Schlagwort: Bildungsgerechtigkeit

  • Lektion 1: Frage niemals Schüler*innen nach der Uhrzeit

    Im Studium und im Vorbereitungsdienst lernt man als angehende Lehrkraft, den Unterricht minutiös zu planen und Überleitungen gezielt einzusetzen. Man übt, wie Fragen und Aufforderungen sinnvoll und motivierend formuliert werden. Eine der Kernkompetenzen jeder Lehrkraft ist die regelmäßige Reflexion: Was kann ich verbessern? Wie kann ich die Aufgaben klarer formulieren? Welche Methoden und Materialien haben sich bewährt und welche nicht?

    Manchmal sitzt man lange und tüftelt daran, was die Ursache des Nichterreichens eines Unterrichtsziels oder einer Störung ist. Und manchmal wird es schnell deutlich und die Lösung liegt plötzlich vor einem.

    So erging es mir in der Praxisphase meines Berufs. Nach Jahren des Studiums war ich nun einige Wochen im Referendariat. Angehende Lehrkräfte genießen eine Art Sonderstatus. Die Schüler*innen sehen sie fast als Leidensgenoss*in und bemühen sich in den relevanten Stunden mehr, auch wenn sie einem das Leben sonst durchaus herausfordernder gestalten. Auf dieses Wohlwollen darf man sich jedoch nicht ausruhen, denn am Ende des Tages trägt man die Rolle der Lehrkraft und damit die Verantwortung für alle Gruppenmitglieder.

    Als Perfektionistin war der Start in den Beruf für mich kein Zuckerschlecken. Detailverliebt plante ich jede Stunde Minute für Minute und fast jedes Wort, das ich sagen wollte. Eines Tages vergaß ich meine Uhr und fragte die Schüler*innen nach der Uhrzeit. Als sie mir die Zeit nannten, stellte ich erschrocken fest, dass wir nur noch fünf Minuten hatten. Als Berufsanfängerin war eine angemessene Zeiteinteilung für Aufgaben oft eine Herausforderung für mich. Ich musste also feststellen, dass meine Erwartungen zu hoch waren und ich den Rest des geplanten Unterrichtsstoffes auf die folgende Stunde verschieben musste.

    „Typischer Anfängerfehler!“

    Ich beendete die Unterrichtsstunde, ließ die Arbeitsplätze aufräumen und schickte die Schüler*innen gerade rechtzeitig in die Pause. Ich schloss die Tür ab und begab mich auf den Weg zum Lehrerzimmer. Die Schule war groß, sodass ich dafür eine längere Strecke zurücklegen musste. Unterwegs fiel mir die ungewöhnliche Stille auf und ich fragte mich, wie dies während einer Pause in einer so großen Schule zustande kam. Im Lehrerzimmer angekommen, sah ich die Wanduhr und mein Herz blieb stehen.

    Mir wurde bewusst, dass die Unterrichtszeit noch lange nicht vorbei war und meine Zeiteinteilung nicht unrealistisch gewesen war. Die Schüler*innen hatten mir eine falsche Zeit genannt und sich damit eine fast 30-minütige Verlängerung ihrer Pause erschlichen.

    Ich erzählte meinen Kolleg*innen von dem Vorfall und sie entgegneten laut lachend: „Typischer Anfängerfehler!“ Auch wenn mir das damals etwas peinlich war, fand ich es lustig, wie ich das nicht habe kommen sehen.

    Dieser Vorfall lehrte mich, wie wichtig es ist, dass in der pädagogischen Praxis oft die unscheinbaren Details den größten Einfluss haben können. An diesem Tag wurde mir außerdem klar, dass es vieles gibt, was man außerhalb der Bücher im Studium lernen kann und muss.

    Meine Moral aus der Geschicht‘: Frage Schüler*innen nach der Uhrzeit nicht!

  • Wenn Bildung Geld kostet

    Wer hätte das gedacht, dass meine Heimat mich zum Nachdenken bringt und ich mir Gedanken um das Grundrecht von Bildung mache…

    Nach 20 Jahren bin ich wieder in meiner Heimat gewesen.

    Chile ist ein lautes Land. Es wird gehupt und von den Verkaufsständen geschrien, um die Ware auf den Straßen von Santiago de Chile zu verkaufen. Das Land ist bunt, es gibt viele Wandbilder auf den Straßen: von den Beatles bis verspielt, und auch vergangene, hoch angesehene Künstler wie Violeta Parra und Victor Jara sind in den Gemälden verewigt. 

    Viele Verkaufsstände sind auf den Straßen, die ums Überleben kämpfen. Auch alte Menschen, die eigentlich die Rente genießen sollten, und Menschen, die auf Krücken gehen, versuchen sich jeden Peso dazu zu verdienen. Mein Sohn fragte mich, als wir auf dem Wochenmarkt waren: Warum haben die Menschen hier keine Zähne? Viele der Verkäufer*innen hatten kein volles Gebiss und Lücken im Mund.

    Die Kosten von Bildung

    In Chile wird für die Bildung bezahlt, und umso angesehener der Beruf, umso teurer ist es. Das bedeutet, die soziale Schicht, die sich Bildung leisten kann, kann was werden.

    Ich möchte die Situation verdeutlichen: Ab der Grundschule kann die Privatschule bis zu 800€ monatlich kosten, und viele Menschen in der Bevölkerung verdienen weniger als 500€ im Monat. Es gibt vom Staat halb geförderte Schulen, wo der Beitrag um die 200€ monatlich kostet. Es gibt auch öffentliche Schulen, die keine monatliche Gebühr verlangen , aber nur wenigen der Absolventen*innen wird später die Weiterbildung an einer Universität gewährt. Nur die Oberschicht kann sich eine gute Bildung für die nächste Generation leisten.

     Das ist einer der Gründe, warum junge Männer in Chile sich sterilisieren lassen und sich gegen Kinder entscheiden. Dazu kommt, dass die Arbeitssituation nicht einfach ist, der Gedanke, gekündigt zu werden, weil man nicht mehr gebraucht wird, ist häufig da…

    Und so eine Vasektomie scheint endgültig zu sein, der Entschluss ist gefasst: Ich möchte keine Kinder, oder ich kann mir keine Kinder leisten – sicherlich eine sehr verantwortungsvolle Entscheidung. Aber was macht das für eine Gesellschaft aus, die sich keine Kinder mehr leisten kann?

    Ein Studium kann von 5000€-10.000 Euro im Jahr kosten, das hat zur Konsequenz, dass viele junge Menschen sich verschulden und lange noch den Kredit bezahlen. Mein Bruder ist Toningenieur und zahlt mit 36 Jahren immer noch seinen Kredit ab. 

    Ein Teufelskreis

    Dazu kommt das Gesundheitswesen. Die Kosten einer Operationen müssen selbst getragen werden, oder nur ein kleiner Teil wird von der Krankenversicherung übernommen. Und da die Lebenskosten in Chile hoch sind , können die wenigsten Geld sparen. 

    Ein Teufelskreis, der Chile um eine Generation bringt. Ist es wirklich die eigene Entscheidung? Mein Bruder sagte zu mir:“ Wenn ich reich wäre, würde ich mir keine Gedanken machen und Kinder in diese Welt setzen, aber ich bin nicht reich und kann mir keine Kinder leisten“, und mein Bruder gehört zum Mittelstand wohlgemerkt….

    Eine Generation schafft sich selbst ab, das ist die Zukunft, wenn sich nichts ändert. Bildung sollte weltweit ein Grundrecht sein und vom Staat finanziert werden.

     

     

    Mehr zum Thema Bildungsgerechtigkeit erfährst Du in unserer Printausgabe #9: Was weiß ich?

  • 8 Empfehlungen zum Thema Bildungsgerechtigkeit

    In unserer Schwerpunktredaktion zu.flucht und in unserer aktuellen Printausgabe “Was weiß ich?” haben wir uns mit dem Thema Bildungsgerechtigkeit aus migrantischer Perspektive befasst. Welche spannenden Personen, Kanäle oder Anlaufstellen gibt es dazu noch? Und welche Bücher, Podcasts und Filme können wir zu den Themen Bildung, Migration und Flucht empfehlen? Ein Guide.

     

     

    Nr 1:  „Mythos Bildung: Die ungerechte Gesellschaft, ihr Bildungssystem und seine Zukunft“ – Sachbuch von Aladin El-Mafaalani

    Foto: Kiwi Verlag

    Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani ist Soziologe und Inhaber des Lehrstuhls für Erziehung und Bildung in der Migrationsgesellschaft an der Universität Osnabrück. Er forscht zu Themen wie Bildung, Rassismus und Integration. Er wurde im Ruhrgebiet als Kind syrischer Einwanderer geboren, seine Eltern sind Akademiker.

    Seine These, dass der Bildungserfolg einzelner Schüler*innen nicht gänzlich vom Migrationshintergrund abhinge, sondern die Klassen- und Milieuzugehörigkeit eine wichtigere Rolle spielt, untersucht er in seinem Buch Mythos Bildung. Darin plädiert er dafür, soziale Ungleichheit im Bildungssektor in den Fokus der Bildungspolitik und -praxis zu rücken. El Mafaalani erklärt außerdem, welche Rolle die Schule dabei spielt und wie die Corona-Pandemie dazu beigetragen hat, Bildungsungerechtigkeit zu verstärken.

     

    Nr 2: Podcast Kleine Pause

    Im Podcast Kleine Pause sprechen die Lehrerinnen Nicole Schweiß und Christina Schreck mit verschiedenen Gäst*innen in inzwischen über 50 Folgen über Themen wie antirassistische Bildung, Mehrsprachigkeit in der Schule oder Critical Whiteness. Was die beiden Kolleginnen und Freundinnen erreichen möchten: Einen Raum zu schaffen fürs Miteinander sprechen, (Ver)lernen, Zuhören, Diskutieren & Schule neu denken.

     

    Nr. 3: Dr. Aylin Karabulut – Expertin im Bereich DIE (Vielfalt, Gleichberechtigung und Inklusion) und Ungleichheitsforschung 

    Dr. Aylin Karabulut gehört zu den führenden Expert*innen für Unternehmenskultur, Diversität und Inklusion. Als Botschafterin der SWANS Initiative fördert sie Studentinnen und Absolventinnen mit Zuwanderungsgeschichte und Women of Color auf dem akademischen Arbeitsmarkt. Für ihre Masterarbeit an der Uni Duisburg hat Dr. Karabulut mit Schüler*innen mit Zuwanderungsgeschichte über ihre Rassismuserfahrungen im schulischen Alltag gesprochen. In ihrer Arbeit als Ungleichheitsforscherin und Speakerin beleuchtet sie die unterrepräsentierte Forschung zu institutionellem Rassismus im deutschen Bildungssystem.

     

    Nr. 4: Educ’ARTE 

    Foto von <a href="https://unsplash.com/de/@element5digital?utm_source=unsplash&utm_medium=referral&utm_content=creditCopyText">Element5 Digital</a> auf <a href="https://unsplash.com/de/fotos/OyCl7Y4y0Bk?utm_source=unsplash&utm_medium=referral&utm_content=creditCopyText">Unsplash</a>
    Foto von Element5 Digital auf Unsplash

    Die interaktive Schulmediathek und Projektplattform Educ’ARTE bietet Bildungseinrichtungen mehr als 1500 ausgewählte ARTE-Programme für alle Schulfächer und Klassenstufen in den Sprachen Deutsch, Französisch und Englisch an. Lehrkräfte und Bildungsreferent*innen haben zudem Zugang zu didaktischem Begleitmaterial, Nutzerhandbüchern, Online-Schulungen und erhalten bei Bedarf eine technische Betreuung.

    Über Educ’ARTE können Videos in einem rechtlich geschützten Rahmen gesichtet werden und Mind-Maps erstellt werden. Diese können mit Bild-, Text-, oder Audiokommentaren nach den eigenen Wünschen versehen werden. Der Einsatz von Educ’ARTE ermöglicht selbstgesteuerte und schülergerechte Lernszenarien und einen leicht zugänglichen bis spielerischen Erwerb von Wissen, Kompetenzen und weiterführenden Sprachen.

     

    Nr. 5: „Sitzenbleiben – die DIPF-Elternsprechstunde“

    Der Podcast „Sitzenbleiben – die DIPF-Elternsprechstunde“ kommt vom DIPF Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation. In erster Linie richtet sich der Podcast an Eltern, aber auch an Bildungsreferent*innen und Lehrkräfte. Der Podcast dient dazu, die dringlichen Fragen der Eltern um das Lernen ihrer Kinder in der Grundschule und weiterführenden Schule zu beantworten. Diesen Fragen geht der Podcast auf den Grund und lädt Wissenschaftler*innen des Instituts ein, um mit ihnen über Themen wie Lernstörungen und das emotionale Bewusstsein von Kindern zu sprechen.

    Die zweite Episode „Mehrsprachigkeit“ befasst sich unter anderem mit der Frage, wie die Schulen und der Unterricht selbst von mehrsprachigen Kindern bereichert werden können. Der DIPF-Forscher Dr. Martin Schastak gibt in dieser Episode Einblicke darüber, welche Chancen sich für mehrsprachig aufwachsende Kinder in der Schule ergeben und beleuchtet kritisch den Sinn und Unsinn der Mehrsprachigkeits-Debatte in Bildungseinrichtungen.

     

    Nr. 6: Film „Neuland“ von Anna Thommen

     

    Der Film Neuland von Anna Thommen (2015) begleitet den Schulbeginn der zweijährigen Schulzeit junger Geflüchteter in einer Integrationsklasse in Basel. Unter ihnen sind der 19-jährige Ehsanullah aus Afghanistan und die albanischen Geschwister Nazlije und Ismail, die ihre Heimat aus familiären Gründen verlassen haben. Die drei symbolisieren den schwierigen Start junger Migrant*innen in einem Land ohne die landesüblichen Sprachkenntnisse und ohne anfängliche soziale Kontakte.

    Aufgenommen in der Integrationsklasse des Lehrers Christian Zingg hoffen die Jugendlichen ihre Heimat hinter sich lassen und in der Schweiz ihre Träume erfüllen zu können. Lehrer Zingg vermittelt den Jugendlichen realitätsnahe Perspektiven und macht sich und den Jugendlichen keine Illusionen darüber, dass der berufliche Einstieg für Geflüchtete oft holprig ist.

    Der vielfach ausgezeichnete Film bringt den Zuschauer*innen einfühlsam die Lebensrealität vieler frisch angekommener Migrant*innen näher. Dabei entkräftet die Regisseurin Thommen bewusst Vorurteile und bietet den Protagonist*innen eine Bühne, um ihre Geschichte zu erzählen.

    •  Neuland, Dokumentarfilm, CH 2013 Filmverleih: Rise and Shine Cinema

     

    Nr. 7: Bildungsinitiative Ferhat Unvar e. V.

     

    Ferhat Unvar, geboren am 14.November 1986, wurde am 19. Februar 2020 von einem Rassisten in seiner Heimatstadt Hanau ermordet. An Ferhats Geburtstag, dem 14. November 2020, wurde die Bildungsinitiative Ferhat Unvar von seiner Mutter Serpil Temiz Unvar gegründet. Welche strukturellen Veränderungen bräuchte es, um eine diskriminierungsfreie Bildung zu ermöglichen? Der Initiative sei es wichtig, einen „offenen pädagogischen Raum zu schaffen“, in der die Betroffenenperspektive im Fokus steht.

     

    Nr. 8: fair@school Wettbewerb

    Foto von <a href="https://unsplash.com/de/@javotrueba?utm_source=unsplash&utm_medium=referral&utm_content=creditCopyText">javier trueba</a> auf <a href="https://unsplash.com/de/fotos/iQPr1XkF5F0?utm_source=unsplash&utm_medium=referral&utm_content=creditCopyText">Unsplash</a>
    Foto von javier trueba auf Unsplash

    Der Wettbewerb fair@school zeichnet antirassistische und diskriminierungssensible Schulprojekte aus und fördert diese. Fair@school ist eine Initiative des Schulbuchverlages Cornelsen, der Antidiskriminierungsstelle des Bundes und der Universität Hildesheim. Der Wettbewerb will für Themen wie „Antidiskriminierung, Interkulturalität, Inklusion, Religionsvielfalt und Diversität sensibilisieren“. Teilnehmen können alle, die sich in weiterführenden und berufsbildenden Schulen befinden.

  • Chancengleichheit im Bildungssystem – eine migrantische Perspektive

    Ich erinnere mich noch genau an den Moment in meinem Sozialwissenschaftsunterricht in der 11. Klasse. Das Thema war Chancengleichheit. Meine Lehrerin zeigte eine Karikatur von Hans Traxler und wir Schülerinnen und Schüler sollten dieses Bild kommentieren. Ich fing an, das Bild still in meinem Kopf zu analysieren: Der Lehrer sitzt auf dem Stuhl und gibt den gegenüberstehenden sieben Tieren die gleiche Aufgabe. Sie lautet: “Klettert auf den Baum!” Allerdings könnten die Tiere nicht unterschiedlicher sein. Zu sehen sind ein Affe, ein Vogel, ein Pinguin, ein Elefant, ein Fisch, eine Robbe und ein Hund.

    Meine Familie hat einen türkischen Migrationshintergrund. Ich selbst bin in Deutschland geboren und aufgewachsen. Deutsch lernte ich im Kindergarten, da Zuhause ausschließlich Türkisch gesprochen wurde. Die Grundschulzeit empfand ich positiv. Ein- bis zweimal in der Woche ging ich zum Türkisch-Unterricht. Meine Muttersprache gut zu sprechen war mir wichtig. Für den Türkisch Unterricht, den ich damals hatte, bin ich sehr dankbar.


    Quelle: https://www.walterherzog.ch/cartoons/chancengleichheit/

     

    Brüche im System

    Doch dann gab es einen Bruch in meiner Grundschulzeit. In meiner Familie haben wir meine kleine Schwester verloren und durch dieses Ereignis verpasste ich monatelang den Unterricht. Als ich zur Schule zurückkehrte, kam mir alles anders vor. Ich war vorher schon ein eher zurückhaltendes Mädchen gewesen, nach dem Tod meiner Schwester verwandelte ich mich in ein introvertiertes Kind.

    Damals habe ich es vielleicht noch nicht ganz verstehen können. Doch als ich im Sowi-Unterricht vor der Karikatur saß, fiel plötzlich der Groschen bei mir: Wie sollen der Elefant, der Vogel, der Pinguin, der Fisch, die Robbe und der Hund auf den Baum klettern? Während nur der Affe es dank seiner angeborenen Fähigkeiten leicht hat, werden die anderen Tiere wahrscheinlich an dieser Aufgabe verzweifeln.

    Für mich beschreibt dieses Bild sehr zutreffend die Ausgangssituation im Bildungssystem von Kindern. Ein Kind, das in einer syrischen Familie groß geworden ist, spricht gar kein Deutsch. Ein türkisches Kind hat Zuhause vielleicht nur Türkisch gesprochen, aber hat – so wie ich – im Kindergarten Deutsch gelernt. Ein deutsches Kind ist eben mit der deutschen Sprache geboren. Aber nicht nur Sprachkenntnisse verändern die Voraussetzungen. Auch die soziale Herkunft, Schicksalsschläge, Familiendynamiken… Nur auf den ersten Blick erscheint eine gleiche Aufgabenstellung für alle gerechtfertigt. Bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, dass diese Aufgabe unfair ist. Denn nicht alle Schüler*innen haben dieselben Voraussetzungen und Zugänge, um sie zu lösen.

     

    Mein Bildungsweg 

    Das erste Elterngespräch in der 4. Klasse stand an: Meine Klassenlehrerin sprach mit meinen Eltern über die weiterführenden Schulen, die für mich in Betracht kamen. Sie schlug vor, mich auf  die Haupt- oder Gesamtschule zu schicken. Doch das konnte meine Eltern nicht zufriedenstellen. Sie konnten nicht verstehen, warum ihre Tochter, die keine einzige Vier auf ihrem Zeugnis hatte, plötzlich auf die Hauptschule gehen sollte. Sie fingen an, mit der Lehrerin zu diskutieren und versuchten, sie zu überreden, mir mindestens eine Realschulempfehlung zu geben. Die Lehrerin versprach, dass sie es sich überlegen würde.

    Nach diesem Gespräch suchten wir meinen Türkisch-Lehrer auf und baten ihn um seine Einschätzung. Der Türkischlehrer war verwundert über die Empfehlung meiner Klassenlehrerin und sprach meinen Eltern Mut zu, dass sie mich auf die Realschule schicken. Meine Klassenlehrerin gab mir schlussendlich auch eine eingeschränkte Empfehlung für die Realschule. Das heißt konkret: Auf dem Zeugnis standen immer noch Haupt- und Gesamtschule als Empfehlung, daneben stand aber auch Realschule in Klammern. Diese Klammern ignorierten meine Eltern und sie meldeten mich an der Realschule an.

     

    “Sie entschieden sich dafür, an mich und an mein Potenzial zu glauben”

    In der Realschule kämpfte ich mich mutig durch meinen Schulalltag. Ich lernte, über meine ruhige Art hinauszuwachsen, da die mündliche Leistung zählte. Ich hatte besonderen Spaß im Deutsch-Unterricht. Ich erinnere mich noch genau an den Moment in meiner Realschulklasse, als wir unsere Deutscharbeiten zurückbekamen. Die Lehrerin gab mir meine Klassenarbeit zurück mit der Bemerkung: „Sevinç hat die beste Deutscharbeit geschrieben. Eine Eins Minus!”. Ein Mitschüler kommentierte: „Wie kann die Türkin eine Eins in Deutsch schreiben und ich als Deutscher eine Vier?“. Ich fühlte mich unwohl in der Situation und fast schon schuldig dafür, dass ich eine Eins in Deutsch geschrieben hatte.

    Ich beendete die Realschule mit einem Realschulabschluss mit Qualifikation. Anschließend machte ich das Abitur. Ich war an der gymnasialen Oberstufe einer Gesamtschule. Mit der Kombination aus der optimalen Fächerkombination und Fleiß schaffte ich mein Abitur mit einem Durchschnitt von 1,2. Auf mein Abiturzeugnis war ich besonders stolz.

    Ich war froh, dass meine Eltern nicht auf meine Grundschullehrerin gehört hatten. Sie hatten den richtigen Riecher. Sie entschieden sich dafür, an mich und an mein Potenzial zu glauben. Im Laufe meines Bildungsweges habe ich das auch gelernt.

     

     

     

    Mehr zum Thema Bildungsgerechtigkeit erfährst Du in der aktuellen Printausgabe von kohero.

  • zu.flucht Podcast: Zu Bildungsgerechtigkeit

    In dieser Folge haben wir Philip Oprong Spenner zu Gast: Er erzählt davon, wie er als Straßenkind in Kenia aufwuchs, wie er Lehrer in Hamburg wurde und warum Bildung seine Rettung war. Prof. Krassimir Stojanov ist Professor für Bildungsphilosophie an der KU Eichstätt-Ingolstadt und hat uns erklärt, wie ein gerechtes Bildungssystem aussehen muss. Außerdem haben wir mit Amin Rochdi, Vorsitzender des Bundesnetzwerks der Lehrkräfte mit Migrationsgeschichte e.V., gesprochen, welche Rolle Lehrer*innen beim Erreichen von Bildungsgerechtigkeit spielen können.
    Bestelle hier unsere Printausgabe zum Thema Bildung.
    Abonniere ⁠unseren Newsletter⁠, um alle Infos zum Thema Bildungsgerechtigkeit und vielen weiteren Themen gebündelt in dein Postfach zu bekommen.
    Du findest unsere Arbeit gut? Wir freuen uns über deine Spende.
    An dieser Produktion mitgewirkt haben: Jonas Graeber, Anna Seifert, Anne Josephine Thiel, Sarah Zaheer
    Sounddesign: Christian Petzold
    Infos zur Folge:
    Unsere Folgen zum Thema Arbeitsmarkt, Lernen in der Corona-Pandemie und Klassismus.
    Alle Artikel zum Thema Bildungsgerechtigkeit.
    Foto (von links nach rechts):
    Krassimir Stojanov (©privat), Philip Oprong Spenner (©Gerald von Foris), Amin Rochdi (privat)

  • Rassismus in Kitas: Selbstreflexion als Schlüssel

    Dr. Seyran Bostancı arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) in Berlin. Dort ist sie für die wissenschaftliche Begleitung der „Demokratie leben!“-Projekte zum Thema Vielfalt zuständig. Zudem forscht sie zu institutionellem Rassismus in Kitas im Rahmen des Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitors (NaDiRa) und arbeitet als Referentin für vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung bei der Fachstelle Kinderwelten, die Kitas auf dem Weg zu einer inklusiven Organisationsentwicklung begleitet.

     

    Dr. Seyran Bostancı, warum widmen Sie sich in Ihrer Forschung Themen wie Rassismus, Diversität, Migration und Inklusion?

    Durch mein Praktikum bei der Fachstelle Kinderwelten begann ich, mich mit diesen Themen auseinanderzusetzen. In meiner Schulzeit oder in meinem Bachelorstudium der Sozialwissenschaften wurden diese Themen nie behandelt. Es war für mich aufwühlend, zu verstehen, dass es für dieses Bauchgefühl und Unbehagen, was ich während meiner Ausbildung oft hatte, Konzepte und Begriffe gibt.

    Die Fachstelle Kinderwelten beschäftigt sich mit Diskriminierungsverhältnissen im Kitabereich. Das hat mich begeistert und ich hatte die romantische Vorstellung, dass eine Veränderung im Kitabereich gesamtgesellschaftliche Synergieeffekte haben könnte.

    Beim Thema Rassismus denken viele Menschen, dass es ausschließlich um Vorurteile oder Diskriminierung gehe. Wie definieren Sie Rassismus?

    Ich begreife Rassismus nicht nur auf der Ebene der individuellen Vorurteile. Ich verstehe Rassismus vielmehr als gesellschaftliches Strukturprinzip, das dazu führt, dass Menschen, die aufgrund von Rassismus benachteiligt werden, der Zugang zu gesellschaftlich relevanten Ressourcen wie Bildung, Arbeitsmarkt oder Gesundheit erschwert oder sogar verwehrt wird. Rassismus kann sich durch Normalitätsvorstellungen, Routinen und Verfahrensweisen auch innerhalb von Organisationen einschreiben, sich institutionell verankern und so zu einem Alltagsphänomen werden.

     

    Kaum Vermittlung interkultureller Kompetenzen in der Erzieher*innenausbildung

     

    In Deutschland besteht ein Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz. Allerdings gibt es viel zu wenig Kitaplätze. Spielt bei der Vergabe von Kitaplätzen Rassismus eine Rolle?

    Es gibt Studien, die Segregationsprozesse beleuchten. Bisher wurde jedoch oft der Fokus auf die elterlichen Wahlentscheidungen gelegt. Es wurde also argumentiert, dass migrantische Familien ihre Kinder entweder zu spät anmelden oder vielleicht gar nicht den Wunsch haben. Interessanterweise wurde in den bisherigen Studien kaum untersucht, wie sich Rassismus in diesen Zugangsprozessen einschreibt.

    Genau dazu forsche ich gerade mit meinem Kollegen Benedikt Wirth. Wir befinden uns allerdings erst in der Erhebungsphase. Auf Basis des bisherigen Forschungsstandes lässt sich aber bereits sagen, dass es Hinweise darauf gibt. Statistisch wird deutlich, dass Kinder mit Migrationshintergrund seltener in Kitas anzutreffen sind, vor allem bei den unter Dreijährigen. Gleichzeitig ist der Betreuungswunsch dieser Familien höher als die Anzahl der tatsächlich vergebenen Kitaplätze.

    Inwiefern werden bei der Ausbildung von Erzieher*innen interkulturelle Kompetenzen vermittelt und Rassismus thematisiert?

    Viel zu wenig! Ich gebe Fort- und Weiterbildungen für pädagogische Fachkräfte. Da stelle ich immer wieder fest, dass sie kaum professionelle Kompetenzen im Umgang mit Vielfalt und Diskriminierung haben. Viele wissen nicht, wie sie mit Beschwerden umgehen sollen.

    Meine Studie hat ergeben, dass Familien, die sich wegen rassistischer Diskriminierungserfahrungen beschweren, Glück haben müssen, an eine pädagogische Fachkraft zu geraten, die das Thema für wichtig erachtet und dem nachgehen möchte. Es gibt leider keine etablierten Beschwerdeverfahren. Der Umgang mit Migration und Vielfalt müsste eigentlich in der Ausbildung als Querschnittsthema gedacht werden, das ist bislang aber nicht der Fall. Es bleibt ein Sonderthema und deshalb empfinden es wahrscheinlich viele pädagogische Fachkräfte als zusätzliche Aufgabe, sich damt auseinandersetzen zu müssen.

     

    „Vor allem mit der jüngeren Generation, die jetzt in die Kitas einsteigt, verändert sich der Diskurs allmählich“

     

    Neben Ihrer Arbeit als Wissenschaftlerin sind Sie seit 2010 Praxisberaterin und Coachin für Diversity und Inklusionsprozesse in frühkindlichen Bildungseinrichtungen tätig. Lassen sich pädagogische Fachkräfte darauf ein, sich kritisch zu reflektieren?

    Natürlich gibt es manchmal ein Irritationsmoment bei den pädagogischen Fachkräften: Auf der einen Seite ist das dieses Selbstverständnis, ein guter Mensch zu sein und das Beste für die Kinder zu wollen, auf der anderen Seite müssen sie sich plötzlich ihrer eigenen Prägung durch Vorurteile und rassistisches Wissen bewusst werden. Das kann Unbehagen auslösen, das sich gelegentlich in Form von Widerständen äußert.

    Pädagogische Fachkräfte sind zudem oft der Ansicht, dass sie alle Kinder gleich behandeln und es für sie keine Rolle spielt, wie jemand aussieht. Es kommt jedoch nicht auf ihre persönliche Meinung an. Kinder werden aufgrund ihres Aussehens und ihrer gesellschaftlichen Positionierung gesamtgesellschaftlich unterschiedlich bewertet und dadurch auch benachteiligt. Das aufzubrechen, ist nicht immer einfach, aber es gelingt zunehmend. Vor allem mit der jüngeren Generation, die jetzt in die Kitas einsteigt, verändert sich der Diskurs allmählich.

     

    Warum Vielfalt in Kitas sichtbar sein muss

     

    Wieso ist es wichtig, diversitätsbewusste Bücher und Spielsachen in Kitas zu verwenden?

    Das ist vor allem für die Identitätsentwicklung der Kinder von großer Bedeutung. Aus der Lerntheorie wissen wir, dass Lernprozesse dann besonders gut in Gang gesetzt werden, wenn sich Kinder wohl fühlen und sich in ihrer Identität widergespiegelt sehen. Erhalten Kinder dagegen immer wieder die Botschaft, dass sie nicht „normal“ sind, nicht dazugehören und in Spielmaterialien oder Büchern nicht dargestellt werden, dann entwickeln sie ein Gefühl der Nichtzugehörigkeit – das hemmt Lernprozesse.

    Können sich Kleinkinder bereits rassistisch äußern?

    In der Praxis ist zu beobachten, dass Kinder rassistische Wissen, das sie umgibt, in Interaktionen und bei der Durchsetzung ihrer Spielinteressen durchaus anwenden und auch Abneigungen gegenüber bestimmten sozialen Gruppen zeigen. Kinder können Vorformen von Vorurteilen haben. Das mag positiv klingen, weil es sich um Vorformen und nicht um manifeste Urteile handelt.

    Umso wichtiger ist es jedoch, dass pädagogische Fachkräfte intervenieren und auf die Unzulässigkeit von Diskriminierung hinweisen. Bei Kleinkindern kann Rassismus noch dekonstruiert werden. Erwachsenen fällt das Verlernen weitaus schwieriger.

     

    „Kinder können Vorformen von Vorurteilen haben“

     

    Welche weiteren Tipps geben Sie Erzieher*innen mit auf den Weg?

    Es gibt keine Checkliste, aber es hilft, sich immer wieder in einen Prozess der Selbstreflexion zu begeben. Dieser ganze Prozess ist als lebenslange Reise zu verstehen, die nie endet, weil sich Gruppen, Eltern- und Familienschaften verändern. Das, was man vielleicht einmal als gutes Verfahren oder pädagogische Methode etabliert hat, ist bei der nächsten Gruppe möglicherweise nicht mehr fruchtbar.

    Deswegen ist es wichtig, für sich selbst und im Team regelmäßig Räume zu schaffen, um in diese kritische Selbstreflexion zu kommen. Eine Leitungskraft, die diese Themen andauernd auf die Tagesordnung setzt und das Team dazu anregt, die eigene Praxis kritisch zu hinterfragen, hat eine hohe Wirkungskraft.

     

    Wie Eltern Rassismus in der Kita begegnen

     

    Sie haben kürzlich eine qualitative Pilotstudie zum Umgang mit institutionellem Rassismus in Berliner Kitas durchgeführt und hierfür 16 Eltern interviewt. Welche Rassismuserfahrungen haben diese gemacht?
    Klassische Beispiele sind die Nicht-Repräsentation in den Spielmaterialien, das Singen von rassistisch konnotierten Liedern oder das Etikettieren von Kindern. Eltern haben unterschiedliche Strategien, um Rassismus in der Kita zu thematisieren.

    Wie sehen diese Strategien aus?
    Eine Strategie ist das sogenannte „Hacking“: Weil Familien antizipieren, dass Rassismus vorkommen könnte, versuchen sie die Diskriminierung zu umgehen. Zum Beispiel wird die Herkunft bei der Kitaanmeldung verschwiegen. Andere wiederum setzen auf Intervention.

    Oft sind Eltern jedoch nicht in der Lage, Veränderungsprozesse anzustoßen, da ihre Beschwerden zum Teil blockiert oder nicht ernst genommen werden. Die Familien versuchen dann eher, außerhalb der Kita ihre Kinder zu stärken, um eine Art Schadensbegrenzung zu betreiben. Manche Familien spielen Diskriminierungserfahrungen in der Kita auch herunter, weil sie befürchten, dass die Beziehung zwischen der pädagogischen Fachkraft und ihrem Kind Schaden nehmen könnte. Es besteht ja ein Abhängigkeitsverhältnis.

    Es kommt vor, dass Familien sich von Beginn an nicht trauen, etwas zu sagen, aus Angst, als nervige Eltern abgestempelt zu werden und den Kitaplatz zu gefährden. Die vielleicht logischste Strategie ist die Exit-Strategie, also das Kind abzumelden. Allerdings geschieht das selten, zum einen aufgrund des Mangels an Kitaplätzen und zum anderen aufgrund der Ungewissheit, ob es in einer anderen Kita besser laufen würde.

     

    „Diskriminierungserfahrungen werden zum Teil von den pädagogischen Fachkräften heruntergespielt“

     

    Wie reagieren Kitas auf Beschwerden von Seiten der Eltern?

    Diskriminierungserfahrungen werden zum Teil von den pädagogischen Fachkräften heruntergespielt. Um zu zeigen, dass sie Vielfalt feiern, weisen manche darauf hin, dass sie mit den Kindern Lieder wie „Drei Chinesen mit dem Kontrabass“ singen, was an sich schon rassistisch ist. Nicht selten werden die verschiedenen Diskriminierungsdimensionen auch gegeneinander ausgespielt – man wolle sich beispielsweise auf das Thema Gender konzentrieren und habe keine Zeit für das Thema Rassismus. Die krasseste Strategie bei Beschwerden von Eltern ist die Kündigung seitens der Kita mit der Begründung, das Vertrauensverhältnis sei gestört.

    Warum gibt es bisher so wenig Forschung zu dem Themengebiet Rassismus in Kitas?

    Zum einen aufgrund der Vorstellung, junge Kinder hätten mit dem Thema Rassismus nichts am Hut, und zum anderen kommt hier der Adultismus – also das ungleiche Machtverhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern – zum Tragen. Das konnte man verstärkt während der Corona-Pandemie beobachten. Wenn es um das Bildungssystem ging, dann stand immer nur die Schule im Fokus. Der Kitabereich wird leider häufig vernachlässigt.

     

     

    Mehr zu unserem Fokusthema Bildungsgerechtigkeit erfährst du im zu.flucht-Podcast, in unserer neuen Printausgabe „Was weiß ich?“ und in unserem zu.flucht-Newsletter!

  • Bildungszentrum Optimum – niedrigschwelliger Zugang zu Bildung

    Efecan Köse (23), Ahmad Al Mefalani (26) und Mohammad Al Mefalani (23) studieren heute Maschinenbau. Während Efecan in Deutschland geboren ist und türkische Wurzeln hat, sind Ahmad und Mohammad 2015 aus Daraa in Syrien nach Deutschland geflohen. Gemeinsam wollen sie sich dafür einsetzen, dass jede Person Zugang zu einer qualitativ hochwertigen Bildung bekommt. „Schule bedeutet nicht nur, zu unterrichten und den Schulstoff zu verstehen, sondern auch, erstmal mit dem Schulsystem klarzukommen. Wenn man ein Problem in der Schule hat, ist man nicht für den Empfang von Wissen bereit. Dabei wollen wir den Schüler*innen mit professioneller Unterstützung helfen”, so Efecan.

    Die Schwächen des Bildungssystems

    Efecan beklagt, dass im Schulalltag oft nicht umsetzbar sei, was im Bildungssystem theoretisch vorgesehen ist. Um zum Beispiel Lesen zu lernen, müssen bereits bei Schulbeginn ausreichende Sprachfähigkeiten vorhanden sein, die sich im Laufe der weiteren Entwicklung immer mehr verfeinern.

    Überforderte Lehrer*innen kämen in zu großen Klassen jedoch an ihr Limit; sie können nicht ausreichend auf die verschiedenen Lerntypen sowie Lerntempos der Kinder eingehen. „Es geht alles zu schnell und es wird von den Kindern erwartet, dass sie sich zeitlich nur mit der Schule beschäftigen“, sagt Efecan. Darüber hinaus würden viele Schulen nur Hausaufgaben als Art der Lernförderung anbieten.

    Efecan, Ahmad und Mohammad seien selbst oft mit den Schwächen des Bildungssystems konfrontiert gewesen. Das ist auch der Grund, weshalb sie das Bildungszentrum Optimum gründeten.  „Ob im Schulstoff oder im Leben – Wir können mit unserem Migrationshintergrund den Kindern Vieles auf den Weg mitgeben”, so Efecan. Das bestätige die positive Rückmeldung der Kinder und ihrer Eltern.

    Kennengelernt haben sich die drei Studenten durch einen anderen Bildungsanbieter,  bei dem sie zusammengearbeitet und Schüler*innen Nachhilfe gegeben haben. „Nach einiger Zeit haben wir festgestellt, dass viele Schülerinnen und Schüler bei uns privat Nachhilfe haben wollten. Sie haben uns gesagt: ‘Ihr macht es so gut, macht daraus was eigenes’“, erzählt Efecan. Die Idee des eigenen Projekts entstand.

    Vielfältiges Angebot mit professioneller Hilfe

    Das neue Bildungszentrum bietet ein vielfältiges Angebot an Kursen für Kinder an.  Wichtig sei es ihnen, individuelle Förderung zu bieten. Von Konversationskursen bis hin zu Mathematik, Englisch und Naturwissenschaften – es deckt fast alle Fächer ab und gibt den Schüler*innen die Möglichkeit, ihr Wissen und ihre Fähigkeiten zu verbessern.

    „Wir versuchen, den Kindern nicht nur im Unterricht, sondern auch mental zu helfen, indem wir sie zum Beispiel ihren eigenen Tee machen lassen. So haben sie kleine Erfolgserlebnisse“, sagt Efecan. Dabei bekommen die drei ehrenamtliche Hilfe von Freund*innen: „Mein Bruder ist eine pädagogische Lehrkraft. Er hilft uns dabei, die Kinder professionell zu unterstützen“, so Efecan.

    Hart arbeiten für wenig Geld

    Für die Studenten war es nicht einfach, das Projekt zu starten. Obwohl Sie keine externe finanzielle Unterstützung finden konnten, haben sie losgelegt.  „Wir haben unser Bafög in einen Topf getan und versucht, das Projekt zu finanzieren“, erzählen sie.

    Bekannte halfen ihnen bei der Suche nach ersten Räumlichkeiten in Bochum, Tische und Stühle sammelten sie sich bei Kleinanzeigen und aus Büroauflösungen zusammen. Efecan, Mohammad und Ahmad verbrachten viele Stunden damit, Materialien zu sammeln und Kurse zu planen, um sicherzustellen, dass jede Schülerin und jeder Schüler das bestmögliche Lernerlebnis bekommt. Dafür zogen sie auch andere Expert*innen und Pädagog*innen zusammen, um das volle Potenzial der Schüler*innen auszuschöpfen.

    Doch Geld verdienen sie damit bisher nicht. Alle Einkünfte fließen zurück in die Versicherungen, die Buchhaltung und in die Miete. Trotzdem haben sie entschieden, dass das Angebot günstig bleiben soll. Neun Euro kostet eine Stunde. „Das Ziel ist es, vor allem Schüler*innen und ihre Eltern, die wegen der Corona-Zeit viel Bedarf an Nachhilfe haben, und Familien, die mehrere Kinder haben, zu erreichen. Sie könnten solche Kurse ansonsten nicht bezahlen”, erklärt Efecan. Das Angebot sei monatlich kündbar. „Während der Ferien können Familien ihren Vertrag kündigen und brauchen keine Gebühren zu bezahlen, und können natürlich nach den Ferien wieder zu uns kommen”.

    Das Bildungszentrum hat sich schnell einen Namen gemacht. Efecan, Mohammad und Ahmad sind stolz auf das, was sie erreicht haben. Sie planen, ihr Angebot weiter auszubauen und hoffen, dass sie in Zukunft noch mehr Menschen helfen können, Zugang zu einer qualitativ hochwertigen Bildung zu erhalten.

     

    Du interessierst Dich für Bildungsgerechtigkeit? Mehr zum Thema findest Du in unserer Printausgabe #9 „Was weiß ich?“

  • Bildungsgerechtigkeit in Deutschland – eine Bestandsaufnahme

    Der Bildungsweg von Menschen mit Migrationsgeschichte in Deutschland ist von einer Vielzahl herausfordernder Situationen geprägt – von der Schulzeit bis zur Hochschulbildung. Zum einen wegen der Bildungsressourcen der Eltern und zum anderen durch diskriminierende Haltungen von Lehrkräfte gegenüber Migranten*innen und geflüchteten Menschen.

    Dies beschreibt Havva Engin,  Professorin für Allgemeine Pädagogik, als „sichtbare und unsichtbare Bildungssysteme“ im aktuellen kohero Printmagazin. Havva Engin bezieht sich hier auf die Tatsache, dass das Bildungsniveau und die Sprachkenntnisse der Eltern Auswirkungen auf die Bildungschancen ihrer Kinder haben können. Kinder, die zu Hause, also im „unsichtbaren Schulsystem“, nicht ausreichend gefördert werden, können dadurch langsamer vorankommen als Kinder, die solche Ressourcen zur Verfügung haben.

    Auch die Haltung von Lehrkräften und ihre Entscheidungen haben einen erheblichen Einfluss auf den weiteren Lebensweg von Kindern und Jugendlichen. In einer Studie des Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitors (NaDiRa) wird festgestellt, dass Schüler*innen mit Migrationsgeschichte trotz gleicher Leistung seltener eine Gymnasialempfehlung erhalten als ihre Mitschüler*innen. Im Gegensatz dazu ist ihre Anzahl an Gesamt- und Realschulen höher. In den niedrigeren Schulformen ist die Abbrecherquote besonders hoch. Ein weiteres Problem besteht in der übermäßigen Zuweisung von angeblichen Lernbehinderungen bei Kindern und Jugendlichen mit Migrations- und Fluchtgeschichte. Dies betreffe  insbesondere viele Schüler*innen , die nach 2015 zugewandert seien, so Engin.

     

    Antirassismus im Lehrplan und Klassenzimmer

    Ein wesentliches Merkmal eines gerechteren Bildungssystems besteht darin, dass das Schulpersonal bereit ist, eigene Vorurteile und rassistische Einstellungen zu hinterfragen. Dies sei aber nicht immer der Fall, da „Lehrer*innen ihre Ausbildung absolvieren können, ohne sich auch nur einmal mit Rassismuskritik auseinandersetzen zu müssen“, wie Sam Schulz, Referent*in für Diversität und Anti-Rassismus, betont. In einem Interview im aktuellen kohero Printmagazin “Was weiß ich?” erklärt Sam, warum antirassistische Bildung einen festen Platz im Lehrplan einnehmen sollte. Sowohl Schüler*innen als auch Lehrer*innen sollten sich intensiver mit diesem Thema auseinandersetzen, denn ohne eine solche Auseinandersetzung würden gute Absichten oft ohne langfristige Veränderungen bleiben.

    Nadire Biskin, Lehrerin und Journalistin berichtet über ihre Erfahrungen im Klassenzimmer: „Es gibt Lehrer*innen, die zwar sehr offen und bemüht sind, aber über wenig Wissen verfügen. Sie stammen beispielsweise aus Kleinstädten, in denen es keine Personen mit Migrationshintergrund gibt.“ Daher sei es wichtig, sich für die Förderung von Lehrkräften, die selbst zugewandert sind, oder diesen familiären Hintergrund haben, einzusetzen.

    Dieser Lösungsansatz verdient mehr Aufmerksamkeit, da Menschen mit Migrationshintergrund in den Lehrerzimmern in Deutschland unterrepräsentiert sind. Im Jahr 2021 hatten laut Mediendienst Integration etwa 13% der Lehrkräfte einen statistischen Migrationshintergrund. Eine neue Studie des DIPF Leibniz-Instituts für Bildungsforschung und Bildungsinformation und der Goethe-Universität Frankfurt zeigt zudem, dass Student*innen mit statistischem Migrationshintergrund während ihres Lehramtsstudiums im Vergleich zu ihren Kommiliton*innen ein geringeres Zugehörigkeitsgefühl zum Studium haben und eher dazu neigen, das Studium abzubrechen. Dies unterstreicht die Notwendigkeit, gezielte Maßnahmen zur Unterstützung und Stärkung dieser Studierenden zu ergreifen.

     

    Bildungsgerechtigkeit geht über Schule hinaus

    Auch in der nächsten Phase des Bildungswegs setzt sich die Ungleichheit fort. Egal ob es um ein Studium oder eine Ausbildung geht, die Bildungsressourcen der Eltern spielen auch hier eine entscheidende Rolle. Besonders schwierig gestaltet sich jedoch der Einstieg für junge Menschen aus migrantischen Familien, die keinen akademischen Hintergrund haben. Laut dem Hochschulbildungsreport beginnen von 100 Kindern aus Akademikerfamilien 79 ein Studium. Bei Nicht-Akademikerfamilien sind es hingegen gerade einmal 27 von 100. Es ist jedoch anzumerken, dass in dieser Erhebung nicht nach dem Migrationshintergrund differenziert wird.

    In deutschen Universitäten gibt es derzeit 441.000 Student*innen ohne deutsche Staatsangehörigkeit. Gleichzeitig haben 39% der Jugendlichen, die sich um eine Berufsausbildung bewerben, eine Migrationsgeschichte. Forschungen, die Bildungsteilhabe beleuchten wollen, sind nicht spezifisch genug. Themen wie der Leistungsdruck, den Menschen mit Migrationserfahrung erleben, oder ob sie auch an Unis oder Ausbildungsplätzen diskriminierenden Strukturen ausgesetzt sind, werden kaum thematisiert. Genau hier kann angesetzt werden, um eine echte Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit für alle zu erreichen.

     

    Mehr zu unserem Fokusthema Bildungsgerechtigkeit erfährst du im zu.flucht-Podcast, in unserer neuen Printausgabe „Was weiß ich?“ und in unserem zu.flucht-Newsletter!

     

kohero-magazin.com