Wir haben hier Hintergrundberichte sowie Kommentare zu den Themenschwerpunkten Idlib, die Lage an der türkisch-griechischen Grenze, den EU-Türkei Deal sowie zu den Umständen auf den griechischen Inseln gesammelt. Dabei ist uns, als Mitgliedern der Redaktion im Flüchtling-Magazin, natürlich bewusst, dass alle diese Themen überaus komplex sind und sich täglich weiterentwickeln. Dennoch möchten wir mit dieser Artikelsammlung einen Anfang machen – vielleicht hilft es euch, unseren Leser*innen, einen Überblick zu gewinnen. Und vielleicht können wir gemeinsam den Gefühlen der Angst, der Überforderung oder sogar der Hilflosigkeit entgegenwirken!
Thema: Idlib, Syrien
Die neuesten Entwicklungen in der Region Idlib in Syrien sind natürlich nur im Kontext des seit 2011 wütenden Syrien-Krieges zu verstehen. Mit einzelnen Artikeln einen vollständigen Überblick über diesen Krieg, die Ursprünge und die täglichen Entwicklungen zu geben, ist für uns nicht machbar… Wir können aber z.B. auf das Buch Der Syrien Krieg: Lösung eines Weltkonflikts von der Autorin und Journalistin Kristin Helberg hinweisen.
Seitdem der EU-Türkei Deal in Kraft getreten ist, stecken viele Geflüchtete in Griechenland fest. Es fehlt allerdings an einer entsprechenden Versorgung, vor allem auf der griechischen Insel Lesbos, wo sich das berüchtigte Flüchtlingscamp Moria befindet.
Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), verschiedene Kommunen sowie die Seebrücke haben nach einer Reise nach Griechenland gemeinsame Forderungen und Lösungsansätze vorgeschlagen: Erklärung von Lesbos (28.02.2020)
In Anbetracht dieser Entwicklungen wiederholen wir, als ehrenamtliche Mitglieder der Redaktion des Flüchtling-Magazins, auch hier nochmals: Hamburg hat Platz und ist in der Lage, Geflüchtete aufzunehmen. Deshalb findet ihr unseren Hashtag #hamburgistbereit auf twitter und demnächst einen weiteren Artikel mit Infos, was ihr tun könnt.
So war er beispielsweise in brasilianischen Flüchtlingslagern in Teresópolis und Petrópolis im Einsatz. 2011 wurden dort nach heftigen Unwettern ganze Stadtviertel durch gewaltige Lawinen aus Schlamm und Gesteinsbrocken weggeschwemmt. Tausende Menschen wurden dadurch obdachlos. Douglas Sant’ Anna da Cunha ist u. a. Berater des brasilianischen und mexikanischen Roten Kreuzes sowie Autor eines Buches über Humanitäre Logistik*.
Die erste Aufgabe des Logistikers eines Flüchtlingslager besteht darin, die lebenswichtigen Ressourcen wie Lebensmittel, Wasser, Hygiene- und Reinigungssets, Kleidung und Schuhe für die dort lebenden Menschen zu koordinieren. Der Bestand an diesen Gütern wird strukturiert oder in machen Fällen auch umstrukturiert. Nur so kann gewährleistet werden, dass die Geflüchteten und Kranken in den Flüchtlingslagern oder Krankenhäusern stets mit ausreichend Lebensmitteln und Medikamenten versorgt werden können.
Der erste Schritt bei der Planung und Entscheidungsfindung eines Logistikfachmanns in der Katastrophenhilfe besteht darin, die Zielgruppen quantitativ zu bewerten. Es ist wichtig, so viele Informationen wie möglich über die geflüchteten Menschen zu generieren. Nur so ist es möglich, alle zufriedenstellend unterzubringen, zu verpflegen und zu behandeln. Dabei müssen die Logistiker immer berücksichtigen, dass die Zahlen bei der Ankunft von neuen Opfern abweichen können.
So war beispielsweise das Flüchtlingslager in Domeez unweit der Stadt Dohuk im irakischen Kurdengebiet für nur rund 20.000 Menschen ausgerüstet. Tatsächlich aber lebten dort zwischen 2011 und 2014 zeitweise mehr als 35.000 syrische Flüchtlinge, die die syrische Grenze zum Irak überquert hatten, um in Domeez Zuflucht zu suchen.
Die Strukturen im Flüchtlingslager
Wenn der Informationsfluss aller Beteiligten funktioniert, kann die Verteilung der Hilfgüter beginnen. Wichtig bei der Planung ist es, die Art der Unterbringung der Geflüchteten zu beachten. Viele der Zeltlager sind improvisiert. Oft gibt es keine Infrastruktur und die Beschaffung von Produkten für den Dauereinsatz oder die Wartung der Anlagen lassen zu wünschen übrig. Es geht nicht nur darum, Hilfsgüter zu lagern und zu verteilen. Ziel ist es auch, Verbesserungen der Wohnstruktur zu treffen und grundlegende Dienstleistungen für die Geflüchteten zu organisieren, z.B. die Kontrolle der Trinkwasserqualität.
Wenn es keine Sanitärstruktur gibt, hat das unangenehme Folgen. Die Ableitung von Abfällen aus den Latrinen muss geregelt werden. Nur so lassen sich Gesundheitsschäden verhindern. Normalerweise wächst ein Lager sehr schnell und unerwartet. Deshalb fehlen oft für lange Zeit Sanitärsysteme, die die Bedürfnisse der Geflüchteten decken. Dadurch entsteht ein hohes Krankheitsrisiko.
Es ist belastend zu wissen, dass es sich bei den Geflüchteten um Menschen handelt, die einmal ein Zuhause und Zugang zu ausreichender Gesundheitsversorgung hatten. Nun haben sie alles das verloren. Umso wichtiger ist es bei der Umsetzung des logistischen Prozesses, die Ressourcen sorgfältig strukturiert zu managen. Nur so kann man den Anforderungen dieser Familien gerecht werden.
Schließlich befinden sich die Geflüchteten in einem Ausnahmezustand. Dadurch sind sie besonders anfällig für physische und psychische Erkrankungen. Das vorrangige Ziel ist es deshalb, ihnen ein Leben in Sicherheit mit strukturierten Tagesabläufen zu ermöglichen und ihnen Hoffnung zu geben, schon in naher Zukunft ein neues Leben beginnen zu können.
Die Ursachen der Probleme außerhalb der Lager bekämpfen
Leider ist die Situation in den Lagern oft extrem angespannt. Meist liegen sie nur unweit von Orten, in denen es nach wie vor zu bewaffneten Auseinandersetzungen kommt. In einigen Regionen, etwa in Flüchtlingslagern im Sudan, wurden Entführungen durch extremistische Gruppen wie der Sudanesische Volksbefreiungsarmee (SPLA) gemeldet. An anderen kam es zu Gewalttaten gegen Frauen und Kinder.
Der logistische Prozess bei humanitären Hilfsmaßnahmen sollte sich deshalb generell nicht nur um die Gewährleistung der Menschenrechte innerhalb der Lager drehen. Wichtig ist auch die Veränderung der Verhältnisse in den Herkunftsgebieten der Geflüchteten. Es geht darum, die notwendigen Ressourcen für den Bau von Wohnungen, die Strukturierung von Dienstleistungen und die Umsetzung von Mitteln zur Stärkung der Wirtschaft in den betroffenen Regionen bereitzustellen. Erst dann können sich die Lebensumstände der Betroffenen nachhaltig verbessern.
Schließlich fliehen die allermeisten ja nicht willentlich aus ihrer Heimat, sondern vor den Problemen, die dort herrschen. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Hauptfaktoren für die Migration der Menschen aus diesen Gebieten mit Natur- oder Technologie-Katastrophen wie Kriegen und Konflikten, mit Hunger, Durst und Krankheiten zu tun haben.
Um es Geflüchteten zu ermöglichen, in ihre Heimat zurückkehren zu können und die Probleme vor Ort zu lösen, müssen alle Beteiligten gehört werden. Das gilt besonders für diejenigen, die direkt oder indirekt von den Katastrophen betroffen sind. Und zwar ohne, dass bestimmten Nationen oder Gruppen vorgeworfen wird, sie wollten durch populistische Maßnahmen polarisieren. Um Flüchtlingskrisen zu beenden, müssen Probleme an ihrem Ursprung gelöst werden. Nur zusammen werden wir stark sein, aber zusammen für den richtigen Zweck und nicht für Staaten, Armeen oder Flaggen.
Athen, sechs Uhr morgens. Unsere umtriebigen griechischen Begleiter chauffieren Anfang Oktober eine Delegation bayerischer Jugendarbeiter zum Flughafen. Hinter uns liegt eine anstrengende Woche voll mit interessanten Erfahrungen und intensivem Austausch. Durch die Fensterscheibe blicke ich gebannt in den Nachthimmel. Die schmale Sichel des zunehmenden Mondes liegt im Gegensatz zur heimatlichen Perspektive waagerecht auf dem Rücken.
Sicher, die veränderte Position des Betrachters auf dem Erdenball scheint die plausibelste Erklärung dafür zu sein. Vielleicht – so will es eine Mischung aus Poesie und Mitleid in mir – haben die harten zehn Jahre, die hinter den Griechen liegen, aber nicht nur ein Volk, sondern selbst den Himmelstrabanten, der über ihm schwebt, in die Knie gezwungen.
Ich selbst – ein angehender Sozialarbeiter aus Würzburg – wusste vor diesem durch den Bayerischen Jugendring organisierten Fachkräfteaustausch kaum etwas über das Land am Mittelmeer, das nach wie vor unter den drückenden Folgen der Eurokrise ächzt. Sicher, dank der medialen Darstellung war Griechenland auch mir als Synonym für Krise bekannt. Was Troika, Privatisierungen, Steuererhöhungen und erzwungene Kürzungen staatlicher Leistungen für die einzelnen Menschen bedeutete, blieb mir jedoch verborgen.
Zwei von drei Jugendlichen sind arbeitslos
„Seit dem Krisenbeginn wurden bei uns alle sozialen Strukturen zerstört“, hadert Panos Poulos. „Auf der einen Seite wurden Löhne und Renten um bis zu 50 Prozent gekürzt, auf der anderen Seite stiegen die Steuern und die Preise.“ Der 57-jährige verheiratete Grieche, der uns durch seine Heimat führt und uns in Kontakt mit gut einem Dutzend Organisationen bringt, die in der Jugendarbeit aktiv sind, wirkt gefasst.
Sein langes graues, gelocktes Haar hat er zum Zopf gebunden, sein dichter Bart scheint ihm schon seit seiner Jugend ein unverzichtbarer Begleiter zu sein. Immer wieder leuchten die markanten, aber doch freundlichen Züge seines Gesichtes im Licht der Straßenbeleuchtung auf, als wir nach drei Tagen Peloponnes in seinem alten Kombi auf dem Weg in die Hauptstadt sind.
„Über 300.000 Firmen wurden in den letzten Jahren geschlossen“, setzt der engagierte Jugendarbeiter fort – ohne spürbare Bitternis, dafür eher gefasst umschreibend. „De facto sind zwei von drei Jugendlichen arbeitslos, da selbst die, die nicht in der Statistik auftauchen, endlos studieren oder Jobs ausüben, für die sie völlig überqualifiziert sind, nur um über die Runden zu kommen.“
Wieder halten wir an einer Mautstelle, bezahlen 2,80 Euro für schätzungsweise 15 Kilometer. Eine Folge der erzwungenen Privatisierungen. Griechenlands Schnellstraßen sind in einem guten Zustand, seit sie auf verschiedene Investoren aufgeteilt wurden. Einen Stau muss man auf ihnen nicht befürchten. Viele Einheimische können sich die hohen Mautgebühren nicht leisten. Die hohen Benzinpreise oder Steuern für ein eigenes Auto übrigens auch nicht.
Was ist von der Hoffnung übrig geblieben?
Panos weiß, wie sich große politische Veränderungen anfühlen. Zwischen 1980 und 1994 lebte, studierte und arbeitete er in Berlin. „Bevor wir unsere linke Regierung bekamen, gab es in Athen viele Krawalle. Die Menschen wollten einen radikalen Wandel weg von weiteren Kürzungen und Chaos. Aber was ist von der Hoffnung übrig geblieben?“ Einen Moment lang schweigt der redselige Familienvater. Auf der Rückbank schlafen einige der anderen Delegationsmitglieder.
Im ländlichen Raum, wie etwa in Panos Heimatort Krioneri, scheint zuvor die Welt noch in Ordnung zu sein. Der Peleponnes zeigt uns seine bergige, karge Seite. Überall stehen Olivenhaine – da diese Pflanze nichts braucht, aber alles gibt, wie Panos es formuliert. Die Bevölkerungsdichte ist gering. Ab und zu sieht man ein paar Ziegen oder Schafe frei herumlaufen. Massentierhaltung findet man hier nicht.
Stattdessen Selbstversorgung – einschließlich Schlachtung im Hinterhof. In jedem Ort streunen scheinbar herrenlose Hunde herum. Auf dem Tisch steht immer wieder Weißbrot, Fetakäse und Olivenöl. Die Gläser werden mit griechischem Wein oder dem Schnaps Tsipouro gefüllt. Ouzo sucht man vergeblich. Danke, liebe exil-Griechen. Dieser Stereotyp geht auf euch!
Nie aufgegeben – und Menschen überzeugt
Acht Vereine, fünf davon zur Jugendförderung, und selbst ein kleines Amphitheater findet man in Krioneri, einem Ort, der nicht einmal 1.000 Einwohner zählt. „Hier leben fast alle von der Landwirtschaft. Anfangs war es schwer, die Menschen von neuen Strukturen und Ideen zu überzeugen“, erklärt Panos, der schon immer ein Kämpfer war. „Wir haben aber nie aufgegeben und sie letztendlich überzeugt.“
Überzeugt auch davon, dass die Region nicht nur von Jugendarbeit, sondern auch von Tourismus profitieren könnte. Erst seit kurzem gibt es im Land Jugendherbergen und einen entsprechenden Verein. Auch der Verband der Jugendarbeiter wurde erst vor einem Jahr gegründet. Organisierte Jugend- und Sozialarbeit gibt es in Griechenland bisher nämlich nicht.
Seit 15 Jahren hat der griechische Staat keinen Euro mehr für diesen Bereich ausgegeben. Alle Angebote, die es gibt, gehen auf ehrenamtliches Engagement oder Nichtregierungsorganisationen, die wiederum durch Mittel der Europäischen Union finanziert werden, zurück. Festanstellungen sind ein hehrer Traum. Tatsächlich scheint der Staat vielen Hilfsorganisationen eher im Weg zu sein.
In vielen Orten sieht man den Zerfall
Eine am 16. Oktober 2018 veröffentlichte Eurostat-Pressemitteilung zum Internationale Tag für die Beseitigung der Armut verkündete, dass 35% aller Griechen von Armut bedroht sind, wobei Griechenland in dieser Statistik EU-weit den höchsten Anstieg innerhalb der letzten zehn Jahre zu verzeichnen hat. Die sichtbaren Auswirkungen des Abschwungs bleiben haften.
In vielen Orten sieht man den Zerfall, die Armut, die andere Seite der EU, die von der Eurokrise hervorgerufen wurde. Die Autos sind zerdellt, oft notdürftig repariert und alt. In den Städten liegt der Gestank von Abgasen schwer in der Luft. Vieles wirkt unsauber, unfertig, ungepflegt. Staatliche Stellen u.a. für Polizei und Stadtreiniger wurden massiv gekürzt. Im Bezirk Korinth stehen bei einer Bevölkerung von 140.000 gerade einmal zwei Mitarbeiterinnen in der Suchtberatungsstelle zur Verfügung. Die hiesigen Strände sind nach einem Sturm kurz vor unserer Ankunft unter dem ganzen Plastikmüll kaum auszumachen. Eine Katastrophe für ein Land, das im Tourismus eine seiner wenigen Aufstiegschancen sieht.
Viele Menschen zeigen ein beeindruckendes Engagement
Eine Mischung aus Emigration und einer Geburtenrate, die noch niedriger als die in Deutschland ist, hat dazu geführt, dass die Bevölkerung seit 2011 schrumpft. Statt zu resignieren nehmen viele Griechen ihr Schicksal aber selbst in die Hand und zeigen beeindruckendes Engagement.
Menschen wie Marilena, die zusammen mit ihrem Bruder und zwei Freunden sechs Monate lang durch verschiedene afrikanische Länder reiste und soziale Projekte initiierte. Oder wie Sotiris, der sich mit der Artfarm einen Kindheitstraum erfüllte, eine Baumhaussiedlung baute und dort nun junge Menschen in Kontakt mit der Natur und Kunst bringen möchte. Menschen wie Filaretos, Vorsitzender des neuen Griechischen Nationalen Jugendarbeiterverbands, der in Kalamata zusammen mit Freunden ein breites Beschäftigungsangebot aus dem Boden stampfte, dass heute durch 50 ehrenamtliche Kursleiter umgesetzt wird und jährlich 800 Menschen erreicht. Und natürlich Menschen wie Panos, der seit Jahrzehnten für eine bessere Jugendarbeit in Griechenland kämpft.
Schon seit vier Jahren, so erläutert uns der gelernte Politologe, verschleppe die griechische Regierung die Gründung eines deutsch-griechischen Jugendwerks. „Das wäre eine riesen Chance für uns, um endlich Planungssicherheit zu haben“, sagt er, ergänzt aber umgehend, dass er nach vielen schlechten Erfahrungen skeptisch bleibt. Dabei hatten uns Regierungsvertreter bei einem Termin im Bildungsministerium in Athen gerade zugesichert, dass einer Unterzeichnung nichts mehr im Wege stehe, auch wenn der entsprechende Generalsekretär für die Jugend einen anderen Termin wahrnahm.
Vertreter, die im Gespräch mit unserer Delegation immer kleiner zu werden schienen. Kritische Fragen, wie etwa danach, wie viel griechisches Geld für die Jugendarbeit ausgegeben wird und warum sich die Gründung des Jugendwerkes so lange hinziehe, hatten sie wohl nicht erwartet.
Ein Hoffnungsschimmer in der Dunkelheit der griechischen Realität
Tatsächlich wurde das Jugendwerk nur eine Woche später beim Besuch von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier durch die entsprechenden Unterschriften auf den Weg gebracht. „Ich habe mit großer Freude und Erleichterung die Paraphierung der Vereinbarung zur Gründung des Deutsch-Griechischen Jugendwerks entgegengenommen“, freute sich Panos schließlich. „Das DGJW ist eine einmalige Chance, institutionell die Jugendarbeit in Griechenland zu unterstützen. Ein Land, das über keine staatlichen Mittel für die Jugendarbeit verfügt.“
Ein Hoffnungsschimmer in der Dunkelheit der griechischen Realität. Die jungen Griechen stünden zu Europa, meint Panos, aber noch immer machten Politiker und Beamte notwendige Reformen zunichte. „Wir brauchen eine neue Generation von Entscheidungsträgern, die anders denkt als bisher“, sinniert der Jugendarbeiter und moniert ungenügende Steuerüberwachung, fehlende Anreize für die Wirtschaft, eine fehlende Bankenaufsicht, Verschwendung öffentlicher Mittel sowie Korruption und Günstlingswirtschaft. Außerdem sei der Bürger in Griechenland mittlerweile gläsern. Datenschutz gäbe es nicht.
„Wir sind gerade dabei, eine ganze Generation zu verlieren. Wenn die jungen Menschen nicht in die Sozialkassen einzahlen können, wie sollen diese dann gefüllt werden?“ Deshalb stünden die größten Probleme Griechenland noch bevor, befürchtet Panos und ist in gewisser Weise froh darüber, dass seine beiden Töchter im Moment in Würzburg leben.
Athen – eine Stadt voller Widersprüche
Ohnehin würde er jedem jungen Menschen raten, im Ausland Erfahrungen zu sammeln. „Viele Dinge würden die Deutschen wahrscheinlich anders bewerten, wenn sie sie kennen würden“, vermutet er. „Viele Menschen hier haben alles verloren. Gerade die jungen können sich nicht einmal mehr eine eigene Wohnung leisten und bleiben bei ihren Eltern. Der Staat kann direkt auf dein Konto zugreifen. Es gibt kaum noch Hochzeiten und so gut wie keinen staatlichen sozialen Bereich mehr. Auf den Inseln werden Flüchtlinge wie in Konzentrationslagern eingepfercht. Welcher gebildete Staat würde so etwas akzeptieren?“
Am offensichtlichsten tritt uns das hässliche Gesicht der Armut in Athen entgegen. Dabei ist der Stadtteil, in dem wir übernachten, voll von Widersprüchen. Drogenabhängige, Amputierte und Bettler sowie obdachlose und stigmatisierte Roma-Familien in der einen Straße. Vegane Szene-Restaurants und mit jungen Menschen überlaufende Bars in der anderen.
Unserer Delegationsleiterin wird aus der Lobby des Hostels ihr Koffer gestohlen, ohne dass es einer der 14 bayerischen Gäste bemerkt hätte. Bei einem Spaziergang durch die Innenstadt versuchen als Nonnen gekleidete Frauen, Rosenkränze zu verkaufen. Als eine von ihnen meinen Kollegen mit türkischen Wurzeln erblickt, starrt sie ihn an, als würde Beelzebub persönlich vor ihr stehen. Die Straßen sind voll und laut. Verkehrsregeln scheinen eher Empfehlung als Gesetz zu sein. Um die Akropolis summt ein endloser Schwarm Touristen. In einer Nebenstraße heiraten zwei Deutsche vor historischer Kulisse.
Leidenschaftliche Sozialarbeiter trotzen den schwierigen Bedingungen
In einem verlassenen, zerfallenen Hotel besuchen wir eine Ausstellung zum Thema Vertreibung. Im Treppengang erinnern Spiegel so groß wie Kleiderschränke an eine glorreichere Vergangenheit. In der überlaufenden Hauptstadt bestätigt sich ein Muster, das mir zuvor auch in anderen Orten auffiel. Schön sind Gebäude vor allem dann hergerichtet, wenn man dort viele Touristen findet – oder wenn sie der Kirche gehören. Wenigstens die orthodoxen Glaubensführer werden von der Armut verschont. Dann muss das Nadelöhr eben größer werden. Oder die Kamele kleiner.
Es bleiben auch andere Eindrücke haften, wie etwa die der Ruinen der Olympischen Spiele von 2004, die Panos genauso wie Waffenimporte als unglaubliche Steuerverschwendung bezeichnet. Ein griechischer Verteidigungsminister sei diesbezüglich wegen Korruption sogar zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden.
Andererseits bleibt die Geschichte einer Jüdin in Erinnerung, die als Kind im Zweiten Weltkrieg in Krioneri von einer einheimischen Familie versteckt und so gerettet wurde. 2017 kehrte sie aus Israel mit über 70 Familienangehörigen zu diesem Ort zurück und dankte dem Dorf stellvertretend für ihre Rettung.
Einen bleibenden Eindruck hinterließ auch eine Gruppe von Exil-Deutschen in einer Ger-Mani genannten Einrichtung, deren erste Mitglieder 1985 emigrierten. Gedanklich den Idealen der 68er-Bewegung zugeneigt, setzten sie fortan ihr soziales Engagement in Griechenland fort, u.a. mit schwer erziehbaren Jugendlichen aus Deutschland, deren einzige Chance auf Rehabilitation der Kontakt mit der Natur im ländlichen Griechenland zu sein schien. Sie ergänzten das Bild leidenschaftlicher und engagierter Sozialarbeiter in Griechenland, die den schwierigen Bedingungen trotzen und ohne zu jammern da helfen, wo sie helfen können.
Was bleibt
Unsere Woche klang derweil in einer griechischen Kneipe mit einem Kartenspiel aus. Zwar wurde ich als Zweiter meinen eigenen Ambitionen nicht gerecht, vermied aber auch den Wetteinsatz einer Massage, den der Letzte dem Ersten zu Gute kommen lassen sollte. Und dann kam er also, der Sonntagmorgen, an dem diese prägende Reise ihr Ende fand.
Die Mondsichel lächelte mich an und erinnerte mich an die verrückte Katze aus dem US- amerikanischen Zeichentrickfilm „Alice im Wunderland“. „Zu einem Verrückten gehe ich auf keinen Fall!“, entgegnet das verirrte Mädchen im Film den widersprüchlichen Richtungsangaben des Stubentigers. „Danach wirst du gar nicht gefragt. Die meisten von uns hier sind verrückt“, entgegnet dieser, lacht und verblasst, bis eben nur noch die weiße Sichel seiner Zähne zu sehen ist. Ist diese wundersame Katze möglicherweise für das Chaos in Griechenland verantwortlich?
Während des Fluges bliebe Zeit zum Reflektieren, aber die Müdigkeit fordert ihren Tribut. Erst in München in der S-Bahn zum Hauptbahnhof gibt es zwischen Oktoberfest-Besuchern Zeit für wache Gespräche mit den Kolleginnen. Was bleibt ist Erkenntnis, Verständnis, Aufgewühltheit, Dankbarkeit.Und Demut.
Am vereinbarten Mittwoch waren dann Hussam, Leonardo, ich und später auch noch Lilli anwesend. Es klingelte. Hussam ging zur Tür. Plötzlich standen nicht weitere zwei, sondern ein Dutzend Menschen im Raum. Hätte ich den Mailverlauf weiter studiert, hätte ich erfahren, dass uns das Forscher-Netzwerk „Helping Hands: Research Network on the everyday border work of european citizens“ um ein Treffen gebeten hatte.
Das Netzwerk besteht aus zwölf Kultur- und Sozialwissenschaftlerinnen aus ganz Europa, gesponsert vom Danish Research Council for Independent Research. Etwas überraschend (für mich) konnten wir also Menschen aus Dänemark, Schweden, Norwegen, Deutschland, den Niederlanden und Schottland als Gäste begrüßen.
Wenn Menschen „helfende Hände“ reichen…
Nachdem jeder einen Platz gefunden hatte, stellten sich alle vor. Das Forscher-Netzwerk untersucht, wie in Europa Solidarität, Austausch und Hilfe stattfinden. Das besondere Interesse liegt auf kleinen Organisationen, die agil und eher lokal sowie informell arbeiten. Dabei geht es auch um die Wandlung der Tätigkeitsfelder und Strukturen in den letzten Jahren.
Die Wissenschaftlerinnen sind für ihre Studien bereits in Kopenhagen, Nijmegen (Niederlande) und Glasgow gewesen. In Hamburg haben sie außer uns innerhalb von drei Tagen auch noch Hanseatic Help, die Poliklinik auf der Veddel, die Al-Nour-Moschee und Westwind besucht. Dazu kam noch ein Stadtrundgang zum Thema „Refugee Struggles in Hamburg“ von „Perspektive Stadterkundung“.
Der Name des Netzwerkes entstand aus der Idee, Menschen des täglichen Lebens dabei zu begleiten, wie sie eine „helfende Hand reichen“. Wer hilft Geflüchteten wie? Durch die Untersuchung von Gründen, Ansprüchen und Erfahrungen privater Initiativen versucht das Netzwerk das Verständnis dafür zu fördern, wie der europäische Bürger in privaten Initiativen seine Rechte zu helfen wahrnimmt.
Auch wir erzählten: Warum und wofür gibt es uns?
Bald kamen wir auf das Wort ‚Flüchtling‘ zu sprechen. Viele der Wissenschaftlerinnen sprechen kein Deutsch und verstehen nicht die Bedeutung der Form des Wortes. Aus dem Geflüchteten wurde der Flüchtling, das Diminutiv. Im Englischen ist es nicht so einfach. „Little Refugee“ wäre die Übersetzung. Mir fällt zur Erklärung nur der Vergleich mit cat und kitten ein.
Weiter ging es mit Zahlen rund um das Magazin: Wie viele Besucher hat unsere Website? Wie viele Follower haben wir auf Facebook, Twitter, Instagram? Die Zahlen kennen wir – ungefähr. Passen mussten wir allerdings bei weitergehenden Fragen danach, welche Inhalte konkret aufgerufen werden oder aus welchen Bevölkerungsgruppen unsere Facebook-Fans kommen. Wir kennen nur das ungefähre Alter und die Herkunft unserer Leser. Besser kennen wir uns da schon im eigenen Team aus. Woher kommen die Redakteure, Autoren, Lektoren etc.
Worüber sollten wir uns mehr Gedanken machen?
Der wohl interessanteste Wandel, von dem wir berichten konnten, ist sicherlich unsere erste Printausgabe im Frühjahr 2018. Sie ist zum ersten Geburtstag des Online Magazins erschienen. Wir erreichten damit ganz neue Zielgruppen. Der Erfolg soll mit der zweiten Printausgabe fortgesetzt werden, die zum Zeitpunkt des Treffens auf Hochtouren produziert wurde. Ab jetzt – anders als die erste Ausgabe – auch mit exklusiven Inhalten, die nicht online verfügbar sind.
Auf nicht alle Fragen wussten wir Antworten. Aber wir konnten hoffentlich einen interessanten Beitrag zu einem wissenschaftlichen Projekt leisten. Auch uns hat der Austausch zum Nachdenken angeregt. Worüber sollten wir uns mehr Gedanken machen? Sollten wir beispielsweise mehr über unsere Leser wissen, um vielleicht unsere Beiträge mehr an unserer Leserschaft ausrichten zu können?
Wer mehr über das Projekt wissen möchte, kann sich hier informieren:
Informationen sind auch am Institut für Volkskunde/Kulturanthropologie der Universität Hamburg erhältlich.
Was ist Ihrer Meinung nach die größte gesellschaftliche Herausforderung in Deutschland in den kommenden vier Jahren?
Ich glaube, es gibt zwei. Das eine ist das Thema Integration von Flüchtlingen oder von Menschen mit Migrationshintergrund insgesamt. Das zweite ist der Umgang mit Rechtspopulismus, mit der AFD.
Wie können wir die Integration schaffen?
Das ist ein beidseitiger Prozess. Ein Prozess für uns, aber auch für Flüchtlinge. Es gibt drei Faktoren für Integration: Wohnung, Arbeit und Sprache. Sprache ist das wichtigste, weil es ohne Sprache keine Arbeit gibt und wenn man Arbeit hat, kann man sich auch eine Wohnung leisten, deshalb ist das die Grundlage. Das Entscheidende ist, dass die Flüchtlinge versuchen müssen, die Sprache zu lernen und in Arbeit zu kommen. Das ist eigentlich der Schlüssel, wenn sie hier bleiben wollen.
Und unsere Aufgabe ist es, ihnen diesen Weg zu ermöglichen. Einmal dadurch, dass wir die Vorrangprüfung abgeschafft haben, sprich, dass man sofort auf den Arbeitsmarkt kann. Also, dass man Arbeit aufnehmen darf, dass man in Qualifizierungsmaßnahmen kommt, dass man Deutschkurse bekommt und dass man sozusagen auch eine gewisse Aufenthaltsperspektive hat. Wobei man dabei aber auch die Chance beim Schopf packen muss.
Okay, aber ich glaube die Regierung hat das geschafft, oder?
Die Leute sind jetzt da und die deutsche Regierung hat aus meiner Sicht ein Thema: sie blockiert gerade die Bundesmittel für Sprachkurse für Afghanen, weil Afghanen eine nicht so gute Bleibeperspektive haben. Das ist gerade in Hamburg ein großes Problem, weil wir in Hamburg die größte afghanische Community in Europa haben. Und vor dem Hintergrund – ob die Bundesregierung das schon so geschafft hat oder nicht – das ist ein Prozess! Das ist aber ein Prozess, der in Wahrheit 10 Jahre dauert.
Also die Frage, ob die Integration jetzt gelingt oder nicht, ist ein Prozess von 10 Jahren und das Wichtige ist, dass die Leute eine Perspektive bekommen. Wo sie nicht in der Sackgasse sitzen, nicht irgendwie geduldet, und sollten eigentlich abgeschoben werden, können aber nicht abgeschoben werden, weil in ihrem Land gerade Krieg ist.
Sondern sie müssen eine Perspektive haben, bei der sie sagen: Ich kann hier die Sprache lernen, ich kann hier arbeiten, ich kann hier leben. Aber sie müssen diese Chance auch ergreifen. Wenn sie selbst es nicht machen, kommen irgendwann Probleme, weil dann entstehen Parallelgesellschaften. Und das wollen wir unbedingt unterbinden.
Aber das ist nur ein Teil von Integration. Wie kommen Ihrer Meinung nach die Menschen miteinander in Kontakt?
Im Grundsatz glaube ich, dass der kommunikative Kontakt miteinander nicht staatlich organisiert werden muss. Sondern erstens, wenn du eine Arbeit hast, dann ist das dein wichtigster Lebensinhalt. Du triffst Kollegen, du triffst Leute, die hier wohnen. Das ist Integration. Das ist der eine Punkt.
Und das andere Thema ist eben: Wir müssen dafür sorgen, dass wir eine gute Durchmischung in den Quartieren hinbekommen. Nicht „Das sind die Armen und dann kommen noch die Flüchtlinge noch hinzu“, sondern, dass es überall Sozialwohnungen gibt und auch teure Wohnungen. Dass sich dadurch die Stadt durchmischt und sich auch unsere Schulen durchmischen; dass die Kinder unterschiedliche Freunde haben. Das ist einfach der Weg des Menschen: Er freundet sich mit Menschen an.
Foto: Jasper Ehrich Fotografie
Es gibt da noch ein zweites Thema mit der Familienzusammenführung und der Abschiebung.
Ich glaube, dass die Bundesregierung einen großen Fehler macht, dass sie insbesondere bei Syrern den Familiennachzug blockiert. Das Thema Familiennachzug ist ein zentrales Thema für die Frage der Integration. Und deswegen glaube ich, dass die Bundesregierung einen Fehler macht bei dem Thema Familiennachzug und dass man sozusagen an der Stelle eigentlich eine andere Politik machen muss.
Dass viele Leute abgeschoben werden, ist eine große Illusion. Und selbst wenn die AFD hier regieren würde, würden nicht viel mehr Leute abgeschoben werden. Und deswegen ist es wichtig, dass man den Leuten, die hier sind, eine Perspektive bietet, ihnen sagt: „Such dir eine Arbeit, du kommst in die Qualifizierungssysteme. Du bekommst die Unterstützung und dann kannst du auch eine Wohnung finden und dir eine echte Perspektive aufbauen.“ Das ist, glaube ich, das Entscheidende. Und dann kommt man immer wieder an Themen, wo man auch sagen muss, das Thema Abschiebung ist auch unumgänglich.
Will sagen: Hätte man diesen Typen vom Breitscheidtplatz in Berlin abgeschoben – der Typ hat mindestens fünf Prozent Akzeptanz gekostet in der deutschen Bevölkerung für Flüchtlinge. Solche Leute musst du loswerden. Und dann ist auch das Thema Abschiebung kein Tabu.
Und in Wahrheit schützen, meiner Ansicht nach, diese Abschiebungen die Flüchtlinge, die da sind und ihre Freiheit, hier sein zu dürfen und sich integrieren zu können.
Was kann Deutschland gegen Terror machen ?
Gegen Terror?… Ich glaube, das Allerwichtigste ist, dass man erst einmal eine Politik betreibt, die in jeder Hinsicht die Menschen nicht ausgrenzt. Die Frage des gesellschaftlichen Zusammenhalts… also, wir erleben ja – und das in den Vereinigten Staaten, in Frankreich, in Großbritannien- große gesellschaftliche Spaltungen.
Die einen sagen: „Ich stehe auf der Seite von Donald Trump“, und die anderen hassen sie dafür. Und es muss uns gelingen, genau diese Spaltung, die die Rechten wollen, nicht zuzulassen. Und das ist eine Frage der politischen Führung. Dass du eine Kanzlerin hast, einen Bürgermeister oder auch einen Ministerpräsidenten, Winfried Kretschmann, der sagt: „Ich möchte diese Gesellschaft zusammenhalten und ich lege es darauf an, sie zusammenzuhalten und ich spalte sie nicht.“ Das ist das Wichtigste.
Und das zweite ist, dass du eine Politik betreibst, die Leuten Chancen öffnet. Flüchtlingen die Chance auf Integration bietest. Aber auch bei den Rechten, bei den Linken und bei den Islamisten, sage ich mal, die labilen Persönlichkeiten beobachtest.
Dass du Aussteigerprogramme hast, dass du viele flankierende Sozialarbeiten machst, aber – und dann kommt der letzte Schritt – dass du auch in der polizeilichen Hinsicht und auch in der Hinsicht auf die innere Sicherheit klar bist. Und dass man da natürlich sagt, wenn es hier einen steigenden Bedarf gibt in Bezug auf den Verfassungsschutz, was Islamisten angeht, dann kriegen die auch mehr Stellen, um die zu beobachten.
Und ich sage mal im europaweiten Vergleich muss man ja ganz ehrlicherweise mal sagen, bekommt es Deutschland extrem gut hin. Trotz einer sehr großen Flüchtlingswelle aus muslimischen Ländern. Also, die Probleme mit Terror in Belgien, in Frankreich, in Großbritannien, in Spanien, sind überall größer.
Gehört der Islam zu Deutschland?
Ja. Wir leben in einem Land, in dem die Religionsfreiheit gilt. Es muss klar sein, dass der säkulare Staat derjenige ist, der die Gesetze schreibt. Dass das Grundgesetz und die Verfassung gilt und dann gehören auch alle unterschiedlichen Religionen zu diesem Land, die das akzeptieren.
Was kann Deutschland gegen Rechtsextremismus machen?
Also, in Hamburg ist das aus meiner Sicht nur ein sehr geringes Problem… Das heißt aus meiner Sicht, hauptsächlich gründet auf einer sehr langen emanzipatorischen Bewegung ausgehend von den 68ern und sehr viel Unterricht an den Schulen über dieses Thema. Und das ist aber nicht in allen Teilen Deutschlands so und das muss man leider sagen, insbesondere nicht in Ostdeutschland. Und der Grund, warum das nicht so ist, ist aus meiner Sicht ein kultureller.
Der Grund ist nämlich, dass als die Leute Ostdeutschland waren und damit quasi das kommunistische Regime vorgegeben hat, was die vorherrschende Meinung war, dann war man auf einmal das gute Deutschland. Und nicht mehr das Nazideutschland. Und Kommunisten sind per definitionem gegen Nazis und deswegen hat sich Ostdeutschland diese Debatte, nämlich die Frage, welche Anteile an der Schuld haben die Deutschen eigentlich selbst – nämlich einen ziemlich großen – und welchen Anteil haben die Nazis daran – nämlich eigentlich den Hauptanteil oder 100 Prozent – eigentlich nie so richtig gestellt.
Und diese Debatte ist in Ostdeutschland, weil es ein anderer Staat war, eigentlich ausgefallen. Und diese Debatte müssten sie eigentlich nachholen. Und deswegen ist dieses Problem eigentlich aus meiner Sicht, nicht so sehr mit Perspektivlosigkeit, sondern es ist damit zu erklären, dass es ein in viel geringerem Ausmaße stehende konsolidierende Demokratie und ein viel geringeres Vertrauen in den demokratischen Rechtstaat gibt.
Und dies paart sich mit der Tatsache, dass in Westdeutschland Menschen mit Migrationshintergrund eine ganz andere Präsenz im alltäglichen Leben haben als in Ostdeutschland. Also in Hamburg Mitte haben 44 Prozent der Menschen einen Migrationshintergrund. Laut Definition des europäischen Zentrums für Sozialforschung habe ich sogar einen Migrationshintergrund. Einen polnischen.
Die Frage, ob eine Gruppe sich gut integriert oder nicht, hat aus meiner Sicht nicht viel mit der Religion, nicht viel mit der Herkunft und nicht viel mit dem Staat zu tun, aus dem sie kommen, sondern es hat damit zu tun, welche Menschen welchen sozialen Standes migrieren. Zum Beispiel: Als in der iranischen Republik die Revolution war und Ayatollah Chomeini an die Macht gekommen ist, sind aus dem Iran sehr viele Menschen nach Deutschland geflohen, aber es war die Intelligenz. Es waren die gut gebildeten Menschen, die geflohen sind. Das sind Menschen, von denen man heute gar nicht mehr richtig merkt, dass sie ursprünglich eigentlich mal aus dem Iran kommen.
Da gibt’s eine ganze Menge von. Die sind aber sehr gut integriert. Das ist zum Teil auch mit der afghanischen Bevölkerung so. Und wenn du Zuhause begriffen hast, dass Bildung dich voran bringt, dass Spracherwerb dich voran bringt, dann begreifst du das auch hier, dann machst du das auch hier. Dann hast du einen ganz anderen Antrieb.
Deutschland ist groß als Wirtschaft und besitzt eine große Kultur. Wollen Sie auch, dass Deutschland als Armee, als Militär groß ist?
Nein – und es gibt dafür viele Gründe. Der erste ist ein historischer Grund. Der zweite Grund ist, die Bundesrepublik hat zusammen mit Frankreich die Europäische Union aufgebaut und damit ein regelbasiertes System für den Austausch von Personen, von Dienstleistungen, von Waren, von Geld geschaffen. Immer wenn man ein regelbasiertes System schafft und sich alle daran halten, ist das die beste aller möglichen Welten.
Ich meine nämlich, sie bringt Verlässlichkeit, sie bringt Stabilität und deswegen können sich Kultur entwickeln, deswegen können Menschen sich woanders niederlassen, deshalb gibt es viele wirtschaftliche Beziehungen, deshalb gibt es Austausch zwischen den Völkern. Und wenn du dieses System hast, des regelbasierten Austausches, dann ist das das Gegenteil von „Ich brauche ein starkes Militär, um mir mein Recht zu nehmen.“
In Europa brauchen wir das eigentlich nicht mehr. Die Zeiten sind sozusagen vorbei. Ausserdem sind wir ja über die Vereinigten Staaten von Amerika, über die NATO eingebunden in ein System der kollektiven Verteidigung, das mit Abstand die allerhöchsten Militärausgaben der ganzen Welt hat. Also mit großem, großem Abstand. Ich glaube, man sollte auch im Ernst die Ambitionen von Herrn Putin nicht unterschätzen – ja, das muss man einfach klar so sagen und so auch wissen. Das verstehen viele in Deutschland nicht, aber Herr Putin hat in der Ukraine einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg geführt und er hat das nur getan, weil das Land nicht Mitglied der NATO war.
Das zweite Thema ist, in dieser regelbasierten Welt, die wir nicht nur in Europa haben, sondern in Wahrheit auf der ganzen Welt, über die Worldtrade Organisation, über die United Nations, über verschiedene globale Organisationen, ist die wichtigste Kraft, die du hast, die wirtschaftliche Kraft.
Wir werden niemals bei Herrn Erdogan einmarschieren, aber wenn wir sagen: „Übrigens, es gibt eine Reisewarnung in die Türkei und es darf – also es darf schon jeder hinfahren, aber jeder kann am Ende seine Reise kostenlos stornieren“, dann ist das für die Türkei und für Herrn Erdogan viel, viel schlimmer, als wenn wir irgendwie sagen – wir greifen dich jetzt an. Nee, das können wir gar nicht zu ihm sagen, er ist ja NATO-Partner. Also, die eigentliche Macht spielst du über die Frage der globalen Handelsströme und die Frage der gobalen Geldströme aus. Siehe Griechenland beispielsweise.
Und die zweite Komponente ist, – neben Wirtschaft – letztlich die „moralpower“. Sprich: wenn du Werte durchsetzen willst – die Werte von Demokratie, von Rechtstaat – durchsetzen willst, dann kannst du nicht Guantanamo machen. Das kannst du aber leichter machen, wenn du eine Millionen Flüchtlinge aufnimmst. Dann wächst deine außenpolitische Glaubwürdigkeit ins Unermessliche. Und ehrlich gesagt, eine außenpolitische Glaubwürdigkeit herzustellen ist nicht so schwierig in dieser Welt von Herrn Trump, Herrn Erdogan und Herrn Putin.
Also, nicht von ungefähr glauben ja einige, Deutschland müsste jetzt diese Führungsrolle übernehmen. Und vor dem Hintergrund ist es, glaube ich so, dass wenn etwas wichtig ist, dann ist es das Thema, dass sich die Bundesrepublik Deutschland ihrer Rolle in der Welt neu vergewissern muss. Und zwar ihre Rolle, dass sie eigentlich, nicht angemessen global genug agiert, und zwar nicht in einem militärischen Sinne, sondern in einem humanitären Sinne, in einem moralischen Sinne, in einem wirtschaftlichen Sinne, was ihr eigentliches Gewicht ist. Ihr eigentliches Gewicht ist nämlich viel größer, als sie das selbst in der internen Sichtweise einschätzt.
Was macht ihre Partei für die jungen Wähler? Für die Senioren?
Wir versprechen ihnen, dass sie mit 16 statt 18 wählen dürfen, beispielsweise. Und gute Schulen, gute Kinderbetreuung, gute Universitäten. Für Senioren: die Rente. Der Punkt ist, dass du viele Leute hast, die wenig Rente bekommen, das sind häufig Frauen. Und deswegen ist die Frage, ob man eine Garantierente von 855 EUR einführt. Es kostet aber sehr viel Geld.
Was ist ihre Lösung für die Arbeitslosigkeit in Deutschland?
In Hamburg es ist eigentlich so, dass wir eine relativ geringe Arbeitslosigkeit haben. Es gibt auch Situationsarbeitslosigkeit, d.h. wenn die Leute ihre Jobs wechseln, sind sie zwischendurch arbeitslos. Wir haben in Hamburg einen Stellenaufbau von etwa 20.000 Stellen pro Jahr und zwar in den letzten 10 Jahren.
Das heisst, wir haben eher ein Problem, wie wir die Leute finden, die diese Stellen besetzen. Wie kriegen wir die Flüchtlinge in Arbeit, weil sie noch nicht so gut Deutsch sprechen können, weil sie vielleicht eine andere Qualifikation haben. Das passend zu machen, neben einer allgemeinen wirtschaftlichen Dynamik, das ist das A und O. Dann brauchen wir in Hamburg ein neues Geschäftsmodell.
Bisher hat Hafen und Handel diese Stadt reich gemacht, in Zukunft wird es viel stärker die Wissenschaft und die Innovation sein müssen. Man muss in innovative Unternehmen, Produkte und Forschung investieren. Es ist Deutschland gelungen, in den letzten 20 Jahren einen Industriezweig komplett neu aufzubauen. Erneuerbare Energien, Windkraft, Sonne, Wasserkraft, das ist maßgeblich den „Grünen“ zu verdanken. Durch die Einführung neuer Technologien.
Wir stehen jetzt an der Frage, dass die wichtigste Industrie dieses Landes, nämlich Automobilindustrie, den Anschluss schaffen muss an die Frage Elektromobilität und Digitalisierung. Dazu gehört, dass man die Elektromobilität politisch wirklich will und nicht einfach so laufen lässt.
Was bedeutet für Sie Zugehörigkeit zur Deutschland?
Das bedeutet eine Verpflichtung auf das Grundgesetz.