Schlagwort: Film

  • Die letzte Ausgabe von roots & reels

    Leider geht meine Reise beim kohero Magazin nach über einem Jahr und über fünfundzwanzig Ausgaben erst einmal zu Ende. Ich bedanke mich bei meinen Redakteurinnen und meinem Redakteur für die gute und angenehme Zusammenarbeit sowie die absolute Freiheit, über alles Mögliche schreiben zu dürfen. Diese Freiheit ist natürlich nicht selbstverständlich im deutschen Journalismus. Ich bedanke mich auch bei allen Leser*innen des Newsletters, für das Lesen, für das Kommentieren, für das Feedback, für die E-Mails. Ich hoffe, die eine oder andere Film- oder Serienempfehlung war erfolgreich und der Newsletter konnte euch darüber hinaus alle zwei Wochen (gut, manchmal waren es auch mehr als zwei Wochen) zum Denken anregen.

    Wenn du dich weiterhin mit mir zu Film und Fernsehen (oder anderen Themen) austauschen möchtest, dann folg mir gerne bei Instagram @schayanriaz. In Kürze werde ich auch auf Substack aktiver sein, wo ich regelmäßiger über aktuelle und alte Filme schreiben werde: schayanriaz.substack.com.

    Bis dahin, pass auf dich auf und seid alle nett zueinander — wir sehen uns im Kino!

    Dein Schayan


    FAVOURITE FILMS OF 2024

    Ein paar Tipps bekommst du dieses Mal aber noch: Wie letztes Jahr habe ich auch dieses Jahr meine Lieblingsfilme bei Instagram geteilt und wie letztes Jahr werde ich sie auch dieses Jahr im Newsletter teilen.

    Selbstverständlich ist mir erst nach dem Teilen aufgefallen, dass ein Film, der mir letztes Jahr sehr gut gefallen hat, fehlt: SHAMBHALA von Min Bahadur Bham. Das beweist einmal mehr, wie Endjahreslisten „not that deep“ sind und darüber hinaus auch Wochen später veränderbar sind.

     

     

     

     

     

     

     

     

     

    BERLINALE BOYKOTT?

    In Deutschland gilt es als das größte Filmevent des Jahres, doch in diesem Jahr ist alles etwas anders. Denn bei der letzten Preisverleihung der Berlinale gab es 2024 einen peinlichen, sehr — anders kann man es nicht nennen — deutschen Eklat: Der Film „No Other Land“ eines palästinensisch-israelischen Kollektivs um die beiden Regisseure Yuval Abraham (aus Israel) und Basel Adra (aus Palästina) gewann den Preis für den Besten Dokumentarfilm.

    Während noch im Frühjahr 2024 Bomben auf den Gazastreifen fielen, appellierten die beiden Filmemacher an deutsche Politiker*innen im Saal und generell an die deutsche Regierung, Waffenlieferungen nach Israel zu stoppen. Es gab tosenden Beifall im Saal, auch von Politiker*innen, doch im Nachhinein wurden die Gewinnerreden als antisemitisch gebrandmarkt, Noch-Kulturministerin Claudia Roth sagte, sie habe nur für den israelischen Regisseur geklatscht. Der Film ist nun für einen Oscar nominiert.

    Es ist fast ein Jahr vergangen seit dieser absurden deutschen Episode, und es ist viel Schlimmeres passiert in der Zwischenzeit: allen voran ein Genozid in Gaza, aber auch viele weitere Tote im Westjordanland, und im Libanon. Zwar herrscht eine Waffenruhe, die notwendig ist für die Rückkehr von Geiseln, sowohl israelische als auch palästinensische, doch niemand kann diesen Entwicklungen so wirklich trauen, erst recht nicht mit Donald Trump als Präsident der Vereinigten Staaten (der am Dienstag angekündigt hatte, Gaza zum Eigentum der USA zu machen und alle Menschen dort zu vertreiben).

    Das Timing der diesjährigen Berlinale ist also etwas unpassend — die BDS-Bewegung hat bereits zum Boykott aufgerufen. Zum einen wegen der ganzen Debatte um „No Other Land“ und weil deutsche Politiker*innen Basel Adra und Yuval Abraham in den Rücken gefallen sind. Und zum anderen — viel ausschlaggebender —, weil Deutschland den Genozid in Israel aktiv unterstützt hat. Ende letztes Jahr hat die Berlinale selbst einen Mitarbeiter entlassen, weil dieser intern eine Nachricht mit dem Slogan „From the River to the Sea“ verschickte. Die Details sind nicht ganz klar, aber warum die Berlinale-Leitung so etwas nötig hat, die übrigens von Anfang an hinter „No Other Land“ steht, ist mir ein Rätsel.

    Ich bin gespannt, wie sich der Boykott während der Berlinale zeigen wird. Diese ja weitaus mehr ist als nur die Film-Screenings und Preisverleihungen, sondern auch eine Möglichkeit zum Netzwerken. Es läuft auch dieses Mal ein palästinensischer Dokumentarfilm über Gaza im Programm, darüber hinaus aber auch zwei Dokumentationen über rechte und rassistische Anschläge in Hanau und Mölln und ein Film über den Krieg im Sudan. Mal sehen, wie sich das alles entwickeln wird.

    PALÄSTINENSISCHE STIMMEN

    Etwas on topic, frage ich mich seit Längerem, wie man seit dem 7. Oktober 2023 und insbesondere aufgrund des Totalausfalls der Menschlichkeit in weiten Teilen der Film- und Fernsehindustrie Medien konsumieren soll. Immer wieder werden Filmtitel angekündigt — mit Schauspieler*innen, die vor ein paar Monaten noch das Leid von Menschen in Palästina geleugnet haben. Immer wieder starten Serien mit Persönlichkeiten, die ihren Zionismus stolz in den sozialen Medien zur Schau gestellt haben. Und jetzt, wo die Awards Season stattfindet, werden immer wieder Menschen zu Themen wie Akzeptanz und Diversität interviewt, die vor ein paar Monaten noch keine Meinung zu Israel und Palästina hatten und das alles ganz einfach ignoriert haben.

    In der zweiten Staffel der Netflix-Serie „Mo“, eine der wenigen Serien, wenn nicht die einzige amerikanische Serie, mit einem palästinensischen Hauptdarsteller, wird kein Blatt vor dem Mund genommen. Gleich in der ersten Folge geht es um den „Konflikt“, doch es ist ja eigentlich gar kein Konflikt, wie es Mo (Comedian Mo Amer, spielt hier eine Version von sich) dem US-Botschafter in Mexiko zu erklären versucht. Es ist eine illegale Besatzung von Palästina durch Israel. Der Politiker wird das nicht akzeptieren (was an Politiker*innen hierzulande erinnert).

    In der letzten Folge der Staffel geht es dann zum Westjordanland, wo die Entmenschlichung, die vielen Checkpoints, die Siedlergewalt thematisiert wird. Ich weiß, „Mo“ ist keine perfekte Show, aber wenn ich wieder zurück zu meiner Anfangsfrage komme, wie man Kunst konsumieren soll, die das Thema Israel–Palästina behandelt und das in einer Weise, die ehrlich und authentisch ist, dann ist „Mo“ ein Lichtblick in düsteren Zeiten. Insbesondere wegen des Erzählbogens zum Ende hin.

    Still aus dem Film Mo

    NEU IM KINO: Soundtrack to a Coup d’Etat

    Meine letzte roots & reels-Kinoempfehlung — und die hat es wirklich in sich, weil hier alle Sachen kombiniert werden, für die dieser Newsletter immer stehen sollte: „Soundtrack to a Coup d’Etat“ des belgischen Filmkünstlers Johan Grimonperez ist eine intelligente und fieberhafte Auseinandersetzung mit den 1960-Jahren, als immer mehr afrikanische Staaten sich im Zuge des Kalten Krieges gegen ihre europäischen Kolonialmächte aufgelehnt haben.

    Ein großer Fokus liegt dabei auf Patrice Lumumba, den ersten Premier des unabhängigen Kongo. Und außerdem darauf, wie die CIA und weitere Verbündete Jazz als imperialistisches Instrument eingesetzt haben, nämlich Schwarze Größen wie Louis Armstrong, Dizzy Gillespie oder Duke Ellington auf Tour geschickt haben, um nebenbei Ermordungen von afrikanischen Staatsoberhäuptern zu planen. Es ist eine faszinierende Zeitkapsel über die Dekolonisierung und Plünderung Afrikas durch den Westen und liefert aktuelle Verbindungslinien zu Kongo heute, mit einem nachdrücklichen Soundtrack.

     

  • Im Spotlight: Rand Beiruty

    In ihrer Langzeitbeobachtung „Tell Them About Us“ hat die jordanische Filmemacherin Rand Beirut junge, überwiegend arabischstämmige Frauen in Eberswalde mit der Kamera begleitet.
    Ab 2019 dokumentierte Beiruty über drei Jahre, wie diese Gruppe mit der anfangs für sie neuen deutschen Kultur zurechtgekommen ist und wie die einheimischen Bewohner*innen sie willkommen geheißen haben – mal mehr und mal weniger.
    Ich habe mit Rand Beiruty über ihren Werdegang und ihren Film gesprochen.

    Liebe Rand, du bezeichnest dich als „Filmemacherin zwischen Amman und Berlin“. Wie haben die beiden Orte deine Arbeit beeinflusst?

    Amman ist der Ort, an dem ich meine Leidenschaft für das Geschichtenerzählen entdeckt habe, insbesondere zu Geschichten, die in Communities verwurzelt sind. Es ist der Ort, an dem mein eigener Hintergrund und die Komplexität meiner Arbeit lebendig werden. In Berlin konnte ich wiederum in eine globale Gemeinschaft eintauchen, voll mit kreativen und vielfältigen künstlerischen Ansätzen, was mich dazu inspiriert hat, Introspektion mit einem größeren kulturellen Dialog zu verbinden.

    Du hast Design, Visual Communication, Design Thinking und Film in Babelsberg studiert. Kannst du ein wenig über diesen Weg von dir in den verschiedenen visuellen Künsten erzählen?

    Das Design- und Visual Communication Studium in Jordanien hat mir den nötigen Raum gegeben, mit unterschiedlichen visuellen Formen und Sprachen zu experimentieren. Im zweiten Jahr belegte ich einen Experimentalfilm-Kurs und mir wurde klar, dass Film mein eigentliches Ding ist. Ich entdeckte eine Vielzahl an Werkzeugen, mit denen ich durch das Vermischen von Bild und Klang, Geschichten zum Leben erwecken konnte.

    Mit Design Thinking konnte ich meine Fähigkeit, Probleme kreativ zu lösen, vertiefen und diese menschliche Erfahrung in meinen Projekten noch bewusster zentrieren. Aber beim Film sind dann all diese Fähigkeiten zusammengekommen. Beim Film ist es mir möglich, komplexe Erzählstrukturen zu erforschen, insbesondere im Dokumentarfilm, wo das Zusammenspiel von Bildern und Ethik noch einmal die Kraft hat, eine nachhaltige Wirkung zu schaffen.

    Kommen wir zu „Tell Them About Us“. Wie bist du auf diese Gruppe von Mädchen aufmerksam geworden und warum hast du dich entschieden, sie über einen längeren Zeitraum dokumentarisch zu begleiten?

    Meine Verbindung zu den Mädchen entstand ganz natürlich – unser gemeinsamer kultureller Hintergrund und ihre lebendigen Persönlichkeiten haben mich von Anfang an angesprochen. Ihnen über die Jahre zu folgen war notwendig, um die Tiefe ihrer Werdegänge einzufangen und um zu zeigen, wie ihre Leben sich entfalten. Die Workshops, die wir über die Jahre geführt haben, dienen als zentraler Anker für eine kohärente Erzählung, sie markieren den Verlauf der Zeit und spiegeln die Entwicklung der Mädchen wider.

    Vertrauen aufzubauen und eine offene Kommunikation aufrechtzuerhalten, hat mir ermöglicht, jedes Mal, wenn wir zu ihnen zurückgekehrt sind, genau dort anzuknüpfen, wo wir aufgehört hatten. Dieser vertrauensbasierte Ansatz sorgte nicht nur für die Kontinuität der Erzählung im Film selbst, sondern auch dafür, dass die Dokumentation authentisch und ihren Erfahrungen treu bleibt.

    Hoffnungen, Träume und Wünsche spielen eine große Rolle im Film, und es hat mir sehr gefallen, wie viel Raum du diesen Themen gegeben hast. Was bedeuten diese Worte für dich persönlich und wie verbinden sie sich mit deiner (Film-)Arbeit?

    Für mich repräsentieren sie sowohl die Möglichkeit, Dinge zu verändern als auch Resilienz. Diese ist erforderlich, um Veränderungen auch unter schwierigen Bedingungen umzusetzen. In meinen Filmen sind diese Themen nur ein Weg, die Menschlichkeit jeder Geschichte zu präsentieren. Sie sind nicht nur abstrakte Ideen, sondern greifbare Kräfte, die das Leben der Menschen prägen, insbesondere derjenigen, deren Stimmen oft überhört werden. Indem ich mich auf Hoffnungen und Träume konzentriere, versuche ich nicht nur zu zeigen, was sich die Menschen wünschen, sondern auch, gegen welche Hürden sie ankämpfen – also die Barrieren, Kompromisse und Momente stiller Stärke.

    Und auf einer praktischen Ebene haben mir diese Ideen geholfen, die Struktur von „Tell Them About Us“ zu gestalten. Die Workshops und die Szenen, wo wir einige Träume der Protagonistinnen inszeniert haben, waren ein Weg, die Bestrebungen der Mädchen zu erforschen und gleichzeitig den Film in einer gelebten Realität zu verankern. Es ist diese Spannung zwischen Traum und Realität, die mich immer wieder zum Geschichtenerzählen zurückführt, also eine Art, die Welt zu reflektieren und vorzustellen.

    Auf deiner Website steht, dass du dir Fragen stellst wie: „Wer darf wessen Geschichte erzählen?“ Oder: „Warum ist Repräsentation wichtig?“. Ich würde gerne wissen, welche Antworten du durch den Prozess einer so intimen Dokumentation wie „Tell Them About Us“ gefunden hast – und was hast du dabei über Deutschland gelernt?

    Repräsentation ist wichtig, weil sie beeinflusst, wie wir uns selbst und wie wir andere sehen – sie kann uns empowern oder das Gegenteil bezwecken. Für mich geht es immer darum, in Kollaboration mit den Teilnehmerinnen zu arbeiten und sicherzustellen, dass ihre Stimmen im Mittelpunkt stehen, dass eine eindimensionale Darstellung über sie vermieden wird. „Tell Them About Us“ hat mir erneut bestätigt, wie wichtig es ist, Raum für marginalisierte Stimmen zu schaffen, insbesondere in einem Land wie Deutschland, wo Gespräche über Integration, Identität und Zugehörigkeit nach wie vor wichtig sind. Durch diesen Film habe ich verstanden, dass authentische Repräsentation das Potenzial hat, grenzenloses Verständnis zu fördern.

    Arbeitest du derzeit schon an einem weiteren Film?

    Ich arbeite derzeit an „Portrait of A“, einem Film, der sich auf Andrea, eine der Teilnehmerinnen aus „Tell Them About Us“, fokussiert. Ich hoffe, ich kann bald mehr darüber teilen.

  • Welche Rolle spielt Filmkunst, wenn Stimmen unhörbar gemacht werden?

    Ich schreibe diese Zeilen heute am Ufer des Nils. Sorry, so dramatisch wollte ich den Anfang dieses Newsletters gar nicht klingen lassen. Ich sitze in meinem klimatisierten Hotelzimmer in Kairo und sitze nicht wirklich in unmittelbarer Nähe des längsten Flusses in Afrika. Na ja, obwohl, irgendwie schon. In der lebendigen Hauptstadt Ägyptens scheint der Nil hier überall zu sein, und bei einem Blick aus dem Fenster ist es unmöglich, diese imposanten, tiefblauen Wasserwege zu übersehen. Habe ich eigentlich schon erwähnt, dass ich zurzeit in Kairo bin?

    Ich bin für das Filmfestival hier und sitze in der Kritiker-Jury der FIPRESCI (Fédération Internationale de la Presse Cinématographique). Das Festival ist letzten November aufgrund der israelischen Luftangriffe auf Gaza aus Solidarität ausgefallen und dieses Jahr, in der inzwischen 45. Edition, hat das Festival einen großen Fokus auf Palästina gelegt. Es gibt ein eigenes Programm, das Kurzfilme aus Gaza zeigt, es finden sich auch sonst viele Titel aus Palästina in den verschiedenen Sektionen. Der Eröffnungsabend selbst begann mit der Performance einer Tanzgruppe aus Gaza und Rashid Masharawis palästinensisches Road Movie „Forbidden Dreams“, über einen kleinen Jungen, der seine weggeflogene Taube sucht.

    Für mich, beziehungsweise meine (dreiköpfige) Jury, war der internationale Wettbewerb von Bedeutung. Und hier gab es viele starke Filme, etwa aus Rumänien, Belgien, Ägypten oder anderswo, doch die Preisverleihung ist erst morgen, also am Freitagabend, und ich werde hier nichts über die Entscheidungen unserer Jury preisgeben können. Diese Arbeit nehme ich sehr ernst, es gilt Schweigepflicht, bis die Preise endgültig überreicht sind!

    Es ist aber wie immer eine tolle und bereichernde Erfahrung als Filmkritiker, in einer Jury zu sitzen. Auch wenn es am Ende des Tages pure Arbeit ist, und teils auch anstrengend sein kann, zum einen die Filme zu sichten (17 in 7 Tagen) und zum anderen, sich mit seinen Jurymitgliedern auszutauschen und über Filme zu diskutieren. Glücklicherweise konnten wir uns am Ende auf einen Film einigen.


    Fokus Afghanistan

    Die Lage der Frauen in Afghanistan seit der Machtübernahme der Taliban vor inzwischen drei Jahren verschlechtert sich nach wie vor drastisch. Es erreichen uns täglich nicht gerade überraschende, aber dennoch unfassbare Nachrichten, dass Frauen nach und nach aus fast allen Bereichen des öffentlichen Lebens ausgeschlossen werden. Dass ihre Stimmen niemals öffentlich gehört werden dürfen oder dass Frauen nicht mehr miteinander sprechen dürfen, sind so dermaßen bizarre und unmenschliche Regelungen (und wie diese überhaupt durchgesetzt werden sollen ist mir ein Rätsel), dass man oftmals bei diesen Schlagzeilen denkt, ob da irgendwas in der Übersetzung schiefgelaufen ist oder ob es sich einfach um Satire handelt.

    Was tun bei so einem Ausmaß an Unterdrückung? Eine Möglichkeit wäre, afghanischen Stimmen eine Plattform zu bieten, damit sie selbst über ihre Schicksale sprechen können, anstatt dass jemand über sie spricht. Ein gutes Beispiel dafür ist der Dokumentarfilm „Bread & Roses“ von Sarah Mani, der 2023 auf den Filmfestspielen von Cannes Premiere feierte und ab morgen auf Apple TV+ gestreamt werden kann (ich weiß, ich finde auch, der hätte einen Kinostart verdient).

    Der Film handelt von afghanischen Frauen, die sich gegen die Rückkehr der Taliban stellen, soweit und so gut sie können, wie zum Beispiel Zahra Mohammadi, eine Zahnärztin, die nicht mehr arbeiten darf und in ihrer ehemaligen Praxis aktivistische Treffen mit Gleichgesinnten organisiert. Sharifa und Taranom sind weitere Protagonistinnen des Films, die erstere eine ehemalige Regierungsangestellte, die ebenso nicht mehr arbeiten darf und zuhause verweilt, die letztere eine politische Aktivistin, die nach Pakistan geflüchtet ist und Einblicke in ihren einsamen Alltag gibt.

     

    „Bread & Roses“ ist ein melancholischer, herzzerreißender Film, und es ist schwierig, über so etwas wie Hoffnung zu sprechen, wenn keine nachhaltige Besserung in Sicht ist und auch die Schicksale der Protagonistinnen am Ende unklar bleiben. Aber dass es so einen Film überhaupt gibt, dass hier afghanische Frauen selbst Einfluss auf ihre mediale Darstellung haben können, das ist aus Sicht der Dokumentation ein Gewinn für die Zuschauer*innen.

    In gewisser Weise steht dieser Film im Dialog mit einer weiteren aktuellen Dokumentation, die zwar noch keinen regulären Kinostart hatte, aber auf ein paar Festivals gelaufen ist, nämlich die deutsch–amerikanische Koproduktion „Hollywoodgate“ von Ibrahim Nash’at. Diese behandelt in gruseliger Intimität ebenfalls die Rückkehr der Taliban und begleitet ein Jahr lang ein paar hochrangige Mitglieder im innersten Kreis. Es wäre eine gute Idee, wenn Kinos oder Sender die beiden Filme „Hollywoodgate“ und „Bread & Roses“ nacheinander zeigen und dadurch einen dokumentarischen Fokus auf Afghanistan legen könnten. Sie sind gleichermaßen sehenswert.


    NEU IM KINO: Shambhala

    Diese Woche erreicht uns auch ein echtes Juwel aus Nepal, ein Film so einzigartig und meisterhaft inszeniert, dass man sich dem Ganzen trotz der Überlänge (150 Minuten) glücklich ergibt. Regisseur Min Bahadur Bham erzählt die Geschichte eines polyandrischen Dorfes im Himalaya Gebirge in Nepal, also ein Ort, wo Frauen mit mehr als einem Mann verheiratet sein können. Die schwangere Pema (wunderbar gespielt von Thinley Lhamo) ist frisch mit Tashi und seinen zwei Brüdern Karma und Dawa verheiratet. Der letztere ist noch ein Kind, und diese Ehe ist nur symbolisch zu verstehen.

    Pema nimmt vielmehr eine Mutterfigur in dieser Beziehung ein. Als Tashi auf seinem Arbeitsweg spurlos verschwindet, macht Pema sich auf den Weg, um nach ihm zu suchen. Begleitet wird sie dabei von Tashis jüngerem Bruder und ihrem Quasi-Ehemann Karma, der eigentlich Mönch ist und viel eher dieser Beschäftigung im Kloster nachgehen möchte, als seiner Quasi-Frau zu helfen. Doch die Reise muss angetreten werden und es wird einerseits eine Reise, um Tashi zu suchen, aber genauso auch eine Reise für Pema, sich selbst zu finden. Und für Pema und Karma, zueinander zu finden. Mich haben die Regie, die Kamera, der Schnitt und überhaupt die Story voll und ganz überzeugt. Und hoffentlich dich bald auch.


    Danke fürs Lesen und viel Spaß beim Schauen

    Dein Schayan

     

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  • James Baldwin wäre dieses Jahr 100 geworden

    Eigentlich braucht es keinen bestimmten Anlass, sich mit dem Schaffen von James Baldwin auseinanderzusetzen. Doch 2024 zeichnet das Jahr, in dem der Schriftsteller 100 Jahre alt geworden wäre. Eine passende Erinnerung also, sich seinem Œuvre anzunähern. Baldwins Worte und Gedanken sind von so großer Bedeutung und haben heute, knapp 37 Jahre nach seinem Tod an Krebs, eine genauso hohe Relevanz für unsere Welt wie damals, dass es immer wieder eine gute Idee ist, Zeit mit all dem Output zu verbringen, zu verschiedenen Themen wie Rassismus, Sexualität, Kolonialismus und Macht.

    Ich schreibe diese Einleitung am US-Wahlabend und weiß gerade nicht, wie es ausgehen wird (ob die schlechte Option gewinnt oder die noch schlechtere Option, Anm. d. Red: Jaaaa, also Trump hat gewonnen …), frage mich aber auch die ganze Zeit, was James Baldwin zu sagen hätte, was er schreiben würde über das Amerika der letzten 30 Jahre, was er tun würde …

    Ich bin als „roots & reels“-Autor vor allem interessiert an Baldwins Verbindungen zu Film (und Fernsehen). Und da fällt mir gleich sein Essay „The Devil Finds Work“ ein, eine bemerkenswerte Filmkritik und Analyse über das Kino und die Filme, die er in seinem Leben gesehen hat. Baldwin schreibt natürlich aus einem rassismuskritischen Blickwinkel als Schwarzer Mann in Amerika und ich finde, dass dieses Werk mindestens so wichtig ist wie seine späteren Texte und Romane.

    Was ich darüber hinaus noch spannend finde, ist, wie „viral“ Baldwin selbst ist und wie Clips von ihm aus Talkshows, Interviews und Dokumentationen auf Social Media verbreitet werden. Es sind immer wieder dieselben Momente aus seinen Fernsehauftritten, die fest im Kanon des digitalen Antirassismus verankert sind und regelmäßig gepostet werden. Das beweist leider auch einfach, dass diese Kämpfe alt und anstrengend sind, damals wie heute.

    Baldwin ist schon immer ein faszinierendes Subjekt für Dokumentarfilmemacher gewesen. Nicht nur in Europa oder Amerika. Da er eine Zeitlang in Istanbul gelebt und gearbeitet hat, wurde er auch dort filmisch begleitet, von Leuten, die sein Wesen einfangen wollten. So ist zum Beispiel die Kurzdokumentation „From Another Place“ von Sedat Pakay entstanden, die einige wenige Augenblicke seines Alltags am Bosporus einfangen. Der Film steht im Dialog oder vielleicht im Gegensatz zu „Meeting the Man“ von Terence Dixon. Hier sieht man einen weniger entspannten James Baldwin (vermutlich weil er in Europa, in Paris ist). Eine elektrisierende Momentaufnahme dieser durch und durch intellektuellen Persönlichkeit, der wenige das Wasser reichen können.

    Eine eingehende und gründliche Studie ist „The Price of the Ticket“ von Karen Thorsen. Hier wird in klassischer Manier das gesamte Leben dokumentiert, von der Kindheit und Jugend über die Arbeit bis zum Tod, mit O-Tönen von Familienmitgliedern, Zeitgenossen, Kollegen und Freunden. Wenn es einen Film gibt, den man sehen sollte, um Baldwin nicht nur als Künstler, sondern vor allem auch als Mensch zu verstehen, dann ist das „The Price of the Ticket“.

    Und last but not least gibt es Raoul Pecks „I Am Not your Negro“, eine nüchterne Bestandsaufnahme einer kranken, rassistischen Gesellschaft, die die Verbindungslinien der Diskriminierung von Schwarzen in den USA aufzeigt anhand von Baldwins kurzem, unvollendetem Manuskript „Remember This House“. Dieser Film ist zwar aus 2016, hat aber im Zuge der Black Lives Matter Proteste vor ein paar Jahren an Bedeutung gewonnen und ist nach wie vor zeitgemäß, was Polizeigewalt angeht.

    Und das ist immer noch nicht alles. Es lohnt sich, wenn man mal nichts Besseres zu tun hat, sich in einem YouTube-Rabbithole zu verlieren und ältere Zusammenschnitte von Baldwin anzuschauen. Herzlichst empfehlen kann ich noch den mit einem Oscar prämierten „If Beale Street Could Talk“ von Barry Jenkins (verfügbar auf Plattformen wie Joyn oder Mubi). Basierend auf Baldwins fünftem Buch (und dem einzigen mit einer weiblichen Erzählerin) ist es anfangs eine zarte Liebesgeschichte und dann — einmal mehr — ein Blick auf die rassistischen, korrupten Machtgefälle Amerikas. Ich kann nur raten, aber ich glaube, Baldwin hätte dieser Film gefallen.

    Danke fürs Lesen und viel Spaß beim Schauen

    Dein Schayan

     

     

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  • Im Spotlight: YASEMIN ŞAMDERELI

    Yasemin Şamdereli kennt man von ihrer wahnsinnig erfolgreichen Komödie „Almanya – Willkommen in Deutschland“. Mit „Samia“ hat sie jetzt ein Biopic über die somalische Leichtathletin Samia Yusuf Omar gedreht, die 2008 an den Olympischen Spielen in Peking teilnahm und vier Jahre später im Mittelmeer ertrank. Ich habe mit Yasemin Şamdereli im Rahmen des Filmfests München über die Verfilmung dieser unfassbaren Geschichte gesprochen.

     

    Yasemin, wann hast du zum ersten Mal von Samia und ihrer Lebensgeschichte erfahren?

    Ich muss zugeben, dass ich nichts von Samia gewusst habe. Erst als ich von den italienischen Produzenten kontaktiert wurde, habe ich von ihrer Geschichte erfahren. Der Film ist ja eine internationale Co-Produktion zwischen Deutschland und Italien. Mir wurde der biografische Roman „Sag nicht, dass du Angst hast“ von Giuseppe Catozzella geschickt, den ich dann mit meiner Schwester Nesrin gelesen habe. Wir waren beide total ergriffen, weil es schockierend und unglaublich traurig ist, dass jemand mit 17 Jahren das schafft, was Samia geschafft hat, und dann vier Jahre später im Mittelmeer ertrinkt. Für uns war sofort klar, dass wir alles dafür tun müssen, um diesen Film zu machen.

    Der Film ist in Zusammenarbeit mit der Filmemacherin Deka Mohamed Osman entstanden. Wie kann man sich das vorstellen?

    Nesrin und ich sind keine Somalierinnen, aber für uns war von Anfang an klar, dass der Film auf somalisch und mit somalischen Darsteller*innen gedreht werden muss. Anders hätten wir das gar nicht machen können. Es brauchte aber eine Person an unserer Seite, die diese Welt verstanden hat. Wir hatten das große Glück, dass wir Deka und ihre Familie in der Vorbereitungsphase in Turin getroffen haben. Deka war gerade dabei, selbst Film zu studieren. Ich hatte mal wieder mehr Glück als Verstand, so eine tolle Partnerin gefunden zu haben. Dadurch wurde uns vieles in der Vorbereitung und auch beim Drehen ermöglicht.

    Ich fand den Film sehr respektvoll im Umgang mit der somalischen Kultur und den Figuren, wo es in anderen deutschen Produktionen vielleicht mehr Vorurteile gegeben hätte. Wie seid ihr vorangegangen?

    Es hat geholfen, dass ich einen muslimischen Hintergrund habe. Ich verstehe also vieles von der somalischen Kultur, auch wenn ich türkische Wurzeln habe. Kultur ist immer etwas Vielfältiges, Menschen sind so komplex und wundervoll und es war mir ein großes Anliegen, Samias Familie so darzustellen, wie Familien überall auf der Welt vorhanden sind. Es gibt sehr religiöse Menschen, es gibt weniger religiöse Menschen und wir wollten zeigen, dass Samias Familie zwar auch muslimisch ist, aber sie kein Problem damit hat, dass eine Tochter Läuferin ist oder ihre andere Tochter singt. Sie sehen keinen Konflikt darin mit der Auslegung ihrer Religion.

    Und wir respektieren das aus dem Verständnis heraus, dass das eine ganz normale Familie ist, die genauso blöde Witze und Bemerkungen macht wie andere. Da wird rumgealbert, gestritten, gelacht und da wird auch sehr viel geliebt. Wir müssen unseren Blick und unser Herz öffnen, damit wir gar nicht erst auf die Idee kommen, dass es etwas gäbe, was uns alle voneinander unterscheidet.

    Auch bei der Vaterfigur in „Samia“ ist es sehr auffällig, wie lieb und verständnisvoll sie dargestellt ist, was an sich ja normal sein sollte. Aber bei anderen Filmen über diese Region und diesen Kulturkreis sind wir herbe männliche Charakterisierungen gewohnt.

    Absolut. Uns war ganz wichtig zu zeigen, dass man als Tochter einer muslimischen Familie Freiheiten bekommt. Das sind Freiheiten, die meine Familie mir gegeben hat. Wir wollten zeigen, dass viele muslimische Väter kein Problem damit haben, dass ihre Kinder ihren Weg gehen. Das heißt nicht, dass Eltern immer alles toll finden, was ihre Kinder machen. Es heißt einfach, dass Eltern auch diesen Schritt wagen. Unser Bruder war hier eine Referenz für uns. Das ist der liebste Mensch auf dem Planeten. Und dauernd müssen wir bei Filmen mit Bildern kämpfen, die ihn als muslimischen Mann besonders anpacken. Natürlich gibt es auch muslimische Männer, die nicht so sind wie Samias Vater, aber genauso gibt es ja auch den Deutschen, der durchdreht, weil seine Frau ihn verlassen hat. Sowas gibt es leider überall.

    Hattet ihr Kontakt zur echten Familie von Samia?

    Ich persönlich nicht, weil ich einfach nicht nach Somalia konnte, aber ja, wir haben Kontakt. Suad Osman, die Mutter von Deka und unserer Hauptdarstellerin Ilham, die war unglaublich wichtig für dieses Projekt. Samia hat zwar eine Schwester in Finnland, aber in Mogadischu war es gar nicht leicht herauszufinden, wo Samias Familie lebt. Also hat Suad für uns Leute gefragt und recherchiert. Nach einer wirklich langen Suche ist sie auf die Mutter und Samias Brüder gestoßen. Und hat denen von unserem Projekt erzählt, was wir machen wollen. Sie hat deren Segen für das Projekt eingeholt. Dadurch sind sie in das Projekt eingebunden, was uns natürlich wichtig war.

    Die Flucht von Samia ist ein zentraler Bestandteil ihres Lebens und auch des Films. Wie habt ihr sichergestellt, dass die Menschen nicht traumatisiert werden?

    Die Szenen auf dem Boot waren ganz hart für alle. Ganz viele Menschen, die als Statist*innen dabei waren, hatten ähnliches durchgemacht. Das hat natürlich viele getriggert. Wir hatten eine Psychologin am Set, weil bei vielen Darsteller*innen und Statist*innen sehr schreckliche Erinnerungen hochkamen. Diese Menschen haben wir natürlich rausgeholt und ihnen gesagt, dass sie nicht mitmachen müssen. Aber am nächsten Tag kamen viele wieder und sie hatten die Haltung, dass sie mitmachen möchten, weil andere Menschen den Film sehen und verstehen werden, was Flucht bedeutet – das hat sie motiviert. Sie haben es auch alle für Samia gemacht.

    Der Film erscheint in einem politisch sehr aufgeladenen Klima. Verstehst du „Samia“ auch als Statement auf Politik und Medien?

    Absolut. Es wird mit Zahlen und Statistiken so viel Angst gemacht. Dabei gibt es eigentlich nichts, was uns unterscheidet. Nur weil Menschen uns Angst machen, wir würden etwas verlieren, wenn Menschen hierher flüchten, dürfen wir uns nicht in die Irre führen lassen. Nur weil wir das Glück haben, irgendwo zu sein, wo vieles toll funktioniert, dürfen wir nicht unser Herz verschließen. Darum geht es im Film.

  • Welche Filmszenen wirst du niemals vergessen?

    Es gibt bestimmte Filmszenen, die man niemals vergisst. Für mich ist das zum Beispiel ein Moment, nein, sogar die komplette letzte halbe Stunde des dänischen Horror-Thrillers „Speak No Evil“ von Christian Tafdrup aus dem Jahr 2022. Es passieren mehrere schreckliche Sachen nacheinander, auf die das Drehbuch konsequent und ominös hin aufgebaut hat, die sich für immer in mein Gehirn eingebrannt haben. Der Film hat es wirklich in sich.

    Als ich den Trailer für ein amerikanisches Remake gesehen hatte, war ich erstmal skeptisch. Ich habe das Grundgerüst auch hier erkannt: Eine dreiköpfige Familie trifft eine weitere dreiköpfige Familie im Urlaub in Italien und wird zu ihrem Landhaus eingeladen. Die Einladung wird angenommen und es passieren einige unheimliche Sachen, bis die Situation komplett eskaliert.

    Im Original war es eine holländische Familie, die eine dänische Familie zu sich einlud; im Remake ist es eine englische Familie, die ein amerikanisches Paar und ihre Tochter zu sich bittet. Ich habe im Trailer dieselben Motive und Takte aus der dänischen Vorlage erkannt, aber ich war mir sicher, dass das Ende anders werden würde.

    Und so kam es dann auch, als ich mir den Film letzte Woche anschaute. Bei der diesjährigen Version von „Speak No Evil“ hat sich der komplette dritte Akt geändert. Diesmal hat man sich gegen psychologische Horrorelemente und stattdessen für eine klassische, blutige Katz- und Maus-Jagd zwischen den Paaren entschieden.

    Der Film ist sehenswert, allein für James McAvoy und seine Performance. Als zwielichtiger Gastgeber läuft er hier in Höchstform auf. Doch einmal mehr frage ich mich, warum man überhaupt etwas für den amerikanischen bzw. englischsprachigen Markt produzieren muss, wenn es bereits ein solides Original, diesmal aus Dänemark, gibt. Zu allem Überfluss ist „Speak No Evil“ aus 2022 auch noch weitestgehend ein englischer Film (weil sich das dänische und holländische Paar nur so verstehen können) und man braucht gar keine Untertitel.

    Letztere sind meistens der Grund, warum es so viele weichgespülte Remakes gibt; denn Amerikaner*innen weigern sich konsequent, Filme im Originalton mit Untertitel zu schauen und bevorzugen eher neu-gedrehte Versionen. Aber das muss nicht sein, wie schon „Parasite“-Regisseur Bong Joon Ho bei einer Preisverleihung in 2020 anmerkte: „Sobald man die Hürde von ein paar Zentimetern überwindet und Untertitel liest, lernt man so viele weitere tolle Filme kennen.“

    Wie geht es dir dabei? Schaust du dir Filme gerne im Original an oder freust du dich eher auf amerikanische Remakes? Und wirst du dir „Speak no Evil“ mit James McAvoy im Kino ansehen? Ich bin gespannt auf deine Meinung und was du zum Ende des Films sagst.

    SPEAK NO EVIL läuft ab jetzt im Kino.

     

    Content mit Kindern

    Vor ein paar Tagen landete ein Video auf meiner „For You“-Page, also meinem TikTok-Feed, in dem eine Creatorin namens „Annemarie“ über Videos von Kindern im Internet gesprochen hat. Es waren viele Punkte dabei, über die ich mir auch regelmäßig Gedanken mache. Wenn zum Beispiel Influencer*innen ihre Kinder dafür nutzen, um mit vermeintlich harmlosen Videos Reichweite für ihre Accounts zu generieren, ist das dann noch moralisch vertretbar? Das merkt man solchen Eltern und ihren Videos übrigens auch sofort an; umso mehr, wenn es sich um Babys handelt, die erst recht nicht mitreden können bei der Vermarktung ihrer Bilder.

    Die Creatorin, und das ist eigentlich viel wichtiger bei dieser Debatte, hat auch die Schattenseiten der Verbreitung dieser Inhalte angesprochen.

    Denn Videos von Kindern können ganz einfach missbraucht werden. Sie hat einen bestimmten Account eines männlichen Users eingeblendet, der nur mit Kindervideos auf TikTok interagiert und diese permanent mit Herzchen kommentiert. Auf den ersten Blick scheint das alles harmlos zu sein, denn man kennt das ja vielleicht auch von sich selbst, man sieht ein Foto oder Video, was man süß oder lustig findet und man teilt es gleich mit Freund*innen oder schickt es in die Familien-WhatsApp-Gruppe, weil man den Inhalt gut findet oder an die eigene Nichte oder den Neffen erinnert wird.

    Dass es aber Menschen gibt, die fragwürdige Absichten verfolgen, wenn es um entsprechende Inhalte geht, für solche Gefahren sollte man als Elternteil sensibilisiert sein und seine Kinder schützen.

    Vielleicht findest du dieses Beispiel von TikTok etwas abstrakt oder auch extrem für den nächsten Film, den ich heute besprechen möchte. Aber hear (or read) me out: Es geht um „Favoriten“ von der in Wien geborenen Filmschaffenden Ruth Beckermann. In „Favoriten“ begleitet Beckermann drei Jahre lang Ilkay Idiskut, eine junge Wiener Lehrerin mit türkischen Wurzeln und ihre Volksschulklasse voller Kinder, die einen sogenannten Migrationshintergrund haben und zu Hause mit ihren Eltern nicht unbedingt Deutsch sprechen.

    Beckermann selbst über das Projekt: „25 Kinder und ihre engagierte Lehrerin. Wir wollten herausfinden, wer sie sind, wir wollten ihre Fähigkeiten und Strategien, ihre Freuden, Ängste und Nöte kennenlernen.“

    Dass es hier einen Film aus dem Nachbarland gibt, der zu einer Zeit erscheint, in der es gefühlt nur noch um Begriffe wie „Migrationsstopp“ in den Medien geht, der subtil aufzeigt, um wen es eigentlich geht bei dieser Debatte, nämlich auch um geflüchtete Kinder, und dass sie von einer Lehrerin unterrichtet werden, die selbst nicht aus einer österreichischen Familie stammt, das ist alles schon mal sehr bewunderns- und lobenswert für einen Dokumentarfilm.

    Aber nicht nur deshalb ist „Favoriten“ ein sehenswerter Film. Man bekommt einen wertvollen Einblick in das Bildungssystem Österreichs. Es geht um Migration, um Kulturen, die aufeinanderprallen, um Streitereien zwischen Jungs und Mädchen, um fehlendes Personal und wie die Lehrkräfte sich im Stich gelassen fühlen und trotzdem ihr Bestes für die Kinder geben.

    Nur hat mich der Film an einigen Stellen auch komplett verloren. Ich musste immer wieder an Ethik und Moral und auch an die Verantwortung denken, die Regisseur*innen am Set tragen müssen. Wie etwa in Momenten, wo die Kamera zu lange auf weinende Gesichter von Kindern gerichtet ist. Da kommt man wieder zur vorgenannten Frage: Sollten Filmemacher*innen diese Macht haben, ein Kind in so einer vulnerablen Situation zu filmen, wenn es gerade erfährt, dass es durchgefallen ist? Oder wenn eine Schülerin eine einfache Matheaufgabe nicht versteht und es ihr offensichtlich vor laufender Kamera unangenehm ist? Auch hier habe ich mir die Frage gestellt, warum man das Kind so bloßstellt. Das hätte man filmisch viel besser lösen können.

    In „Favoriten“ findet alles im Einverständnis der Kinder und der Eltern statt. Ich habe diese Brücke aber trotzdem zu den Influencer*innen auf TikTok geschlagen, die für Likes und Klicks alles tun würden, weil ich es schon sehr interessant finde, wie wir Content mit Kindern wahrnehmen und wann es okay ist, wann es gefährlich wird und wann wir aktiv sagen müssen, dass uns etwas Bestimmtes stört. Das ist übrigens nicht nur bei Kindern so, sondern allgemein eine Frage an Dokumentarfilmen und wie diese die Subjekte porträtiert.

    Eine Userin hat beim TikTok-Video kommentiert, ob man dann gar keine Filme mehr schauen sollte, in denen Kinder zu sehen sind. Und natürlich werden hier Äpfel mit Birnen verglichen, denn einen inszenierten Film oder aber auch eine geschützte Dokumentarfilm-Situation wie die in „Favoriten“ kann man nicht mit Alltagsszenen vergleichen, wo Eltern ihre Kinder oft in intimen, privaten Momenten im Internet präsentieren. Ich denke, wir müssen allgemein etwas bewusster werden, wie wir mit Content umgehen und welchen Inhalt wir oder auch unsere Kinder konsumieren. Und auch darüber nachdenken, dass Kinder selbst oft hilflos sind und keine Entscheidungsmacht haben.

    FAVORITEN läuft ab jetzt im Kino.

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  • Salim-Javed – über ein indisches Regisseur-Duo

    Wer sich ein wenig mit dem indischen Kino auskennt, der wird sicherlich schon mal von „Sholay“ gehört haben. Dieser „indische Western“ von Regisseur Ramesh Sippy aus dem Jahr 1975 zählt heute zu den erfolgreichsten und auch einflussreichsten indischen Filmen aller Zeiten. Viele Szenen und Charaktere aus „Sholay“ (zu Deutsch: Flammen) haben schon längst einen Kultstatus erreicht und werden bis heute mit Respekt und Liebe parodiert, in zeitgenössischen Filmen, indischen Werbungen, Award-Show-Segmenten. Dabei ist „Sholay“ selbst kein äußerst origineller Stoff gewesen – er ist unter anderem von Klassikern wie „Die sieben Samurai“ oder „Spiel mir das Lied vom Tod“ von Akira Kurosawa und Sergio Leone aus den 50ern und 60ern inspiriert.

    Und doch kann man „Sholay“ nicht als irgendein Remake abstempeln, oder als billige Kopie, dafür hat der Film einen viel zu hohen Legendenstatus in der Geschichte des Weltkinos. Klar hat man sich hier und da an filmischen Motiven aus dem Westen bedient, aber daraus wurde ein durch und durch neues, einzigartiges Werk geschaffen. Und das alles haben wir vor allem zwei Männern zu verdanken: Salim Khan und Javed Akhtar.

    Als Autorenduo Salim-Javed sind die beiden für viele ikonische Bollywood-Streifen verantwortlich. Neben „Sholay“ wären da noch: „Zanjeer“, „Deewar“, „Trishul“, „Don“ (das Original mit Amitabh Bachchan, nicht das Remake mit Shah Rukh Khan), „Shakti“ und weitere solcher Hits. Ihre Filme zeichneten sich vor allem durch die Figur des „Angry Young Man“ aus, der in den 70er Jahren die Unzufriedenheit und den Zorn des durchschnittlichen indischen Bürgers über verschiedene Missstände in der Gesellschaft ansprach. Mit Amitabh Bachchan fand man den perfekten Schauspieler für seine Verkörperung.

    Eigentlich war es zur Blütezeit von Salim Khan und Javed Akhtar überhaupt nicht üblich, dass Drehbuchautor*innen wie Stars behandelt wurden und einen genauso hohen Stellenwert hatten wie ihre Regisseur*innen oder Schauspieler*innen. Aber die beiden waren einfach anders und sorgten dahingehend für eine Revolution (die übrigens bis heute nicht wiederholt wurde, Drehbuchautor*innen in Indien sind heute keine großen Namen mehr). Es war vor allem das „Salim-Javed“ auf den Filmpostern, was die Zuschauer*innen dazu brachte, ein Ticket zu kaufen. Denn ein Salim-Javed-Film war immer ein Highlight. Und nicht nur in Indien übrigens. Danny Boyles „Slumdog Millionaire“, der bei den Oscars 2009 gleich achtmal ausgezeichnet wurde, nutzte Filme wie „Deewar“ und Amitabh Bachchans „Angry Young Man“ Persona als Referenz.

    Anfang der 80er trennten sich Salim und Javeds Wege. Aufmerksame „roots and reels“-Leser*innen werden vielleicht bemerkt haben, dass diese Namen schon in vorherigen Ausgaben gefallen sind. Salim Khan ist nämlich der Vater des berühmten Schauspielers Salman Khan, Javed Akhtar ist der Papa von Zoya und Farhan Akhtar, beides ebenfalls Filmemacher, die Nepo-Babies lassen wieder einmal grüßen. Und sie kommen nun zusammen, um für „Angry Young Men“ (auf Prime Video verfügbar) über das Phänomen „Salim-Javed“ zu sprechen. Allen voran die zwei Herren selbst natürlich, heute jeweils 88 und 79 Jahre alt.

    Die dreiteilige Doku von Namrata Rao, die eigentlich als Cutterin bekannt ist, gibt wertvolle Einblicke in die Entstehungsgeschichte aller Salim-Javed-Arbeiten: wie die beiden zueinander gefunden haben, wie sie dafür gesorgt haben, dass sie als Drehbuchautoren ernst genommen werden. Und auch, wie sie privat miteinander und wie sie mit ihren Familien gewesen sind. Es ist eine sehr gut gemachte Serie geworden und interessant für alle, die etwas mehr über indische Filmgeschichte erfahren wollen. „Angry Young Men“ erinnert an eine (bessere) Zeit und an ein indisches Kino, das so leider nicht mehr existiert. Viele der Filme von Salim-Javed sind übrigens auf YouTube verfügbar, mit Untertiteln. Wer nach der Sichtung der drei Folgen Lust bekommt …

     

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  • „Ich wollte diesen Charakter nicht verraten“

    Die Berliner Filmemacherin Aslı Özarslan hat an der Filmakademie Baden-Württemberg studiert und mit ihrem Dokumentarfilm „Dil Leyla“ auf Festivals Bekanntheit erlangt. Nun hat sie ihr Spielfilmdebüt gedreht und einen geliebten Roman, nämlich „Ellbogen“ der Autorin Fatma Aydemir, für die große Leinwand adaptiert. Die Geschichte handelt von Hazal, einer jungen Frau aus Berlin, die aus einer deutsch-türkischen Arbeiterfamilie kommt und auf Vorurteile auf dem Jobmarkt stößt. Nach einem fatalen Unfall muss sie nach Istanbul flüchten und untertauchen. Ich habe mit Aslı Özarslan über ihren Film, über die Figur Hazal und vieles mehr gesprochen.

     

    Aslı, was war für dich ausschlaggebend, den Roman „Ellbogen“ von Fatma Aydemir als dein Spielfilmdebüt zu wählen?

    Für mich war mitunter das Ende des Romans sehr wesentlich. Die Frage, wie viel gesellschaftliche Verantwortung auch „wir“ tragen, hat mich stark zum Nachdenken gebracht. Und was in der Gesellschaft schiefläuft, wenn man eine bestimmte Gruppe von Jugendlichen nicht als Individuen wahrnimmt, sondern nur als Projektionsfläche sieht. Wenn man selbst eigentlich gar kein Problem mit sich selbst hat, aber von außen immer eine Problematik auf deine Identität projiziert wird, das hat mich sehr berührt. Wer kann Hazal sein? Wer ist sie und wie wird sie gesehen? Als junge Frau ist sie auch nicht frei von dieser Auseinandersetzung, sie ist selbst auf der Suche nach Antworten. Dieses Spannungsfeld fand ich sehr interessant.

    Welche Gespräche hättest du mit der Hauptdarstellerin Melia Kara, die in „Ellbogen“ ihr Filmdebüt gibt, über die Figur von Hazal?

    Die Figur Hazal ist wahnsinnig verletzlich. Und gerade für eine Laiendarstellerin ist es schwierig, sich da „nackt“ zu machen und zu zeigen, wie verletzlich sie ist. Daran haben wir stark gearbeitet, wir haben viele Workshops gemacht. Diese Verletzlichkeit mussten wir durchgehend zeigen, damit man an der Figur dranbleibt und nicht nach der Hälfte aussteigt.

    Wir haben auch viel über die Figur gesprochen. Warum handelt Hazal so, wie sie handelt? Für mich ist ein ausschlaggebender Punkt zu sagen, pass auf, Hazal ist wahnsinnig klug. Aber sie spürt, dass diese Gesellschaft ihr nicht vertraut. Sie kann dieses Gefühl nicht in Worte fassen, aber wie kann sie dann der Gesellschaft vertrauen? Das ist der Kernpunkt der Figur. Sie weiß zwar nicht, was sie will, aber sie weiß, was sie nicht will. Sie kann ein großes Nein in die Welt rausschreien.

    Dieses Nein, dieses Privileg, das haben sehr viele junge Menschen vielleicht, aber Hazal kann sich das eigentlich nicht leisten. Sie kommt aus einer Arbeiterfamilie, sie hat nicht das Privileg, bockig zu sein. Man erlaubt ihr das gar nicht. Weil man gleich etwas auf sie projiziert. Aber das Tolle an dieser Figur ist, dass sie sich das rausnimmt und weder Opfer noch Täterin ist. Sie passt in keine Schublade. Und wir haben sie nicht weichgespült, nur damit sie akzeptiert wird.

    In einer Szene sieht Hazal ein Foto von sich, wo sie sich unbeobachtet fühlt und sagt, dass sie sich gar nicht wiedererkennt. Wie war das für Melia Kara und die weiteren Schauspielerinnen, dass du sie für die große Leinwand inszeniert hast und war es dir wichtig für dich als Regisseurin, dass du sie an die Hand nimmst, um sie durch den Prozess nach Ende der Dreharbeiten zu führen?

    Zu der ersten Frage müsstest du Melia und die anderen fragen, wie es für sie war, sich zum ersten Mal zu sehen. Zu der zweiten Frage, da hatte ich natürlich am Anfang schon gedacht, dass ich sie alle beschützen muss. Vor allem, wenn Journalist*innen Fragen gestellt haben, die vielleicht gar nichts mit dem Film zu tun haben. Für Melia ist die Branche und alles ja ganz neu. Aber ich war so stolz, dass sie da so selbstbewusst war. Nicht, dass ich ihr das nicht zugetraut hätte, aber ich konnte wirklich einen Schritt zurück machen.

    Mit welchen Herausforderungen hattest du bei deinem Spielfilmdebüt selbst zu kämpfen?

    Für alle Debütant*innen, die aus der Filmhochschule kommen ist es ähnlich, ich würde nicht sagen, dass ich es besonders schwer hatte. Wir sehen uns nicht als Konkurrenz, aber in der Branche gibt es eine bestimmte Begrenzung an Filmen, die man machen kann und eine bestimmte Begrenzung an Debütfilmen. Das ist hammerhart, aber das gilt für uns alle. Für mich kommt noch dazu, dass ich eine Frau bin und einen Migrationsbezug habe. „Ellbogen“ ist eine sehr spezifische Geschichte, weil das Ende so polarisiert.

    Wir konnten den Film verwirklichen dank Leuten, die wirklich an diesen Film geglaubt haben. Die eben das Potenzial dieses Films gesehen haben. Sie haben gesehen, dass der Film für eine gewisse Repräsentation steht. Auch bei den Förderentscheidungen war das ausschlaggebend. Aber die Frage mit der Herausforderung greift noch viel früher. Wer darf eigentlich Filme machen? Das hat etwas mit Klasse zu tun. Es spielt eine Rolle, ob man aus der Arbeiterklasse oder aus einem bürgerlichen Haushalt stammt. Können dich deine Eltern unterstützen oder nicht? Ich würde mir wünschen, dass Leute, die nicht das Privileg haben, Filme zu machen, die Möglichkeiten dafür bekommen.

    Ich habe in einer Kritik zum Film gelesen, dass „Ellbogen“ sowas wie eine Gen-Z Version von „Gegen die Wand“ ist, den internationalen Durchbruch des Regisseurs Fatih Akin. Wie würdest du das kommentieren?

    „Gegen die Wand“ ist ein unglaublich prägender Film für unsere ganze Generation gewesen, aber ich hatte den Film an sich überhaupt nicht im Kopf, weil ich die Figuren nicht zusammenbringen konnte. Emotional vielleicht, aber in den Handlungen nicht. In „Gegen die Wand“ geht es auch um eine jüngere Frau, aber Sibel sitzt zwischen den Kulturen, mit ihrer Familie zum Beispiel. In meinem Film geht es gar nicht darum.

    Und das finde ich manchmal so interessant, wenn in manchen Kritiken steht, dass Hazal auch eine Figur zwischen zwei Kulturen ist. Ich verstehe das nicht. Ich glaube, das ist ein Automatismus von manchen Journalist*innen in Deutschland, dass sie eine deutsch-türkische Figur automatisch zwischen zwei Kulturen lesen. Aber dieses Thema behandle ich gar nicht, es geht nicht darum, dass Hazal gefangen wäre oder irgendwie unter kulturellem Druck stehen würde durch ihre Eltern.

    Hazal ist eine junge 17-jährige Frau, die kein Abi hat, die einen nicht-deutschen Namen trägt, aber sich voll und ganz als Berlinerin sieht, eine junge Frau, die mitten aus unserer Gesellschaft stammt, aber künstlich von der Gesellschaft an den Rand gedrängt wird. Das ist für mich nicht die Geschichte, wo man denkt, es geht um deutsch-türkische Kultur, die zu Problemen führt. Es geht hier um gesellschaftspolitische Fragen, was bedeutet Chancengleichheit in unserer Gesellschaft? Was bedeutet Bildungsgerechtigkeit in unserer Gesellschaft? Es geht um eine junge Frau, die eine Chance sucht. Nicht aus kultureller Hinsicht, sondern aus der Perspektive eines Arbeiterkindes. Ihre Eltern kommen aus der Arbeiterklasse und wollen, dass sie arbeitet.

    Wäre es vielleicht fairer zu sagen, dass es keine Geschichte von zwei Kulturen, aber dafür zwei Städten ist? Berlin und Istanbul sind prominent in Szene gesetzt.

    Mir war es eher wichtig, dass die Städte ineinanderfließen. Für mich hätte das auch in Deutschland und Spanien spielen können. Ich zeige ja keine Totalen. Man sieht immer nur Hazal. Natürlich entdeckt sie auch etwas über ihre Identität in Istanbul. Im Roman ist das sehr facettenreich erzählt und dort macht das auch total viel Sinn. Aber ich wollte das eben etwas universeller erzählen. Deswegen habe ich das, was der Roman durch Details erreicht hat, hier eher reduziert.

    Hazal geht zu Mehmet, weil er der einzige ist, den sie außerhalb von Berlin, außerhalb von Deutschland kennt. Aber wäre er in Portugal, dann würde sie wahrscheinlich nach Portugal fahren. Nochmal zu der vorherigen Frage mit „Gegen die Wand“, wenn ich so darüber nachdenke, dann ist es vielleicht die Dynamik, die beide Filme verbindet. „Gegen die Wand“ ist sehr rough und hat eine bestimmte Dynamik, und es kann sein, dass die Leute diesen Drive auch in „Ellbogen“ spüren.

    Ich habe mich, als ich diesen Film gemacht habe, komplett an Hazal und ihren Drive orientiert. Und diesen Drive habe ich in den Film übertragen. Das war das Wichtigste für mich. Ich wollte diesem Charakter treu bleiben. Diesen Charakter nicht verraten. Und dadurch ist dieser Film entstanden.

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  • Narges Kalhor: Ich bin nicht dumm, ich kann nur eure Sprache nicht!

    Narges, dein Film ist ein Mix aus verschiedenen Genres und Stilen. Wie kommt man darauf, einen Stoff in dieser Art und Weise zu erzählen?

    Ich habe viel zu viele Jahre Film studiert. Schon im Iran studierte ich Film. In Deutschland wurde dieses Studium nicht anerkannt, also musste ich hier wieder von vorne anfangen. Ich bin aus diesem Grund seit 20 Jahren auf verschiedenen Festivals und schaue mir ständig Filme an. Ich weiß genau, was jedes Jahr auf Festivals zu sehen sein wird, was in Mode ist. Mir war bewusst, dass ich etwas anderes machen möchte. Und zwar so, damit es nicht in ein bestimmtes Genre reinpasst. „Shahid“ ist kein Musical, aber es ist auch keine Doku. Der Film ist auch keine Fiktion. Es ist nicht so experimentell, aber es ist auch nicht klassisch erzählt. Ich wollte also eine andere Art von Erzählung im Kino zeigen. Das ist das Ergebnis nach so vielen Jahren Filmstudium.

    War das eine Herausforderung, auch im Hinblick auf die Zusammenarbeit mit deinen deutschen Produzenten?

    Es ist immer riskant, solche Art von Filme zu machen. Weil es schwierig ist, einen Film zu produzieren, wo man zum Vergleich keine vorherigen Filme vorlegen kann. Es war also richtig schwierig, diesen Film zu pitchen. Ich hatte das Glück, dass mein Abschlussfilm „In the Name of Scheherazade“ eine gute Vorlage war und meine Produzenten ungefähr abschätzen konnten, in welche Richtung das Ganze gehen wird. Ich war mir sicher, wenn wir eine Zusage von einem Festival, einem guten, großen Festival bekommen, dass es danach gut laufen wird.

    Das habe ich auch damals meinem Produzenten gesagt, dass die Zuschauenden richtig Durst auf etwas Neues haben, sie diesen Film weiterempfehlen werden und alle Vorführungen ausverkauft sein werden, wir müssen nur diese eine Zusage bekommen. Die erste Zusage von der Berlinale war also sehr mutig von ihnen, weil wir davor nicht wussten, ob wir in irgendein Programm reinpassen. Somit ist „Shahid“ für mich nach 15 Jahren in Deutschland eine Art Abschluss.

    Inwiefern?

    Ich bin eine von wenigen Geflüchteten, die direkt nach dem Asylantrag eine Zusage von der Filmhochschule München bekommen haben. Das heißt, ich war als VIP-Filmemacherin bei einem Festival und dann in den Nachrichten wegen meines Vaters, wurde überall präsentiert und dann gleich an der Filmhochschule zugelassen. Dort bin ich dann auch hin. Das heißt, ich bin in dieser Gesellschaft immer in einer Blase gewesen. Ich war sehr willkommen, es war schön, eine Ausländerin zu sein. Es war schön, einen anderen Background zu haben. Ich habe wahnsinnig viel Anerkennung in der deutschen Filmlandschaft bekommen. Aber die Geschichte meines Asylantrags ist nicht alles. Ich habe auch noch andere Geschichten zu erzählen nach 15 Jahren. Ich schätze es sehr, dass ich in Deutschland im deutschen Filmgeschäft Filme mache und auch weiterhin Support bekomme. Doch als Nächstes möchte ich etwas anderes erzählen, nicht mehr nur über mich. Nicht mehr nur mit der Ich-Perspektive.

    Du hast vorhin erwähnt, dass dein Studium in Deutschland nicht anerkannt wurde.

    Ja, ich habe Film und Grafikdesign im Iran studiert. Dann war ich in Deutschland und nichts wurde anerkannt. Das war sehr traurig und frustrierend, weil ich die ganze Theorie neu machen musste und mein Deutsch war nicht so gut. Es war sehr anstrengend, die ersten Jahre an der Filmhochschule. „Hey, ich bin nicht dumm, ich kann nur eure Sprache nicht!“ Doch ich habe nicht nur die Sprache, sondern auch die deutsche Mentalität gelernt und die Strukturen der Filmszene. Im Iran herrscht immer eine außergewöhnliche Situation, wir als Gruppe müssen uns immer spontan umentscheiden. Das heißt, der Filmdreh kann immer schieflaufen und wie wir darauf reagieren und das Beste daraus machen, das zählt. Im Iran gibt es kaum Geld, kaum Equipment, kaum Möglichkeiten, mit dem Staat zusammenzuarbeiten. Fast alles ist illegal und „underground“.

    Aber die Freunde haben Zeit dafür und man setzt sich zusammen und mit dem Geringsten sucht man das Beste. In Deutschland habe ich das Gefühl gehabt, okay, hier gibt es zwar alles, aber es ist unreflektiert und nicht flexibel. Ich finde eine Balance zwischen diesen zwei Herangehensweisen gut, weil ich in Deutschland Planung gelernt habe. Hier hat jeder seine eigene Verantwortung. Teamwork funktioniert richtig, du weißt genau, wer teilnimmt und dabei ist. Im Iran war es eher spontaner. Filme laufen manchmal gut, manchmal schlecht, die Hauptsache ist, dass wir während des Films das Leben genießen.

    Wenn du über diese Balance zwischen dem iranischen und deutschen Filmemachen sprichst, wie ist denn dein Blick auf das Land heute? Vor allem als Exil-Iranerin? Und wie findest du diesen Begriff eigentlich?

    Erstmal zum Begriff Exil-Iranerin, das ist eine Sache, die mich geärgert hat, also ob man mich als Filmemacherin ernst nimmt oder nur als die, die im Exil ist. Wenn es für die Medien besser klingt, bin ich die Iranerin, wenn es im Ausland besser läuft, bin ich die deutsche Regisseurin. Aber egal, wie sie mich nennen. Mein Film läuft in deutschen Kinos. Ich war jetzt in über 15 Screenings in Deutschland und fast alles war ausverkauft. Da sagt auch niemand, Deutsche oder Iranerin. Es geht einfach um einen Menschen, der hier lebt. Ich zeige gerne meinen Film.

    Und zum Thema Iran, die Menschen kämpfen immer noch. Alle meine Freunde sind noch am kämpfen. Besonders wenn sie ihr Auto verlieren, ihr Konto gesperrt wird, sie ihre Arbeit verlieren. In Deutschland wird das so verharmlost, dass Frauen ihr Kopftuch abnehmen und alles ist einfach. Aber sie leiden am meisten. Das muss man einfach so sagen. Und sie sind jetzt wieder in einem tiefen Loch gefangen, genau wie damals, zwei, drei Jahre nach der Grünen Revolution, als ich in Deutschland war. Irgendwann habe ich aufgehört, Nachrichten über den Iran zu lesen, weil ich dachte, ich verliere meine Gegenwart in Deutschland, ich muss zur Filmhochschule, jeden Tag um sechs Uhr aufstehen, ich kann nicht jede Nacht weinen. Und jetzt habe ich dasselbe Gefühl. Die gesamte Weltpolitik ignoriert es. Ich denke, wir Iraner*innen, unabhängig von der Politik, wissen schon, auf welcher Seite der Geschichte wir stehen.

    Wie blickst du heute auf die iranische Filmszene, die ja auch ständig unter schweren Bedingungen arbeiten muss?

    Jetzt kann man mit Handys drehen, Ton und Schnitt sind viel einfacher geworden, Dateien können über Telegram an Festivals verschickt werden. Ich habe früher auch im Iran mit gefälschten Genehmigungen gedreht und musste noch DVDs an Festivals verschicken. Filmemachen für uns Iraner*innen ist verbunden mit unserer Historie und Sprache. Es ist wie unsere Waffe, unsere Pistole. Das war auch vor der Grünen Revolution so. Ich finde es wahnsinnig schön, über Metaphern zu sprechen. Bei uns ist Poesie sehr wichtig und sie ist auch in unsere Filme gewandert. Obwohl ich ganz andere Filme mache als iranische Filmemachende, weil ich eben eine Cinemigrantin bin und versuche, eine Art Brücke zwischen „nicht Deutsch“ und „nicht Iranisch“ zu schlagen, bin ich doch wahnsinnig stolz darauf, dass die Menschen aus dem Iran so tolle Filme machen. Wie sie bewegte Bilder wahrnehmen, ist ganz anders als im Westen, ganz anders als das, was wir hier an Filmhochschulen lernen. Ich bin stolz darauf. Iranische Filmemachende schaffen es immer, mit einem lachenden und weinenden Auge Filme zu erzählen.

  • Im Spotlight: LEIS BAGDACH

    Letzte Woche fand das Filmfest München statt, wo IM ROSENGARTEN Weltpremiere feierte. Der Film handelt von einem deutsch-syrischen Geschwisterpaar auf einem Roadtrip quer durch Deutschland. Der Rapper “Yak” (Kostja Ullmann) muss sich plötzlich um seine Halbschwester Latifa (Safinaz Sattar) kümmern, nachdem ihr Vater im Koma liegt. Ich habe den Regisseur Leis Bagdach getroffen, um mit ihm über sein Regiedebüt und vieles mehr zu sprechen.

    Hallo Leis, du hast für andere Filmemachende Drehbücher geschrieben und auch ihre Filme produziert. Warum wolltest du ausgerechnet bei dieser Geschichte zum ersten Mal selbst hinter der Kamera stehen?

    Mein Vater ist Syrer und meine Mutter ist Deutsche. In meiner Kindheit sind wir in den Ferien immer nach Syrien gefahren. Die Kulturen haben sich in meinem Gefühl sehr stark voneinander unterschieden, ich konnte sie nie zusammenbringen und war lange Zeit hin- und hergerissen. Wir wissen, wie toxisch es sein kann, wenn man in Deutschland die ganze Zeit gefragt wird, von wo man eigentlich herkommt. Ich finde das nicht schlimm, aber das prägt einen. In Syrien wurde ich das nicht gefragt, die Syrer haben immer gesagt, dass ich Syrer sei. Die Deutschen haben auch gesagt, dass ich Syrer bin.

    Ich fand es immer sehr lustig, dass ich in Deutschland geboren bin und hier als Ausländer gesehen werde, die Syrer mich wiederum vereinnahmt haben. Sowas wollte ich erzählen, weil diese unterschiedlichen Kulturen stark in meinem Herzen, meinem Gehirn verankert waren oder sind. Und beim Entwickeln der Geschichte habe ich dann gedacht, verdammt, ich muss den Film selber machen. Das kann niemand so erzählen wie ich.

    Der Film beginnt mit einer arabischen Erzählerstimme, was für einen deutschen Film sehr untypisch ist. War das eine bewusste Entscheidung?

    Als Erstes muss man „deutschen Film“ definieren. Ist damit die Summe der vielen deutschen Filme gemeint, die man gesehen hat und davon eine Schublade im Kopf hat. Oder ist ein deutscher Film einfach ein Film, der in Deutschland finanziert wurde? Beide Sprachen sind wichtig, aber für mich ist das ganz normal.

    Ich habe mir gar keine Gedanken gemacht, wie das ankommt. Der Witz dabei ist ja, dass am Anfang von einem deutschen Volkslied auf Arabisch erzählt wird. Das war der größte Spaß für mich, die zwei Sprachen so zusammenzubringen. Ich wurde von einem Schauspieler auch gefragt, warum denn kein schönes arabisches Lied zu hören ist, aber das ist ja gerade der Witz. Ein Araber mit Akzent singt ein deutsches Volkslied.

    Ich fand das Casting der Hauptrolle sehr spannend. Kostja Ullmann hat bekanntlich keinen arabischen Background. Warum ausgerechnet er?

    Ich wollte für die Hauptrolle eine Person mit arabischem beziehungsweise islamischem Hintergrund. Ich habe viel gesucht und habe dann den Film „3 Türken und ein Baby“ geguckt, weil der Rapper Eko Fresh da mitspielt. Und dann war plötzlich Kostja Ullmann einer der drei Türken. Ich dachte mir, warum zur Hölle spielt er einen Türken, das ist doch eine Kartoffel? Dann habe ich gecheckt, dass er wie ich asiatische und deutsche Wurzeln hat. Seine Mutter kommt aus Sri Lanka und aus Indien und der Vater aus Deutschland. Ich habe ihm das Buch geschickt und er wollte es unbedingt machen. Das war für mich auch wichtig, dass er irgendwie andocken konnte.

    Der Passing-Aspekt in diesem Film ist interessant. Kostja Ullmann spielt zwar einen deutsch-syrischen Rapper, will aber als Deutscher wahrgenommen werden. Mit seiner arabisch-sprechenden Halbschwester hat er Probleme mit der Verständigung. Wie wirst du eigentlich in der Filmindustrie von Kolleginnen und Kollegen wahrgenommen?

    Im professionellen Filmbereich gibt es natürlich immer die Frage, woher der Name „Leis“ kommt. Und ich kann total verstehen, wenn sowas einen triggert, aber das stört mich gar nicht. Erstens, weil ich ein Mann bin und zweitens, weil ich hell bin. Ich könnte auch als Spanier oder Italiener durchgehen. Aber wegen meiner vielfachen Erfahrungen habe ich das Gefühl, dass ich nicht richtig dazugehöre.

    Ich denke immer, ich müsste mir einen Platz erkämpfen. Weil ich nicht aus einer weißen Bürgerschicht komme. Im Filmbereich hast du oft Leute, die aus einem reichen Elternhaus kommen. Kunst und Kultur zu machen, musst du dir leisten, das konnte ich nicht. Für mich hat das Ganze also eher einen Aspekt der Klasse.

    Im Film gibt es auch eine Szene zum aufgeladenen Begriff „Heimat“ und was dieser für wen bedeutet. Wie stehst du zu diesem Begriff?

    Den Begriff Heimat finde ich sehr schwierig, weil er tatsächlich ausschließt. Wir können uns auf den Kopf stellen, aber wenn wir sagen, meine Heimat ist der Bayerische Wald, dann wird es immer Leute geben, die antworten, dass das nicht sein kann, weil guck dich doch mal an. Du kommst doch ganz woanders her. Und da bist du gleich bei dieser Blut-und-Boden-Ideologie. Also ich finde den Begriff Heimat scheiße, weil es ein politischer Kampfbegriff ist. Woraus der Begriff Heimat besteht, vielleicht die Liebe zu einer bestimmten Natur, in der man groß geworden ist, oder die Musik, die Sprache, das feiere ich natürlich total. Das ist mir wahnsinnig wichtig.

    Aber es gab mal in Deutschland einen sehr schönen, sehr gesunden Antinationalismus. Bei Fußballspielen mit Franz Beckenbauer, das kann man sich bei YouTube angucken, da hat keine Sau die Nationalhymne mitgesungen. Die andere Mannschaft schon. Es ist total schön zu sehen, wie sie da alle stehen, Beckenbauer, Hrubesch und niemand bewegt auch nur seine Lippen. Ich fand das immer ganz gut, dass Deutschland einen gebrochenen Bezug zur Heimat hat, aufgrund der Geschichte, weil man tatsächlich sieht, wohin Nationalismus hinführt. Nach der WM 2006 wurde gesagt, endlich gibt es wieder gesunden Nationalismus. Und ich sage, das gibt es nicht. Es gibt nur einen gesunden Antinationalismus. Den wir leider verloren haben.

     

     

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