Schlagwort: Feminist*innen

  • Vom Fortgehen und Zurückkehren

    Riwan oder der Sandweg“  – der bereits 1999 erschienene Roman von Ken Bugul mit vielen autobiographischen Sequenzen wurde den 100 einflussreichsten afrikanischen Romanen zugeordnet. Er schildert uns plastisch und lebendig eine weibliche Odyssee. Die Odyssee einer gebildeten, studierten und schönen Afrikanerin, die nach unglücklichen, unerfüllten Jahren in Europa zurückkehrt in ihr Heimatdorf.

    Ohne einen prall gefüllten Koffer, ohne Seide, Perlen, Colliers und Brokat. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, auf der Suche nach sich selbst, nach ihrer ureigensten Identität. Sie fühlt sich zerrissen, zerstört, zerbrochen. Der westliche Lebensstil, die Anforderungen eines modernen Lebens mit stark feministischer Prägnanz haben sie ausgehöhlt.

    Ein komplexer Roman mit diversen Ebenen: die moderne, studierte Frau, die es nach Europa zieht und ihre Rückkehr. Die spirituelle Welt der Muradiya, einer senegalesischen Sufi-Bruderschaft. Das polygame traditionelle Frauenleben Afrikas im Gegensatz zu moderner westlicher Emanzipation mit feministischen Untertönen. Die senegalesischen Traditionen mit ihrer strikten Struktur und Hierarchie, die einengen mögen, aber auch Geborgenheit und Sicherheit geben. Immer wieder unterbrochen von gesellschaftskritischen Aussagen und politischen Protestnoten, die wie Werbeslogans, fast wie im Stakkato, eingestreut sind, so dass der gesamte Text dadurch rhythmisch und lebendiger wird.

    Endlich die weiße Maske auf schwarzer Haut abgelegt

    Wir verfolgen die Häutung der jungen Frau, die endlich ihre „weiße Maske auf schwarzer Haut“ (Frantz Fanon) als Fremdkörper empfindet und ablegt. Die in ihr Heimatdorf als Zufluchtsort zurückkehrt mit der Alternative: leben oder sterben. Und sie findet langsam den Weg, ihren Sandweg, zurück zu sich selbst. Sie lernt die Traditionen kennen und schätzen ohne ihren kritisch- intellektuellen Blick, in Europa geschärft, dabei zu verlieren.

    Für den Serigne, den Kalifen der Muradiya-Gemeinde, empfindet sie Hochachtung. In ihm findet sie einen Vertrauten, einen Freund, mit dem sie über alles debattieren, sich mit ihm von gleich zu gleich austauschen kann.
    Alles ändert sich, als der Serigne sie zur Frau erwählt, zur 28. Ehefrau seines Anwesens, seines Lebens. Zum ersten Mal empfindet sie Liebe, Liebe gepaart mit Sanftmut und Zärtlichkeit in stillem Einvernehmen. Diese Liebe, diese Zuneigung, dieses Vertrauen lösen einen Heilungsprozess in ihr aus und sie bleibt dem Serigne über Jahre engst verbunden.

    Wir erfahren in diesem Roman viel über das Äußere und das Innere des Muriden-Kalifats sowie über die Position und Wirkungsfelder des Serigne. Einem Mann mit einer Aura der Güte, des Wissens, des Scharfsinns, der Weisheit und der Freigiebigkeit. Er verkörperte ein Ganzes. Die Ich-Erzählerin erlebte eine ganz neue Art von Sinnlichkeit, von Liebe und auch von Lust. Die manipulativen Spiele der Wolllust und der Stellungswechsel kamen hier nicht zum Einsatz

    Eine ganz andere Sichtweise auf das Leben und die Liebe

    Sokhna-Si singt nicht das Lied der Polygamie. Aber sie setzt diese gegen die Aushöhlung westlicher Liebes- und Lebensprinzipien, früher einmal mit romantischer Konnotierung, heute eher ein Optimierungsprozess, ein Leistungsprinzip. Und betont immer wieder eine ganz andere Sichtweise auf das Leben und die Liebe.

    Der Serigne war für sie und ihre Mitfrauen der Mann, aber er war nicht ihr Leben. Und natürlich hatte diese afrikanische Frauengemeinschaft nichts mit den westlichen Vorstellungen eines üppigen orientalischen Harems gemeinsam. Es gab keine Rivalität. Das Gesetz hieß: füge dich dem Willen deines Ehemannes, sei unterwürfig. Aber natürlich gab es auch in diesem Vielfrauen-Haushalt Eifersucht, die aber gemeinsam mit Ritualen wie dem Xaxar-Ritual, gebändigt wurde. In traditionellen Gesellschaften gibt es strikte Regeln, um die Menschen zu schützen und vor Verfehlungen zu bewahren. Traditionen, die bei uns meist nur noch Folklore sind. Wobei es doch wichtig wäre, eine Balance zwischen Tradition und Moderne zu finden.

    Als der Serigne sich nach Jahren eine neue Frau nimmt, ein blutjunges Mädchen, geht die Ich- Erzählerin ihren eigenen Weg. Sie ist jetzt stark genug und hat sich selbst gefunden. Sie beginnt zu schreiben. „Ich war zu der geworden, die ich war“. Emanzipiert von den falschen Verlockungen und Verführungen des Westens. Fernab vom westlichen Feminismus, der einfach nur eine weitere – ismus-Schublade war. Von privilegierten Frauen für privilegierte Frauen.

    „Ich war im Einklang mit mir und meiner Umwelt“

    Eingebettet in die soziologischen, religiösen, psychologischen und philosophischen Facetten sind die starken Kurzporträts der Frauen Bousso Niang. Sohkna Mama Faye. Rama. Nabou Samb. Djagua Sylla. Und das Portrait von Riwan, der nicht redete, nicht lachte, nicht weinte, nur den Anweisungen folgte, starren Blickes. Er tat schweigend immer die gleichen Dinge. Er schlachtete und kochte, hielt das Feuer am Leben, er war nie krank. Und der als einziger Mann Zutritt zu den Frauen-Gehöften hatte. Wie konnte Riwan all den Frauen und ihren ihn umschmeichelnden Düften widerstehen?

    Immer wieder Einsprengsel von sozialkritischen und politischen Statements, das Hinterfragen der afrikanischen Gesellschaft, der modernen Gesellschaft dort und anderswo. Und auch zu dem ganz anderen Frauenbild: die Frau nicht nur ein Konsumobjekt, sondern ein Kernelement des Lebens. Die Autorin setzt sich auch mit der Rolle der Jungfräulichkeit auseinander, diesem „roten Fleck“ der Tugend und der Ehre, der eine ganze Familie, einen ganzen Clan ins Unglück stürzen kann.

    Ken Bugul entführt uns mit ihrem Roman in zwei Welten, in eine traditionelle afrikanische und eine moderne westliche. Und für mich klingt durchaus die Frage auf: Welche ist die bessere? Nachzudenken, über Traditionen und Moderne, über weibliche Rollenspiele und Schicksale – dazu regt dieser Roman an. Und er führt vielleicht zu mehr Verständnis für andere Lebensarten und zu einem tieferschürfenden Hinterfragen der eigenen Situation, der persönlichen wie der allgemeinen in Europa.

    Abschließend ein Satz von Fernando Pessoa: Nie eine Haremsdame gewesen zu sein.

     

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  • Weibliche Genitalverstümmelung: Menschenrechtsverletzung

    Triggerwarnung: Dieser Text informiert über die Praktiken der global verbreiteten Genitalverstümmelung- und Beschneidung bei Mädchen und Frauen. Möglicherweise wirkt der Text auf Betroffene re-traumatisierend. Hilfsangebote sind am Ende verlinkt.

    Darum geht es in diesem Text:

    • Genitalverstümmelung und Beschneidung (FGM/C) betrifft weltweit 200 Millionen Mädchen und Frauen, in Deutschland rund 70.000
    • FGM/C ist zielgerichtete Gewalt gegen das weibliche Geschlecht und eine der schlimmsten Formen von Kindesmissbrauch
    • Folgen können lebenslange psychische und physische Schäden sein, ein Viertel der Betroffenen stirbt daran
    • Gegenmaßnahmen: Strafrechtliche Konsequenzen bis zu 15 Jahre Haft, Entzug des Kindes-Sorgerechts oder Aufenthaltserlaubnis, Aufklärung und Bildung, Integration von Wissen in medizinische und soziale Arbeit, neu initiierter Schutzbrief für Auslandsreisen
    • Perspektiven: Einbezug von Männern für nachhaltige gesellschaftliche Veränderungen notwendig, Rekonstruktion der Vulva für weibliche Selbstbestimmung

     

    Der Hamburger Senat hat im Februar 2021 einen Schutzbrief unter Schirmherrschaft von Familienministerin Franziska Giffey auf den Weg gebracht. Das erregte bundesweit mediale Aufmerksamkeit. Das Dokument wird als wichtiges Signal gegen weibliche Genitalverstümmelung- und Beschneidung gewertet. Es soll in Deutschland lebende Mädchen vor der frauenverachtenden Praktik in ihren Heimatländern schützen.

    Die rituelle Genitalverstümmelung- und Beschneidung (kurz FGM/C für das englische Female Genital Mutilation/Cutting) ist ein globales Phänomen und besonders verbreitet in Ost- und Westafrika. Betroffen sind nach Angaben der WHO rund 200 Millionen Mädchen und Frauen. In Deutschland leben um die 70.000 Betroffene – die Zahlen steigen seit Jahren.

    Durchgeführt wird der qualvolle Akt bei Mädchen zwischen dem Säuglingsalter und der Pubertät. Es gibt verschiedene Grade der Beschneidung: Klitoris und Schamlippen werden aus nicht-medizinischen Gründen teilweise oder ganz entfernt, die Vagina teils zugenäht.

    Diese schwerwiegende Körper- und Menschrechtsverletzung endet bei 25% der Betroffenen tödlich. Überlebende berichten von tiefen seelischen und körperlichen Schäden. Und von FGM/C betroffene Mädchen und Frauen leiden neben Traumata an Infektionen, geschwürartigen Fisteln oder chronischen Schmerzen sowie Schwierigkeiten beim Urinieren und Menstruieren. Zudem ist ein erfülltes Sexualleben undenkbar und das Risiko bei einer Geburt für Mutter und Kind hoch.

    Hintergrund

    Genitalverstümmelungen bei Mädchen und Frauen sind zielgerichtete Gewalt gegen das weibliche Geschlecht und eine der schlimmsten Formen von Kindesmissbrauch. Ihren Ursprung findet der jahrtausendalte Brauch in patriarchalen und frauenfeindlichen Strukturen. Das Ritual gilt als wichtiges soziales Ereignis, das den Übergang vom Mädchen zur Frau symbolisieren soll.

    Diese Praxis ist – entgegen vieler Vorurteile – losgelöst von religiösen Zusammenhängen. Stattdessen ist FGM/C tief verwurzelt in gesellschaftlichen Zusammenhänge. Jahrhundertealte medizinische Mythen oder das Ziel des Unterbindens von außerehelichem Geschlechtsverkehr lassen diese Praktik fortwähren.

    Durchgeführt wird die Praktik üblicherweise in familiären Zusammenhängen. Über die Gründe für FGM/C berichtet Jawahir Cumar im Deutschlandfunk Kultur von einem paradoxen Verhältnis von Liebe und Fürsorge durch die (Groß-) Eltern zu ihrem Kind. Sie erinnert sich an ein Gespräch, in dem sie ihre Großmutter zu ihrer Beschneidung befragt. Zu den Beweggründen erklärt diese: „Weil es das Beste für dich ist. Ich wollte, dass du ein gutes Leben hast, dass du einfach in dieser Gesellschaft dazugehörst“. Ein hoher sozialer Druck wirkt auf die Familien. Denn nicht-beschnittene Mädchen werden nicht verheiratet – ein gesellschaftlicher Ausschluss droht. Das Ritual FGM/C soll die Mädchen beschützen, ihre Existenzen und Zukunft sichern.

    Maßnahmen

    FGM/C ist in vielen Ländern weltweit verboten – in Deutschland seit 2013. In der Bundesrepublik machen sich auch Angehörige und Mitwisser*innen strafbar. Es drohen bis zu 15 Jahre Haft, der Sorgerechtsentzug des Kindes sowie ggf. ein Entzug der Aufenthaltserlaubnis – auch wenn der Tatort im Ausland liegt. Zudem ist die Flucht vor einer Genitalbeschneidung Asylgrund.

    Der neue Schutzbrief des Hamburger Senats soll dem familiären Druck in den Heimatländern etwas entgegensetzen und Konsequenzen aufzeigen. Es enthält eine Auflistung von Konsequenzen, die den Täter*innen in der Bundesrepublik drohen. Zu den Sommerferien besteht eine besonders hohe Gefahr der Durchführung von FGM/C bei Familienbesuchen im Ausland. Der Schutzbrief sollte deswegen als Passeinlage mitgeführt werden. Zu erhalten ist dieser kostenlos in mehreren Sprachen u.a. im Internet zum Download.

    Mariame Sow von Forward for Women weist im Deutschlandfunk Kultur mit Blick auf den Bildungsbereich auf ein notwendiges breites Verständnis bei der Bekämpfung von FGM/C hin. Beschnittene Mädchen brauchen länger beim Urinieren und Menstruieren – und bleiben während ihrer Periode zuhause, wenn in der Schule die Toiletten nicht funktionieren. Die Konsequenz: Durch den regelmäßig versäumten Unterricht bestehen diese Prüfungen nicht und heiraten früh. Deswegen ist eine gute Ausstattung der Schulen im Umgang mit FGM/C von hoher Bedeutung.

    Darüber hinaus ist ein wichtiger Schritt, Wissen über Beschneidungen der Vulva in die Ausbildung von Erzieher*innen, Sozialarbeiter*innen und Mediziner*innen zu integrieren. Derzeit ist Personal oft im Umgang mit FGM/C nicht geschult: Sensibilität und medizinische Kenntnisse fehlen. Das kann re-traumatisierend wirken.

    Perspektiven

    Zur Bekämpfung von Genitalverstümmelung- und Beschneidung ist ein komplexes Ineinandergreifen von Aufklärung, Prävention und Therapie notwendig. Wichtig dafür: Eine Enttabuisierung des Themas. Für nachhaltige gesellschaftliche Veränderungen versuchen Projekte wie „Men Standing Up for Gender Equality“ des Lessan e.V. Männer miteinzubeziehen. Hier werden Männer zu sogenannten Change-Mediatoren ausgebildet mit dem Ziel, dass diese Sensibilisierungsarbeit leisten und neue Denk- und Verhaltensmuster etablieren.

    Seit einigen Jahren ist eine Rekonstruktion der Klitoris durch operative Methoden möglich. Durch einen chirurgischen Eingriff erhalten Betroffene Lustgefühle zurück und ein freies Ausleben der Sexualität ist wieder möglich. Darüber hinaus erklärt Sow über die Rekonstruktion ihrer Vulva:

    „Für mich persönlich hatte das mit Sexualität nichts zu tun. Natürlich, wenn danach der Sex anders ist, das ist ein Bonus. Aber es hatte mit mir und meinem Körper zu tun. Ich hatte das Gefühl, irgendwas wurde mir genommen […] Keiner hat mich gefragt. Für mich war es wichtig zu sagen: Ich habe es wieder genommen! […] Ich fühle mich vollkommen und ich bin sehr zufrieden“. Das verdeutlicht: Beim Kampf gegen FGM/C geht es vor allem um Selbstbestimmung des eigenen Körpers, der eigenen Identität und Zukunft.

    Direkte Beratung und Hilfe bei FGM/C und weiterer Formen von Gewalt gegen Frauen* gibt es 24/7 in mehreren Sprachen hier online und telefonisch. Kostenlose medizinische und sozialpsychologische Hilfe für Betroffene von FGM/C gibt es beim Desert Flower Center Waldfriede. Über das Netzwerk Integra organisieren sich bundesweit Initiativen gegen FGM/C – z.B. die Vereine Lessan, Nala oder Stop Mutilation.

     

  • Adivasi Frauen – Verlassen, verschleiert und voller Stärke

    Die Adivasi sind eine indigene Gruppe, die in Indien lebt. Sie führen außerhalb des Kastensystems ein Leben in Armut. In der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts vertrieb man sie aus den Wäldern im südlichen Rajasthan. Grund waren großflächige Rodungen. Die Adivasi erhielten den am wenigsten fruchtbaren Boden für ihre Felder. Überleben können sie nur durch Migration. Adivasi-Männer gehen in den stärker industrialisierten Bundesstaat Gujarat oder ins Ausland, um dort unter schwierigen Bedingungen für wenig Geld zu arbeiten. Sie lassen ihre Frauen in abgelegenen Dörfern zurück, mit wenig Freude, aber viel Arbeit.

    [modula id=“18680″]

    Diese Bilder sind im Rahmen eines langfristigen, globalen Projekts von Magdalena und Noel Rojo entstanden. Die Journalistin aus der Slowakei und der mexikanisch-amerikanische Fotograf sammeln Geschichten von Frauen, die in ihren Herkunftsorten zurückbleiben, während ihre männlichen Partner migrieren.

    Dieser Artikel wurde auch auf Englisch veröffentlicht.

    https://kohero-magazin.com/left-behind-with-hard-work/

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  • “Zum Thema Behinderung fehlen uns die Vorbilder“

    „Ein paar Monate vor der Geburt haben die Ärzte festgestellt, dass etwas nicht stimmte. Das zu hören, war für mich erstmal ein Schock“, erinnert sich Lucy Wanjiku an 2009. „Als meine Tochter dann im Frühjahr 2010 auf die Welt kam, war das der Moment, in dem mein Leben richtig, richtig schwer geworden ist.“ Doch Lucy Wanjiku ist keine Frau, die schnell aufgibt.

    Eine Pflanze und eine Kerze – für Lucy Wanjiku, Gründerin von Tumaini e.V. sind es Symbole für Mut, Kraft und Hoffnung. Seit 2017 schenkt sie diese an Kinder mit Behinderungen und Migrationshintergrund sowie deren Eltern.

    Ich bin Lucy!

    Lucy stammt aus Nairobi und ist seit 2003 in Hamburg zu Hause. In der afrikanischen Community war sie sehr aktiv. „2004 habe ich meinen Sohn auf die Welt gebracht. Ab da war ich auch als Mutter unterwegs.“ Ihre Hilfe bot sie jedem an, der sie brauchte. Vor allem Frauen wendeten sich an Lucy. „Ich habe sie begleitet, obwohl ich kein Deutsch konnte“, lacht sie in die Kamera.

    Sie gründete zusammen mit anderen Frauen eine kleine Selbsthilfegruppe, lernte Deutsch, hatte einen guten Job und war zufrieden. „Bis ich mich in einer sehr schwierigen Situation wiederfand“, spricht sie plötzlich leise weiter. Im Februar 2010 kam ihre Tochter Rochelle mit mehrfachen Behinderungen und blind zur Welt. „Ich hatte mich noch nie mit dem Thema Behinderung auseinandergesetzt“, gesteht sie.

    Während die Ärzte versuchten ihrer Familie zu helfen, wird sie von ihrer Community abgelehnt. „Sie nannten mich die böse Frau“, empört sie sich und entscheidet: „Ich möchte Lucy genannt werden! Nur Lucy!“ Ihre Hände geben ihren Worten Nachdruck. Lucy zog sich aus ihrer Community zurück und kämpfte. „Ich wollte nicht, dass sich meine Tochter schuldig fühlt oder Schuld an meinem Schicksal hat.“

    Es gibt eine Lucy, die hilft

    Neben einem Kindergartenplatz für ihre Tochter suchte Lucy nach neuer Arbeit. Die Suche gestaltete sich für die Familie jedoch schwieriger als gedacht, denn die Hamburger Kindergärten lehnten sie ab. Eine neue Kita versprach allerdings Hoffnung und Lucy fragte zunächst nach einem Arbeitsplatz. Die Leiterin sagte ab, doch Wanjiku blieb beharrlich und erhielt die Zusage als Köchin. Nach einem harten Jahr folgte die Zusage für Rochelle.

    Wenige Monate später durfte Lucy ihre Tochter sogar 1:1 betreuen – fünfeinhalb Jahre war sie immer an deren Seite.  „Für mich war das ein Lottogewinn“, strahlt Lucy über den ganzen Bildschirm. Wenig später machte sie eine Ausbildung zur Heilerzieherin. „Ich habe meiner Community gesagt: „Ich gehe,“ hier macht sie eine kurze Pause, „aber ich werde zurückkommen.“

    Nach ihrer Ausbildung zur Heilerzieherin machte Wanjiku 2017 ihren Abschluss, kehrte in ihre Community zurück und versuchte das Thema Behinderungen zu sensibilisieren. Nach den Erlebnissen fühlt sie sich ängstlich. „Als dunkelhäutige Frau musst du kämpfen!“ Ihre alte Selbsthilfegruppe gab ihr Halt, denn hier sprachen die Frauen dieselbe Sprache. Sie motivierten und halfen sich selbst sowie anderen. Die Hilfsbereitschaft der Gruppe sprach sich herum. „Wir haben festgestellt, wir müssen was unternehmen“, erinnert sich Lucy lebhaft. Im Mai 2017 lässt sich die Gruppe mit Hilfe des Paritätischen Kompetenzzentrums und Leben mit Behinderung offiziell als Verein eintragen.

    Sind wir gut genug?

    Mit der Gründung des Vereins stellte sich Lucy neuen Herausforderungen. „Die erste Herausforderung war, dieses Projekt überhaupt zu starten“, grinst sie, „und Nummer zwei: Die Menschen zu finden.“ Sie erinnert daran, dass Behinderungen immer noch ein Tabuthema ist. „Wir sind behindert von Innen. Ein Tabu ist vieles, aber nichts was man sehen kann oder was man hören kann, sondern was aus dem Inneren kommt.“

    Als einziger afrikanischer Verein in Hamburg, der sich mit dem Thema Behinderungen auseinandersetzt, standen sie unter Druck. „Die Angst etwas falsch zu machen, war sehr groß. Sie dürfen diesen Spruch nicht vergessen: ‘Wir sind hier immer noch in Deutschland!’ In Deutschland kann es anstrengend sein, denn die Dinge müssen richtig sein. Am besten zu hunderttausend Prozent.“ Lucy und ihr Team ließen ihre Ängste hinter sich und bauten den Verein Schritt für Schritt auf.

    Das Thema Behinderung war „wow“!

    Im Sommer 2017 stellte sich der Verein am African Day zum ersten Mal der Öffentlichkeit vor. „Das Thema Behinderung war „wow!“. Die Leute in der Community waren alle so WAS?!“, lacht Lucy laut. Tumaini e. V. betreut Familien von überall, lädt zu Veranstaltungen ein, gibt Workshops zum Thema Empowerment, stärkt die Resilienz und ist ein Ansprechpartner für verschiedene Bedürfnisse. Kommen kann, wer Hilfe braucht. Dem Verein ist es wichtig gut zu informieren.

    „Es gibt so viele Informationen. Wir kennen Familien, die wissen auch nach drei Jahren nicht, dass es Hilfe X gibt“, erklärt Lucy sachlich. Besonders Familien, die neu in Deutschland sind, haben es schwer und Angst ihre Kinder nicht integrieren zu können. „Innerhalb dieser Zeit geht es Eltern gesundheitlich schlecht.“ Ein Grund, warum es Angebote für alle Familienmitglieder gibt. „Wir überlegen gemeinsam mit den Betroffenen, was sinnvoll ist“, macht Lucy deutlich.

    Bevor man mutig ist, muss man akzeptieren

    Trotz des großen Engagements und der zahlreichen Angebote des Vereins, fällt es vielen Eltern schwer auf den Verein zuzugehen, denn oft fehlt ihnen der Mut. „In dem Moment, in dem wir Eltern ein Kind mit Besonderheiten bekommen, ist unser Mut erst mal verloren. Unser Bild, vor allem unser Frauenbild, ist kaputt. Das hat ganz große Auswirkungen auf unser Leben. Mutig sein, kommt nicht von heute auf morgen. In dem Moment, in dem man alles akzeptiert, ist man mutig“, erklärt Lucy ruhig.

    „Ich empfehle allen keine Einzelkämpfer zu sein. Ich kann aus Erfahrung sagen, dass man verliert. Wir wollen Löwen sein, aber irgendwann ist unsere Kraft auch zu Ende.“ Verständnis ist besonders wichtig für ihre Arbeit. „Teilweise muss man einfach nur zuhören.“ Sie sagt auch: „Man darf nicht vergessen, dass wir uns als Migrant*innen auch manchmal ein wenig unterdrückt fühlen. Uns fehlen die Vorbilder. Gerade zum Thema Behinderung.“

    Rede über das, was dein Kind kann

    In Lucys Augen sind es kleine Schritte zum Erfolg. „Es ist normal anders zu sein. Und anders sein heißt nicht, dass man andere Möglichkeiten hat oder Dinge nicht mitgestalten kann“, sagt sie. Seit ihrer Gründung nimmt sie Fortschritte, die sie mit ihrem Verein und auch mit den Kindern macht deutlich wahr. „Natürlich darf man nicht naiv sein und nicht nur darauf schauen, was das Kind nicht kann, darum geht es nicht, sondern darum, das Kind zu stärken.“

    Eine Situation nie negativ betrachten

    Jeden Tag stellen sich die Mitarbeiter*innen von Tumaini e. V neuen Aufgaben, damit es den Kindern und Familien gut geht. „Motivation ist sehr wichtig. Es geht nicht um uns, es geht um andere. In dem Moment, in dem man spürt, dass es um sehr viel mehr geht, ist es Motivation. Und mehr brauchen wir nicht.“ Es gibt aber auch die Momente der Hoffnungslosigkeit. „Wenn ich z. B. Eine Frau sehe, die nicht in der Lage ist sich als Frau zu sehen, nur weil sie ein Kind mit Behinderung hat und keine Unterstützung bekommt.“ Lucy hat aber ein gutes Gegenmittel: „Ich schaue immer zurück. Und denke: Wenn ich es als afrikanische Frau aus Nairobi geschafft habe, dann schaffen es andere auch.“

    Eine Stimme ohne Angst

    Als Mutter macht sich Lucy nicht nur Gedanken um die Zukunft ihrer eigenen Tochter, sondern auch um die von anderen Mädchen. Sie erklärt, dass es afrikanische Mädchen nicht einfach haben, da das Bild der Frau immer noch veraltet ist. Deshalb wünscht Lucy sich, dass Mädchen ihre Stimme nutzen und keine Angst haben. „Wenn wir diese Generation unterstützen und sie ihre Ressourcen wirklich nutzen und mit anderen teilen, dann haben wir was Gutes gemacht.“

    Man merkt deutlich, dass das Thema sie sehr beschäftigt. Gerade in der Pandemie hat Tumaini e. V. miterlebt, was Gewalt und Depressionen mit Mädchen und jungen Frauen macht. „Corona hat bestätigt, dass in Hamburg etwas stattfinden muss, für Afrikanerinnen, allgemein für Mädchen und Frauen! Abhängigkeit und das Frauenbild sind große Probleme!“Jüngere Eltern unternehmen bereits etwas für das Selbstbewusstsein ihrer Kinder, dennoch ist es schwer. „Und dazu kommt noch die Behinderung. Da können Sie sich mal vorstellen, wie das ist.“

    Ich bin was wert!“

    Das Thema Mädchen und junge Frauen ist bei Tumaini e. V. sehr präsent. Der Verein plant ein spezielles Programm für Mädchen und junge Frauen mit Migrationshintergrund, das sie selbständiger und unabhängiger machen soll – insbesondere finanziell unabhängig. „Wir möchten diese Frauen ermutigen selbstständig zu sein und ihr Frauenbild stärken, um zu sagen: „Ich bin was wert“. Ich kann was auf den Tisch bringen. Ich warte nicht bis der Tisch gedeckt ist, sondern ich denke mit und liefere.“

    Sie merkt, dass Migrant*innen oft keine große Auswahl auf dem Arbeitsmarkt haben. „Sie wissen schon durch die Schule wohin die Reise geht. Und das muss nicht sein. Das wollen wir Mädchen klar machen.“ Eine weitere Idee: Vorbilder schaffen. Dazu sollen Menschen, die ihren Weg geschafft haben, persönlich mit den Mädchen und jungen Frauen in Kontakt treten.

    Aufwachsen mit der Zeit

    Lucy  ist mit ganzem Herzen dabei. Auch auf die Frage „Wie sollten Mädchen und Jungen in Deutschland in Zukunft aufwachsen?“ findet sie klare Worte: „Die Jungen und Mädchen sollen mit der Zeit wachsen. Geschichten sind da, um zu begleiten und nicht zu vergessen, woher man kommt, aber wir sollen im Jetzt leben. Das Thema Gleichberechtigung zwischen Jungen und Mädchen muss noch intensiviert werden. Es macht keinen Sinn eine Denkweise von damals zu haben, weil man lebt heute .“ Dafür braucht es laut Lucy eine gesunde Gesellschaft, in der jeder eine Chance und eine Möglichkeit hat sich zu entwickeln und etwas zu erreichen.

    Tumaini bedeutet auf deutsch „Hoffnung“. „2012 wurde mir Hoffnung geschenkt und diese Hoffnung schenke ich anderen.“ Ob Lucy eigentlich weiß, dass sie selbst ein ganz großes Vorbild ist?

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  • Die Zukunft, die wir uns erträumen

    In diesem Interview spricht Maniza Khalid über ihr feministisches Engagement für LGBTQIA+ Muslim*innen und das in diesem Rahmen entstandene Buch “Queer Muslim Futures“.  Es geht auch um den Traum ihrer Zukunft. Die 24-jährige lebt in Delhi, Indien und ist Schriftstellerin. Das Gespräch führt Jenny Fleischmann vom kohero Magazin.

    Wer bist du? Wie würdest du dich selbst beschreiben?

    Maniza Khalid: Ich bin Maniza und fühle mich generell irgendwie fehl am Platz – egal, wo ich bin, es könnte ein Café sein, das mir gefällt, oder mein eigenes Bett. Ich flackere zwischen dieser und anderen Welten hin und her. Um mich in dieser Realitätsebene zu erden, trinke ich exzessiv Tee und Kaffee. Außerdem bin ich nicht-binär (she/they) und bisexuell.

    Wie geht es dir im Moment? Was geht dir gerade durch den Kopf?

     Maniza Khalid: Wie zu erwarten, trinke ich an diesem regnerischen Morgen in Delhi einen starken Darjeeling. Ich denke daran, dass ich noch Katzentrockenfutter für eine süße kleine rote Katze bestellen sollte, die gerade begonnen hat, sich an mich zu schmiegen. Ich erinnere mich an meine Kindheit mit Katzen und versuche, meine Liebe zu Katzen von meinem Unbehagen zu trennen, mich überhaupt an irgendetwas aus meinen jüngeren Tagen zu erinnern.

    Was bedeutet Feminismus für dich?

    Maniza Khalid: Ich würde sagen, es ist eine politische Bewegung für mich. Ich versuche, so inklusiv und achtsam für Überschneidungen zu sein, wie ich kann. Meine Perspektive ist geprägt von der akademischen Welt in Indien und von literarischen Theorien, die sich mit Feminismen auseinandersetzen. Ich verwende hier den Plural, weil es verschiedene Wellen und kulturspezifische Bewegungen des Feminismus gibt. 

    Wie bist du in Feminismus involviert?

    Maniza Khalid: Ich denke, alle Menschen sind in den Feminismus involviert – Personen verkörpern entweder eine bestimmte Art von Feminismus oder sie lehnen diesen ab, weil sie an der falschen Vorstellung festhalten, dass es beim Feminismus um Männer-Bashing geht. Irgendwie mag ich das Klischee des “wütenden, haarigen, männerhassenden Dykes“ aber auch sehr. Ein bisschen leichtherzige Misandrie hat cis-Männern noch nie geschadet.

    Ich fühle mich wohler mit intersektionalen Gruppen, weil es wichtig ist, andere Überschneidungen der Identität mit einzubeziehen, um die Komplexität sozialer Schichtungen zu erfassen. Überschneidungen der Identität finden sich zum Beispiel in Gruppen, die sich auf Dalit-Feminismus oder muslimischen Feminismus gründen, da man als Dalit/Muslim benachteiligt wird. Ich bin mir sicher, dass ein transinklusiver Queer-Feminismus eine andere Richtung ist als die, die von Bollywood vermarktet wird. Unsere Feminismen sind größtenteils von unserer eigenen Identität geprägt, deshalb sind Dialoge zwischen unterschiedlichen Ausrichtungen wichtig. Ich lese, recherchiere und schreibe gerne. Ich teile Rezensionen von Filmen, Kunst und Poesie. Ohne bewusste Anstrengung bin ich in den Feminismus involviert, indem ich mich kritisch mit allem auseinandersetze, was mir begegnet.

    Worum geht es beim “Queer Muslim Project“ und wie seid ihr organisiert?

     Maniza Khalid: Das Queer Muslim Project ist ein von Jugendlichen geführtes Online-Netzwerk von LGBTQIA+ Muslim*innen, mit einer globalen Community von über 22.000 Menschen, Tendenz steigend. Wir arbeiten mit LGBTQIA+ Muslim*innen zusammen, um Angst, Stigma und Gewalt, durch bestärkende Kunstpraktiken, digitales Storytelling, inklusiven glaubensbasierten Dialog, die Identifizierung geeigneter rechtlicher und psychischer Unterstützung und durch die Schaffung von sicheren Online- und Offline-Community-Räumen, zu begegnen.

    Derzeit findet der Großteil unserer Arbeit aufgrund von COVID19 online statt. Im Moment sind wir ein kleines Team, das seine ganze Zeit und Energie Online-Veranstaltungen, Publikationen, Dokumentationen und Kooperationen widmet.

    Wie ist das Buch „Queer Muslim Futures“ entstanden und worum geht es in dem Buch?

     Maniza Khalid:   „Queer Muslim Futures“ ist inspiriert von einer Workshop-Reihe, die wir in Zusammenarbeit mit dem Fearless Collective organisiert haben. Diese Workshops waren eine Art Traumsammlung.  In diesen haben wir Gedichte, Selbstporträts zukünftiger queerer muslimischer Avatare, Schriften, Gedanken, ein in der Zukunft geschriebenes Tagebuch, Mythologien, Rituale und vieles mehr geschaffen. Diese bekräftigen und definieren die sichere und heilige Zukunft, welche die Teilnehmer*innen erschaffen und bewohnen wollen.

    Unsere Publikation ist inspiriert von den Gesprächen und Diskursen, in die sich die Teilnehmenden des Workshops vertieft haben. Sie enthält ausgewählte Selbstporträts und Schriften, die während der Dauer des Workshops entstanden sind. Außerdem enthält sie visuelle Kunst, spekulative Fiktion und Essays, die von den Ereignissen des Workshops und dem übergeordneten Thema der Queer Muslim Futures inspiriert sind. Daher fungiert es als ein historisches Archiv, eine Aufzeichnung queer-muslimischer Kunst; gleichzeitig ist es auch eine frei zugängliche Ressource für diejenigen, die sich für die Lektüre von Queer Muslimhood, Futurismus und verwandten Politiken interessieren.

    Wie hat sich der Entstehungsprozess für dich angefühlt?

    Manihza Khalid:  Reya Ahmed und ich arbeiteten zusammen, um den Konzepten, die uns während des Workshops interessierten, Leben einzuhauchen. Während des Workshops dokumentierte sie Stichwörter durch visuelle Kunst und ich durchs Schreiben. Uns faszinierte zum Beispiel die imaginierte Identität der Queeren Nani, denn das Privileg, als queere Person alt zu werden, ist für die meisten LGBTQIA+ Menschen ein Traum. Also wurde ihr eine Geschichte und ein Porträt gegeben. Sie ist asexuell, Single und hat ein kandiertes Haus, um die Vorstellung von der unfreundlichen Hexe, die allein im Wald lebt, aufzubrechen. 

    Wir waren fasziniert von der “A Map of Shared Dreams“, die Reya live zeichnete, während die Teilnehmenden Hinweise gaben.

    Maniza Khalid: Wir erkundeten das Potenzial unserer Notizen aus jeder Sitzung, da es so viele wunderbare Ideen gab, die noch erforscht werden mussten. Rafiul, der die Workshops mit leitete, redigierte und kuratierte das Buch. Wir arbeiteten als Team zusammen, um das Buch in mehreren Runden zu verändern.

    Wie sieht deine erträumte Zukunft aus?

    Maniza Khalid: In meiner erträumten Zukunft fühle ich mich nicht schuldig für die Person, zu der ich heranwachse. Ich bin mit all dem befreundet, wovor ich einst Angst hatte. In dieser Welt der sauberen Luft und des sauberen Wassers sind die bürokratischen Abläufe transparent. Ich romantisiere nicht die Verheimlichung, weil ich nicht mehr im Verborgenen lebe. Wie alle Träumer*innen stelle ich mir ein Zuhause vor, das ich mein Eigen nennen kann. Es gibt überall große Schönheit und ich fühle mich dessen würdig. Ich stehe nicht unter Leistungsdruck und muss mir meinen Wert nicht „verdienen“. Ich bin dankbar und bete zu dem, was ich liebe, in meiner eigenen Sprache.  

     

    Dieser Artikel wurde auch auf Englisch veröffentlicht.

    https://kohero-magazin.com/my-dreamed-future/

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  • Was heißt eigentlich Feminismus?

    kohero: Am 29. November 2020 startete eure Social-Media-Kampagne #feminisumusistdieantwort in Deutschland. Drei Schwesterstiftungen aus den Ländern Georgien, Armenien und der Ukraine sind an der Kampagne beteiligt. Wie kam es zu dieser besonderen Zusammenarbeit? Und warum habt ihr euch für eine Social-Media-Kampagne entschieden?

    R. Bartusch: Die Idee, eine Social-Media-Kampagne zu machen, kam von unseren Partnerinnen. Sie haben erzählt, dass Feminismus bei ihnen einen unglaublich schlechten Ruf hat – auch wegen der Kirche. Die orthodoxe Kirche ist in den Ländern noch wesentlich präsenter und stärker als die evangelische oder katholische Kirche in Deutschland. Sie sagen „Feministinnen zerstören die Familien“ oder „Dass Feminismus was Westliches ist“.

    Westliches ist immer sehr negativ konnotiert. Alles was aus dem Westen kommt, zerstört die eine eigene georgische oder armenische Kultur. Sie sagen aber gleichzeitig, dass es nicht so ist als würden sich Frauen nicht emanzipieren. Oder als gäbe es nicht auch LGBT-Menschen in den Ländern, die dafür arbeiten, sich durchaus sehr georgisch oder armenisch fühlen und die traditionellen Werte leben wollen. Unsere Partnerinnen meinten, dass wir da mal was machen müssen, damit die Leute verstehen, dass das überhaupt nichts Westliches ist und gegen die ureigene Kultur geht.

    Für Social Media haben wir uns entschieden, weil wir dort diese Zielgruppe leichter erreichen. 

    Der Hashtag #feminismusistdieantwort ist gar nicht so in den anderen Ländern vorhanden. Wir haben zwar einen Look. Aber die Inhalte sind in jedem Land anders.

    Anmerkung: Armenien startet ihre Kampagne aufgrund des Konflikts in der Region Bergkarabach erst am diesjährigen internationalen Frauentag, am 8. März 2021.

    kohero: In einem eurer Newslettern berichtet ihr davon, dass die Frauen aus Armenien und Georgien gegen EINE transnationale Kampagne und für VIER nationale Kampagnen waren. Was waren die Gründe dafür? Und war euch das vorher bewusst?

    R. Bartusch: Nein. Die Leiterin, meine Kollegin Katrin Wolf, hat das ganze Projekt so entwickelt, dass es eine transnationale Kampagne wird. Als sie das Konzept mit den Schwesterstiftungen geteilt hat, hat sie gemerkt: „Okay, das könnte vielleicht nicht klappen.“

    Ein Beispiel, was es sehr deutlich gemacht hat, war die Frage: „Wie redet man über Kirche?“ Ich finde, dass die Kirchen gar nicht mehr so eine Meinungsmacht in Deutschland haben. Die sind für mich gar nicht mehr so präsent. Ich kann über die Kirche anders reden, ich kann sie theoretisch in manchen Punkten sogar als Verbündeten sehen, wenn es um bestimmte Fragestellungen gibt. Es gibt lesbische Pastorinnen, die lesbische Paare trauen. 

    Das haben wir so von der deutschen Seite ins Spiel geworfen und dann kam aus Georgien: Die Kirche ist der Feind! Die Kirche geht gar nicht! Wisst ihr denn, wie die über uns reden? Für die sind wir der Antichrist! Die verteufeln uns! Es gab keine Vorstellung davon, wie die Themen Feminismus und Kirche zusammenkommen können. So wie es in Deutschland sicherlich nicht flächendeckend ist, aber schon möglich. Da war für mich ganz klar, wir kommen nicht zusammen. Das ist wirklich erst im Laufe dieser Workshops so richtig raus gekommen. 

    Ein anderer Punkt war das Westliche, weil wir als Deutsche in der Suppe drin sind und wir einfach die Geldgeber sind. In den anderen Ländern hätte man darauf hingewiesen, dass die Kampagne oder eine ähnliche Kampagne in anderen Ländern stattfindet. Sie wollten nicht den Anschein haben, dass es etwas ist, das aus Deutschland, einem westlichen Land kommt. Und sie, die Kampagne, nur weiter verbreiten. Auch wenn es jetzt so gar nicht gewesen wäre. Es wäre ja trotzdem eine Gemeinschaftsarbeit gewesen. Aber wirklich sagen zu können, das sind unsere georgischen, ukrainischen oder armenischen Inhalte war ihnen schon wichtig. 

    Kohero: Was sind für dich persönlich Fragen, die mit dem Hashtag #feminismusistdieantwort beantwortet werden?

    R. Bartusch: (lacht) Ich muss jetzt mein Jeopardy! Beantworten? Für mich sind das ganz viele Fragen. Für mich ganz persönlich ist es die Frage „Wie möchte ich mein Leben leben?“ Ich war die Jahrgangsemanze und fand das nicht so schön. Meine Eltern haben mich zu einer selbstständig denkenden und auch irgendwie kleinen Feministin erzogen, womit ich damals gehadert habe. Natürlich wollte ich auch, dass mich mal ein Junge toll findet. Das hat manchmal nicht so funktioniert, wenn man zu doll eine eigene Meinung hatte. Für mich hat sich die Frage „Wie möchte ich mein Leben leben?“ beantwortet, als ich feststellte, dass es aber okay ist und ich alles Mögliche sein kann. 

    Das Bild von Feministinnen ist ja meistens eine Klischee-Vorstellung von der Emanze. Sie ist auf jeden Fall humorlos und trägt nie Make-up. Das tue ich auch nicht. Aber ich habe lange Haare und trage mit Hingabe kurze Röcke. Und das ist okay. Feminismus heißt für mich nicht, es gibt nur eine bestimmte Art und Weise mein Leben zu leben. Sondern eben gerade, dass ich aus der Vielzahl an Optionen, das für mich am besten passende Leben zusammenstelle.

    Ich wollte ein Kind, aber es ist vollkommen okay, wenn sich eine andere Frau entscheidet, dass sie kein Kind möchte. Ich will versuchen zu arbeiten und ein Kind zu haben. Aber es ist genauso okay, wenn eine Frau sagt, sie möchte so lang ihre Kinder klein sind, nur Hausfrau und Mutter sein. Es gibt eigentlich keine unemanzipierte Wahl, auch wenn sie vielleicht traditionell ist wie z. B. Hausfrau und Mutter. So lange es wirklich aus einer selbstbestimmten Position heraus geschieht, ist es Feminismus. Als Gesellschaft oder Individuum müssen wir noch wahnsinnig viele Sachen umlernen. Aber das war für mich die Antwort.

    Ich merke gerade warum das nicht funktioniert hat, weil das nicht in einem kurzen Post zu beantworten ist.

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    kohero: Wann und wie kamst du eigentlich mit dem Thema Feminismus in Kontakt?

    R. Bartusch: Bei uns zu Hause gab es die Emma. Und ich bin tatsächlich so mit 16/17 durch meine Eltern mit dem Thema in Berührung gekommen. Ich bin ein Ostkind, was im Westen aufgewachsen ist. Ich hatte eine arbeitende Mutter. Hier auf dem Land war das überhaupt nicht normal – eine Vollzeit arbeitende Mutter und einen Vater, der arbeitssuchend zu Hause sitzt. Also wirklich in verdrehten Rollen. Wenn mein Vater Arbeit hatte, waren ja beide außer Haus. Das war auch speziell. Und einfach zu merken: Aha, das ist gar nicht der Standard.

    Meine Mutter hat sich dann stark mit dem Thema auseinander gesetzt, weil sie selbst in ihrer Arbeit auf einmal so Sachen gesagt bekommen hat, die hat sie im Osten nie gehört wie: Oh, sie haben schon Kinder? Sie haben schon so alte Kinder?“ Meine Mutter hat mich mit 20 bekommen. Das war im Osten total normal zu der Zeit. Damit hatte sie mit 36 eine 16-jährige Tochter. Ich habe mein Kind mit 36 bekommen und bin total typisch.

    Das hat durch meine Eltern so angefangen und ist schleichend reingekommen. Es gab sicherlich Zeiten, in denen ich das nicht als erstes über mich erzählt hätte, aber es war immer irgendwie ein Thema. Ich habe in Berlin Literatur studiert und habe auch da immer irgendwie mir Frauen oder feministische Themen ausgesucht ohne eine große Absicht zu verfolgen. Seitdem ich ins Berufsleben getreten bin und eher durch Zufall bei Terre de Femmes angefangen habe, würde ich sagen: „Ja, ich bin Feministin.“

    Kohero: Sind für dich die Themen Frauen, Frauenrecht und Feminismus denn deutlich erkennbar in den sozialen Medien? Oder muss da noch mehr gemacht werden?

    R.Bartusch: Das ist ein Bubble-Problem. Wenn ich jetzt den Twitter-Account von filia aufmache, dann sind sie sehr präsent. Aber das hat was damit zu tun, wem ich folge. Ich folge vor allem Menschen aus der Frauenrechtswelt, generell aus der Menschenrechtssphäre, anderen Organisationen oder einzelnen Aktivistinnen. Ich folge auch von den Medien her eher progressiven als konservativen Medien. Die sozialen Medien sind ja so gesehen immer kuratiert.

    Wenn ich sehe, wie es in anderen Bubbles aussieht, merke ich, dass die Themen aber überhaupt nicht präsent sind. Ich würde sagen, dass Feminismus und Frauenrechte in den sozialen Medien genau so wie in der analogen Welt behandelt werden. Es ist halt kein großes Thema, was schockierend ist, wenn man bedenkt, dass es 50 % der Weltbevölkerung angeht.

    kohero: Was hältst du von Beauty-Bloggerinnen, Insta-Models und dem Bild, das viele Frauen und auch Mädchen von sich in den sozialen Medien vermitteln? 

    R. Bartusch: Kurzer Disclaimer: Ich habe keine Ahnung von Beautyblogger*innen. Aber das wenige, was ich mitbekomme, bekomme ich über unseren Kooperationspartner Benefits Cosmetics mit. Benefits Cosmetics ist sehr pink und das ist okay. Ich bin immer vorsichtig Make-up grundsätzlich als antifeministisch zu bezeichnen, denn das ist es nicht.

    Wie sich Mädchen und Frauen darstellen, ist problematisch, wenn ich das vorsichtig ausdrücken darf. Also immer noch und das ist nicht nur auf Instagram so, sondern überall in den Medien. Letztendlich folgen sie weiterhin dem patriarchalischem Diktat. Das sagt, dass unser Äußeres wesentlich entscheidender ist als das, was wir im Kopf haben. Was ich schade finde, ist, dass es anscheinend immer mehr auf Jungs übergreift. Da habe ich den Eindruck, dass es auch bei denen einen enormen Druck gibt.

    kohero: Welche Vorteile siehst du in den sozialen Medien gegenüber z. B. analogen Veranstaltungen? 

    R.Bartusch: Es ist tatsächlich die Reichweite. In den sozialen Medien ist es leichter, in den Austausch zu gehen, weil man keine lange Mail schreiben muss. Man kann einfach was unter einem Post schreiben und ich kann darauf reagieren. Es hat ein gewisses Gefühl von Unmittelbarkeit.

    kohero: Und umgekehrt: Welche Gefahren siehst du?

    R. Bartusch: Ich habe letztens einen Beitrag von einem Youtuber gesehen zum Thema „Wie soziale Medien sind und was sie für die Vereinsamung unser Gesellschaft bedeuten“. Sein Interviewpartner meinte, wenn die sozialen Medien die erste Station in der Fahrt sind, dann ist das gut. Wenn sie genutzt werden, um sich kennenzulernen, um dann irgendwann ins Offline zu gehen und sich dort begegnet, dann ist das gut. Sie sollten niemals die letzte Station auf der Fahrt sein. Als Organisation ist es nicht so wichtig, Leute draußen zu treffen, aber für uns ist die Unterstützung wichtig. Ein Like auf Facebook ist toll, aber dieser Like muss auch irgendwann zur Spende werden.

    kohero: Habt ihr während eurer Kampagne oder bereits vorher Erfahrung mit Hatern gemacht? Wie geht ihr damit um? 

    R.Bartusch: Filia selbst hat gar keine Probleme mit Hatern. Was ich fast schlecht finde, weil das heißt, dass wir nur in unserem netten kleinen Unterstützer*innenkokon sind.

    kohero: Folgst du Accounts oder kennst du Websiten, die sich mit dem Thema Frauen auseinandersetzen und jeder kennen sollte?

    R. Bartusch: Da würde ich natürlich sagen unseren tollen Projektpartnerinnen Paula Panke  und Flamingo e. V.  Wer ganz tolle Onlinearbeit macht ist Pinkstinks 

    Das ist fast eher was Privates, aber Antje Schrupp. Ich folge ihr privat auf Facebook und Twitter. Sie ist Journalistin und Publizistin und ganz spannend, weil sie sich auch mit Feminismus und Theologie beschäftigt. Sie postet eine gute Mischung aus „Arbeitsthemen“ und Privatem. Also sie postet auch mal ihr Frühstücksmüsli, was ganz amüsant ist.

    Eine Sache, die ich auch toll finde, das ist wieder was Kirchliches, das ist Anders Amen. Das ist ein Youtube-Kanal von einem lesbischen Pastorenpaar, die in einer niedersächsischen Einöde Pastorinnen sind. Sie haben vor allem Videos zu LGBT in der evangelisch Kirche.

     

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  • Frauen durch Literatur stärken – Bibliotheken im ländlichen Afghanistan

    Zur Person

    Homaira kam 2012 nach Deutschland. Heute lebt sie in Berlin und Greifswald, wo sie Psychologie studiert. In Afghanistan arbeitete sie im Medienbereich. Schon mit 12 Jahren als Moderatorin im Kinderfernsehen zu sehen, wuchs Homaira im Fernsehen auf und machte Karriere bis zu den Hauptnachrichten. Weitere Stationen waren die Pressebüros des Parlaments und des Präsidenten. Persönlich geprägt wurde sie besonders durch ihre Mutter, die alleinerziehend war und dagegen kämpfte, dass ihre fünf Töchter jung verheiratet wurden. „Das Leben meiner Mutter ist für mich wie ein Buch“, sagt Homaira

    Du setzt dich seit langem für Frauenrechte ein. Was motiviert dich dazu?

    Die Ungerechtigkeit, die Frauen jeden Tag in Afghanistan erleben. Wenn ich sehe, dass Mädchen schlechtere Bildungschancen als Jungen bzw. gar kein Recht auf Bildung haben, wenn ich höre, dass unser Nachbar seine 16-jährige Tochter verheiratet hat, wenn ich Frauen mit blauen Augen und gebrochenen Nasen sehe, ist es für mich selbstverständlich, mich für Frauenrechte einzusetzen. Ich werde oft gefragt, warum ich das mache. Wenn man Afghanistan kennt, aber auch wenn man sich die Situation von Frauen auf der ganzen Welt anschaut, erübrigt sich diese Frage.

    Du hast Bibliotheken in ländlichen Regionen Afghanistans gegründet. Wieso hast du diese Gegend gewählt?

    Ich habe in den Dörfern mal Frauen getroffen, die zur Schule gegangen sind, sind gebildet und jetzt sind Sie in einer ungewollte Ehe und leben  an einem Ort, an dem es nichts gibt. Man blickt von einem Berg zum anderen und sieht nur Wohnhäuser. Ich habe eine Frau gefragt, was sie in ihrer Freizeit macht. Sie sagte, sie liest gerne Bücher. Als ich nachgefragt habe, was sie gerne liest, hat sie erzählt, dass sie den gleichen Roman immer wieder liest, weil sie nur dieses eine Buch hat. Ich war schockiert. 

    Im Sommer machen viele Leute Ausflüge in die Region, aber niemand fragt sich, wie die Menschen in den Bergen leben. Die Gegend bekommt weder von der Politik Afghanistans noch von internationalen Partnern Aufmerksamkeit. Das war der Auslöser, diese Gegend zu wählen. 2019 habe ich die Bibliothek im Hindukusch-Gebirge gegründet. Mittlerweile gibt es eine weitere.

    Was genau glaubst du, kannst du mit den Bibliotheken erreichen?

    Als ich die erste Bibliothek aufbauen wollte, gab es viele Männer, die dagegen waren. Viele haben mir gesagt: „Dorffrauen haben viel zu tun. Sie müssen auf die Kinder aufpassen, putzen, die Tiere füttern. Sie haben keine Zeit und Lust zum Lesen.“ Viele Frauen glauben mittlerweile selbst, dass sie nur für diese Aufgaben erschaffen wurden. Es gibt aber auch Frauen, die anders denken. Allerdings unterstützt sie niemand. Genau das möchte ich mit meiner Bibliothek ändern.

    Ich möchte den Frauen in den Dörfern die Möglichkeit geben, zu lesen und nachzudenken. Mädchen dürfen oft nach der sechsten Klasse nicht mehr in die Schule gehen, weil der Unterricht gemeinsam mit Jungs stattfindet – geschweige denn zur Universität. Ich biete einen Raum an, der Weiterbildung ermöglicht und gleichzeitig Sicherheit gibt.

    Welche Rückmeldung bekommst du aus den Dörfern? Wie werden die Bibliotheken genutzt?

    Seit die Bibliothek gebaut worden ist, bekomme ich viele Anrufe mit positiver Rückmeldung und auch Männer schreiben mir, wie gerne ihre Kinder die Bibliothek nutzen. Das gibt mir sehr viel Energie. Eine Frau hat mir erzählt, dass ihre Schwester 15 Bücher ausgeliehen hat. Sie hat sie mitgenommen, als sie mit ihrem Mann in ein anderes Dorf gezogen ist. Die Frau meinte: „Mach dir keine Sorgen, wir bringen die Bücher zurück.“ Ich dachte nur: „Ich mach mir keine Sorgen. Es macht mich so glücklich, dass diese Frauen die Bücher nutzen.“

    Welche weiteren Pläne gibt es?

    Ich habe vor, weitere Bibliotheken zu bauen, weil ich so viele Anfragen kriege. Da ist unglaublich. Die Menschen haben mich am Anfang so demotiviert, aber jetzt ist die Nachfrage sehr hoch. Auf der facebook-Seite der Bibliothek bekomme ich sehr viele Nachrichten. Nächstes Jahr möchte ich eine weitere Bibliothek in einem Dorf bauen. Ich hoffe, dass ich dafür Unterstützung bekomme. 

    Wie organisierst du dein Projekt von Deutschland aus?

    Ich bin aktuell dabei, ein System aufzubauen, durch das ich Freiwillige vor Ort habe, die sich um die Organisation kümmern. Ein solches Team zu bilden, ist nicht so einfach, weil Freiwilligenarbeit in Afghanistan nicht so stark verankert ist wie hier. Trotzdem versuche ich es.

    Wie hast du das Projekt bisher finanziert?

    Mit meinen eigenen Mitteln. In der ersten Bibliothek standen teilweise meine eigenen Bücher. Mein Bruder hat viel beigesteuert. Ungefähr 200 Bücher habe ich am Anfang gespendet bekommen.

    Was glaubst du, welche Bedeutung Literatur und Bücher für den Feminismus haben?

    Literatur und Sprache hatten in der Geschichte immer eine große Bedeutung für die Rollen- und Identitätsbildung. Daher ist es sehr wichtig, dass es mehr feministische Literatur bzw. weibliche Schriftstellerinnen gibt. Besonders in einem Land wie Afghanistan, wo Frauen immer noch damit aufwachsen, sich als das „zweite Geschlecht“ zu sehen, kann feministische Literatur helfen, diese Gedanken zu verändern, sich selbst neu zu definieren und gegen das Patriarchat zu kämpfen.

    Heute gibt es das Internet, in dem man viel nachlesen kann. Ist die Bedeutung von Büchern trotzdem noch so groß?

    Die Rolle des Internets kann man natürlich nicht leugnen, aber nicht alle haben Zugang dazu. In den afghanischen Dörfern gibt es kein Internet und keinen Strom. Für mich sind Bücher außerdem immer noch vertrauenswürdiger im Vergleich zum Googlen im Netz. Internet und Bibliotheken haben beide ihre Vor- und Nachteile. 

    Was bedeutet Lesen für dich persönlich? Hast du ein Lieblingsbuch, das dich geprägt hat?

    Das erste Buch, das mich zum Nachdenken gebracht hat war „Das unnütze Geschlecht“ von Oriana Fallaci. Was mich aber noch mehr geprägt hat, ist das Leben meine Mutter. Ihr Leben ist wie ein Buch für mich. Sie war eine Revolutionärin. 

    Sie war alleinerziehend und hatte fünf Töchter. Wenn sie sich nicht für uns eingesetzt hätte, wären meine Schwestern und ich wahrscheinlich als Kinder verheiratet worden. Die Bibliothek habe ich deswegen auch nach meiner Mutter benannt.

    Du hast gesagt, für dich ist es keine Frage, dich für Frauen einzusetzen. Denn überall auf der Welt sind Frauen benachteiligt. Die Probleme in Afghanistan hast du schon ein bisschen geschildert. Wie erlebst du die Situation von Frauen und den Feminismus hier in Deutschland?

    Frauen sind überall benachteiligt, aber auf unterschiedliche Art und Weise. Während Feministinnen in Afghanistan dafür kämpfen, als Frau frei leben zu dürfen und nicht ermordet zu werden, kämpfen Frauen in Deutschland für Führungsposition und Lohngleichheit oder gegen Sexismus in den Medien. Alle Beispiele zeigen, dass Frau-sein nirgendwo einfach ist. Wir müssen eben für ganz unterschiedliche Sachen kämpfen.

    Aber es gibt auch Gemeinsamkeiten. Ich bin an einem Projekt beteiligt, in dem wir Mädchen in Schulen auf andere Berufe aufmerksam machen als die, die sie bisher meistens gewählt haben, also Frisörin, Krankenschwester etc. Wir wollen ihnen anhand von Beispielen zeigen, dass sie auch Pilotin oder Ingenieurin werden können. Das ist in Afghanistan ähnlich. Dort denken die Mädchen auch, sie sollten Arzthelferin oder Lehrerin werden. 

    In Deutschland ist die Sprache immer wieder in der Diskussion. Gendern ist ein wichtiger Teil der feministischen Bewegung. Ich frage mich oft, wie das in anderen Sprachen und Ländern ist.

    Unsere Literatur ist voll von Frauenfeindlichkeit. So wie es die Werke vieler Philosophen auch hier sind. Die afghanische Literatur ist voll von Klischees gegen Frauen. Es gibt eine kleine Bewegung, die das ändern möchte, aber die Proteste sind nicht so groß wie hier. Das Gender-Sternchen und das dritte Geschlecht spielen im afghanischen Feminismus noch keine Rolle. Im Moment kämpfen wir dafür, dass die Klischees in der Literatur erst einmal sichtbar werden, um zu zeigen, dass sie nicht der Wahrheit entsprechen. Es geht meistens darum, dagegen zu kämpfen, dass Frauen als „das zweite Geschlecht“ angesehen werden.

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  • Islamischer Feminismus – Glaube als Bereicherung 

    Was hat Sie zunächst dazu bewegt, sich politisch zu engagieren?

    Am Anfang war es vor allem, dass mir aufgefallen ist, dass es eine starke Diskrepanz zwischen dem gibt, was im gesellschaftlichen Diskurs verhandelt wird, wenn es um den Islam geht, und dem was ich wahrnehme in meiner persönlichen Lebensrealität und der muslimischen Community. Diese Diskrepanz war eklatant.

    Es stört einen, beobachten zu müssen, dass es da teilweise Wissensdefizite gibt. Und dass Menschen, die wenig mit dem Islam zu tun haben, über den Islam schreiben ohne mit Muslimen gesprochen zu haben. Ich habe dieses Problem gesehen und daraus ist ein Bedürfnis entstanden, eine andere Perspektive in den Diskurs einzubringen. Um zu zeigen, wie vielschichtig die Realität ist und wie abgehoben und einseitig die Debatten sind. 

    Was bedeutet Ihnen dabei Feminismus? 

    So wie ich den Feminismus verstehe, geht es um Gerechtigkeit für alle. Der Feminismus ist für mich der Einsatz für eine gerechtere Welt und das deckt sich auch ganz stark mit meinem Verständnis vom Islam. Der Islam und auch der Koran betonen immer wieder, dass Gerechtigkeit das oberste Prinzip des Handels sein muss.

    Nichtsdestotrotz scheint es für viele erstmal ein widersprüchliches Bild zu sein, dass man Muslima und Feministin ist. Wie passt das und warum denken Sie, ist das für viele noch so abwegig? 

    Es gibt tatsächlich einen Ist-Zustand in Teilen der sogenannten islamischen Welt, wo es ganz real eine Diskriminierung von Frauen gibt. Diese Diskriminierung, die teilweise in muslimischen Ländern stattfindet, wird dann gleichgesetzt mit der Weltreligion des Islams. Das was in der Praxis an Ungerechtigkeit passiert, wird sofort mit dem Islam als Lehre verknüpft. Es gibt aber einen Unterschied zwischen dem, was Muslime tun und dem was eine Weltreligion als Werte und Norme bereithält.

    Wenn einem das klar geworden ist, muss man sich die Quellen des Islams und die frühislamische Geschichte anschauen. Da wird man schnell feststellen, dass, als der Islam entstanden ist, dieser eine sehr Frauen empowernde Religion war. Er ist zu einem Zeitpunkt entstanden, zu dem Frauen unterdrückt worden sind. In diesem Kontext hat der Koran immer wieder wertgelegt auf Frauenrechte, wie das Recht auf Bildung und vieles mehr. Diese waren eine soziale Revolution, die mit dem Islam gekommen ist. Mit diesem Wissen versteht man, warum der Islam und Feminismus etwas miteinander zutun haben. 

    Glauben Sie, dass es im Islam eine Veränderung braucht, um diesem Bild des Fortschritts immer noch zu entsprechen?

    Ja und das ist das große Problem. Wir haben teilweise innerhalb des Islams eine anachronistische Entwicklung. Als der Islam entstanden ist, war dieser eine sehr progressive Religion. Dass Frauenrechte mit Füßen getreten werden und auch eine Auslegung des Islams immer weiter Verbreitung findet, die frauenfeindlich ist, zeigt, dass es heute teilweise Muslime gibt, die sich genau in die gegenläufige Richtung bewegen.

    Das macht es schwierig, weil es dazu führt, dass wir uns genau anschauen müssen, was es für unterschiedliche Auslegungen des Islams gibt. Und was Muslime aus den Quellen des Islams machen. Es gibt eben auch den Missbrauch. Das ist ganz klar und das muss man auch thematisieren.

    Das ist unter anderem auch die Aufgabe einer muslimischen Feministin. Sie muss darauf hinweisen, dass im Laufe der Geschichte Männer versucht haben die Religion des Islams für sich zu instrumentalisieren, um Frauen zu unterdrücken und patriarchale Strukturen zu verfestigen.

    Wie trägt der Islam zu einem emanzipierten Frauenbild bei?

    Im Islam ist viel angelegt, was als Außenstehender vielleicht auf den ersten Blick irritieren kann. Wenn man es aber im Alltag praktiziert, empfindet man diese Dinge als sehr empowernd. Es gibt beispielsweise schon immer spezielle Frauenräume. Heute würde man vielleicht von Safe Spaces sprechen. In bestimmten Alltagssituation gibt es also abgeschlossene Räume, zu denen Männer keinen Zugang haben. Im Zuge der Kolonialisierung wurde oft behauptet, dass diese Räume diskriminierend wären. Der eigentliche Hintergrund ist allerdings, dass es eben Räume gibt, in denen Frauen sich ungezwungen und ohne Belästigung verwirklichen können.

    Deswegen muss man auch verstehen, dass diese Form von Safe Spaces im Islam schon sehr früh angelegt war und von Frauen auch als bestärkend empfunden wurde, weil diese ohne sich gegenüber Männern durchsetzen zu müssen, immer ihre Räume hatten. Das haben dann auch Frauenbewegungen in den 70ern in Deutschland wieder entdeckt. Dort ist es als empowernd wahrgenommen worden. Aber immer dann, wenn es zusammen mit dem Islam Erwähnung findet, gilt es als Zeichen der Unterdrückung. Wir sind gar nicht  in der Lage zu sehen, dass diese Dinge für muslimische Frauen etwas Positives darstellen. 

    Warum glauben Sie, wird das Kopftuch auch heute noch von vielen als Symbol der Unterdrückung wahrgenommen? 

    In Paulusbriefen an die Korinther heißt es, dass die christliche Frau ihren Kopf bedecken soll, als Zeichen, dass sie dem Mann unterlegen ist. Da wird diese Assoziation, dass das Tragen eines Kopftuchs etwas mit Unterdrückung zu tun hätte, aufgemacht. Das stammt aber aus dem Christentum und deckt sich mit dem Islam somit nicht. Im Koran ist das Kopftuch als Erkennungszeichen und Schutz für muslimische Frauen beschrieben. 

    Ein weiterer Grund ist aber auch, dass das Kopftuch im Zuge der iranischen Revolution 1979 tatsächlich zu einem politischen Symbol gemacht wurde. Es gab Extremisten, die Religion und Politik verbinden wollten, um politische Interessen durchzusetzen. Und diese haben eben auch das Kopftuch genutzt.

    Feminist*innen auf der ganzen Welt haben dann versucht zu bekämpfen, dass Frauen ein Kopftuch tragen müssen. Denn genau da fängt das Problem an: Wenn es einen staatlichen Zwang gibt, sodass der Mensch nicht frei ist in seiner Religionsausübung. Das deckt sich gar nicht mit dem Islam. Dennoch führen diese Elemente dazu, dass das Kopftuch für manche als Symbol der Unterdrückung gilt. 

    Worin liegt die emanzipatorische Stärke im Tragen eines Kopftuchs?

    Wenn muslimische Frauen das Kopftuch heutzutage tragen, dann wollen Sie sich diese Bedeutung wieder zurückerobern. Sie wollen nicht zulassen, dass Extremisten oder die Fremdwahrnehmung bestimmen, wie sie das Kopftuch für sich definieren. Für muslimische Frauen in Deutschland, wo sie frei wählen können, ob sie eins tragen wollen oder nicht, hat das Kopftuch vor allem eine spirituelle Bedeutung. Es ist ein Kleidungsstück, was zutiefst mit der Beziehung zu Gott verbunden ist.

    Es geht auf keinen Fall darum, dass sich jemand von außen einmischt, sondern im Gegenteil: Man möchte sich freimachen von dem Urteil, was von außen sein könnte. Man findet Freiheit indem man eine Beziehung zu Gott aufbaut und keine Anerkennung mehr von außen braucht, sondern Zufriedenheit in dieser Beziehung erfährt. Genau das kann sehr empowernd sein.

    Islamkritiker*innen bemängeln, dass man vor allem bei jüngeren Mädchen, die ein Kopftuch tragen, nicht von Selbstbestimmung reden könne. Was hätten Sie dem zu entgegnen?  

    Wir sind alle davon beeinflusst wie unsere Eltern uns erziehen. Insofern sind alle, also nicht nur muslimische Mädchen, die ein Kopftuch tragen, beeinflusst. Letztendlich werden junge Frauen, die keine muslimische Erziehung erfahren, auch mit sehr vielen Dingen konfrontiert, die nicht gerade feministisch sind. Denen gestehen wir aber zu, dass sie eine freie Wahl treffen und bei muslimischen Mädchen glauben wir, dass allein die Erziehung der Eltern so viel bewirkt. Meine Erfahrung ist eher das Gegenteil. Oft überlegen muslimische Mädchen beispielsweise das Kopftuch lieber nicht zu tragen, aus Angst vor Ausgrenzung und Diskriminierung. 

    Man muss junge Frauen stärken und zeigen, dass es ein Zeichen von Freiheit sein kann, wenn man sich nicht so verhält, dass es anderen gefällt. Man sollte sich selbst treu bleiben, auch wenn Druck aus egal welcher Richtung kommt.

    Sind muslimische Frauen anderen Formen von Diskriminierung ausgesetzt, als Frauen, die weltliche, also säkulare Feminist*innen sind? 

    Teilweise gibt es natürlich Überschneidungen. Aber es gibt eben auch ganz klare Unterschiede zwischen den Diskriminierungserfahrungen. Sind Menschen von mehreren Formen von Diskriminierung betroffen, dann potenzieren sich diese, weil man z.B. nicht nur als Frau, sondern auch als Schwarze oder wegen seines Kopftuchs unterschiedlichste Diskriminierungserfahrungen macht.

    Neben der Diskriminierung wird aber auch der Feminismus immer anders ausgelegt und verstanden. Es kann sehr spannend sein, wenn man sich anschaut, was eigentlich einen muslimischen und säkularen Feminismus unterscheidet und wo man sich bereichern könnte oder es aber Diskussionsbedarf gibt.

    So weit sind wir aber noch gar nicht. Wir reden immer noch darüber, ob der Islam überhaupt mit dem Feminismus vereinbar ist und im zweiten Schritt reden wir dann über die Diskriminierung. Aber ich fände es auch ganz schön, wenn muslimische Frauen nicht immer nur im Kontext einer Opferrolle diskutiert werden, sondern dass man es auch als Bereicherung empfindet, wenn sie aus neuen Perspektiven Impulse in die Diskussion einbringen.  

    Warum glauben Sie, wird die muslimische Frau so häufig in diese Opferrolle gedrängt? 

    Sie ist Teil einer Minderheit und hat deshalb eine marginalisierte Position inne. Wenn man sie in den Diskurs reinholt, dann oft nicht als eine, der man auf Augenhöhe begegnet. Man gesteht der muslimischen Frau nicht zu, aus einer privilegierten Position als Gleichgestellte mitzureden. Wenn man sie bei Debatten in die Runde reinholt, dann selten auf Grund ihres Sachverstandes oder einer Expertise, sondern leider noch immer zu häufig, weil sie aus der Betroffenenperspektive sprechen soll. Das kann es nicht sein.

    Es ist erst dann eine Selbstverständlichkeit geworden, dass muslimische Frauen Teil dieser Gesellschaft sind, wenn sie selbstverständlich in allen Bereichen mitsprechen und angehört werden.

    Haben Sie selbst mit dieser Reduzierung auf Ihren Betroffenheitsstatus Erfahrungen gemacht? 

    Ja, das ist ganz oft so gewesen. Früher stärker als heute, weil man sich im Laufe der Zeit dagegen wehren kann. Aber gerade Medien haben Interesse daran, von schlimmen Erfahrungen zu hören, weil sich diese gut verkaufen lassen. Das sorgt für Aufmerksamkeit und Klicks. Aber letztendlich hilft es den Betroffenen nicht weiter. Es kann für das Thema sensibilisieren. Aber Betroffene werden nicht auf Augenhöhe angehört, sondern sie sind weiterhin nur Gegenstand der Debatte ohne ein/e Teilnehmer*in zu sein. 

    In welchem Sinne geht es beim islamischen Feminismus also auch um Integration und die soziale Teilhabe der muslimischen Frau? 

    Das ist gerade das paradoxe. Seit Jahrzehnten werden muslimischen Frauen, insbesondere wenn es um das Kopftuch geht, wichtige Positionen auf dem Arbeitsmarkt verweigert. Lange hatten wir beispielsweise die Debatte um das Kopftuch der muslimischen Lehrerin. Da wird dann gesagt, dass das Kopftuch ein Symbol der Unterdrückung sei, sodass Frauen mit Kopftuch nicht Lehrerin werden dürfen. Man merkt gar nicht, dass das ein Widerspruch ist.

    Man wird zum Unterdrücker und macht das Kopftuch zu einem Symbol der Unterdrückung, wenn man einer Frau deshalb den Zugang zum Arbeitsmarkt verwehrt. Dass man dabei um ein feministisches Argument bemüht ist, ist absurd.

    Es geht denjenigen, die gegen das Kopftuch argumentieren, nicht wirklich um die Chancengleichheit von muslimischen Frauen. Das feministische Argument wird vorgeschoben, um einen dahinter liegenden Rassismus unkenntlich zu machen. Diese Taktik muss man aufdecken. Studien zeigen, dass muslimische Frauen sogar bei identischer Bewerbungen viel seltener zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen werden oder letztendlich einen Job bekommen. Da haben wir eine klare, harte Diskriminierung.

    Was muss sich also an der Einstellung unserer Gesellschaft gegenüber der muslimischen Frau noch ändern?

    Da muss leider noch sehr viel passieren. Mit dem 11. September hat eine rückläufige Entwicklung begonnen. Das Erstarken der AfD zeigt, dass wir auch in der Mitte unserer Gesellschaft antimuslimische Ressentiments haben. Rassistische Denkweisen sind tief in der Gesellschaft verankert und es sind auch normale Menschen, die es muslimischen Frauen sehr schwer machen. Meine Hoffnung ist, dass es sich in der jüngeren Generation verbessert, weil man da einfach viel mehr Kontakt mit Muslim*innen und kopftuchtragenden Frauen hat. So merkt man, dass das kein Problem ist.

    Ein Kämpfen für mehr Chancengleichheit in den Strukturen beginnt mit dem Schaffen von Awareness. Vielleicht muss man aber auch über Quoten nachdenken, sodass solche Dinge hoffentlich dazu führen, dass wir da in einigen Generation als Gesellschaft weiter sind. 

     

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