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als Ärztin in Sachsen unterwegs für Geflüchtete

  • Der kleine Unterschied

    Im Übergangswohnheim Perlacher Straße sind der Hausmeisterposten und das Büro der Heimleitung nur von Montag bis Freitag besetzt. An den Wochenenden ist lediglich der Wachschutz vor Ort. Im Treppenhaus hängt eine Tafel mit Telefonnummern für den Notfall: Hausmeister, Havariedienst für Gas/Wasser/Strom, Schlüsseldienst. Doch was passiert, wenn dieser Notfall tatsächlich eintritt?

    Ein Notfall

    Am Samstagmittag erreichte mich ein Hilferuf. Die Bewohner teilten mir mit, dass sie frieren. Die Heizung war ausgefallen und es gab auch kein warmes Wasser, seit dem letzten Abend schon. Spät abends wollten sie niemanden mehr belästigen und das Problem heute Morgen eigentlich selbst lösen, aber …

    Die Nacht war eisig, auch tagsüber hatte es in diesen Tagen kaum mehr als minus zehn Grad. In manchen Räumen schließen die Fenster schlecht, andere haben feuchte Wände. Den ganzen Vormittag schon haben sie versucht, Abhilfe zu schaffen. Den Hausmeister haben sie mehrfach angerufen, er geht nicht ans Telefon. Auch die Notfallnummer der Gas-Wasser-Heizungs-Firma haben sie gewählt. Dort hat man ihnen allen Ernstes gesagt, der Ausfall von Heizung und Warmwasser mitten im Winter wäre nicht so schlimm und die Reparatur hätte Zeit bis Montag, am Wochenende kommt niemand vorbei. Die um Hilfe gebetenen Wachschutzmänner lehnten ebenfalls ab – sie seien nur dazu da, um für Ordnung und Sicherheit zu sorgen, alles andere geht sie nichts an.

    Die Menschen froren aber und konnten sich nicht einmal unter einer heißen Dusche aufwärmen, weil auch das Wasser kalt blieb. In den Küchen hatten sie die Herde und Backöfen angestellt und sich darum versammelt, um sich wenigstens Tee zu kochen und die Hände zu wärmen. Mehrere Tage bei strengem Frost ohne Heizung und heißes Wasser gehen gar nicht.

    Was also tun? Conny anrufen!

    Ich fuhr mit einem Ölradiator aus meinem Keller in die Perlacher Straße. Damit könnten sie sich wenigstens einen Raum etwas angenehmer machen und sich abwechselnd um das Öfchen versammeln, falls es tatsächlich länger dauern sollte.

    Ein Telefonat

    Ich wurde schon erwartet und mit einem heißen Tee empfangen. Es war wirklich ungemütlich in den Räumen, feucht und kalt.

    Auch ich rufe die Handynummer des Hausmeisters an, er hebt wieder nicht ab. Das Nottelefon der Heizungsfirma ist aber besetzt. Ich nenne meinen Namen und schildere das Problem: Keine Heizung und kein warmes Wasser seit gestern Abend, wir frieren.

    Nein, das geht natürlich nicht, versichert mir am anderen Ende der Disponent, und selbstverständlich wird sofort ein Monteur zu mir geschickt.

    „Ihre Adresse?“, fragt die Stimme aus dem Telefon.

    „Perlacher Straße 16“, antworte ich.
    „Perlacher 16? Das sind doch diese Asylanten?“

    „Ja, das Wohnheim.“

    „Ach so … nein, also dann …“

    „Wie bitte?“, frage ich, „was meinen Sie mit ‚nein, also dann‘?“

    „Also da hat vorhin schon einmal jemand angerufen und …“

    „… und Sie haben gesagt, heute kommt niemand mehr, das hätte Zeit bis Montag!?“

    „Nein, das wird heute nichts mehr“, sagt der Disponent, „wir haben so viele Aufträge, da ist niemand, den ich heute noch in dieses Asylantenheim schicken kann!“

    „Aber Ihre Firma ist schon auch für dieses Objekt zuständig?“, frage ich.

    „Ja, das schon, aber dieses Wochenende geht es gerade überhaupt nicht!“

    Mein Ton wird schärfer: „Und warum nicht?“

    „Ich habe es doch gesagt: zu viele Aufträge!“, lautet die Antwort, die gelangweilt aus dem Hörer kommt.

    „Aber gerade eben klang das doch ganz anders!“, sage ich gereizt. „Da haben Sie gesagt, Sie würden sofort einen Monteur zu mir schicken! Wenn ich also zufällig nebenan in der Perlacher Straße 14 wohnen würde und dasselbe Problem hätte, dann hätten sie wohl nicht zu viele Aufträge und es würde jemand kommen? Es macht für Sie also einen Unterschied, ob ich mit meiner Familie friere oder die Bewohner dieses Heims?“

    Es knackt in der Leitung.

    „Hallo?“

    Keine Antwort. Ich höre stattdessen unverständliches Getuschel.

    „Sind Sie noch dran?“

    „Äh … ja …“

    „Ist es in Ihren Augen weniger schlimm, wenn Menschen anderer Nationalitäten frieren, als wenn eine deutsche Familie friert?“, frage ich wütend.

    „Ja! Ähm, nein … aber …“, versucht sich der Mann am anderen Ende herauszureden.

    „Ja??? Aber???“, wiederhole ich noch wütender.

    „Aber das sind doch nur …“ Ich will gar nicht hören, wie der Satz endet. Mir platzt der Kragen!

    „Jetzt hören Sie mir mal gut zu“, falle ich ihm ins Wort, „Sie schicken jetzt umgehend einen Monteur in die Perlacher Straße 16 und reparieren die Heizungsanlage! Ich bin hier vor Ort und erwarte Sie binnen einer Stunde. Wenn bis dahin niemand da war, dann rufe ich Sie wieder an, und wieder und immer wieder, bis Sie das Problem beheben, darauf können Sie sich verlassen! Sie sorgen hier für warme Räume und heißes Wasser, und zwar JETZT!“

    Ohne ein weiteres Wort hat der Mann am anderen Ende der Leitung aufgelegt.

    Ich musste nicht noch einmal anrufen. Der Handwerker kam nach einer halben Stunde, und der Defekt war in zehn Minuten repariert.

  • Doppelbelastung – Eine Krise in der Krise

    Von Luisa Eyselein und Simon Kolbe

     Simon Kolbe ist seit 2014 Berater von Geflohenen und ihren Unterstützer*innen. Er schreibt regelmäßig für das Flüchtling-Magazin (weitere Artikel hier). Luisa Eyselein arbeitet seit 2017 für The Justice Project e.V. in Karlsruhe. Gemeinsam beschreiben sie hier, was Corona für Geflohene bedeuten kann.*

    Stichwort Trigger

    Unter Trigger versteht man eine plötzliche Erinnerung an ein traumatisierendes Ereignis. Reize aus der Umwelt können dies auslösen. Emotional stabile Menschen können eine gesellschaftliche Krise relativ gut bewältigen. Hingegen kann bei traumatisierten und emotional belasteten Personengruppen eine solche Situation Unsicherheiten und Ängste auslösen. Geflohene leiden häufig unter depressiven Episoden, Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS)[ii] und anderen Angststörungen.

    Deshalb erleben sie Trigger posttraumatischer Symptome in zahlreichen Alltagssituationen. Die betroffene Person erlebt während dieses Flashbacks ähnliche Gefühle wie damals. Das kann beispielsweise zu einer Panikattacke führen. [iii].

    Die Corona-Krise als Trigger posttraumatischer Symptome

    Viele Geflohene erleben die Corona-Krise und alle damit zusammenhängenden Geschehnisse als solche Trigger. Für Geflohene sind Ausgangsbeschränkungen, das Herunterfahren des öffentlichen Lebens, Eilmeldungen mit Todeszahlen und Nachrichtensendungen mit verstörenden Bildern eine unfassbare Bedrohung. Dazu gehören auch die verbreiteten Fake News in den sozialen Medien. Bisher sind uns dazu allerdings noch keine statistischen Erhebungen bekannt.

    Erfahrung aus dem Beratungsalltag

    Aus dem Beratungsalltag erfahren unsere Organisationen jedoch von ansteigenden Krisen und Sorgen. Unter anderem sagte eine Asylsuchende aus dem Iran einen Beratungstermin bei The Justice Project e.V.  mit folgenden Worten ab (aus dem Englischen übersetzt):

    „Es tut mir sehr leid. Ich kann dich heute nicht sehen. Ich kann nicht in dein Büro kommen. Ich fürchte mich. Ich kann es nicht erklären. Es ist wegen des Coronavirus. Ich möchte allein sein. Ich bin sehr schwach. Ich muss den ganzen Tag im Bett bleiben.“ [Zitat noch vor den in Deutschland veranlassten Beschränkungen.]

    Aber nicht nur unsere Klient*innen sagen aus Angst ihre Termine ab. Die Ausgangsbeschränkungen und Kontaktverbote schränken die Beratungsangebote selbst massiv ein.

    Eingeschränkte soziale Dienstleistungen bringen Unsicherheit

    Die Schutzmaßnahmen im Zuge der Corona-Krise reduzieren zahlreiche staatliche und nicht-staatliche Dienstleistungen für Geflohene stark oder  stellen sie ganz ein. Viele NGOs bieten nun psychosoziale Beratung am Telefon an. Allerdings ist es schwierig diese Hilfe anzunehmen. Das führt dann oft dazu, dass die Geflohenen die Angebote gar nicht wahrnehmen. Vor allem gilt das für die Sozial-und Verfahrensberatung in Flüchtlingsunterkünften. So meldete sich beispielsweise eine ehemalige ghanaische Klientin in der Beratungsstelle von The Justice Project e.V. mit folgenden Worten (aus dem Englischen übersetzt):

    „Aber nicht nur die fehlenden Beratungsmöglichkeiten stellen einen schwerwiegenden Einschnitt für die Betroffenen dar. Gerüchte und Falschnachrichten sorgen für weitere Sorgen und Ängste.“

    Fake News und verdächtige Gerüchte erzeugen Angst

    Fake News und verdächtige Gerüchte lösen Ängste aus, die noch zusätzlich zu den Unsicherheiten kommen, die die Corona-Krise ohnehin schon auslösen. In vielen Flüchtlingsunterbringungen ziehen diese ihre Kreise. Dabei vermischen sich oft amtliche und korrekte Informationen der Behörden und Institute mit Unsinn und Panikmache aus den sozialen Medien, Netzwerken und Kommunikationsplattformen.

    Zum Beispiel berichtet eine nigerianische Klientin von einer Sprachnachricht, die rumgeht. In der erklärt ein Mann auf Englisch, dass man Briefe mit einem Handschuh in eine Plastikfolie packen soll, um sie einige Tage darin aufzubewahren. Damit können die Viren absterben. Weiterhin sagt er, dass man sich um Klagefristen oder andere Fristen nicht sorgen solle. Aufgrund der Corona-Krise sei dies nun sowieso nicht mehr relevant.

    Eine andere Nachricht, die in Form eines Flyers rumgeht, sagt den Weltuntergang für den 23. April 2020 voraus (aus dem Englischen übersetzt):

    „Das Ende der Welt ist nahe.“

    Empfehlungen für Ehrenamtliche und Hauptamtliche

    Bei zahlreichen Geflohenen fallen diese Botschaften auf fruchtbaren Boden. Die auslandsspezifische Unsicherheit sowie mystische Weltanschauungen führen oft zum schnellen Glauben dieser Nachrichten. Gerade jetzt ist es umso wichtiger, dass Sozialarbeitende verfügbar bleiben und proaktiv arbeiten, damit sie Ängsten entgegenwirken können. Daher empfehlen wir die Lektüre des Beitrages der geschätzten Autorin Cornelia Dürkhauser (hier zu lesen) und ergänzen lediglich mit einigen Empfehlungen für Ehrenamtliche und Hauptamtliche:

    Sorgen Sie für däquate Informationen:

    Informieren Sie die Geflohenen wo und wie sie amtliche Informationen in ihrer Sprache bekommen (z.B. bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung) und teilen Sie ihnen die richtigen Notfallnummern mit. Auch die Telefonseelsorge und die Krisenbereitschaft gehören dazu.

    Identifizieren Sie Fake News und klären Sie auf:

    Kommt ihnen ein Post oder eine Kettennachricht verdächtig vor? Erzählt Ihnen eine Person von bestimmten fragwürdigen Zaubern, Ritualen und Hilfsmitteln, die absoluten Schutz vor einer Infektion bedeuten? – Beziehen Sie Stellung und weisen auf die behördlichen und amtlichen Informationen und Maßnahmen hin. Nutzen Sie zur Überprüfung zum Beispiel die Faktenchecks des öffentlichen Rundfunks, des RKI oder der WHO. Aber auch zum Beispiel Faktenfuchs und Mimikama helfen oft.

     

    Soziale Distanz bedeutet nicht emotionale Distanz

    Je weniger Sie vor Ort sein können und je länger die Einschränkungen dauern, desto wichtiger werden Zeichen und Symbolhandlungen. Zeigen Sie persönliches Mitgefühl, bieten Sie Gespräche am Telefon an. Machen Sie sich gegenseitig Mut und gehen Sie mit gutem Beispiel voran: Zeigen Sie, dass Sie niemanden allein lassen.

    Positive Nachrichten

    Zum Schluss sollten die positiven Nachrichten nicht zu kurz kommen. Vor kurzem rief ein ehemaliger Klient aus dem Irak an, der ehrenamtliche Hilfe bei Bedarf angeboten hatte. Er habe noch Zeit nach seiner Arbeit, um andere zu unterstützen: „Wir müssen jetzt alle zusammenhelfen! Sag Bescheid, wann immer jemand Hilfe braucht“.

    Systemrelevante Geflohene

    Nur wenige nehmen wahr, dass viele Geflohene bereits Ausbildungen in der Altenpflege oder in anderen gesellschaftstragenden Berufen begonnen haben oder dort bereits arbeiten. Plötzlich werden Geflohene also auch systemrelevant. So berichtet eine langjährige Klientin aus Eritrea von ihrer Tätigkeit als Altenpflegehelferin (übersetzt aus dem Englischen):

    „Wir müssen derzeit 12-Stunden Schichten arbeiten. Ich muss zwei Tage hintereinander zum Beispiel von 7:00 Uhr bis 19:00 Uhr arbeiten. Dann habe ich 4 Tage frei. […] Ansonsten bleiben wir mit den Kindern zu Hause und waschen uns oft die Hände […]. Auch wenn ich Angst habe werde ich weiter arbeiten gehen. […] Ich habe Angst um die Leute, um die wir uns kümmern. Wer kann ihnen helfen, wenn wir es nicht machen? Sie warten auf uns, dass wir sie wecken und ihnen zu Essen geben. Also mache ich weiter, egal ob die Lage schlechter oder besser wird. Ich mache die Arbeit aus der Tiefe meines Herzens, weil ich sie liebe.“

    Es bleibt zu hoffen, dass bei laufenden Asylverfahren oder Härtefallanträgen dieser Aspekt in der Zukunft eine Rolle spielen wird.

    In eigener Sache

    * Der Verein The Justice Project e.V. identifiziert, berät und begleitet Betroffene von Menschenhandel. Betroffene, meist Asylsuchende, können in der Schutzeinrichtung von The Justice Project e.V. leben und am vorbereitenden Integrationsprogramm des Vereins teilnehmen.

    Seit 2019 arbeiten Luisa Eyselein und Simon Kolbe gemeinsam in einem interdisziplinären Team am EU-kofinanzierten internationalen Forschungsprojekt INTAP. Die Beteiligten untersuchen die Chancen und Herausforderungen für die Integration von nigerianischen Opfern des Menschenhandels.

    Quellen:

    [i] Als vulnerable Gruppen beschreibt man „aufgrund ihrer körperlichen und/oder seelischen Konstitution (z.B. Behinderung, psychische Störung, Schwangerschaft, hohes Alter) oder/und aufgrund ihrer besonderen sozialen Situation (z.B. obdachlose Frauen) verletzlichere (vulnerable) Personenkreise.“ (Quelle: Glossar Themenheft 42 – Gesundheitliche Folgen von Gewalt).

    [ii] Lindert, Jutta/ von Ehrenstein, Ondine S./ Priebe, Stefan/ Mielck, Andreas/ Brähler, Elmar. 2009. Depression and anxiety in labor migrants and refugees – A systematic review and meta-analysis. Social Science & Medicine Vol. 69 No. 2: 246-257.

     

    [iii] Stangl, W. (2020). Stichwort: ‚Trigger‘. Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik.

     

  • Hilfreiche Tipps für den Alltag mit Corona

    Beides ist, vor allem aus psychologischer Sicht, hoch problematisch. Während in Gemeinschaftsunterkünften die oft beengten Lebensumstände, die kaum vorhandene Privatsphäre, zu denen auch noch Ausgangsverbote hinzukommen, ist es für andere genau das Gegenteil, das es ihnen schwermacht:

    Wenn auf einmal der gewohnte Tagesablauf wegbricht, weil man nicht mehr zur Arbeit gehen kann, wenn man völlig allein in den eigenen vier Wänden sitzt und viel zu viel Zeit zum Nachdenken hat, wenn persönliche Kontakte von heute auf morgen plötzlich aufhören, wenn der Sorge um die Familie im Heimatland plötzlich nichts anderes mehr entgegensteht, wenn Unsicherheit dazu führt, die Wohnung überhaupt nicht mehr zu verlassen – dann ist das, zusammen mit all den kaum oder gar nicht aufgearbeiteten Erlebnissen aus der Vergangenheit, eine gefährliche Mischung, die zu Depressionen mit all ihren teils zerstörerischen Folgen prädestiniert.

    Hinzu kommen mehr oder weniger mangelhafte muttersprachliche Informationen.

    Hier sind ein paar Tipps, die helfen, um den Alltag zu bewältigen

    Was nun? Was tun! – Tipps für Betroffene und Unterstützer

    Ich kenne und begleite Menschen, deren mühsam errungenes, labiles Gleichgewicht gerade völlig zusammenbricht. Kontakte in die „Außenwelt“ sind gerade jetzt umso wichtiger – haltet Kontakt, wann und wie immer es möglich ist, auch wenn ihr gerade mit euch selbst beschäftigt seid.

    Es ist keine Schande, sich die eigenen psychischen Probleme einzugestehen. Es ist auch keine Schande, aktiv um Hilfe zu bitten und Hilfe anzunehmen, wenn man sie angeboten bekommt. Hilfe kann in dieser Situation schon ein Chat oder Telefonat mit einem Freund oder Kollegen sein.

    Trotz allem: Struktur im Tagesablauf

    Struktur ist wichtig. Sorgt mit regelmäßigen Kontakten für eine Struktur im Tagesablauf: Zum Beispiel früh eine Textnachricht, abends ein Telefonat, wenn möglich immer zur selben Zeit – fragen wie es geht, sich erzählen, was man gemacht hat (auch, wenn es nur ganz banale Dinge sind wie Wäsche waschen). Macht einen Plan für den nächsten Tag – auch hier wieder dürfen es ganz normale Dinge sein: Putzen oder Blumen gießen oder Schrank aufräumen oder etwas kochen. Damit hat man einen Aufhänger für morgen: „Hast du heute aufgeräumt?“ „Was hast du gegessen? Kannst du mir das Rezept geben?“ Und natürlich darf man sich auch jederzeit melden, bevor die tägliche Telefonzeit herangekommen ist.

    Auch wenn es schwerfällt: Positiv denken!

    Schafft positive Gedanken. Was habe ich (bzw. was hast du) heute gemacht, was mich zufrieden gemacht hat? Worüber konnte ich mich freuen? Was hat jemand anders gemacht, worüber ich (bzw. du) zufrieden war? Was habe ich (bzw. was hast du) dabei empfunden? Was sehe, höre, rieche, schmecke usw. ich (bzw. du), worüber ich mich gefreut habe?

    Trotz Ausgangsbeschränkung: Rausgehen erlaubt!

    Geht raus! Ihr dürft die Wohnung verlassen, auch, wenn euer Wohnort unter Ausgangsbeschränkung oder sogar unter verschärfter Ausgangbeschränkung steht. Ein komplettes Verbot, die Wohnung oder Unterkunft zu verlassen, besteht nur, wenn ihr unter Quarantäne steht. Quarantäne wird vom Gesundheitsamt angeordnet. Ansonsten dürft ihr in der Nähe eurer Wohnung spazieren gehen und auch Sport treiben. Ihr dürft euch auch draußen treffen, aber nur zu zweit – mehr Personen sind nur erlaubt, wenn sie zu euer Familie oder eurer Wohngemeinschaft gehören!

    Du lebst allein und hast einen Freund, einen Kollegen, einen Paten, irgendeinen vertrauten Menschen, der in der Nähe wohnt und den du ohne öffentliche Verkehrsmittel erreichen kannst? Super! Geht gemeinsam spazieren oder joggen, fahrt ein Stück mit dem Fahrrad, spielt im Hof über die Wäscheleine Tennis oder Volleyball. Setzt euch auf eine Bank, redet und esst und trinkt etwas gemeinsam – zu zweit oder gemeinsam mit Familienmitgliedern, die bei euch im selben Haushalt leben, dürft ihr das. Stellt euch dabei die oben genannten Fragen (worüber konnte ich mich heute freuen, was habe ich dabei gefühlt, gesehen, gerochen, geschmeckt?). Und erzählt auch darüber, wenn ihr abends telefoniert!

    Kleinigkeiten suchen und finden: Das Schöne im Alltag

    Macht Fotos und Videos! Von der Blume am Straßenrand, von den Wolken am Himmel, von euch selbst in der Sonne, von eurem sauberen und aufgeräumten Zimmer – und teilt sie über soziale Medien mit euren Betreuern, eurer Familie, euren Freunden in der Ferme. Und erzählt davon bei euren täglichen Telefonaten und überlegt euch, welche positiven Gedanken und Gefühle ihr dabei hattet.

    Etwas Neues ausprobieren

    Ihr habt etwas, was ihr schon immer machen oder ausprobieren wolltet? Malen? Nähen? Stricken? Videoschnitt? Bildbearbeitung? Ein neues Kochrezept? Ein Online-Tutorial? Nur zu, legt los! Es ist nur für euch und nicht schlimm, wenn es nicht gelingt, außer, dass es ein guter Grund wäre, es noch einmal zu versuchen. Haltet kurz inne und überlegt euch, wie ihr euch dabei fühlt. Schreibt es auf, führt Tagebuch, schreibt auch über eure Gedanken und Gefühle (gute wie schlechte). Wenn ihr könnt, erzählt anderen darüber, aber auch das Aufschreiben für sich allein kann schon sehr helfen.

    Und was, wenn gar nichts mehr geht?

    Wenn keine Tipps helfen und es euch einmal richtig schlecht geht in der Isolation – nehmt aktiv Kontakt auf! Ruft jemanden an, schreibt eine Nachricht über Messenger oder WhatsApp und wartet auf eine Antwort. Vielleicht dauert es ein wenig, bis eine Antwort kommt – manche Leute, so wie ich, arbeiten auch jetzt ganz normal weiter. Seid sicher, trotzdem kommt eure Nachricht an und wird beantwortet. Ihr seid nicht allein, auch wenn ihr euch manchmal einsam und vergessen fühlt. Es gibt Menschen, die an euch denken und euch helfen.

    Telefonseelsorge

    Es gibt auch Menschen, mit denen ihr ohne euren Namen zu nennen über akute Probleme am Telefon oder per Chat sprechen könnt. Die Nummern dieser Telefonseelsorge sind 0800/111 0 111, 0800/111 0 222 oder 116 123 (weitere Infos im Link) und 24 Stunden am Tag erreichbar. Das gleiche gilt für das Muslimische Seelsorge-Telefon, das man unter der Telefonnummer 030/443 509 821 erreicht (nähere Informationen ebenfalls im Link).

     

    Auch für Unterstützer gilt: Sucht immer wieder aktiv den Kontakt, seid aufmerksam, wenn irgendetwas anders ist oder euch komisch vorkommt. Nothilfe ist immer möglich, auch persönlich vor Ort (sofern derjenige oder die Einrichtung nicht unter Quarantäne steht – in dem Fall ist aber regelmäßiger telefonischer Kontakt umso wichtiger und das Wissen darum, wo es professionelle Hilfe gibt; informiert euch über konkrete Angebote vor Ort macht euch schon vorher eine Liste).

    Passt auf euch auf und bleibt gesund!

    Für Fragen stehe ich über das Flüchtling-Magazin und über Facebook jederzeit zur Verfügung.

     

    (Ich danke meiner Freundin Elke Hommel-Oesterwitz für ihre Unterstützung in der Sache und für ihre hilfreichen Tipps, die ich im Alltag und freundlicherweise auch für diesen Text verwenden darf.)

     

  • Sorgen und Nöte eines Krankenhausarztes

    Ich hatte Nachtdienst und brauchte für eine Patientin auf meiner Station einen Chirurgen. Ich wählte die Nummer des chirurgischen Dienstes. Unser syrischer Kollege meldete sich: Ramez, mit dem ich sehr gern zusammenarbeite und mit dem mich ein freundschaftliches Verhältnis verbindet.

    Viel Tadel

    Er kam auf meine Station mit einem großen Stapel Patientenakten unter dem Arm. „Was willst du denn mit diesen ganzen Akten?“, fragte ich ihn. „Die muss ich alle noch korrigieren heute Nacht“, seufzte er. „Die Oberärzte schimpfen mit mir und der Chefarzt auch. Sie sagen, meine Arztbriefe sind schlecht und so kann man die nicht wegschicken. Aber niemand erklärt mir, wie ich es machen soll. Immer nur so nicht, so nicht, so nicht! Und morgen früh muss ich alle fertig haben …“

    Arztbriefe sind ein Kapitel für sich. Selbst deutsche Kollegen tun sich damit oft schwer, und C1 und Fachsprachenprüfung schützen leider auch nicht vor bösen Fallstricken. Damit quälte sich also unser syrischer Kollege, und niemand nahm Rücksicht und jeder schimpfte mit ihm. Es gab in unserem Krankenhaus Ärzte, die deswegen sehr schlecht über ihn sprachen, obwohl er fachlich und menschlich hervorragend ist.

    Ratlosigkeit

    Ramez stand also ratlos mit seinen Patientenakten und Briefen vor mir und wollte sich, nachdem er nach meiner Patientin geschaut hatte, in die Nacht verabschieden. „Komm mal mit in mein Zimmer“, bat ich ihn. „Aber nur kurz, ich habe keine Zeit“, antwortete er mit einem Blick auf den Stapel. „Ja eben, deswegen!“, lachte ich. „Komm, wir schauen uns das mal zusammen an. Was gefällt denn deinem Chef an deinen Briefen nicht?“

    Gemeinsame Korrektur

    Ich nahm die oberste Akte, schlug sie auf und bat ihn, sich neben mich zu setzen. Er war völlig überrascht und unheimlich dankbar, als ich begann, den ersten Brief mit ihm zusammen Satz für Satz zu korrigieren. Ich habe ihm erklärt, was er besser machen kann, und er konnte alles fragen, was unklar war. So viel Zeit hatte sich noch nie jemand für ihn genommen. Den Rest haben wir uns geteilt, für einen alleine wäre das in den verbleibenden Stunden zu viel zu viel gewesen. Zum Glück kamen uns keine großen Notfälle dazwischen.

    Am nächsten Morgen legte Ramez in seiner Frühbesprechung 20 korrekte Arztbriefe vor, die der Chefarzt mürrisch entgegennahm. Einen Dank oder ein Lob erhielt er nicht. Es wurde vorausgesetzt, dass er nach einem halben Jahr an unserem Krankenhaus nun endlich den Erwartungen entsprach.

    Ein krankes Kind

    Einige Monate später musste mein Sohn notoperiert werden. Wieder hatte ich Nachtdienst, als meine Mutter, bei der mein Kind war, mich stündlich anrief und mir ein ums andere Mal schilderte, wie es ihm immer schlechter ging. Ich war froh, als beide endlich bei mir in der Klinik eintrafen. Tapfer ließ mein Junge alles Nötige über sich ergehen. Die Kinderärzte und ich hatten den selben Verdacht. Das chirurgische Diensttelefon wurde bemüht, und es kam wieder einmal Ramez. Auch er bestätigte die Diagnose. Mein Sohn musste noch in derselben Nacht operiert werden.

    Die Vertrauensfrage

    Doch vorher stellte mir Ramez eine Frage, die mich schockierte, die ich nicht verstand und die ich niemals für möglich gehalten hätte: „Bist du denn auch damit einverstanden, dass ich deinen Sohn operiere? Willst du ihn mir wirklich anvertrauen – mir, einem Flüchtling?“

    Ich war sprachlos, denn ich hatte, ehrlich gesagt, in ihm noch nie den Flüchtling gesehen. Ich sehe ihn als Kollegen, als Freund, als Vater von Kindern, ein bisschen jünger als mein eigenes, als Menschen, mit dem ich zusammenarbeite, den ich mag und der mir sympathisch ist.  Warum sollte ich ihm mein Kind nicht anvertrauen? „Mein Kind ist krank und es braucht diese Operation, ich bin seine Mutter, ich hab Angst, natürlich hab ich Angst um mein Kind. Bitte hilf ihm, ich bin dir doch dankbar, wenn du ihm hilfst!“

    Ramez erklärte mir daraufhin, dass er fast jeden Tag deutsche Patienten hat, die sich nicht von ihm untersuchen oder behandeln lassen wollen. Oder Eltern, die ihre Kinder wieder mitnehmen, wenn er in der Notaufnahme ist. Deshalb fragt er grundsätzlich nach …

    Besonders gut

    Mein Kind war noch nicht entlassen, da las ich den Arztbrief zu einem Patienten, der schon einmal in unserem Krankenhaus war und nun wieder aufgenommen wurde. Dieser Brief fiel mir auf, denn er hob sich positiv ab von vielen anderen Arztbriefen, die ich schon gelesen hatte. Er war sehr gut strukturiert und formuliert, fachlich exakt auf den Punkt gebracht, orthografisch und grammatisch fehlerfrei. Es war eine Freude, ihn zu lesen. Ich war wirklich beeindruckt!

    Das Lob

    Ich las Zeile um Zeile, Abschnitt um Abschnitt, ich kam zum Ende, sah die Unterschrift und – rief meinen syrischen Kollegen an: „Kannst du mal bitte kurz zu mir kommen, ich möchte dir etwas sagen!“ Ramez kam und erwartete … ich weiß nicht was, aber auf jeden Fall etwas Negatives. Sein Gesichtsausdruck und seine Körperhaltung verrieten mir das. „Du, ich bin total begeistert! Ich habe selten einen so guten Arztbrief gelesen. Das wollte ich dir unbedingt sagen, und zwar persönlich und nicht am Telefon!“, freute ich mich. „Meinst du das ernst?“, entgegnete er ganz verunsichert. „Ja, völlig ernst meine ich das. Das ist einer der besten Briefe, die ich je gelesen habe. Das hast du wirklich ganz hervorragend gemacht!“

    Ich habe selten einen Menschen gesehen, der sich über ein paar wenige Worte so sehr gefreut hat.

    Mein Kind übrigens hat alles gut überstanden und ist wohlbehalten und gesund wieder zu Hause. Vielen lieben Dank, Ramez!

     

     

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