Schlagwort: Bundestagswahl

  • Bundestagswahl in Deutschland – leicht erklärt!

    Am 26. September wird der 20. deutsche Bundestag gewählt. Die Parteien, die in den Bundestag einziehen, bilden für die nächsten vier Jahre die Deutsche Regierung (auch “Regierungskoalition” genannt). Und die restlichen Parteien, die es mit einer Stimme in den Bundestag schaffen, bilden die Opposition (also die “Gegenstimmen”). Besonders wichtig ist dabei, wer die Regierung bildet. Denn der Bundestag soll die Interessen der Bevölkerung widerspiegeln.

     

    Wer darf  in Deutschland wählen? 

    Bevor wir uns ansehen, was der Bundestag macht, werfen wir einen kurzen Blick in eines der wichtigsten deutschen Gesetzesbücher: Das Grundgesetz. Laut Artikel 20 im Grundgesetz heißt es: “Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.” Mit anderen Worten: In Deutschland leben wir in einer Demokratie. Wer und welche Parteien das Land regieren sollen, bestimmen die wahlberechtigten Bürger*innen. Laut Gesetz dürfen in Deutschland Menschen den Bundestag wählen, die:

    • 18 Jahre alt oder älter sind und
    • die deutsche Staatsbürgerschaft haben und
    • mindestens drei Monate vor der Wahl einen Wohnsitz in Deutschland haben.

    In Deutschland gilt auch, dass Wahlen “allgemein” sind. Das bedeutet: Alle Stimmen zählen gleich viel. Egal wie viel Einkommen eine Person hat, welche Religion sie hat oder welches Geschlecht. Obwohl alle Stimmen gleich viel zählen, hat nicht jede Person eine Stimme. Viele Menschen wohnen in Deutschland, sind hier Zuhause und dürfen trotzdem nicht wählen. Davon sind besonders oft Menschen mit Migrations- und Fluchtgeschichte betroffen.

     

    Was macht der Bundestag?

    Im Bundestag arbeiten sogenannte “Abgeordnete”. Das sind die Personen, die von Wahlberechtigten in den Bundestag gewählt werden. Dabei gehören die meisten Abgeordneten auch einer Partei an – zum Beispiel den Linken, den Grünen, oder der CDU/CSU. Und diese Abgeordneten machen im Bundestag vor allem eins: Über Gesetze abstimmen.

    Darüber hinaus entscheidet der Bundestag aber auch noch weitere Angelegenheiten: Über den Bundeshaushalt, also wie viel Geld in Deutschland für welche Sachen ausgegeben werden soll, über die Einsätze der Bundeswehr im Ausland und er wählt außerdem die Bundeskanzlerin/den Bundeskanzler. Mit diesen Aufgaben zählt der Bundestag zu einem der wichtigsten “Organe” (anderes Wort: Bestandteile) der deutschen Demokratie. Mit dieser Entscheidungsmacht über Gesetze entscheidet der Bundestag gleichzeitig über den Alltag vieler Menschen.

     

    Wie funktioniert die Wahl zum Bundestag? 

    Ok, jetzt wissen wir was der Bundestag macht und warum er wichtig ist. Aber, wie genau funktionieren die Wahlen denn eigentlich? Dafür gilt es sich erstmal zwei verschiedene Arten der Wahl anzusehen, denn bei der Wahl zum Bundestag werden beide kombiniert:

     

    Die Mehrheitswahl: Auch bei der Mehrheitswahl wird wieder zwischen zwei verschiedenen Vorgehen unterschieden. Es gibt

    1. die absolute Mehrheitswahl: Hier gewinnt die Person, die mindestens die Hälfte aller Stimmen bekommt.

    2. die relative Mehrheitswahl: Hier gewinnt einfach die Person, die mehr Stimmen hat als die anderen.

    Die Verhältniswahl: Bei der Verhältniswahl geht es nicht um Einzelpersonen, sondern um ganze Parteien. Das Verhältniswahlrecht entscheidet, wie viele Sitze eine Partei erhält, je nach Anteil der Zweitstimmen (Zweitstimmen? Das erklären wir gleich!) die sie in einem Bundesland erhalten hat.

    Nochmal zusammengefasst: Die Wahl zum Bundestag erfolgt nach einem sogenannten “personalisierten Verhältniswahlrecht”. Das ist die Mischung aus einer relativen Mehrheitswahl und einer Verhältniswahl. Doch wie kann sowas einfach gemischt werden? Das hängt damit zusammen, dass jeder Wähler und jede Wählerin in Deutschland zwei Stimmen hat, um den Bundestag zu wählen.

     

    Das Zwei-Stimmen System:

    Jede Person die in Deutschland wahlberechtigt ist und entweder am 26. September in ein Wahllokal geht oder sich vorher für die Wahl per Brief registriert, wird auf ihrem Stimmzettel gleich zwei Kreuze machen müssen!

     

    Mit der ersten Stimme wird eine Person aus dem eigenen Wahlkreis gewählt. Zum Beispiel: Hamburg hat insgesamt sechs Wahlkreise für die Bundestagswahl. Wenn du etwa in Altona wohnst, gehörst du automatisch zum Bezirk Altona. In diesen Wahlkreisen lassen sich also Menschen zur Wahl aufstellen (sogenannte Direktkandidat*innen). Die Person mit den meisten Stimmen in einem Wahlkreis gewinnt und zieht direkt mit einem Platz in den Bundestag (siehe: relative Mehrheit). Das ganze nennt sich dann ein Direktmandat: Mit solchen Mandaten werden 50% der Sitze im Bundestag besetzt.

    Mit der zweiten Stimme wählen Bürger*innen eine Partei. Die Zweitstimme ist somit wesentlich wichtiger als die Erststimme, weil diese bestimmt, wie viele Sitze eine Partei im Bundestag hat. Und es gilt: Je mehr Sitze im Bundestag, umso mehr Entscheidungskraft hat eine Partei.

    Welche Parteien stehen zur Wahl? 

    Bei der Bundestagswahl 2021 dürfen insgesamt 53 Parteien antreten. Um in den Bundestag einziehen zu dürfen, muss eine Partei jedoch mindestens fünf Prozent der Wähler*innenstimmen erhalten (auch “Fünf-Prozent-Hürde” genannt). 53 Parteien ist eine ganz schön große Zahl. Darunter gelten sieben Parteien als sogenannte “Etablierte” – also Parteien, die es über Jahrzehnte hinweg immer wieder geschafft haben, in den Bundestag einzuziehen.

    Dazu gehören die CDU (Christlich Demokratische Union Deutschlands), das Bündnis 90/Die Grünen, die SPD (Sozialdemokratische Partei Deutschlands), die FDP (Freie Demokratische Partei), Die Linke, und – leider seit Jahren stärker vertreten – die rechtsextreme und rechtspopulistische Partei AfD (Alternative für Deutschland).

    Neben diesen bereits bekannteren Parteien gibt es jedoch noch viele weitere, zum Beispiel: die Tierschutzpartei, die ÖDP (Ökologisch-Demokratische Partei) oder Volt Deutschland. Um herauszufinden, für welche Themen sich Parteien stark machen, ist es hilfreich, sich das Wahlprogramm anzusehen.

     

    Das Wahlrecht – Grundstein der Demokratie?

    Mit seiner Aufgabe über Gesetze zu entscheiden, hat der Bundestag eine wahnsinnige Entscheidungsmacht. Parteien im deutschen Bundestag diskutieren über wichtige Themenfelder wie auch die Klimapolitik, Corona-Maßnahmen, den Arbeitsmarkt oder die Pflege. Es sind Gesetze, die im Bundestag beschlossen werden, die unseren Alltag mitbestimmen. Also müssen wir wohl auch alle ein Mitspracherecht haben, oder? Im Idealfall ja, in der Realität zeigt sich jedoch besonders eins: Das eigene Wahlrecht wahrzunehmen, ist ein demokratisches Grundrecht, aber auch ein Privileg.

    Der Bundestag beschließt über viele Themen, die besonders Menschen mit Migrationshintergrund betreffen: Migration und Ausländer*innenrecht, Einbürgerungen und Wahlrecht für alle und auch Rassismus und Diskriminierung.

    Doch viele Menschen, die von diesen Gesetzen betroffen sind, werden in den Entscheidungsprozess überhaupt nicht mit eingebunden. Wir müssen uns bewusst machen, dass Wahlergebnisse nie die gesamte Gesellschaft widerspiegeln. Und, dass viele Menschen, die von den politischen Entscheidungen des Bundestags betroffen sind, kein Wahlrecht und somit kein Mitspracherecht haben.

  • „Ich wollte kandidieren, aber nicht um jeden Preis“

    Zwischen seiner Flucht aus Syrien im Jahr 2015 und seiner Bundestagskandidatur 2021 liegen gerade einmal sechs Jahre. Wer verstehen will, wie Tareq Alaows tickt und was ihn dazu bewegt, sich mit Leidenschaft für andere einzusetzen, muss einen Blick in seine Vergangenheit werfen. Sein politisches Engagement, das nicht erst in Deutschland begann, hat viel mit seinem liberalen und offenen Elternhaus zu tun. „Ich bin in einer politischen Familie aufgewachsen. Mein Vater hat als Journalist und meine Mutter als Buchhalterin gearbeitet. Wir hatten zu Hause eine große Bibliothek. Mit 16 fing ich an, politische Bücher zu lesen.“

    Bereits mit 18 verließ er Damaskus und ging nach Aleppo, um Jura zu studieren. Dies öffnete ihm die Augen für die Situation in Syrien: „Ich besuchte im ersten Semester eine Einführung ins Recht. Dort wurde das Thema Menschenrechte behandelt. Ich dachte: toll, dass man das theoretisch lernt, aber im realen Leben gar nicht darüber reden darf.“

    Zu Beginn der Proteste gegen das Assad-Regime schloss Alaows sich den Studierenden seines Wohnheims an und demonstrierte mit ihnen auf der Straße für Freiheit und Demokratie. Als sich im Jahr 2012 ein bewaffneter Kampf immer mehr abzeichnete, stand für ihn fest: „Ich wollte da überhaupt nicht mitmachen und habe mich stattdessen auf das Thema Menschenrechte konzentriert und mich beim Roten Halbmond engagiert.“ Dort leistete er humanitäre Hilfe und dokumentierte für die Organisation Menschenrechtsverletzungen.

    Über die Balkanroute nach Deutschland

    Viele aus Alaows‘ Umfeld wurden inhaftiert, umgebracht, starben im Syrienkrieg oder mussten fliehen. Auch für ihn persönlich spitzte sich die Lage dramatisch zu. Daher musste er seine Heimat vor sechs Jahren verlassen: innerhalb von fünf Tagen, allein und nur mit dem Nötigsten ausgestattet. Nach 25 Tagen in der Türkei ging es für ihn in einem Schlauchboot über das Mittelmeer nach Lesbos. Ihm war bewusst, dass er sein Leben verlieren könnte, wenn er sich in eines der Boote setzen würde.

    Doch die Aussicht, eines Tages ein Leben in Sicherheit führen zu können, erschien ihm das Risiko wert: „Wäre ich in der Türkei geblieben, gäbe es keine Hoffnung, denn ich hätte nach Syrien abgeschoben werden können. Ich hatte also die Wahl zwischen dem sicheren Tod und einer hohen Wahrscheinlichkeit zu sterben, verbunden mit einem Fünkchen Hoffnung.“

    Er kam zunächst nach Athen. Dann legte er die Balkanroute größtenteils zu Fuß zurück. Schließlich landete er nach zweimonatiger Flucht in Deutschland. Angesprochen auf die europäische Flüchtlingspolitik findet er deutliche Worte: „Die Abschottungs- und Abschreckungspolitik der EU führt nur zu mehr Menschenrechtsverletzungen, mehr Toten im Mittelmeer und mehr Leid auf den griechischen Inseln. Wenn ich meine Erfahrung reflektiere, frage ich mich, von welchem Pull-Faktor die Politik redet. Die Leute fliehen vor Krieg, Leid, Verfolgung und nicht aus Lust und Laune. Sie machen keinen Urlaub, sondern leiden unterwegs.“

    Fluchtgeschichte stellt die Weichen für das politische Engagement

    Nach der Registrierung in Dortmund wurde Alaows zunächst 45 Tage im Sauerland untergebracht und anschließend nach Bochum geschickt. Dort lebte er zusammen mit 60 weiteren Geflüchteten in einer Turnhalle. Wenige Monate später initiierte er Demonstrationen vor dem Bochumer Rathaus, um gegen die Zustände in den Sammelunterkünften, für die Umsetzung der Rechte von Schutzsuchenden, für schnellere Asylverfahren sowie das Recht auf Arbeit und Spracherwerb zu kämpfen.

    Beim Thema Integration sieht Alaows nach wie vor großen Nachholbedarf: „Wir brauchen ein Ankommenskonzept. Zusammenleben und Inklusion kann nicht bedeuten, den Geflüchteten einfach eine To-do-Liste auszuhändigen. Beide Seiten sind in der Pflicht: die Geflüchteten und die Gesellschaft, die die Menschen aufnehmen sollte. Es müssen Gesetze verabschiedet werden, die dies ermöglichen.“

    Und er fügt hinzu: „Integriert sind nicht nur diejenigen, die arbeiten. Es gibt viele, die ehrenamtlich tätig sind oder die traumatisiert sind und daher nicht arbeiten können. Das sind alles Menschen, die sich bemühen. Deshalb müssen wir Integration von Leistung loslösen und schauen, wie wir den Menschen das Ankommen erleichtern können. Wir dürfen die Menschen nicht fünf oder sechs Jahre lang ohne Perspektive lassen.“ Konkret prangert er an, dass die Politik zwar Bleiberechtsmöglichkeiten bietet, aber gleichzeitig den Zugang dazu verschließt.

    Alaows selbst lernte die deutsche Sprache innerhalb kürzester Zeit u.a. mithilfe des Grundgesetzes und anderer Gesetzestexte. Das klingt ungewöhnlich, jedoch war es für ihn als Jurist wichtig, die „roten Linien und den Rahmen unserer Demokratie“ zu kennen, wie er sagt. Nach den Protesten vor dem Bochumer Rathaus blieb er in den Folgejahren weiterhin politisch aktiv: Laut eigener Aussage wollte er Unrecht nicht einfach hinnehmen. Als Mitbegründer der Seebrücke setzt er sich für sichere Fluchtwege und die Entkriminalisierung der Seenotrettung ein. Außerdem engagiert er sich beim Flüchtlingsrat Berlin für die Verbesserung der Lebensbedingungen von Asylsuchenden.

    Als erster syrischer Geflüchteter will er in den Bundestag

    Doch das reichte ihm nicht: Um den Forderungen und Problemen von Geflüchteten auf höchster politischer Ebene Aufmerksamkeit zu verschaffen, verkündete er im Februar dieses Jahres, bei der Bundestagswahl am 26. September als Direktkandidat im Wahlkreis Oberhausen und Dinslaken antreten zu wollen. Seine politische Heimat hat er bei den Grünen gefunden. Mit ihnen sympathisiert er wegen ihres Vielfaltsstatuts und weil sie seiner Meinung nach die Themen Klima und Flucht zusammen denken.

    Mit seiner Bundestagskandidatur will Alaows für mehr Repräsentation sorgen: „Geflüchtete Menschen fühlen sich nicht vertreten im Parlament. Während Migrant*innen und Geflüchtete 25% der Bevölkerung ausmachen, haben nur etwas mehr als 8% der Parlamentarier*innen eine Migrationsgeschichte.“

    Diesen niedrigen Anteil führt er auf drohende rassistische Anfeindungen zurück. Für mehr Vielfalt im Bundestag sieht er die Parteien in der Pflicht, genau diese Bevölkerungsgruppe stärker anzusprechen und den Menschen im Falle einer Kandidatur ausreichend Schutz zu bieten.

    Außerdem plädiert er dafür, allen in Deutschland lebenden Menschen ab 16 Jahren das aktive und passive Wahlrecht einzuräumen und die Wahlprogramme in andere Sprachen zu übersetzen: „Migration und Flucht sind keine interessanten Themen für die Politik, da es sich bei Geflüchteten nicht um Wähler*innen handelt. Nur wenn sie das Wahlrecht erhalten, wird die Politik sie als Adressat*innen wahrnehmen. Dann kann es auch eine Lobby für sie geben. Außerdem sollte Bestandteil der Demokratie sein, dass Menschen, die an einem bestimmten Ort leben, sich an den Debatten beteiligen können. Und wenn wir die Demokratie komplett umsetzen wollen, müssen Geflüchtete wählen und kandidieren können.“

    Hass und Hetze lassen nicht lange auf sich warten

    Nach Bekanntgabe seiner Bundestagskandidatur behauptete Die Welt fälschlicherweise, er wolle Hand anlegen an die Inschrift des Bundestags, was für sehr viel Aufruhr sorgte: „Die Zeitung hat den Eindruck erweckt, ich würde einen Tag nach der Wahl in Arbeitsklamotten und mit Hammer und Leiter Richtung Bundestag marschieren, um die Inschrift zu ändern.“ Dabei bezog sich seine Aussage „Mit mir im Bundestag würde es nicht nur ‚Dem deutschen Volke‘ heißen, sondern ‚Für alle Menschen, die in Deutschland leben‘“ nicht auf die Inschrift. Sie sollte vielmehr verdeutlichen, wem Alaows als Abgeordneter dienen wollte.

    Die Welle des Hasses und der Hetze, die während seiner Bundestagskandidatur über ihn hereinbrach, führt er aber nicht auf die Falschdarstellung zurück, die später sogar korrigiert wurde: „Menschen, die rassistisch sind, andere beleidigen oder bedrohen, brauchen keine Begründung. Sie argumentieren nicht rational und wollen einfach nur hassen.“

    Auf Anfeindungen war Alaows gefasst gewesen. Das Ausmaß der Bedrohungen kam für ihn jedoch völlig überraschend. Bis zu seinem Rückzug von der Bundestagskandidatur Ende März hat sein Team täglich mehrere Stunden damit zugebracht, Hasskommentare in den sozialen Medien zu dokumentieren und zu löschen. Hinter den Nachrichten vermutet Alaows organisierte Gruppen und keine Einzelpersonen.

    Die Morddrohungen, die er zum Teil erhalten hat, richteten sich nicht nur gegen ihn, sondern auch gegen sein Umfeld. Alles strafrechtlich Relevante hat er zur Anzeige gebracht. Allerdings ist der Ausgang der Verfahren nach wie vor offen. Das Tückische an Gewalt im Internet beschreibt er so: „Dieses Ausmaß hätte ich mir nicht vorstellen können. Irgendwann ist einfach nicht mehr kalkulierbar, was davon real werden kann und was nicht.“

    Die Bedrohungslage wird immer unberechenbarer

    Nach einem Vorfall im wahren Leben sah er sich schließlich gezwungen, seine Bundestagskandidatur zurückzuziehen. Als er eines Abends nach dem Treffen mit einer Freundin allein den Heimweg antrat, passierte ihm in Berlin folgendes: „In der U-Bahn bin ich einer Person begegnet, die mich erkannt hat. Sie fing an, mich anzuschreien, und beschuldigte mich, die Scharia einführen zu wollen. Ich wusste nicht, ob mich die Person ‚nur‘ beleidigen will oder mich tatsächlich angreifen wird. Zum Glück kam es nicht zu einem Angriff, weil ich nicht reagiert habe. Ich konnte an der nächsten Haltestelle aussteigen, aber das waren die längsten 90 Sekunden meines Lebens, weil ich überhaupt nicht abschätzen konnte, was passieren wird.“

    Am meisten quälte ihn der Gedanke, dass er seine Freundin in eine bedrohliche Situation hätte bringen können, wenn sie ihn begleitet hätte. Neben seinem Umfeld in Deutschland war er auch besorgt um die Sicherheit seiner Familie in Syrien. Denn die Hasskommentare aus dem Netz stammten laut Alaows nicht nur von Rechten hierzulande, sondern zum Teil auch von Nationalisten aus Syrien, die dem Assad-Regime nahestehen und mit denen die AfD seit Jahren kooperiert.

    Und eines ist sicher: Für seine Familie hätte es keinen Schutz gegeben. Schließlich zog Alaows die Reißleine: „Dass ich für meine Sicherheit nicht garantieren kann, ist meine eigene Entscheidung, aber ich habe eine Verantwortung meinem Umfeld gegenüber. Ich wollte zwar kandidieren, allerdings nicht um jeden Preis.“

    Die Politik sollte Lehren ziehen aus dem Fall Alaows

    Alaows betont, dass er während seiner Bundestagskandidatur viel Unterstützung von den Grünen, von anderen Parteien und aus der Gesellschaft erfahren hat. Deshalb fragt er sich: „Wie geht es erst Leuten, die nicht so viel Unterstützung erhalten? Wie viele Versuche zu kandidieren gab es von Geflüchteten und Migrant*innen, von denen wir nichts wissen? Mein Fall hat für viel Aufmerksamkeit gesorgt, weil es um die Bundesebene ging. Das sollte eine Warnung für die demokratischen Parteien sein, anders mit dem Thema umzugehen.“

    Die Grünen haben nach seinem Rückzug Maßnahmen zum Schutz von Parteimitgliedern mit Migrations- und Fluchtgeschichte eingeleitet. Generell sollten alle Parteien derartige Kandidaturen stärker fördern. Denn für Alaows steht fest: „Je mehr sich die Vielfalt der Gesellschaft in der Politik widerspiegelt, desto normaler werden solche Kandidaturen irgendwann wahrgenommen. Außerdem brauchen wir verschärfte Gesetze gegen Hass und Rassismus in der Gesellschaft.“

    Auch wenn sich Alaows von der großen politischen Bühne verabschiedet hat, bedeutet dies nicht das Ende seines Engagements. Er arbeitet weiterhin als Berater für Geflüchtete im Bereich Asyl- und Aufenthaltsrecht. Nach wie vor ist er auch bei der Seebrücke und beim Flüchtlingsrat Berlin aktiv. Alaows geht fest davon aus, dass er der Politik immer erhalten bleiben wird. Ob er in Zukunft nochmal kandidieren wird, lässt er offen.

  • Bundestagswahl in Deutschland – ein Überblick

    Mit den komplexen Themen unserer Zeit, etwa der Klimakrise oder Migration, handelt es sich um wichtiges Wahljahr. Doch Politik, Wahlen und Wahlsysteme sind nicht immer leicht zu verstehen und zu durchblicken. Umso wichtiger ist es, das Thema Bundestagswahl nicht nur greifbarer zu machen, sondern auch aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Deswegen möchten wir diesen Monat mit euch tiefer einsteigen und drei Schwerpunkte genauer unter die Lupe nehmen.

     

    Wir wollen mit Menschen mit Fluchtgeschichte und Migrationserfahrung sprechen, die heute in der deutschen Politik arbeiten. Dafür haben wir mit zwei Politikern gesprochen. Das Interview mit dem Grünen-Politiker Tareq Alaows könnt ihr ab Montag in unserem Online-Magazin lesen. Und das Gespräch mit dem SPD-Politiker Tarek Saad könnt ihr euch in der kommenden Folge unseres Multivitamin-Podcast anhören.

     

    Wir möchten darüber lernen und sprechen, was Wahlrecht für Menschen bedeutet und wer überhaupt in Deutschland wählen darf. In einem Interview mit Ahmed, einem jungen Studenten, der aus dem Jemen geflohen ist, haben wir unter anderem darüber gesprochen was es bedeutet, ein stimmenloser Mensch in Deutschland zu sein.

     

    Und wir möchten die Themen Bundestagswahl und Wahlprogramme beleuchten. Dafür haben wir nicht nur die Wahlprogramme der größeren Parteien näher unter die Lupe genommen, sondern diese auch in Leichte Sprache übersetzt.

     

    Wir freuen uns über alle Leser*innen, über Feedback und Austausch. Vielleicht habt ihr auch schon eigene Erfahrungen mit dem Thema gemacht? Dann schreibt uns gerne. Denn Demokratie kann nur über Dialog und Austausch funktionieren und nur dann, wenn alle Menschen ein Teil wichtiger demokratischer Prozesse sein dürfen.

     

    Nicht vergessen:

    Wenn ihr am 26. September nicht zur Wahl gehen könnt, dann vergesst nicht, die Briefwahl zu beantragen. Und falls ihr noch nicht genau wisst, welche Partei ihr wählen sollt, dann probiert doch mal eine interaktive Online-Wahlberatung aus:

     

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