Schlagwort: Diskriminierung

  • Wenn die Identität zum Verbrechen wird: afghanische Perspektiven nach der Tat in Aschaffenburg

    Als ich die Nachrichten über den Angriff eines afghanischen Asylbewerbers hörte, fühlte ich, wie etwas in mir zerbrach. Von diesem Moment an wusste ich, dass diese Nachricht unser Leben verändern würde. Der Nachrichtensprecher berichtete über die jüngste Entscheidung des deutschen Parlaments und erwähnte dabei, dass diese Entscheidung im Zusammenhang mit dem Angriff eines afghanischen Asylbewerbers auf Kinder in der Stadt Aschaffenburg stehe. Da ich meinen Sohn Kaihan kenne, weiß ich, dass er bald mit einer Reihe von Fragen auf mich zukommen wird. In Gedanken gehe ich die möglichen Fragen der nächsten Tage durch und überlege, wie ich die Last, die die Gesellschaft ihm für ein Verbrechen, das er nie begangen hat, aufbürden wird, verringern kann. Aber ich weiß, dass es fast unmöglich sein wird. Die Gesellschaft ist daran gewöhnt, in solchen Fällen zu verallgemeinern und die Grenze zwischen „uns“ und „den anderen“ deutlich zu ziehen.

    Am nächsten Tag sieht mich Kaihan mit entschlossenem Gesicht und zusammengezogenen Augenbrauen an und sagt mit einer Stimme, die von Sorgen durchzogen ist: „Papa, wann gehen wir nach Afghanistan zurück?“ Ich weiß, dass ihn diese Frage die ganze Nacht beschäftigt hat und dass diese Worte das Ergebnis all seiner Analysen sind. Seine Frage besteht aus nur sechs Worten, ist aber direkt und präzise. Doch in meinem Kopf spielt sich ein ganzes Buch ab, und als ich antworten will, finde ich keine Worte.

    Kurz darauf zeigt mit ein Freund eine Nacheicht auf seinem Handy. „Sieh mal“, sagte er und seufzt, „das ist die Nachricht, die ich gestern Abend bekommen habe. Er hat geschrieben, dass er nicht mehr zu uns nach Hause kommen kann.“ Seine Hände waren fest ineinander verschränkt, und ich konnte nichts dazu sagen. Der Freund hatte geschrieben: „Wenn wir uns noch einmal treffen, dann sicher nicht mehr in deinem Haus, sondern draußen.“

    Am nächsten Tag sprach meine Frau mit ihrer syrischen Freundin, die sagte, dass sie früher jeden Abend spazieren ging, aber jetzt aus Angst vor den Reaktionen von Extremisten nicht mehr den Mut dazu hat, das Haus zu verlassen. Wenn du jetzt auf die Straße gehst, sind die Blicke schwerer als je zuvor. Jeder Schritt, den ich mache, fühlt sich an, als würden unsichtbare Steine auf mich geworfen. Manchmal ändere ich meinen Weg und nehme längere, aber ruhigere Strecken. Es ist, als hätte ich selbst akzeptiert, ein Verbrecher zu sein, der sich von der Öffentlichkeit fernhalten muss.

    Ich denke an Politiker*innen, die anstatt die realen Probleme zu lösen, lieber die Schuld auf uns schieben. Politiker*innen, die anstatt die Wirtschaft zu reformieren und die Energiekrise zu bewältigen, Migrant*innen als Sündenböcke benutzen. Sie erinnern mich an die afghanischen Politiker*innen!

    Der Tod eines Menschen ist vielleicht das Bitterste, was der Menschheit widerfahren kann, und es gibt kaum Worte, die die Schrecken und das Leid ausdrücken können, wenn jemand ein Kind tötet. Meine Gedanken wandern zurück zu den tragischen Momenten in Aschaffenburg. Plötzlich hallten wieder Schüsse in meinem Kopf, und ich erinnerte mich an das Weinen der Mütter, das das Lächeln der Neugeborenen ersetzt hatte, Mütter, die selbst im Blut lagen. Es war im Jahr 2020, als Terroristen in eine Entbindungsstation in Kabul eindrangen und 24 neugeborene Babys und schwangere Frauen töteten sowie 16 weitere Menschen verletzten. Die Gesellschaft war schockiert, aber unsere Kinder waren zum Sterben verurteilt, weil wir angeblich für demokratische Werte kämpften – etwas, das für die Extremisten als Ketzerei galt und dessen Auslöschung ihnen den Weg zum Paradies ebnen sollte.

    Kabul liegt vielleicht Tausende von Kilometern entfernt, aber Angst und Hass kennen keine Grenzen. Jetzt, hier in Deutschland, fließt dieselbe Angst durch meinen Geist.

    Menschen, unabhängig von ihrer Hautfarbe oder Nationalität, können überall auf der Welt Opfer von Gewalt werden. Ich denke mir: Vielleicht sind die Eltern dieses ermordeten marokkanischen Kindes ebenfalls vor solchen Gräueltaten geflohen, um in Deutschland eine sichere Zukunft aufzubauen. Doch nun ist dieses unschuldige Kind nicht mehr unter uns. Laut Polizei war der Täter kein Terrorist, sondern eine psychisch kranke Person, die aufgrund von Mängeln oder Versagen im Gesundheitssystem unbeaufsichtigt blieb. Das soll die individuelle Verantwortung des Täters nicht mindern, aber es stellt die Frage: Hätte diese Tragödie verhindert werden können, wenn der Täter rechtzeitig die notwendige Behandlung erhalten hätte?

    Da ich Sozialwissenschaften studiere, setze ich meine soziologische Brille auf und frage mich: Ist dies die „moralische Panik“, die ich an der Universität lerne? Aber wenn du selbst im Zentrum davon stehst, ist es mehr als nur ein wissenschaftlicher Begriff – du spürst die Bitterkeit in jedem Blick, jedem Flüstern und jeder Schlagzeile.

    Für mich ist es jedoch die populistische Politik der Politiker*innen, die alles dem Machtstreben opfert, die unerwartet bitter ist. Dies ist nicht das, was ich in Deutschland erwartet hatte. Die Politiker*innen kennen die andere Seite der Medaille. Sie wissen, dass Verbrechen individuell sind und die Unschuldigen nicht darunter leiden sollten.

    Doch trotzdem predigen sie Hass. Sie wissen genau, dass ihre Worte und die Erwähnung der Nationalität eines Verbrechers Unschuldige gefährden können, und dennoch wählen sie die einfache, gefährliche Rhetorik.

    Ich frage mich: Wird mein Kind irgendwann glauben, dass es allein wegen seiner afghanischen Herkunft schuldig ist? Solche verinnerlichten Schuldgefühle könnten dazu führen, dass sich die nächste Generation ebenfalls nicht integrieren kann.

    Die Geschichte hat uns wiederholt gezeigt, dass populistische Politiker*innen Krisen nutzen, um Feindbilder zu schaffen. Von den Jüd*innen im Deutschland der 30er bis zu den heutigen Migrant*innen – das Opfern von Minderheiten wird als einfache Lösung präsentiert. Wie lange müssen wir noch die Last einer Schuld tragen, die wir nie auf uns geladen haben? Vielleicht wird eines Tages Kaihan selbstbewusst auf der Straße spazieren gehen, ohne sich vor den schweren Blicken fürchten zu müssen.

    Aber dieser Tag erfordert Veränderung – eine Veränderung, die heute beginnen muss und von Menschen getragen wird, die nicht auf die populistischen rechten Politiker*innen hereinfallen und an die menschlichen Werte glauben.

     

  • Rezenzion zu Nat Isabel: Hot Mixed Girl (2023)

    Im Buch finden viele Prozesse gleichzeitig statt: Man stößt neben der Dekonstruktion (Aufzeigen von Diskurs), im ersten Teil, auf eine allmähliche Rekonstruktion (zeithistorische Aufarbeitung des Schwarzseins in einem deutschen Kontext) und schlussendlich auch eine Konstruktion (Analyse anhand der eigenen Erfahrung) der Autorin Nat Isabel von sich selbst und ihrer Geschichte, das jedoch im zweiten Teil. Hierin wird das Kernthema – die Existenz im weiblichen Schwarzen Körper in Deutschland – ontologisch subjektiviert. Die Autorin führt diesen Prozess anhand ihrer eigenen Person durch (subjektiv), wobei sie eine einzigartige Diskursübersicht anbietet (objektiv).

    Vom Objekt zum Subjekt

    In diesem beidseitigen Kontext wird ein ganzes ,,Portfolio“ an Themen diskursiv neu verhandelt, grundlegend sowie gegenwartsbezogen vertieft, so dass dabei gleichzeitig auch ein ablesbarer Emanzipationsprozess eingeleitet wird.

    Hierbei geht die Autorin den Weg vom Objekt zum Subjekt, von der Theorie in die Praxis, womit sie eine erkenntnistheoretische Pionierarbeit darlegt. Der einerseits wissenschaftliche und objektive Blickwinkel wird durch etwas Neues ergänzt: eine Komponente der Fallstudie, die sich mit der Belletristik vermischt, somit einen Meilenstein in der Wissensproduktion darstellt.

    Andererseits erzielt Nat Isabel mit ihrer Arbeit eine Transnationalisierung, indem sie den aufgearbeiteten Diskurs in der deutschen Historie verortet. Diesen diskursiven Zusammenhang verantwortet sie auch bewusst bis zu einem zielführenden Punkt, dass sie sogar aufkommende bzw. kontextuelle Fragen diversifiziert beantworten kann. Hierzu werden gleichzeitig auch urbane Phänomene aus anderen nationalen Kontexten herangezogen. Während Sie in einer tatsächlichen bahnbrechenden Leistung sowohl Argumente als auch Analysen zusammenführt, um es letztlich in einer zentralen Achse zu sortieren, welche zuvor voneinander isoliert waren.

    Des Weiteren bedient sie sich vieler nicht-deutschsprachiger Quellen. Zumal es in deutschsprachigen Literaturquellen an wissenschaftlicher Aufarbeitung zum Themenspektrum mangelt. Dagegen bemüht sich die Autorin um eine ehrliche Stimme, die oftmals eine nicht weiße, männliche Leserschaft impliziert. Diesen mutet sie trotzdem durch das vorliegende Werk auch mehr historische Verantwortung sowie persönliche Reflektion zu.

    Die „deutsche“ Psyche

    Über jeden Zweifel erhaben, führt die Autorin Leser*innen in der Ich-Perspektive nicht nur durch den von ihrer aufgearbeiteten bzw. hilfreichen Diskursübersicht, sondern auch couragiert durch die eigene nachgezeichnete lebensweltliche Geschichte. Dabei verschriftlicht sie beinahe minutiös, neben ausgewählten Zitaten von z.B. James Baldwin, Bell Hooks sowie May Ayim, ein persönliches Ereignis.

    Der Autorin gelingt es, die gelebten Realitäten mit den Erfahrungswerten und -horizonten anderer zu verbinden, wobei sie relativ viel, aber gleichzeitig nichts Dingfestes über sich selbst preisgibt. Sie verbleibt stets in der durchaus bewertenden Hauptrolle, behält aus der Eigenansicht die diskursive Oberhand – auch wenn es darum geht, erweiterte Perspektiven anzubieten.

    Mit einer beeindruckenden Präzision, aber auch behutsam genug, befasst sich Nat Isabel mit „deutscher“ Psyche aus ihrer Erfahrungs- und Erlebniswelt. Diese historische Verankerung besteht wahrscheinlich aus dem altbekannten Status, eine „verspätete Nation“ seit dem Zeitalter der westlichen Moderne zu sein, womit ein Hadern mit der Bildung bzw. Eigendefinition der nationalen Identität verbunden ist.

    Den Leser*innen wird somit Aufschluss über eine tief verwurzelte Tradition eines deutschen „exotisierenden“ Rassismus vermittelt. In diesem Kontext gibt sie uns zahlreiche Anhaltspunkte darüber, wie sich diese historischen Mehrdeutigkeiten beispielsweise am Konzept des Schwarzen „Anderen“ entladen konnten.

    Eine „biologische Fixierung“

    Ein wichtiger, vielleicht zunächst nicht ganz offensichtlicher Grundpfeiler der Analyse, ist die eingenommene Perspektive aus der sie wissenschaftlich forscht, gleichzeitig erzählt sowie stetig nachzeichnet. Kritisch betrachtet, nähert sich die Autorin ihrem Thema aus einer privilegierten Position heraus, welche durchaus in Verbindung mit Bordieus „sozialem und kulturellem Kapital“ steht.

    Dadurch ist es ihr möglich, ins Zentrum der Kernthematik vorzudringen sowie anverwandte Spielarten der gegenwärtigen Diskriminierungen herauszuarbeiten: in deutschen öffentlichen Debatten werden diese um das Thema Rassismus oft miteinander vermengt. Es gibt also wenig scharfe Trennung, was durchaus ein Ablenkungsmanöver sein kann, damit das Kernproblem Rassismus statisch, bisweilen unberührt, bleibt.    

    Im Diskurs geht es hauptsächlich um einige wenige Themenfelder, die den Rassismus auf den Plan rufen: Kultur, Religion, Herkunft, Armut oder Aufenthaltserlaubnis. Nat Isabel erweitert es ausdrücklich durch ihre Dekonstruktion um eine weitere Kategorie. Vielmehr geht es bei in dem Buch um eine mehr oder minder ,,biologische Fixierung“, d.h. um eine besondere Erscheinungsform des Rassismus. Dieser kann vorliegend als zentrales Problem „isoliert“ betrachtet werden kann.

    Wieso?

    Ein Mensch, welcher inmitten der Elite einer Gesellschaft verankert ist, kann schwer aufgrund anderer vermeintlicher „Mängel“ neben dem Schwarzsein Diskriminierungen erfahren: an dieser wunden Stelle genau, gelingt es Nat Isabel, andere, oberflächliche Diskussionen versiert zu vertiefen, um den vielen Gesprächspartner*innen den diskursiven Spiegel vorzuhalten, um erfolgreich die toten Winkel der öffentlichen Debatten zu durchleuchten.

    Was macht nun die Arbeit Nat Isabels aus, wenn man es in drei Begriffen wiedergeben möchte?

    Wahrlich kann die Antwort darauf nur Geschlecht, Sexualität und Rassismus lauten. Sie sind die zentralen Ankerpunkte ihrer Analyse anhand derer Beobachtungen austariert werden, die sich wiederum wie ein roter Faden durch das Buch ziehen. Hierbei kommt dem Körper, in dem sich die erzählende Autorin analytisch befindet, sowie die damit verbundenen Bedeutungen und Privilegien, eine wesentliche Rolle zu.

    Noch vor Beginn des ersten Kapitels finden Leser*innen eine „Triggerwarnung“, die auf explizite Schilderungen sexueller und rassifizierter Gewalt hinweist. Diese ist durchaus berechtigt, denn Nat Isabel beschreibt ihr zugestoßene Geschehnisse in einer Form, die auch schmerzhafte Details enthalten kann.

    Zwischen Enttabuisierung und Normalisierung

    Hierdurch findet nicht nur eine notwendige Enttabuisierung statt, sondern dem Diskurs wird etwas mehr Menschlichkeit vorgetragen, indem eine lebensweltliche Geschichte inmitten unästhetischer, hässlicher Erlebnisse darin kontextualisiert wird. Es mag für Leser*innen eine Gratwanderung darstellen, in der neben der einleitend angekündigten Dekonstruktion auch eine persönliche Geschichte erzählt wird, die bis ins Mark trifft. Insbesondere in den persönlichen Erzählungen, in denen Leser*innen einen intimen Einblick erhalten dürfen, wird ein gewisser Voyeurismus bedient, der aber gleichzeitig auch auf einer emotionalen Ebene tangiert und die Analyse plastisch macht – ein Element, welches sonst fehlen würde.

    Genau an dieser Stelle ist Kritik angebracht. Es wird mit den zunehmenden Kapiteln deutlicher, an welcher Stelle der Rotstift leicht bis schwer angesetzt wurde und eben diese teils voyeuristisch anmutenden Ausführungen der Sittsamkeit halber beschnitten wurden. Denn es sind jene adressierten Stellen an potenzielle Leserinnen, um sozialen Phänomenen ein wirkliches Gesicht zu verleihen: Beispielsweise in der Episode, in der Nat Isabel sich in der unbequemen Zwickmühle zwischen ihrem weißen Freund, wie sie ihn nennt „Adel auf dem Radl“-Partner, und dem kolonial angehauchten Sommerfest seines Gesellschaftsclubs, welches wahrlich nur so vor kultureller Aneignungen bis hin zu spürbarer Respektlosigkeit strotzt.

    Anhand dieser analytisch erzählten Geschichte wird das Machtgefälle zwischen einem weißen Mann und einer nichtweißen Frau nochmals verdeutlicht. Damit geht eine starke Portion an Ignoranz mit der zwischenmenschlichen Inkompatibilität von Rassismus und Liebe einher, die die Autorin exemplarisch aufzeigt.  

    Ein Schreibstil voller Humor und Wut

    Nat Isabel schreibt mit klarer, teils bissiger Stimme. Ihr fehlt es aber auch nicht an Humor, sondern es ist auch eine gewisse Wut zu vernehmen. Denn Wut ist eine Grundvoraussetzung, um sich ernsthaft dem Schreiben in diesem Stil für einen langen Zeitraum widmen zu können. Das einleitende Kapitel beginnt mit der Überschrift „Fangen wir an“: Es bereitet die Leser*innen darauf vor, aus welchen toten gesellschaftlichen Blickwinkeln der nicht angenehme Wind historisch-kollektiv sowie gegenwärtig-individuell her weht.    

    In den letzten Kapiteln wird offensichtlich, dass es sich bei der De- und Rekonstruktion auch um eine therapeutische Maßnahme gehandelt haben muss. Es ist ein aus sich ,,Herausschreiben“ von Nat Isabel, wobei gleichzeitig Wissen in die Leser*innenwelt hinausproduziert wird. Demnach findet durch diesen Beitrag gegenwärtig die Grundsteinlegung für einen couragierten, deutschsprachigen Diskurs statt.

    Letztlich gelangt dieses Buch zu einem vielleicht etwas Nihilistischem, aber nicht unerfreulichen Abschluss: Es erblickt den eher tristen Tatsachen tief ins Auge, dennoch erkennt sie darin eine gewisse Schönheit, die in alltäglichen Lebenswelten vorzufinden sein können.

  • Abdullah Alqaseer: „Im Film kritisiere ich Klischees“

    Der 24-minütige Film ADNAN des syrischen Schriftstellers und Regisseurs Abdullah Alqaseer mit Omar Shalash in der Hauptrolle und Regieassistenz, thematisiert Rassismus und setzt sich mit vielen diskriminierenden Stereotypen auseinander. Allerdings rückt er auch andere Vorurteile in den Fokus, die sonst in der Gesellschaft wenig sichtbar sind. Die Erstellung des Films war ein gemeinsames Projekt. Abdullah schrieb das Drehbuch und Omar Shalash (Protagonist und Regieassistent) lektorierte und übersetzte es ins Deutsche. Ihr ständiger Gedankenaustausch und die gemeinsamen Diskussionen führte sie zu einem Film, der stereotypischen Klischees mit filmischen Mitteln gegenübertritt. 

     

    Auch hier bedienen wir uns des journalistischen Klischees und fragen: Woher kam die Idee? 

    Die Aufgabe des Schriftstellers ist laut Abdullah* eine aktive Auseinandersetzung mit dem Thema. Dabei beschäftigt sich dieser mit den verschiedenen Nuancen des Films. Er nutzt seine Vorstellungskraft, um die Inspiration in eine konkrete Idee zu verwandeln. Hierbei werden Elemente miteinander kombiniert, verändert oder neu interpretiert, um etwas Einzigartiges zu schaffen. Es geht uns darum, eine legitime Welt zu schaffen.

    Im Kern geht es dann im Zentrum um das Handwerk eines Regisseurs bzw. Schriftstellers, indem er Spannungen aufbaut und das Publikum mit unbekannten Lösungen und Auflösungen konfrontiert. Und für die Behandlung des Films ist wichtig: Rassismus ist etwas, was filmisch nicht selten thematisiert wurde. Aber die wichtigste und herausforderndste Frage für jeden Schriftsteller bleibt: Wie gehe ich mit diesem Thema um? 

     

    Hast du eine Antwort auf die Frage gefunden, wie man mit bereits bekannten Filminhalten umgehen und daraus etwas Neues kreieren kann? 

    Abdullah hat sich vor dem Drehbuchschreiben mittellange bis lange Spielfilme angesehen. Er möchte dabei nicht pauschalisierend sagen, dass viele dieser Filme „ausgelutscht“ sind. Allerdings behandelten sie Rassismus in Teilen auf eine sehr unschöne Art. Die Ideen stammen dabei laut Abdullah von bestimmten Subthemen, die mit Rassismus in Verbindung stehen.

    Dramaturgisch haben solche Filme einen bestimmten Aufbau, der mit einer rassistischen Auseinandersetzung beginnt. Als zweiten Schritt versucht der Regisseur, das Opfer dieser rassistischen Auseinandersetzung zu einem Helden zu machen. Man zeigt, dass das Opfer von Rassismus ein normaler Mensch ist. Und dies ist für Abdullah das Toxische bzw. Giftige in diesen Filmen gewesen. Genau diesen dargestellten Umgang wollte er mit seinem Film kritisieren und durchbrechen.

    Die Anreihung solcher filmischer Gedanken führe zu Klischees in der Filmindustrie. Ein „Ausländer“ sollte sich nicht gegenüber einem „Inländer“ benachteiligt fühlen. Er muss sich nicht für seine Menschlichkeit rechtfertigen und ist genauso Mensch wie alle anderen. Genau hierauf möchte Abdullah eingehen, allerdings anders und im Kontrast zu anderen Filmen. 

     

    Es geht also darum, filmisch auszudrücken, dass wir uns alle gegenseitig ganz selbstverständlich annehmen sollten? 

    Laut Abdullah sollte man einen Menschen so annehmen, wie er ist, selbst wenn Klischees vorhanden sind. Wichtig ist zu betonen, dass diese Klischees sich von der Wirklichkeit bzw. Realität abheben. Die Faust am Ende des Films war Ausdruck eines Protestes, Menschen in klischeehafte Schienen, Zwänge oder Strukturen zu pressen. Manche Menschen bringen bei der Produktion dieser Filme „ihre eigene, kurzsichtige Gedankenwelt“ ein und haben einen großen Einfluss auf das Werk, wobei der Autor oder Regisseur die Hoheit über die Erstellung des Filmes hat. 

     

    Hast du die Erfahrungen gemacht, dass westliche Regisseur*innen versuchen, Leuten, die nicht westlichen Klischees entsprechen, bestimmte Rollen etwa des Opfers oder der Held*innen zuzuweisen? 

    Abdullah glaubt, dass es nicht sinnvoll ist, Regisseure und Künstler in den Westen und Osten zu unterteilen. Die künstlerische Vision ist von Regisseur zu Regisseur unterschiedlich und nicht von Kontinent zu Kontinent. Laut Abdullah sind solche Stichworte wie „Opfer“ zentral für die Werkzeuge bei solchen Filmen. Allerdings sind alle Menschen „Opfer“. Ein gutes Beispiel dafür ist der Musikinstrumentenbauer in dem Film.

    Er ist Schauspieler, aber auch Geflüchteter. Letzteres ist für den Zuschauer nicht sofort sichtbar bzw. nur zwischen den Zeilen. Der Musikinstrumentenbauer ist dreifach Geflüchteter, da er aus Palästina stammt und über Syrien nach Deutschland geflüchtet ist. Und der Regisseur ist ein reiner Syrer, der „sich jetzt nicht noch die Meinung von eingebildeten Idioten aus dem Flüchtlingslager anhören muss“. In der deutschen Übersetzung ist diese Aussage nicht so ohne weiteres zu erkennen. Im Film rastet der Schauspieler aus und versucht sein Recht einzufordern, anerkannt zu werden. 

     

    Auf welche Arten wird Rassismus denn im Film thematisiert? 

    Man muss den Mut haben, über all die Aspekte zu sprechen, die Rassismus in der Welt verbirgt, findet Abdullah und stimmt damit Doudou Diene zu, der sagt: „Rassismus gedeiht dort, wo er geleugnet wird.“ Das lässt sich, wie Abdullah sagt, auch aus Situationen in Syrien ableiten, da es dort zwischen verschiedenen Gruppen, Reibungspunkte und Auseinandersetzungen gibt.

    Es sind laut Abdullah die palästinensischen Geflüchteten, die seit 1948 in Syrien leben und das schon in der 3. bzw. 4.Generation. Diese Geflüchteten haben zwar Freundschaften und sind gut integriert, allerdings bilden sie aus der Sicht der gesamten Gesellschaft betrachtet Subgruppen. Aber auch in Deutschland hat man laut Abdullah den Blick auf eine Minderheit, wenn man Syrer ist. Zwar ist die Integration auf einem guten Niveau, aber man ist eine Minderheit. Der Film soll Rassismus in seiner Form delegitimieren und diesem sozusagen „keine Chance geben“. Und dabei muss man sich klar sein, dass es rassistische Strukturen in allen Ländern der Welt gibt. 

     

    Hast du noch weitere Filme nach dem Stil geplant, die ähnlich sind? 

    Dieser Film Adnan ist durch die Kooperation zwischen dem VEMO Halleschen Verein (der sich u.a. Thematiken wie Flucht widmet) und Abdullah entstanden. Die Idee sei gewesen, mehrere Filme zu drehen, aus denen dieser Film entstanden sei. Auf der anderen Seite arbeitet Abdullah gerade an einem anderen Spielfilm über Syrer, die geflüchtet sind, aber noch stark geistig in ihrer Heimat verwurzelt sind.

    Für viele Deutsche sei nicht klar, welche Bedeutung die aktuellen Ereignisse wie das Erdbeben für die in Deutschland lebenden Syrer haben. Man muss sagen, das sind Dinge, die sich anfühlen, als wären sie um die Ecke gewesen, obwohl man als Geflüchteter in Deutschland und nicht in Syrien ist. Diese Themen sind seit der Revolution 2011 besser geworden, bewegen den Syrer aber immer noch. Sie beschäftigen ihn immer noch wie vor 2011. 

     

    Was war denn bei der Erarbeitung der Figuren wichtig, um diese tiefen Empfindungen darzustellen? 

    Die Arbeit an der Figur des Films Adnan war die schwierigste Aufgabe von Abdullah und mir, weil Adnan Transformationen in seiner Persönlichkeit durchmacht, und diese Transformationen erfordern einige Veränderungen in der Natur des Charakters. Was von uns auch gut vorbereitet wurde, war die Schlussszene. Diese Szene konnte mit nur einem Shot erfolgreich gedreht werden. 

     

    Und wie bist du dazu gekommen, als Schauspieler in diesem Film mitzuwirken? 

    Abdullah und ich saßen oft im Schrebergarten und überlegten, einen Film zu drehen. Ich bin selbst Filmemacher und habe Abdullah durch einen der letzten Dokumentarfilme kennengelernt. Viele Ereignisse und Orte im Film verbinden Abdullah und mich. Im Film kommt das Instrument der Oud vor. Abdullah spielt die Oud und ich baue das Instrument, zum anderen ist der Drehort des Ateliers in dem Film auch in der Realität mein Atelier. Ich sah die Mitarbeit in dem Film als Überzeugung an. Die Sympathie zwischen mir und Abdullah zeigt sich auch darin, dass Abdullah mich von vorneherein für die Rolle vorgesehen hatte. Dabei ist sehr viel auch persönlicher Sympathie zu verdanken. 

     

    Inwieweit hat deine persönliche Geschichte die Darstellung der Rolle beeinflusst? 

    Zum einen hat Abdullah mich für die Hauptrolle vorgesehen und zum anderen habe ich einen starken Bezug zu Deutschland. Ich bin seit 2010 hier, habe hier studiert und eine Familie gegründet. Zum anderen leben seine Erzählungen von der Darstellung der Heimat, vor allem wenn es um Arabisch geht. Und in diesem Kontext treffen wir uns beide.

    Ich stamme ursprünglich aus dem Norden Palästinas. Der Besuch Syriens ist daher für mich immer ein großer Traum gewesen. Die Möglichkeit mit einem berühmten syrischen Schauspieler wie Bassam Daoud zusammenzuarbeiten, war für mich daher ebenfalls wie der Besuch Syriens immer nur ein Traum. Und dann am Set zu stehen und zu drehen ist dann eine Vorstellung gewesen, die Wirklichkeit geworden wäre. Abdullah und ich teilen gemeinsame Assoziationen, was beispielsweise die Wahrnehmung ihrer Herkunftsdörfer angeht. Von der Bedeutung her, ging es darum Grenzen zu überwinden bzw. zu sehen, dass es eigentlich keine gibt. Und der Film Adnan ist dabei ein konkretes Format, an dem wir beide angefangen haben, zu arbeiten. 

     

    *Im Interview spricht überwiegend Omar, der die Antworten von Abdullah aus dem Arabischen ins Deutsche übersetzt hat.

  • Bacha Bazi“ – The Dark Truth

    In this article, I would like to write about an important issue that affects children in Afghanistan. It is about the practice of „Bacha Bazi.“ Translated from Persian, it means „boy’s play.“ The term refers to a situation in which an older man engages in sexual acts with underage youth or young boys. These acts are still practiced in Central Asia today and are emblematic of a dark side of Afghan society: violence against children. Unfortunately, very little attention is paid to the issue and the Afghan government has been sweeping it under the rug for decades. Children have their childhood stolen from them and are forced to live as sex slaves and prostitutes.

    „Bacha Bazi,“ translation from Persian: Bacha „child; boy“ and Bazi „game“, meaning „boy’s game“

    The boys abused for „Bacha Bazi“ are usually between eight and ten years old. In most cases, they are kidnapped or come from poor families who need money and sell the boys. The man who kidnaps them is henceforth their owner and the child must do what he says. The „Bacha Bazi“ is usually practiced in a certain way: Men force the boys to dress up as women and dance at events. They have to have long hair or wear a wig. They put on makeup, wear anklets with bells. Some also have to wear fake breasts. The event ends with sexual acts.

    If a „bacha“ does not follow the rules, he must die

    Once an older man chooses a „bacha“, the boy must be obedient to him. For example, he must wear things and always follow the rules of his owner. The owner also decides who the boy can talk to or be friends with, when he can smile and where he can dance. If the bacha does not follow the rules and the owner becomes suspicious, it is very likely that the boy will have to die. If a man has one or more bacha, it is considered a sign of his power and wealth. This means that some owners have more than ten bachas in their service at any one time. How pretty the boys are is also an important point.

    The „Bacha Bazi“ is sex slavery, where boys as young as ten are led around parties for the sexual gratification of a group of middle-aged men. Once this is over and the dancing ends, the true horror of the boys‘ fate is revealed because they have to go with a guest. They earn nothing at the parties. They live as if they were in a relationship with their masters. The masters take care of them in the house, buy the boy food and other things.

    No escape for the boys

    What is the situation of a boy when he escapes? If the attempt is successful, he must always be afraid that the owner might find him one day. He must be in a constant escape mode and change his address regularly. If an escape attempt fails, he is beaten, even murdered. These children develop mental illnesses. Most of them become drug addicts to cope with the situation and the compulsion to have sex. Some of them become so-called „Bacha Baz“ themselves. They look for boys on the street to kidnap them. Then they become owners themselves or they look for boys for their masters.

    The judiciary does not punish the men. Under Afghan law, the „Bacha Bazi“ is illegal and it punishes abuse. But the law is not applied because the judiciary and the police are so corrupt that they do not really prosecute anyone for the acts. The men who practice this act are mostly warlords and rich people. They are men who are in high-ranking government positions, the jihadis. Even the „bacha“ are taken to army bases for the parties and sexual acts. 

    The police does nothing to punish the men as they often join these parties themselves

    There are some books, articles and documentaries on the subject, but without the help of the government and the people, nothing can be achieved in a patriarchal society like Afghanistan. The legal protection and punishment for the people who commit or support these violent acts must be really enacted and executed, not just written on paper. Most often, masters pay bribes to stop reporting to the police. This dark side of society should be washed away.

     

    This article was first published in German.

    https://kohero-magazin.com/?s=Bacha+Bazi

  • Der Preis von Sicherheit

    Es ist 21.00 Uhr, als Daniel[*]am Hauptbahnhof Trier ankommt. Während er am Gleis auf die Ankunft seiner Schwester wartet, nähern sich unbemerkt von hinten zwei in Zivil gekleidete Polizisten. Ohne Weiteres wird er nach seinen Dokumenten gefragt. Daniels erste Reaktion: Panik. Er kann sich nicht ausweisen, sein Portemonnaie ist zuhause. Die Polizisten glauben ihm zuerst nicht und fragen nach seiner Adresse. Daniel merkt die Wut, die in ihm aufsteigt, denn er hat ein Gefühl, womit diese Kontrolle zusammenhängen könnte, bleibt aber auch deshalb gefasst. Er beantwortet alle Fragen, selbst als die Polizei an seinen Aussagen zweifelt. Irgendwann lassen die beiden Polizisten ihn doch in Ruhe und gehen weiter.

    Daniel ist mein Bruder. Er kommt ursprünglich aus Ecuador und die Tatsache, dass er bei einer Kontrolle als erstes nach seinen Personalien gefragt wird, ist nichts Neues. Diese wiederholten Erfahrungen beeinträchtigen sein Vertrauen in die Polizei.

    Entscheidung im Prozess Barakat H. gegen Racial Profiling der Polizei

    Das Thema Racial Profiling bleibt bis heute ein Problem, das sich die neue Ampel-Koalition jetzt vornehmen möchte. Doch jüngere Gerichtsurteile sind wenig ermutigend. Ein Beispiel davon ist der Berufungsprozess vom Fall Barakat H. gegen die Polizei, der am 19.02.21 in Hamburg stattfand. Der Bewohner St. Paulis wurde auf Grund seines Aussehens zum wiederholten Male auf seinem Weg durch das Viertel von der Polizei auf seine Personalien angesprochen sowie auf Handel und Besitz von Drogen überprüft.

    Barakat H. brachte dies zur Anzeige, woraufhin das Verwaltungsgericht entschied, dass zwei dieser Kontrollen rechtswidrig waren. Diese Entscheidung war von großer Bedeutung für die Rechtslage im Kontext diskriminierender Sicherheitsmaßnahmen und waren sowohl für den Betroffenen als auch Organisationen wie CopWatch Hamburg, die den Prozess begleiteten, eine Errungenschaft.

    Dennoch steht jetzt nach der Überprüfung durch das Oberverwaltungsgericht (OVG) fest, dass diese Kontrollen auf einer rechtlichen Grundlage stattgefunden haben. Die Begründung bezieht sich auf ein Urteil des OVG Nord-Rhein-Westfalens, wonach eine Kontrolle dann als zulässig angesehen wird, wenn „Erkenntnisse vorliegen, dass Delikte von Personen aus bestimmten Herkunftsländern bzw. von Personen mit einem bestimmten Erscheinungsbild begangen werden“. Laut dieser Rechtsprechung dürfen etwa die Hautfarbe bei der Entscheidung mitberücksichtigt werden. Somit dürfen weiterhin Kontrollen im Rahmen von Maßnahmen zur Kriminalitätsbekämpfung gegen Menschen aufgrund von Hautfarbe und Erscheinungsbild durchgeführt werden.

    Die Perspektive von Betroffenen

    In den Diskussionen über Polizeireformen fehlt derzeit die Perspektive der Betroffenen. Diese empfinden die Anwesenheit von Polizeikräften in den geschilderten Situationen als bedrohlich. Gerade in Situationen, wo es wichtig wäre, dass Polizist*innen als Helfer*innen auftreten, werden sie stattdessen von den involvierten Parteien als Akteur*innen in Konflikten wahrgenommen. Auf der anderen Seite des Konfliktes stehen Menschen, die oft diskriminierendem Verhalten ausgesetzt sind, ohne, dass sie sich dagegen zur Wehr setzen können.

    Um der strukturellen Diskriminierung durch die Polizei entgegenzuwirken, ist es wichtig, über das Sicherheitsbedürfnis der Betroffenen zu sprechen. Stattdessen überwiegt das Gefühl, dass die psychischen Belastungen der Menschen, die regelmäßig solchen Kontrollen unterworfen werden, der Preis ist, der hingenommen wird, um Sicherheit und Ordnung aufrechtzuerhalten.

    Mehr zu unserem aktuellen Fokusthema marginalisierte Männlichkeiten erfährst du in unserem Faktenüberblick und in der neusten Podcast-Folge von multivitamin.

    [*] Name wurde geändert

  • Männlichkeiten – ein Überblick

    58%

    … aller Antragstellenden auf Asyl sind männlich. Die ersten veröffentlichten Zahlen des BAMF stammen von 2015 (69% männlich) und haben sich nicht außerordentlich stark verändert: 2016 waren es 66%, 2017 60%, 2018 und 2019 57% und 2020 auch 58%. Es handelt es sich um Erstanträge auf Asyl. (Stand Juni 2021, Quelle: BAMF)

    34.462 Antragsteller

    Die größte Gruppe aller Antragstellenden auf Asyl (34.462 Erstanträge, 2019) ist laut bpb männlich und zwischen 0-15 Jahren (weiblich, 0-15: 31.823). Die nächstgrößere Gruppe bei den Männern ist die der 18-24-Jährigen mit 12.904 (weiblich, 18-24: 6.557). Die Alterspannen betragen hier 15, bzw. sieben Jahre, für die anderen Werte wurden i.d.R. fünf zusammengefasst.
    (Quelle: bpb und BAMF)

    Verzerrtes Bild bei der Herkunft von Tatverdächtigen

    In deutschen Medien wird die Herkunft von Tatverdächtigen „überproportional häufig“ genannt, wenn diese Ausländer sind. 2018 wurden „mehr als doppelt so viele deutsche wie ausländische Tatverdächtige“ erfasst. Im Fernsehen werden aber mehr als achtmal und in Zeitungen mehr als 14-mal so viele ausländische Tatverdächtige dargestellt. (2019, Quelle: Macromedia)

    Ethnosexismus

    Laut Kulturwissenschaftlerin Gabriele Dietze kann so die Verschränkung von Rassismus und Sexismus bezeichnet werden. Dabei werden beispielsweise migrantisch gelesene Menschen wegen ihrer vermeintlich „problematischen oder rückständigen Sexualität“ diskriminiert und Migrationsabwehr legitimiert.

    Racial/Ethnic Profiling

    … beschreibt polizeiliche Kontrollen, die keinen Anlass haben und nur aufgrund des äußeren Erscheinungsbildes oder ethnischer Merkmale durchgeführt werden. Diese verstoßen gegen das Grundgesetzt und das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz und sind eigentlich rechtswidrig.

    14%

    In den vergangenen fünf Jahren (Stand: 2017) haben 14 Prozent aller Schwarzen Menschen in Deutschland Racial Profiling erlebt.

    37%

    … der männlichen Befragten einer Studie haben ihre letzte Polizeikontrollen als Racial Profiling wahrgenommen. Dagegen stehen 19% bei den Frauen. Befragt wurden immigrierte Menschen aus Afrika, der Türkei, (Süd-)Asien, Menschen mit Roma-Hintergrund und generell kürzlich immigrierte Menschen.

    58 Beschwerden

    Zwischen Januar 2018 und April 2019 erfassten deutsche Behörden nur 58 Beschwerden wegen Racial Profiling. In Deutschland gibt es kaum unabhängige Beschwerdestellen, diese müssen direkt bei der Polizei eingereicht werden. Es kommt oft zu Abweisungen und Gegenanzeigen.

    Mehr zu unserem Fokusthema Männlichkeit und Flucht erfahrt ihr in der aktuellen Folge vom multivitamin-Podcast.

    Grundlage dieser Fakten sind Informationen der Bundeszentrale für politische Bildung, Zahlen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge sowie eine Studie der European Union Agency for Fundamental Rights.

  • Nachrichtenüberblick KW8/22

    Nachrichten aus der Ukraine

    Am frühen Morgen des 24. Februars begann die russiche Invasion gegen die Ukraine. Der Angriffskrieg Russlands geht zurück bis 2014. Seitdem gibt es im ostukrainischen Grenzgebiet und um die Krim ständig Konflikte, immer wieder auch bewaffnete. In den letzten Wochen spitzte sich die Situation zu und eskalierte mit den Bombardierungen vonseiten Russlands. Seitdem gibt es minütlich Neuigkeiten. Wir bei kohero sehen uns nicht in der Lage, mit unserem Nachrichtenüberblick die Situation und die komplexen Zusammenhänge gut und korrekt wiedergeben zu können. Deswegen werden wir euch hier lediglich eine Übersicht vorstellen, mit Quellen, über die ihr euch laufend über die aktuellen Entwicklungen informieren könnt. Informiert euch kritisch und bei verschiedenen seriösen Medien, etwa:

    Das CORRECTIV informiert außerdem über Falschmeldungen, die zum Krieg Russlands gegen die Ukraine kursieren.

    Hier findet ihr einen Überblick über den andauernden Konflikt seit 2014 bis zur Invasion Russlands.

     

    Zusätzlich ist zu erwähnen, dass dies nicht der erste Krieg in Europa seit 1945 ist. In der folgenden Liste (kein Anspruch auf Vollständigkeit) wurden weitere Kriege in Europa aufgelistet:

    Seit 1945 fanden folgende Kriege in Europa statt:

    • 1974 Zypern (mehr als 2.000 Tote)
    • Seit 1988 Bergkarabach (mehr als 30.000 Tote)
    • 1991-1995 Ex-Jugoslawien (mehr als 200.000 Tote)
    • Seit 1990er Genozide an den Bosniak*innen durch Serbien
    • Seit 1994 Tschetschenien (mehr als 150.000 Tote)
    • 1998/1999 Kosovo (mehr als 12.000 Tote)
    • 2008 Georgien (mehr als 800 Tote)
    • Seit 2014 Ukraine (mehr als 14.000 Tote)

    Quelle: Marija Latkovic, Textchefin und Autorin bei verschiedenen Magazinen & Zeitungen

    Aufnahme von fliehenden Ukrainer*innen

    Aufgrund der Kriegszustände in der Ukraine werden nun viele Menschen das Land verlassen. Die deutsche Regierung sicherte den Nachbarländern bereits Hilfe zu, vor allem in Form von humanitärer Unterstützung. Rumänien will 500.000 aus der Ukraine flüchtende Menschen aufnehmen. Israel bereitet sich darauf vor, jüdische Ukrainer*innen aufzunehmen und umgehend humanitäre Hilfe zu leisten. Der IsraAid Germany und Hilfsorganisationen sollen zurzeit Versorgungsmaßnahmen für flüchtende Jüd*innen einrichten, psychosoziale Unterstützung zu gewährleisten.

    Weitere Quelle:

    Nachrichten aus Deutschland…

    Rechtsextreme Angriffe auf Geflüchtete und Asylunterkünfte

    Zwar ist die Zahl der Angriffe auf Geflüchtete im letzten Jahr gesunken, trotzdem ist die Zahl noch immer hoch. Die Taten sind meist rechtsmotiviert. So kommt es zu Bedrohungen, Beleidigungen, Sachbeschädigungen und Mord. Die Mehrzahl der Angriffe richtete sich gegen Geflüchtete außerhalb von Unterkünften, die Zahl der Angriffe auf Unterkünfte ging zurück. Erst seit 2014 werden Straftaten gegen Geflüchtete und Geflüchtetenunterkünfte statistisch erfasst.

     

    Gegen Antiziganismus vorgehen

    Diskriminierungen gehören für Sinti*zze und Rom*nja in Deutschland leider immer noch zum Alltag; in Schulen, bei Behörden und Polizei oder in der Nachbar*innenschaft. Die Bundesregierung plant eine Strategie um dagegen vorzugehen. So soll es zukünftig einen Antiziganismus-Beauftragten geben und es wird gefordert, dass die Schlechterstellung von im Nationalsozialismus verfolgten Sinti*zze und Rom*nja gegenüber anderen Opfergruppen zu beenden und Rom*nja, die nach Deutschland geflohen sind, als besonders schutzbedürftige Gruppe anzuerkennen.

     

    Gedenktag für Terroropfer

    Angelehnt an den europäischen Gedenktag für Opfer von Terrorimus wird nun auch in Deutschland am 11. März ein nationaler Gedenktag eingeführt. Der Tag soll dazu dienen, die Opfer nicht in Vergessenheit geraten zu lassen und eine Mahnung sein, gegen jede Art des Terrors entschlossen vorzugehen. Die neue Regierung plant, den Umgang mit Opfern und Hinterbliebenen von Anschlägen zu verbessern und die Opferhilfe auszuweiten sowie das Opferentschädigungsrecht zu überarbeiten.

     

    Friedenskonferenz in München

    Zeitgleich zur Sicherheitskonferenz in München, die sich vor allem mit den Themen Rüstung und Militär befasst, fand die 20. internationale Friedenskonferenz in München statt. Die Veranstaltung bietet das Gegenprogramm mit Expert*innen aus der Friedens- und Umweltbewegung und befasst sich mit Zusammenhängen von atomarer Aufrüstung, Ressourcenknappheit, Umweltschutz und Friedensarbeit. Ein wichtiger Appell der Zusammenkunft ist die Abschaffung von Atomwaffen. In Anbetracht der Kriegssituation zwischen Ukraine und Russland ist diese Forderung wieder sehr aktuell.

    … und der Welt

    Internationaler Tag der Muttersprache

    Am 21.02. war der internationale Tag der Muttersprache. Dieses Jahr steht dabei das Thema „Einsatz von Technologie für mehrsprachiges Lernen: Herausforderungen und Chancen“ im Fokus. Die Sprache ist Mittel der Wissensvermittlung. Allerdings bleibt etwa 40% der Weltbevölkerung Bildung in einer Sprache, die sie sprechen und verstehen, verwehrt. Deswegen wird dieses Jahr die Rolle und das Potential von Technologie zur Förderung der mehrsprachigen Bildung und zur Entwicklung eines qualitativ hochwertigen Unterrichts für alle betrachtet.

     

    Niederlande bekennt sich zu Kriegshandlung in Indonesien

    Die niederländische Regierung entschuldigt sich bei Indonesien für die systematische Gewalt an der Bevölkerung während des indonesischen Unabhängigkeitskrieges im Zeitraum von 1945 bis 1949. Die Niederlande verharmlosten das Vorgehen der niederländischen Armee in der Kriegsführung und bekannte sich in den letzten Jahrzehnten nicht zu den Kolonialverbrechen, die sie im damaligen Ost-Indien etwa 350 Jahre verübten. Japan besetzte 1942 das Land, bis die Niederlanden versuchten, ihre Kolonialmacht durch Waffen wiederherzustellen. Seit 2020 tätigen die Niederlande Reparationszahlungen.

     

    Militärregierung Myanmars zwingt durch Angriffe Menschen zur Flucht

    Laut Augenzeugen soll am Donnerstag Myanmars Militär im Osten des Landes widerständige Gruppen mit der Luftwaffe angegriffen und Bodentruppen eingesetzt haben. Tausende Menschen seien nun auf der Flucht. Die EU hat der Militärregierung, die durch einen Putsch an die Macht kam, ein Waffenembargo verhängt und das Einreiseverbot auf 65 Menschen und zehn Firmen aus Myanmar als Sanktionen erhöht.

    Der Internationale Gerichtshof in Den Haag befasst sich mit der Klage Gambias, die Militärregierung Myanmars habe 2017 an der muslimischen Minderheit des Landes einen Genozid verübt. Die Vereinten Nationen veröffentlichten 2018 einen Untersuchungsbericht über Vertreibung, Vergewaltigungen, Morde und Zerstörung der Unterkünfte der Rohingya in Myanmar. Heute befinden sich rund eine Millionen Geflüchtete im Nachbarland Bangladesch, wo sie ebenfalls Repressalien ausgesetzt sind.

    Informationen zur Lage in Nepal und Pakistan:

    reuters.com

    reuters.com 

    Weitere Quellen:

    reuters.com

    derstandard.de

     

    Gute Nachrichten

    Äthiopiens Staudammprojekt zur Stromversorgung

    Im Nordwesten Äthiopiens wurde der Staudamm in Betrieb genommen, der zukünftig mit durch Wasserkraft erzeugter Elektrizität 60% der äthiopischen Bevölkerung mit Strom ausstatten soll. Mit dem Bau steht Äthiopien im Konflikt mit Ägypten und dem Sudan, die um einen geringeren Zugriff auf das Wasser im Nil befürchten. Das ägyptische Außenministerium spricht sich erneut für eine Grundsatzerklärung der drei Länder aus und erinnert daran, bei der Umsetzung des Projektes eine faire Nutzung des Wasserbedarfs zu berücksichtigen.

     

    Schulung zur Selbstversorgung in Ghana während der Pandemie

    Ghana ist laut des Auswärtigen Amtes weiterhin von Covid-19 betroffen, was zu Beeinträchtigungen des öffentlichen Lebens führen könne. Während der Pandemie kam es zu Nahrungsmittelengpässen und Preiserhöhungen. Das Land möchte sich unabhängiger von dem internationalen Nahrungsmittelimport machen. Landwirtschaft soll dabei helfen. Alberta Nana Akyaa Akosa hat die NGO Agrihouse Foundation gegründet und bewarb während der Pandemie ein Programm, um Frauen bei der Selbstversorgung durch eigene Gemüsegärten zu unterstützen. Es nahmen bereits 26.000 Ghanaerinnen an der Schulung teil.

  • Meta – ein Chatbot als Brücke in einem Meer von Diskriminierung

    In einem Meer von Diskriminierung soll Meta für Betroffene von Diskriminierung eine Brücke zu der Insel mit Anwält*innen und der Insel mit Berater*innen sein. Als eine erste Anlaufstelle informiert er über rechtliche Handlungsempfehlungen in Diskriminierungsfällen und Antidiskriminierungsberatungsstellen in der Nähe. Für den Erfolg des Projektes steht für Said Haider die Diversität seines Teams an erster Stelle.

    Was genau ist Meta überhaupt? Wie kann man sich eine Beratung durch Meta vorstellen?

    Ziel von Meta ist es, den Menschen eine angemessene Handlungsempfehlung zu geben. Das heißt, sie über ihre Rechte aufzuklären, also was sind ihre Rechte? Wie können sie sie sichern? Außerdem sollen sie über Beratungsangebote in ihrer Nähe informiert werden. Viele Menschen, die Diskriminierungserfahrungen machen, kennen ihre Rechte überhaupt nicht. Meta soll ihnen zeigen, welche Rechte sie haben und aufzeigen, wie andere Menschen in ihrer Situation diese Rechte durchsetzen konnten.

    Said, was hat Dich als Jurist dazu gebracht, einen Antidiskriminierungs-Chatbot zu erfinden?

    Viele Konflikte in unserer Gesellschaft sind konstruiert. So denken zum Beispiel viele Menschen, Migration stelle eine Gefahr für „unsere Werte“ dar. Als Schüler*in findet man aber kein Gehör, also wollte ich etwas machen, was einen Einfluss auf die Gesellschaft haben kann. Deshalb habe ich damals angefangen Jura zu studieren, um den nötigen Werkzeugkasten zu haben, diese Konflikte zu dekonstruieren und zu lösen. Nach dem zweiten Staatsexamen haben mir die beruflichen Perspektiven, um etwas zu ändern aber nicht mehr gereicht. Also habe ich mir etwas anderes überlegt.

    Es gibt bereits einige Antidiskriminierungsberatungsstellen. Wozu braucht es dann noch Meta?

    Es gibt zwar Beratungsstellen, allerdings nicht flächendeckend und nur mit begrenzten Kapazitäten. Betroffene müssen teilweise viele Kilometer fahren oder aber lange warten, bis sie beraten werden können. Der Chatbot ist also einsetzbar, wo es noch an Menschen fehlt und steigert außerdem die Qualität der „analogen“ Beratung. So sind die Betroffenen schon vorinformiert, wenn sie in die Beratung kommen, zum Beispiel bezüglich Fristwahrung und Beweissicherung. Die Fristen, um rechtlich gegen Diskriminierung vorzugehen sind nämlich besonders kurz. Das erscheint fragwürdig, vor allem wenn man bedenkt, dass es ja auch meist erst einmal Zeit braucht, Diskriminierungserfahrungen emotional zu verarbeiten. Zudem gibt es eine Sache, die analoge Beratungen nicht bieten können und das ist Anonymität. Das verhindert zum Beispiel die Stigmatisierung Betroffener als „jemand, der sich als Opfer sieht“.

    Bezüglich der emotionalen Verarbeitung muss ich zugeben, dass es mir schwerfällt, mich in die Situation einer betroffenen Person hineinzuversetzen, da ich selbst nie Diskriminierungserfahrungen machen musste. Die erste kritische Frage aber, die mir beim Nachdenken über einen Antidiskriminierungs-Chatbot in den Sinn kam, war, ob eine Person, die gerade eine Diskriminierung erlitten hat, sich an einen Roboter wenden mag, um ihre Erfahrung mit ihm zu teilen.

    Ich denke, dass Betroffene emotional ohnehin von ihrem sozialen Umfeld wie ihrer Familie und Freund*innen unterstützt werden, wenn sie eine Diskriminierungserfahrung machen, und nicht von einem/einer Berater*in. Außerdem können diese Vertrauenspersonen den Chatbot für sie bedienen. Das Optimum wäre natürlich, wenn es bei der Diversität, die wir in unserer Gesellschaft haben, immer und überall Beratungsangebote gäbe. Da es aber nun einmal kein Profitgeschäft ist, sondern Beratung hauptsächlich durch Spenden und Ehrenamt ermöglicht wird, ist das schwer umsetzbar. Deshalb wollen wir Berater*innen entlasten.

    Wir haben aber nicht das Ziel sie zu ersetzen. Es ist klar, dass ein Chatbot keinen Menschen ersetzen kann. Meta soll Betroffene über ihre rechtlichen Handlungsmöglichkeiten aufklären. Dazu brauchen wir zurzeit die Expertise von Jurist*innen und Anwält*innen, um die besten Informationen darüber liefern zu können, wie man gegen Diskriminierung vorgehen kann, um etwas zu ändern. Gleichzeitig soll zwecks des psychosozialen Aufarbeitens an entsprechende Beratungsstellen verwiesen werden. In einem Meer von Diskriminierung soll Meta also die Brücke zu der Insel mit Anwält*innen und der Insel mit Berater*innen sein.

    Du arbeitest nicht alleine an der Entwicklung von Meta, wie setzt sich eigentlich Euer Team zusammen und seit wann läuft das Projekt?

    2019 habe ich einen ersten Hackathon ausgerichtet [bei einem Hackathon kommen Softwareentwickler*innen zusammen, um gemeinsam an der technischen Lösung eines gegebenen Problems zu arbeiten], um Menschen für das Projekt an Bord zu holen. Am 8. Februar 2021 haben wir dann den Prototypen des Chatbots gelauncht. Mittlerweile sind wir drei Hauptamtliche und 15 Ehrenamtliche im Team. Dabei steht an erster Stelle für den Erfolg von Meta die Diversität unseres Teams. Diversität schafft diverse Perspektiven und Meinungen.

     

     

    Wenn ich fragen darf, haben Du und Dein Team eigene Erfahrungen von Diskriminierung gemacht, die einen Einfluss auf Meta haben? Wenn ja, helfen Euch diese Erfahrungen bei der Entwicklung von Meta?

    Auf jeden Fall. Wir sind unfreiwillige Expert*innen, was die Perspektive der Betroffenen angeht, wir sind ein Teil der Zielgruppe des Projekts. Jedes Mal, wenn jemand von uns eine Diskriminierung erfährt – und das passiert ständig – versuchen wir in einem konstruktiven Gespräch Erkenntnisse daraus zu gewinnen, um Meta weiterzuentwickeln, damit andere nicht die gleichen Erfahrungen machen müssen.

    Vor kurzem wurde Mark Zuckerbergs Facebook zu Meta umbenannt. Ist eine Namensänderung von Eurem Chatbot vorgesehen?

    Ja, der fertige Chatbot soll einen neuen Namen erhalten, der ist aber noch geheim.

    In den sozialen Netzwerken habt Ihr Eure Follower*innen nach Vorschlägen für einen neuen Namen gefragt. Welche Rolle spielt die Einbindung der Community grundsätzlich bei der Entwicklung des Chatbots?

    Die eine „Community“ an sich gibt es eigentlich nicht. Der Chatbot soll allen Menschen mit Diskriminierungserfahrungen nützlich sein. Es gibt aber ganz viele verschiedene Gründe für Diskriminierung, also wollen wir auch unterschiedliche Communities erreichen. Deswegen sind wir darauf angewiesen, mit unseren Zielgruppen in Kontakt zu treten, um ihre Bedürfnisse kennenzulernen und mit dem Produkt bedienen zu können. Die Diversität unseres Teams bietet hier auch Zugänge zu den Communities.

    Wie sieht die Zukunft des Chatbots aus? Was sind kurzfristige und langfristige Ziele?

    Meta ist bisher nur ein Prototyp. Er diente vor allem dazu, Förder*innen und Investor*innen zeigen zu können, wie in etwa der fertige Chatbot einmal aussehen soll. Es ist nämlich nicht leicht, als erster Antidiskriminierungs-Chatbot finanzielle Unterstützung zu erhalten. Es gibt weltweit kein vergleichbares Projekt. Aber mit Hilfe des Prototyps haben wir Förder*innen und Investor*innen auf uns aufmerksam machen können, vor allem die Robert Bosch Stiftung und das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz. Außerdem hatte der Prototyp im letzten Jahr bereits 1.500 Testuser*innen. Unser Ziel war 300. Das zeigt deutlich, dass eine hohe Nachfrage nach einem Antidiskriminierungschatbot besteht.

    Unser Langfristiges Ziel ist daher die Produktreife. Momentan liegt dem Chatbot noch ein einfacher Entscheidungsbaum zugrunde, der keine Abkürzungen erlaubt. Der Chatbot, dann mit anderem Namen, soll mit einem höheren Level künstlicher Intelligenz ausgestattet werden, die ihn lern- und erinnerungsfähig macht. Spätestens nächstes, hoffentlich aber schon dieses Jahr soll der Chatbot dann voll einsatzbar sein. Ziel ist eine Verständnisrate von 80%. Um dem Chatbot hier noch unbekannte Fälle von Diskriminierung beizubringen, sind wir an dieser Stelle auch wieder auf die Einbindung unserer Zielgruppen angewiesen.

  • Respekt für die Ballroom-Szene

    Aquileia (auch bekannt als Bellatrix Salem in der Kiki-Ballroom-Szene) entdeckte die Ballroom-Szene und „voguing“ für sich, als en 18 Jahre alt war. En wurde in Hamburg geboren, ist in Südafrika aufgewachsen und lebte 3 Jahre in Venezuela. Wegen der Arbeit enes Eltern ist en oft umgezogen. Zwischendurch kehrte en aber  nach Hamburg zurück, wo Aquileia der eigenen Leidenschaft, dem Tanzen, folgte. Als aktives Mitglied der Ballroom Szene in Hamburg, leitet Aquileia die Vogue Open Sessions im Lukulule e. V.

    Erster Zugang zur Ballroom – Szene

    Aquileia sitzt draußen unter der kalten Oktobersonne, als wir mit unserem Skype-Interview anfangen. Trotz der Entfernung und der typischen technischen Schwierigkeiten, ist enes Begeisterung deutlich, als en mich in die Geschichte der Ballroom-Szene einweiht.

    Die Ballroom-Szene entstand in den 1920er Jahren. New Yorks Black und lateinamerikanischen LGBT Gemeinschaften kreiierten die Szene. Sie war eine direkte Reaktion auf die verschiedenen Diskriminierungsformen (Homophobie, Transphobie und Rassismus), mit denen ihre Teilnehmer*innen in ihrem täglichen Leben konfrontiert waren. Dabei ging es sowohl um Anerkennung und Respekt als auch Gemeinschaft und Zugehörigkeit. Der Ballroom diente vor allem als ein Safe Space für ihre Mitglieder und bleibt nach wie vor ein Ort des Widerstands.  Im Laufe der Zeit wuchs die Szene und entwickelte sich über die Landesgrenzen hinaus. Somit brachten unter anderem die französische Vogue Tänzerinnen Lasseindra Ninja (die früher in New York lebte) und Nikki Gucci den Tanzstil nach Europa. Und damit auch die Sprache und Kultur der Szene.

    Ballroom-Szene in Europa

    „Die Szene hat sich danach in Europa weiter etabliert. Es gibt natürlich eine viel größere Szene in den Staaten als hier, aber hier ist die Szene auch anders als in den Staaten, weil wir hier auch andere Kategorien haben, andere Geschichten. Doch jeder hat irgendwie eine andere Verbindung zur wahren Szene.“ En erklärte mir, dass Ballroom-Szene in zwei Gruppen aufgeteilt ist: die Kiki und Major Szene. In der Kiki-Szene wird neuen Mitgliedern der Einstieg ins Ballroom erleichtert. Sie werden dabei unterstützt, Kategorien auszuprobieren, bis sie finden was sich am besten anfühlt. Die Kiki Szene ist weniger kompetitiv als die Major Szene, die im Vergleich internationaler ist und meist aus erfahrene Mietgliedern besteht.

    Umzug nach Venezuela

    Aquileas Zugang zur Ballroom-Szene war enes Bekanntschaft mit Dominik Lamovski (auch als „Domi Twinkle“ bekannt). Während eines Aufenthalts in Hamburg, lernte Aquilea Dominik in einem von ihm geleiteten Hip-Hop Kurs kennen. Als en nach Venezuela zog, hielten beide weiter Kontakt. En wurde durch YouTube auf Dominiks Beiträge zum Thema Vogue aufmerksam. Das Thema gewann zunehmend an Bedeutung während enes Zeit in Venezuela, als en nach einem sicheren Ort suchte, um enes Sexualität und Geschlechtsidentität zu definieren.

    Dort ging en auf eine deutsche Privatschule und erinnert sich, dass in Venezuela eine konservative Atmosphäre herrschte. „Ich habe mich da eher zurückgehalten (…) und ich hatte immer irgendwie das Gefühl, ich kann mich da niemandem anvertrauen. Ich finde da keinen Zugang, keine Personen, die mich wirklich verstehen (…) auch wegen meines Genders hatte ich Schwierigkeiten, da irgendwie einen Platz zu finden“. Als en einen Beitrag vom NDR auf YouTube findet, in dem Dominik das „Haus von Laser“ vorstellt, öffnet sich für en eine Welt voller neuer Möglichkeiten: “ Da habe ich zum ersten Mal gesehen: Okay, es gibt noch was anderes!“

    Hamburg und das House of Twinkle

    Aquileia und enes Familie kehrten 2015 aus Venezuela nach Hamburg zurück. Kurz danach wurde en von Dominik in die Ballroom-Szene eingeführt. „Ich war damals in seinem Hip-Hop Training und er hat mich dann zum Open Vogue Training mitgenommen. Damals gab es auch nur einfache Sessions und die Ballroom-Szene war noch nicht so groß wie heute“. Als Dominik das House of Twinkle gründete, war en voller Überzeugung, als dessen erstes Mietglied dabei.

    Für die Ballroom-Szene der 70er-Jahre in New York spielten die Houses (Häuser) eine wichtige Rolle. Weit über eine Tanzgruppe hinaus waren sie, historisch betrachtet, ein Zufluchtsort für Menschen, die aufgrund mangelnder Akzeptanz, Diskriminierungen oder Gewalterfahrungen ihr Zuhause verlassen mussten. Für viele bedeuteten die Houses eine Art selbst gewählte Familie und im wahrsten Sinne des Wortes ein Zuhause. Hierbei ist es Tradition, dass die Familienmitglieder den Namen ihres jeweiligen Hauses als ihren Nachnamen annehmen. Dies unterstreicht das Verständnis von Zugehörigkeit und Zusammenhalt der Houses.

    Die Leiter der Houses sind die „Mothers“ und „Fathers“. Die „Mütter und Väter“ stellen sie für ihre „Kinder“ in der Regel elterliche Figuren dar, bei denen sie sich Ratschläge holen und Trost finden können. Für Aquileia war es nicht anders. „Es ist tatsächlich so, dass man in den Houses sehr enge Verbindungen zueinander hat und zusammenlebt. Das Haus ist ein Zufluchtsort, in dem man trainiert, zusammen essen geht, manchmal auch zusammenwohnt“. Dominik übernahm die Rolle als „Father“ und später kam auch eine „Mother“ hinzu. In ihr fand Aquileia eine wichtige Bezugsperson.

    Im Interview erzählte en von Menschen, die en in der Szene kennenlernte und aufgrund ihrer sexuellen Orientierung von ihren Familien ausgegrenzt wurden. Auf der Suche nach einer Unterkunft fanden sie einen Zufluchtsort in der Ballroom-Szene. „Einige haben zum Beispiel Schwierigkeiten gehabt, überhaupt in ihren Familien zu bleiben. Sie haben die Menschen in den Houses, die Mütter und Väter, sozusagen als neue Bezugsperson angenommen“.

    Heute ist Aquileia Mitglied des von Ray Salems gegründete House of Salem, zu das sie vor ein paar Jahren wechselte.

    Voguing

    „Voguing ist der Tanz und innerhalb von Vogue gibt es verschiedene Tanzstile“, betonte Aquileia. „Die drei unterschiedlichen Vogue-Stile heißen „Old Way“, „New Way“ und „Vogue Femme“. Es ist schwierig die Bewegungen und Abläufe, die Vogue ausmachen, im Text darzustellen. Noch schwieriger ist die Energie, die dabei mitschwingt, in Worte zu  fassen. Dennoch sind die Namen der Tanzstile ein guter Anhaltspunkt, denn sie kennzeichnen die Veränderung des Tanzstiles in den letzten Jahren. Den „Old way“, der Ursprungstil, kennzeichnet rigide Bewegungen, die an die Kampfkünste und Tanzschritte des Poppings, Break Dances, angelehnt sind. Der „New Way“ führte neue Elemente ein. Ergebnis waren innovative abstrakte Bewegungen, die Boxen und Linien nachahmen, und flüssigere Bewegungsabläufe.

    Aquileia selbst bewegt sich im Bereich des „Vogue Femme“. „Vogue Femme ist der Stil der Drag Queens und Femme Queens (…) dieser kommt sozusagen von den Transfrauen und hat sich dann bei den cis Frauen und Butch-queen[1] in der Szene weiterverbreitet.“ Beim „Vogue Femme“ geht es vor allem um eine Betonung der weiblichen und theatralischen Bewegungen. Dadurch kann jede*r sich auf seine kreative Art feminine Charakteristika aneignen und damit Spaß haben.

    Voguing ist aber nur ein Bestandteil von Ballroom-Veranstaltungen. Bei den „Balls“ treten unterschiedliche Houses oder einzelne Performer gegeneinander in verschiedenen Kategorien an. Diese sind von verschiedenen Rollenbildern inspiriert. Ob Bussiness Woman oder Königin, es geht darum, sich in diese Rollen hinein zu versetzen. Die Teilnehmer*innen haben auf der Bühne die Möglichkeit, die ausgewählte Kategorie für sich zu interpretieren. Während dieser Zeit finden sich die Teilnehmenden in einer Welt wieder, in der sie sich durch ihr Outfit und Auftreten ständig neu erfinden können.

    „Realness“

    Allerdings müssen sich alle, die gewinnen möchten, an bestimmte Voraussetzungen halten. Denn die Jury beurteilt jeden Auftritt nach einer bestimmten Vorstellung: wie „echt“ wirkt die Performance der weiblichen oder männlichen Rollen? Die geforderten Präsentationen sind nach wie vor an gesellschaftliche Normen und Bilder von Männlichkeit und Weiblichkeit gebunden. Dafür ist die Anpassung an diese Erwartungen wichtig. Die Kategorie „Realness“ (Echtheit) spiegelt das sehr stark wider. „Du musst damit rechnen, dass es hart wird, dass es viel Competition gibt und dass du viel in Schubladen reingesteckt wirst. Aber es gehört auch zur Szene, denn es ist auch eine Widerspiegelung in der Gesellschaft.“ Dennoch, so wie unsere Gesellschaft auch, befindet sich die Szene in einem ständigen Wandel. Es werden immer wieder neue Kategorien kreiert, die sich langsam von der Binarität der Geschlechter lösen.

    Trotz der starren Wettbewerbsregeln, bietet die Ballroom-Bühne einen Raum, in dem Geschlechternormen hinterfragt werden und ihre Teilnehmenden sich diesen widersetzen können. Die Menschen haben hier die Möglichkeit ihre Geschlechtsidentitäten auf eine Art und Weise auszuleben, die von unserer/der Gesellschaft nicht akzeptiert oder sanktioniert wird.

    Empowerment durchs Tanzen

    Eine der Wettbewerbskategorien an denen Aquileia teilnimmt, ist „Sex Siren“ (Sex Sirene). In diesen Kategorien geht es um Sexappeal, Flirten und Bewegungen, die den eigenen Körper betonen. Es ist auch eine geschützte Kategorie. Damit sich alle Teilnehmenden frei und sicher fühlen können, wird oft darauf hingewiesen, dass während des Auftritts nicht gefilmt werden darf.

    Aquileia erzählte, wie diese Kategorie von und für Sexarbeiter*innen und Stripper*innen erschaffen wurde. Dabei ging es darum, einen sicheren Ort zu kreieren, an dem alle Menschen, die sich als Frau identifizieren, die Möglichkeit haben, sich frei auszudrücken und ihren Körper zu präsentieren: „Darum geht es eben bei Sex Siren. Dass man sich selbst fühlt, dass man sozusagen eine sexuelle Energie ausstrahlt.“

    Für Aquileia ist diese Kategorie von großer Bedeutung, denn dadurch lerne en enes Körper besser kennen und es verleiht en ein stärkeres Selbstbewusstsein. „Früher habe ich mich sehr versteckt (…) ich wurde immer auch in der Schule gemobbt, weil ich afghanisch und türkisch ausgesehen habe. In der Szene war es das erste Mal, dass ich meine Haut richtig zeigen konnte, dass ich stolz auf das sein konnte, wer ich bin und auch irgendwie meinen eigenen Körper kennenlernen konnte. Das gab mir extrem viel Energie und Freiraum“.

    Bei den Competitions trifft Aquileia immer wieder auf Gleichgesinnte, die wie en um Selbstliebe ringen. Die meisten haben tatsächlich auch negative Erfahrungen gemacht, weil ihre Figuren nicht einem konventionellen, gesellschaftlichen Schönheitsideal entsprechen. In solchen Momenten rückt der persönliche Ehrgeiz in den Hintergrund. Denn die gemeinsamen Erlebnisse stärken den Sinn für die Gemeinschaft und die Solidarität zwischen den Teilnehmenden.

    Die Zukunft von Vogue

    Zurzeit erlebt „Voguing“ eine wachsende Popularität als eigener Tanzstil. Durch die Präsenz der Ballroom-Szene in den sozialen Netzwerken, haben viele einen Zugang gefunden. Diese zunehmende Sichtbarkeit ist auch Serien wie Pose und Legend zu verdanken, welche einen Einblick in die Welt des Ballrooms gewährt haben. Dennoch bleibt die Szene in Deutschland zum größten Teil weiter im Verborgenen.

    Für Aquileia ist es wichtig, dass trotz der allgemein wachsenden Aufmerksamkeit, die Safe Spaces der Bühne im Ballroom erhalten bleiben. Denn für en bedeutet die Ballroom-Szene unter anderem ein sicherer Ort, wo jede Person sein kann was en möchte, ohne Angst vor Gewalt oder Stigmatisierung. Aquileias Meinung nach, führt die wachsende Bekanntheit der Szene unter anderem zu einer Kommerzialisierung des Tanzstils. Infolge dessen droht eine wichtige Essenz des Ballrooms verloren zu gehen: nämlich ihre Ureigenschaft als Schutzraum.

    In Hamburg kann man an Vogue-Workshops teilnehmen und Kurse besuchen, in denen der Tanz gelehrt wird. Aber leider werden die (sub-)kulturellen, gesellschaftlichen und geschichtlichen Aspekte ausgeblendet oder vergessen. Aquileia versucht dieser Entwicklung entgegenzuwirken, indem en, im Rahmen enes Open Sessions Einzelheiten zur Geschichte der Ballroom-Szene behandelt. Dabei geht es Aquilea um Respekt für die Szene und die Menschen, die ein Teil von ihr sind: „Also was mir immer wichtig ist, ist, dass die Szene nicht kommerziell dargestellt wird (…) dass jeder sich mit dieser Geschichte auseinandersetzt, bevor man überhaupt mit dem Voguen anfängt. Das finde ich auf jeden Fall wichtig zu betonen, weil es sehr viele Leute gibt, die unterrichten, aber sich eigentlich wenig mit der Geschichte des Ballroom auseinandergesetzt haben.“

    [1] Butch Queen: Szene Bezeichnung für cis-Männer die homosexuell oder bisexuell sind.

  • Framing – Wenn Medien diskriminieren

    „Das Ende der Z-Sauce – Ist das ein notwendiger Schritt?“ diskutiert Steffen Hallaschka in seiner Sendung „Die letzte Instanz“. Eingeladen sind vier weiße Gäste, die die überwiegende Meinung vertreten, ein sprachliches Umdenken bei der Namensgebung dieser Sauce sei nicht notwendig. Dass das Z-Wort eine von „Klischees überlagerte Fremdbezeichnung der Mehrheitsgesellschaft ist, die von den meisten Angehörigen der Sinti*zze und Rom*nja als diskriminierend abgelehnt wird“ (Zentralrat Deutscher Sinti und Roma 2015), scheint wohl zweitrangig im Kampf um eine gute Quote.

    Die öffentliche Kritik erscheint daher als logische und längst überfällige Konsequenz einer rücksichtslosen Debatte. Denn insbesondere nach globalen Gleichberechtigungsbewegungen wie Black Lives Matter, #metoo und #sayhername stößt dieser Umgang mit Minderheiten auf Empörung und Ablehnung. Forderungen nach Diskriminierungsfreiheit und Gleichberechtigung werden überall dort gestellt, wo Minderheiten strukturell benachteiligt werden.

     

    Sprache als scharfe Waffe

    Eine häufig unterschätzte Struktur stellt dabei unsere Sprache dar. Sprache ist mächtig. Sie prägt unser Denken und Handeln – meist sogar unterbewusst. Damit wird sie schnell zu einer Waffe, die so mächtig wie verletzend sein kann. Bei allem Gesagten werden eigene Wertvorstellungen vermittelt, die weder objektiv sind noch allgemeingültig. Viel zu schnell ist etwas gesagt, das einer bestimmten Sache oder Gruppe nicht gerecht wird. So entsteht Diskriminierung.

    Sprachliche Diskriminierung reduziert sich dabei nicht nur auf die Verwendung politisch inkorrekter oder unsensibler Bezeichnungen und Wörter. Oft erscheint sie viel komplexer und latenter. Ein allgegenwärtiges sprachliches Phänomen stellt dabei das sogenannte Framing dar.

    Frames, also Deutungsrahmen, sind omnipräsent in unserer Sprache (vgl. Schmidt 2014; vgl. Wehling 2016, 191). Sie können helfen, Informationen zu strukturieren und sie leichter verständlich zu machen. Die wohl beliebteste Metapher für dieses Phänomen ist das altbekannte halbvolle, beziehungsweise halbleere Glas. Das halbvolle Glas framet eine positive Lebenseinstellung, wohingegen die Beschreibung des Füllstandes als halbleer eher eine pessimistische Einstellung offenlegt. So simpel dieses Beispiel auch erscheinen mag – Framing kann ganze Weltsichten beeinflussen.

     

    Mediale Frames formen das Bild „des Islam“

    Zwar mag der Effekt einfache sprachliche Lösungen für komplexe Sachverhalte finden. Jedoch können etablierte Narrative und Frames schnell problematisch werden, da sie nur eine Seite der Medaille zeigen. Diskutieren in einer Talkshow vier weiße Menschen über das Existenzrecht des Namens einer Sauce, die einen rassistischen Stereotypen einer fremden Gruppe reproduziert, so bildet sich schnell ein Frame, der die Position der diskriminierten Personen in keiner Weise einbezieht. Die Situation polarisiert und beeinflusst die Meinung der Zuschauer*innen. So wird Framing über religiöse und ethnische Minderheiten häufig zum Verhängnis für die Betroffenen.

    Die größte religiöse Minderheit in Europa stellt der Islam dar. Im mehrheitlich christlichen Deutschland macht der Anteil der Muslim*innen 5,4% bis 5,7% der Bevölkerung aus (Bundesministerium des Innern 2016), das entspricht 4,4 bis 4,7 Millionen Menschen (Stand: 2015). Bei Befragungen der deutschen Bevölkerung schätzte diese die Zahl der Muslim*innen in der deutschen Gesellschaft auf über vier Mal so hoch ein (vgl. Skinner et al. 2018, 29).

    Ein Grund für eine derart falsche Wahrnehmung der Gesellschaftsverhältnisse ist, dass ein Großteil der mehrheitlich christlichen Menschen in Deutschland nur in ihren eigenen Religionskreisen leben. Da diese „zu wenig direkten Kontakt zu Muslimen oder zur islamischen Welt pflegen, wird ihr Islambild nachhaltig von den Massenmedien geprägt“ (Hafez und Richter 2007, 9 40). Medien haben also eine hohe Verantwortung gegenüber der repräsentierten Gruppe. Sie entscheiden mit, wie die meisten Deutschen über ihre muslimischen Mitmenschen denken.

     

    Terror und Angst schaffen ein negatives Bild

    So hoch der Vermittlungsbedarf in unserer zunehmend multikulturellen Gesellschaft ist – immer wieder tritt ein Frame in den Vordergrund, wenn über „den Islam“ debattiert wird: der unabdingbare Zusammenhang zum Terror. Er zieht sich durch unsere Diskussionskultur und nimmt dabei die verschiedensten Formen an. Sein Ursprung findet sich in der Auslandsberichterstattung, die spätestens seit den Terroranschlägen 2001 in New York sensibilisiert ist für Islamismus. Dadurch etablierte sich schon früh die Verbindung des Islam mit hauptsächlich konfliktlastigen Themen (vgl. Hafez und Richter 2007, 40).

    Diese „unhinterfragte Verknüpfung von Islam und Terrorismusneigung“ (Halm et al. 2007, 11 ff.) lässt völlig vergessen, dass die Religion des Islam wenig mit Islamismus zu tun hat – jener ist eine politische Ideologie. Zwar basiert Islamismus auf dem Islam, jedoch ideologisiert er diesen und propagiert, die Gesellschaft zu islamisieren oder eine islamische Herrschaftsordnung zu errichten (vgl. Mediendienst Integration 2019, 187). Dabei richtet er sich gegen eine demokratische Grundordnung (vgl. Bundesministerium des Innern und für Bau und Heimat 2018, 170).

    Getreu nach dem journalistischen Motto „Only bad news are good news” taucht Islamismus bzw. der Islam vor allem dann in den Medien auf, wenn islamistische Attentate das Weltgeschehen aufrütteln. Konsequenz: Zu oft, wenn der Islam in den Medien auftaucht, steht er in einem negativen Kontext. Für den Islamismus scheint negative Berichterstattung eine logische Konsequenz zu sein, für das Bild des Islam ist es jedoch fatal. Das alltägliche Leben mit der Religion rückt in den Hintergrund und wird von der News-Agenda sogar verfälscht.

     

    Unter einem Frame lässt sich rechtsextremes Gedankengut vermitteln

    Immer wieder wird eine schwierige Integration als gesellschaftliches Problem angeprangert, das Land sei überfordert mit den Menschenmassen, die Zuflucht suchen. Die tragische Ironie der Situation gleicht nahezu einer Täter-Opfer-Umkehr, bei der die deutsche Bevölkerung Opfer der vermeintlich schmarotzenden Menschenmassen aus dem Ausland wird. Merke: Menschen fliehen, weil sie in Not sind. Das Narrativ etabliert sich dennoch, sodass der Frame Angst in den Vordergrund tritt.

    Dabei schwelt diese Angst komplex und vielschichtig über der Gesellschaft. Sie überträgt sich auf verschiedene Bereiche des alltäglichen Lebens. So bekunden viele Menschen Angst vor dem Verlust von Sicherheit aufgrund drohenden Terrors, aber auch Besorgnis, den eigenen Lebensstandard wirtschaftlich und sozial „herunterschrauben zu müssen“ (Wohlt et al. 2017, 181 f.).

    Hier mündet auch die Kritik an Gruppen wie Pegida, die seit 2014 verstärkt in Deutschland demonstriert. Unter anderem kritisieren sie die Asylpolitik und die Arbeit der Medien – und mahnen dabei vor einer „Islamisierung“ Deutschlands. Dabei geht es schätzungsweise nur einem Viertel der Anhänger*innen tatsächlich um den Islam. Vielmehr besteht auch hier die Angst „um die eigenen (gefühlten) Privilegien“ (vgl. Vorländer 2015.). Unter einem emotionsbeladenen Frame lässt sich so einfacher rechtsextremes Gedankengut vermitteln. 2007 schreibt der Medienwissenschaftler Hafez: „Die demoskopische Lage des letzten Jahrzehnts zeigt […] einen Trend auf, wonach ein Großteil der deutschen Bürger Angst vor dem Islam hat“. Organisationen wie Pegida erschweren den Start für Muslim*innen zusätzlich, wenn sie reelle Ängste und Bedenken zu Terror oder dem Islam für ihre Ideologien ausnutzen.

     

    Multimediale Reproduktion als Frame-Verstärker

    Bleibt man bei Titeln von Talkshowsendungen, wird die Verknüpfung jener Frames schnell deutlich. In einer Folge von „Hart aber fair“ im September 2015, „Merkel bejubeln, an Mohammed glauben. Wie viel Islam gehört zu Deutschland?“, bezieht Frank Plasberg sich auf die (Achtung, Frame) sogenannte Willkommenspolitik der deutschen Kanzlerin. Diese hatte zu Zuversicht in den stärksten Jahren der Zuwanderung in Deutschland aufgerufen. Die Frage ob, nicht „wie viel“, wurde schon vielfach in der Politik diskutiert. Wolfgang Schäuble sagte schon 2006 in einer Regierungserklärung „Der Islam ist Teil Deutschlands und Europas“.

    Mit der Formulierung des Titels wird das Thema bereits in eine gewisse Richtung gelenkt: Erstens impliziert sie ein Gefühl des „Wir“ (Deutschland) und „die Anderen“ (Muslim*innen) (vgl. Le 2018). Trotzdem wird manifestiert, dass der Islam zu Deutschland gehört. Jedoch wird diese Tatsache relativiert: Es wird gefragt wie viel des Islam, also der Religion, zu Deutschland gehöre. Eine Diskussionsrunde berät also TV-tauglich in knapp anderthalb Stunden über das Schicksal von Millionen von Muslim*innen in Deutschland.

     

    Frames enttarnen und Inhalte reflektieren

    Der Frame wird weiter geformt mit einer Zuschauer*innennachricht. Diese beginnt mit „ICH HABE ANGST!“ und wiederholt diesen Satz. Die Zuschauerin fragt sich, wie „mit einer hier etablierten Religion“ Friede gehalten werden könne, wenn die „Massen“ es selbst in ihrer eigenen Religion nicht schaffen würden. Damit bekundet sie ihre Besorgnis, spricht dazu gleichzeitig den islamistischen Terror in muslimisch geprägten Ländern an. Es folgt ein Einspieler, der diese Zuschauer*innenmail mit Zahlen unterstreicht: „Angst vor dem Muslimischen, Angst vor dem Islam, die haben viele hier in Deutschland.

    Über die Hälfte der Bevölkerung, nämlich 57%, nimmt den Islam als Bedrohung wahr. Und ein noch höherer Anteil, 61%, vertritt die Ansicht, dass der Islam nicht in die westliche Welt passe“. Innerhalb der ersten Minuten wird hier die Grundlage für das folgende Gespräch geebnet, sie enthält das Framing-Komplettpaket: Angst, Bedrohung, Terror. Dabei steht diese Folge exemplarisch für ein strukturelles Problem des Formats und vielleicht gar der Medien generell, die sich ihrer Verantwortung zu wenig bewusst sind.

    Mit den Medien als Hauptkommunikationsmittel unserer Zeit sind sie auch verantwortlich für eine Menge der Frames, die in alltäglichen Diskursen umherschwirren. Wie und worüber gesprochen wird, bestimmen häufig die Kanäle, über die wir uns informieren. Um sprachlicher Diskriminierung keinen Raum zu geben, sollten wir uns der Omnipräsenz von Frames bewusst sein. Nicht immer ist es einfach, sie zu enttarnen, geschweige denn sie auf ihre Ursprünge zu analysieren. Inhalte zu reflektieren und vermeintlich Diskriminierendes nicht zu reproduzieren kann und sollte jedoch jeder Mensch tun.

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