten der Anfang eines Romans sein könnte.

    Geschichten über ihre eigenen Erfahrungen von Flucht und Vertreibung; Geschichten, die die vermeintlichen Werte der Weltgemeinschaft infrage stellen. Ich überlegte mir, wie man die Erzählungen dieser Frauen weitererzählen könnte. Wie könnte ihnen eine Bühne geboten werden, damit sie selbst über ihre Gefühle, Träume und Niederlagen sprechen können?

    So entstand die Idee des Workshops „Frieden zwischen Hier und Dort“. Ich wollte den Frauen damit ein Fenster zur Außenwelt öffnen, aus dem sie die Anderen sehen und von diesen gesehen werden. Ich wollte, dass sie die Anderen hören und von den Anderen gehört werden. Und dass sie nach all den Leiden an eine bessere Zukunft glauben.

    Nachdem die Organisations- und Verwaltungsphase abgeschlossen war, sollte dann die Zielgruppe der Frauen definiert und zur Teilnahme motiviert werden. Danach begann die Erläuterung des Workshops und die damit verbundenen Ziele. Das Vorhaben war leichter gesagt als getan. Es gab wesentlich mehr Hindernisse als gedacht. Ich besuchte Flüchtlingsunterkünfte, Integrationskurse und verschiedene Einrichtung, die sich um Flüchtlinge kümmern. Trotzdem stieß ich immer wieder auf Schwierigkeiten, denn die Frauen wollten aus verschiedenen Gründen nichts erzählen.

    Selbstvertrauen durch das Schreiben

    Die Gründe für ihre Zurückhaltung waren grundverschieden. Viele Frauen in der Altersgruppe zwischen 18-26 Jahren sind bereits verheiratet und haben Kinder, welche sie nicht allein lassen wollten. Manche Frauen waren von der Bedeutung des Schreibens über ihre Erfahrungen nicht überzeugt. Andere sahen ihre Prioritäten woanders. Denn sie waren zum Teil auf der Suche nach einer Wohnung oder Schul- oder Kindergartenplätze.

    Fast alle Frauen, die ich traf, trugen hauptsächlich die Verantwortung für ihre Familien; das heißt, dass sie sämtliche Verwaltungsgänge allein und ohne Hilfe ihrer Ehemänner erledigen mussten. Viele von ihnen waren außerdem damit beschäftigt, Deutschkurse zu besuchen und von der Idee, in arabischer Sprache zu schreiben, nicht überzeugt.

    Am Ende gelang es mir jedoch eine Gruppe von 15 Frauen für den Workshop zu gewinnen. Nicht alle konnten bis zum Schluss bleiben und jede Einzelne hatte ihre Gründe dafür. Gleichwohl aus diesem Workshop sechs wunderbare Texte hervor. Ich hatte viel Freude daran, die Frauen während der Arbeitsphasen des Workshops persönlich näher kennenzulernen. Ich durfte beobachten, wie die Frauen ihre Schreibfähigkeiten spürbar entwickelten, die Bedeutung des Schreibens für sich schätzten und schätzen lernten, den Dialog miteinander suchten, sich gegenseitig zuhörten und mit Respekt und Anerkennung politische, soziale und kulturelle Themen diskutierten.

    Ich lernte viel von diesen Frauen und ihre Texte sprechen am besten über sie.

    Die Texte aus dem Kefahs Schreibworkshop werden in diesem Monat nach und nach im Flüchtling-Magazin veröffentlicht. Hier könnt ihr (ab dem 10.04.2019) die wundervollen Artikel lesen: „Frieden zwischen Hier und Dort“

     Der Workshop "Frieden zwischen Hier und Dort" hält seine Abschlusslesung
    Die Abschlusslesung des Schreib-Workshops „Frieden zwischen Hier und Dort“. Foto: Hannah Newbery
  • Das Aufwachen. Eine Story aus der wahren Welt.

    Kugelhagel statt Zeitungsheadlines zum Frühstück

    Dieser Tag fing nicht so gut an für Antonio. Nicht nur, dass er verschlafen hatte, und deshalb auf das Frühstück verzichten musste – die Meckereien seiner Frau Linda trieben ihn allerdings schneller aus dem Haus, als er es ohne sie geschafft hätte. Nein, jetzt mussten er und viele andere schwarze Bewohner der Favela Rocinhan auf die Möglichkeit warten, die enge Straßen in Richtung Asphalt überhaupt hinunter zu gelangen. Dort wiederum mussten sie den regelmäßig überfüllten und überhitzten Bus zur Arbeit erreichen.

    Der Krieg unter den zwei mächtigsten Drogenfraktionen von Rio dauerte jetzt schon fast drei lange Wochen an. Und an diesem Morgen flogen die Kugeln schon recht früh durch die Luft. Das war etwas Neues. Die Schlachten wurden sonst meistens in der Nacht ausgefochten. Morgens kamen die Polizisten von irgendeiner Sondereinheit, um die Toten zu bergen und einige kleinere Fische festzunehmen. Das nannten sie Befriedungspolitik – ein schlechter Witz, wenn man mit ansah, dass immer mehr junge Männer starben. Durch die Kugeln der Gegner oder die der offiziellen Waffen des Staates.

    Die Sünde der Geburt auf Brasilianisch

    Es wäre auch denkbar, dass am Ende der Hauptstraße, nahe der Haltestelle, die meist weißen Polizisten die Bewohner einzeln durchfilzen würden. Diese wurden stets verdächtig, in irgendeiner Weise mit den Soldaten des Drogenhandels Geschäfte zu machen. Das war klar: Sie waren fast alle schwarz, und die Farbe alleine machte sie schon von Geburt an zu potentiellen Kriminellen.

    „Hörst du, es wird ruhiger“, sagte ein wartender Nachbar zu Antonio. „Es wäre schön, wenn ich heute nicht so spät zu Arbeit komme. Du weißt ja, den Chef interessiert nicht, was hier los ist“. „Warum sollte er sich für unser Leben interessieren?“, fragte Antonio. „Er braucht uns für die Maloche und das war’s. Ich kann noch dankbar sein, dass ich den Job habe“. „Du hast Recht, wie viele von uns sind arbeitslos? Auch die Jungen!“, sagte der Nachbar. „Und das treibt sie immer mehr in die Händen der Dealer“. Antonio dachte einen Augenblick still nach. „Und so helfen sich die Schwarzen untereinander!“, sagte er mit ironischem Unterton und lächelte gequält.

    „Wie lange noch wollen wir das ertragen?“

    Es waren jetzt nur noch sporadische Schüsse zu hören. „Wir können gleich weiter …“, mutmaßte Antonio. „Wie lange noch wollen wir das ertragen?“, stieß der Nachbar mit verärgertem Ausdruck hervor. „Was meinst du?“, fragte Antonio.

    „Siehst du es nicht? Es war schon immer so mit uns Schwarzen“, erwiderte der Nachbar, „auch mit unseren Eltern und Großeltern. Seit eh und je sind wir nur die Diener der Weißen. Oder hast du schon einen Schwarzen kennengelernt, der in einem Penthouse in Ipanema wohnt? Ich noch nie!“ Der Nachbar sah jetzt richtig wütend aus. „Lass und gehen, es ist ruhig jetzt.“, sagte Antonio, ohne auf die Frage einzugehen.

    Sie machten sich, zusammen mit vielen anderen, auf den Weg hinunter zur Haupteinfahrt von Rocinha. Aus der Ferne waren schon Polizisten zu sehen, die Bewohner durchsuchten. „Scheiße, es geht schon wieder los!“, fluchte Antonio. „Das war mir klar, ich komme schon wieder viel zu spät!“, schimpfte der Nachbar. Antonio schwieg.

    „Wir haben noch Glück“, fuhr der Nachbar fort, „bei meiner Schwester in Acari ist noch viel schlimmer! Da werden die Bewohner auch von den weißen Milizen drangsaliert, sei es beim Kauf der Gasflaschen oder beim Transport von der Haltestelle nach Hause. Auch unter den Kriminellen haben die Weißen die Macht!“

    Aufbegehren als Mensch für Menschen

    „Ich glaube, es war schon immer so.“, meinte Antonio, als die beiden schon kurz vor der Kontrollstelle standen. „Nein, es war nicht immer so. Es ist nur immer wieder so gewesen, weil wir uns nie zusammengeschlossen haben. Es sind nur ein paar von uns, die sich engagieren!“, regte sich der Nachbar auf. Sie reihten sich in die lange schwarze Schlange vor den Polizisten ein. Antonio wandte sich seinem Nachbar zu: „Du hast ja gesehen, was mit Maria José passiert ist, erschossen in Sichtweite des Rathauses, und was hat der ganze Kampf gebracht?“

    „Sehr viel, die Frauen und jungen Leute lassen sich jetzt nicht mehr alles gefallen!“, brüllte jetzt schon fast der Nachbar. So laut, dass er die Aufmerksamkeit eines Polizisten auf sich zog. „Ist da was?“, fragte der der bullige Mann mit ernster Miene. „Alles ist gut“, beschwichtigte Antonio, „wir wollen nur nicht zu spät zur Arbeit kommen“.

    „Ein Scheiß ist gut“, schrie der Nachbar, „wir haben es satt, von euch und anderen schikaniert zu werden, und das nur weil wir schwarz und arm sind!“ Antonio schaute alarmiert zum Nachbarn und raunte ihm zu: „Willst du uns noch in Schwierigkeiten bringen? Ist unser Leben nicht schon schwer genug?“

    Rassismus hat nie aufgehört …

    „Willst du sagen, dass wir Rassisten sind?“, spuckte der Beamte seine Worte laut hervor und kam den beiden näher. „Er ist nur nervös wegen der Arbeit!“, versuchte Antonio ihn zu beruhigend. „Nervös? Ich bin wütend! Ja, mehr als das, weil der Rassismus in Brasilien nie aufgehört hat. Und dann sollen wir auch noch für die Almosen der Weißen dankbar sein!“, erregte sich der Nachbar.

    „Du solltest in die Politik gehen man, so wie du redest“, spottete der Polizist, „und zeig mal deine Tasche her!“ Doch der Nachbar gab nicht nach: „Warum sollte ich das? Ich bin nur ein einfacher Arbeiter und kein Gangster! Das wäre eure Arbeit, uns vor den Kriminellen zu schützen, damit wir in Ruhe leben können! Aber was macht ihr? Ihr wartet, bis die Gefahr vorbei ist, um uns zu verfolgen“. Antonio seufzte: „Zeig ihm deine Tasche, damit wir weg kommen, man!“

    „Ja, ich werde das machen, sonst verlieren wir noch unsere Arbeit“, lenkte der Nachbar grimmig ein und schaute dabei dem Polizisten fest in die Augen, „aber dieser Zustand wird nicht ewig dauern, hörst du? Einige von euch sind auch schwarz, aber hast du schon einen schwarzen Kommandanten gesehen?“ Der Polizist fuhr ihn barsch an:„ Halt die endlich Fresse, man, und dreh dich um!“ Der Nachbar begehrte erneut auf und rief laut: „Nein, das tue ich nicht, was hast du mir vorzuwerfen? Das ich in einer Scheißfavela leben muss? Lass mich jetzt durch! Ich muss zur Arbeit!“

    Der Kampf gegen die Ungerechtigkeit

    Ein paar andere Polizisten eilten herbei, einer unter ihnen brüllte: „Lass uns ihn gleich mitnehmen, der hat mit Sicherheit was zu erzählen“. Das hätte er lieber nicht tun sollen. Die wartenden Männer und Frauen hatten die Auseinandersetzung längst mitverfolgt und fingen nun lauthals an, zu protestieren:

    „Lass uns einfach durch!“, „Was hat er denn gemacht?“, „Warum schützt ihr uns nicht?“, „Wir sind keine Kriminellen!“. Es entstand ein undurchsichtiges Gerangel. Die Beamten versuchten, die Meute zurück zu drängen, doch das Geschrei wurde nur noch lauter. Der erste Schlag eines Polizisten ins Gesicht eines Mannes wurde zum Auslöser einer wilden Prügelei.

    Antonio boxte sich durch den Wall von Menschen. Er wollte nur noch raus, den Bus erwischen und seine Gedanken ordnen. Warum hat er nie etwas gegen die Ungerechtigkeit gemacht? Es gab doch Initiativen, Bewegungen. Er prügelte sich einen Weg durch die Menge und sah plötzlich in die Augen seiner Frau Linda. Sie schaute ihn mit weit aufgerissenen Augen an. „Was ist mit dir los Antonio? Mit wem prügelst du dich? Hattest du einen Albtraum?“

    „Ich muss für uns alle noch etwas tun!“

    Antonio rieb sich die Augen und richtete sich im Bett auf: „Wie spät ist es? Warum hat der Wecker nicht geklingelt?“ Linda schaute auf den Wecker: „Wir haben noch ein bisschen Zeit. Leg dich wieder hin, ich bin müde.“ Antonio stand blitzartig auf und schaute mit ernstem Blick auf seine Frau. „Schatz, was hast du denn? Komm doch ins Bett!“ Doch Antonio erwiderte: „Ich muss jetzt los,  Linda. Ich habe was zu erledigen.“ Er sammelte seine Klamotten und zog sich hastig an. „Ich muss für uns alle noch was tun!“

    Das war das Letzte was sie von ihm hörte an diesem Morgen, bevor Antonio die Haustür energisch hinter sich schloss.

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