Schlagwort: Beziehungen

Ob Liebe oder Freundschaft – zwischenmenschliche Beziehungen sind ein wichtiger Teil unseres Lebens. Vielleicht sogar der wichtigste. Beziehungen entstehen über nationale, kulturelle und sprachliche Grenzen hinweg. Erzählt uns eure lustigsten, romantischsten und aufregendsten Erlebnisse! Hier kannst du deinen Artikel einreichen.

  • Kultur der Liebe #6: Wertschätzung und Empathie

    Dating und Liebe – das kann sehr schön, aber auch sehr anstrengend sein. Schön, weil man auf einen Menschen treffen kann, der eine*n inspiriert, mit der man Nähe und Intimität austauschen kann. Anstrengend, weil wir in einer Gesellschaft leben, die immer schnelllebiger wird, mit sexistischen und rassistischen Stereotypen und Normen. Welche Erfahrungen machen Menschen mit Migrations- und Fluchterfahrung in Deutschland beim Daten und in der Liebe? 

    Zwei Menschen treffen aufeinander und damit auch zwei (kulturelle) Identitäten mit unterschiedlichen Erwartungen, Sozialisierungen und Erfahrungen. Unterschiedliche Wünsche, Freiheiten und manchmal auch Sprachen. Dabei kann es zu Missverständnissen, Vorurteilen, neuen Einblicken und Gemeinsamkeiten kommen. 

     

    Si-Hao, meistens Didi genannt, ist 26 Jahre alt und kommt aus Hamburg. Seine beiden Eltern kommen aus China, sein Vater lebt seit seinen Zwanzigern in Hamburg, seine Mutter ist in Hamburg aufgewachsen. Sie haben hier gemeinsam ein Restaurant. Zu Hause wurde nicht viel über Liebe und Romantik gesprochen. Seinen Zugang zu Sexualität hatte Didi in der Pubertät durch Pornografie. Die ersten sexuellen Erfahrungen waren nicht sehr romantisch. Durch seine erste feste Beziehung hat er gelernt, was Wertschätzung, Ehrlichkeit und Kommunikation ausmacht. 

     

    Der Wunsch nach Empathie, Verständnis und Aufklärung

     

    Wenn ich an meine Kindheit und Jugend denke, war das Thema Aufklärung nur im Rahmen der Schule im Sexualkundeunterricht präsent. Zu Hause mit meinen Eltern gab es solche Gespräche nicht. Mit meinem Vater hatte ich nie ein ‘Vater-Sohn’-Gespräch. Das lag, denke ich, zwar auch an unserer Sprachbarriere, aber er ist generell keine sehr kommunikative Person und hat sich auch sonst eher aus der Erziehung rausgehalten.

    Mein Vater ist in einem sehr konservativen Haushalt in Hongkong groß geworden und auch meine Mutter hatte einen strengen Vater. Bei beiden war das Aufwachsen eher strikt, es war beispielsweise klar für meine Mutter, dass sie in der Gastro arbeiten wird, weil das ihre Eltern auch gemacht haben. Sie und ihre Schwestern mussten meistens nach der Schule in deren Restaurant mithelfen. Das war bei mir und meinen Geschwistern nicht der Fall.

    Meine Eltern führen gemeinsam ein Restaurant, sie arbeiten täglich zusammen und dadurch ist Arbeit auch immer ein Thema zwischen ihnen. Sie sind aus einer Generation, wo es schon noch anders war, Beziehungen einzugehen, da wurde nicht so lange gesucht, bis es ‘perfekt’ passt. Sie führen nicht unbedingt eine sehr liebevolle Beziehung, meine Eltern sind auch sehr unterschiedliche Persönlichkeiten. Manchmal wirkt es, als ob die Beziehung stagniert und ich frage mich, ob sie noch zusammen wären, wenn die Arbeit nicht wäre.

    „Ich habe das so von der chinesischen Kultur gar nicht so mitbekommen, was Sexualität, Liebe oder Beziehung angeht“

    Trotzdem habe ich durch das Aufwachsen in meinem Elternhaus viel an Empathie und Mitgefühl mitgenommen und weiß, wie ich wertschätzend agiere. Dadurch habe ich das von der chinesischen Kultur auch nicht so mitbekommen, was Sexualität, Liebe und Beziehungen angeht. Das Einzige, das ich einmal in China gesehen habe, war, dass teilweise an öffentlichen Plätzen Steckbriefe von Leuten hingen, die ein*e Partner*in gesucht haben. Und dann konnte man sich da melden.

    Ich weiß aber nicht, ob das die Familien für ihre Kinder gemacht haben, damit die eine*n Partner*in finden, oder die Kinder selbst. In Hongkong, ist es eher nicht der Fall, dass man im Jugendalter auszieht und seine eigene Wohnung hat. Man wohnt bei den Eltern bis man heiratet, das war bei meiner Familie so.

    Aber sowohl ihre als auch meine Beziehung(en) waren nicht wirklich ein Gesprächsthema. Ich wurde mal gefragt wie es mit Partner*innen aussieht, aber das war es dann auch. Ich denke, meine Mutter dachte zwischenzeitlich, ich wäre homosexuell, weil ich viele Freundinnen hatte, aber in keiner Beziehung war.

     

    „In der Pubertät war es schon eher kein sehr wertschätzender Umgang in der Sexualität“

     

    Das Thema Sexualität ist bei mir im typischen Jugendalter präsent geworden – erste Kontakte mit Pornografie, deren Konsum und masturbieren. Ich war sehr unsicher, mich hat beispielsweise das Klischee vom kleinen Penis bei Chinesen belastet, was mein Selbstbild sehr beeinflusst hat. Aber auch, dass männliche Personen im Bett performen müssen. Ich hatte mein erstes Mal Sex relativ früh, mit vierzehn Jahren, und die Person, mit der ich Sex hatte, war zwei Jahre älter. Aber danach ist lange nicht viel passiert. Das erste Mal war für mich nicht romantisch oder sehr intim. Es war so schnell vorbei, wie es angefangen hat.

    Im Nachhinein hätte ich es schön gefunden, wenn ich einen wertschätzenden Austausch erfahren hätte. Oder wenn es die Möglichkeit gegeben hätte, mit einer Person über meine Erfahrungen in Austausch zu kommen. Aber auch in meinem Umfeld, im Freund*innenkreis und vor allem den Jungsgruppen habe ich in der Pubertät eher keinen wertschätzenden Umgang in der Sexualität erlebt. Erst als ich schon älter war, hatte ich meine erste Beziehung.

    Meine damalige Freundin ist eine sehr reflektierte Person, die mir einen sehr wertschätzenden Umgang gezeigt hat. Durch Gespräche mit ihr habe ich dann gemerkt, dass der Pornokonsum irgendwie schon meine Vorstellungen von Sexualität beeinflusst hat, und vielleicht auch bestimmte Handlungen durch den Konsum von Pornografie entstanden sind. Nicht, dass das riesige Ausmaße angenommen hat, aber rückwirkend hätte ich mir einen anderen Zugang zu Sexualität gewünscht.

     

    „Ich lebe meine Sexualität aus, mit einer Person, die ich liebe“

     

    Mittlerweile habe ich einen sehr guten Umgang mit meiner Sexualität, was vor allem mit meiner ersten Beziehungen und meiner jetzigen Beziehung zu tun hat. Ich habe meine Sexualität ausgelebt, mit einer Person, die ich geliebt habe und dadurch sind wir viel mehr in den Austausch gegangen. Wir haben über vieles geredet, unsere Wünsche, Unsicherheiten und Bedürfnisse. Durch meine erste Beziehung habe ich viel Wertschätzung erfahren und konnte mich viel reflektieren. Und das kann ich in meiner jetzigen Beziehung weiterführen und vertiefen. Wir reden viel über uns, was wir mögen, was wir nicht mögen.

     

    „In unserer Generation ist auch Beziehungsunfähigkeit ein Thema“

     

    Kommunikation ist ein wesentlicher Bestandteil von Wertschätzung meiner Meinung nach. Ich habe das Gefühl, das geht in der Generation Tinder manchmal verloren – die Schnelligkeit und Liebe auf Abruf. Vor meiner jetzigen Beziehung habe ich das mal ausprobiert. Ein schneller Ego-Push durch einen Like tut gut, ich hatte dann ein einziges Date und es war schrecklich.

    Für mich persönlich ist es einfach komisch, sich mit jemanden zu treffen, den*die ich gar nicht kenne. Ich mag es lieber, Menschen in einem ‘natürlichen’ Kontext kennenzulernen. In unserer Generation ist, glaube ich, auch Beziehungsunfähigkeit ein Thema. Viele Menschen, die heutzutage eine offene Beziehung führen, verwechseln, glaube ich, manchmal Freiheit mit der Angst vor Bindung, sich zu öffnen und verletzlich zu zeigen. Dabei ist es auch in einer offenen Beziehung sehr wichtig, Emotionalität zuzulassen, Gefühle zu teilen und gut zu kommunizieren. Ich führe eine offene Beziehung und merke dort, wie wichtig dieser ehrliche Austausch miteinander ist. In jeder Beziehung ist ein wertschätzender Umgang miteinander wichtig.

     

    Didi’s Wunsch in Bezug auf Liebe und Dating ist es, dass es eine bessere, transparentere und öffentliche Aufklärung gibt. Das sollte einerseits ein einseitiges Bild von Liebe und Beziehung neu beleuchten, und aufzeigen, dass nicht immer alles perfekt ist, als auch klassische Geschlechterrollen und Familienbilder hinterfragen. Vor allem in den Medien muss sich das repräsentierte Bild wandeln. Eine vielfältige sexuelle Aufklärung führt zu einem breiteren Allgemeinwissen zu Familien- und Beziehungsformen und fördert Empathie und Verständnis gegenüber unterschiedlichen Lebensweisen. Für Liebe und Sexualität sollte Kindern und Jugendlichen viel Empathie und bewusstes Handeln nahegebracht werden. 

     

  • Kultur der Liebe #5: Offene Grenzen, freie Liebe

    Dating und Liebe – das kann sehr schön, aber auch sehr anstrengend sein. Schön, weil man auf eine Person treffen kann, die einen inspiriert, mit der man Nähe und Intimität austauschen kann. Anstrengend, weil wir in einer Gesellschaft leben, die immer schnelllebiger wird, mit sexistischen und rassistischen Stereotypen und Normen. Welche Erfahrungen machen Menschen mit Migrations- und Fluchterfahrung in Deutschland beim Daten und in der Liebe? 

    Zwei Menschen treffen aufeinander und damit auch zwei (kulturelle) Identitäten mit unterschiedlichen Erwartungen, Sozialisierungen und Erfahrungen. Unterschiedliche Wünsche, Freiheiten und manchmal auch Sprachen. Dabei kann es zu Missverständnissen, Vorurteilen, neuen Einblicken und Gemeinsamkeiten kommen.

    Salah ist 25 Jahre alt. Er ist in Hamburg geboren und aufgewachsen. Seine Eltern kommen aus dem Libanon. In Hamburg ist Salah zur Schule gegangen und hat sein Abitur gemacht. Seine Kindheit beschreibt er als sehr arabisch und muslimisch geprägt. Aus seiner Perspektive hat die Religion vieles eingeschränkt in Bezug auf erste sexuelle und romantische Erfahrungen, da diese durch die Religion meistens schon vorgegeben sind. Mittlerweile ist er sehr offen und selbstbewusst im Dating-Leben aktiv. Dabei hat er Erfahrungen in Deutschland, im Libanon und in anderen Ländern gemacht.

    Von meinen Eltern habe ich nicht viel über Liebe und Sex gelernt, das war eher ein Tabuthema

    Ich bin in einem schwierigen Verhältnis in Bezug auf die Themen Liebe, Romantik und Wertschätzung aufgewachsen. Ein Grund dafür ist die Religion, würde ich sagen. Ich bin in einem religiösen Haushalt aufgewachsen und war als Kind auch selbst noch religiös, das war irgendwie ein Muss. Ich hatte gar keine andere Wahl. Von meinen Eltern habe ich nicht viel über Liebe und Sex gelernt, das war eher ein Tabuthema. Und dadurch bin ich in einem Zwielicht aufgewachsen.

    Einerseits gab es da das Interesse an Befriedigung und den Wunsch, das zu tun, worauf ich Lust habe, und andererseits Restriktionen und Disziplin, das, was von mir erwartet wurde. Das war für mich ein persönlicher Konflikt, aber ich habe mich dafür entschieden, nach dem Leben und der Freiheit zu streben und meinen Gefühlen und Wünschen nachzugehen. Die Themen und Erfahrungen musste ich mir erstmal selber aneignen. Durch das Aufwachsen in Deutschland konnte ich aber schon früh Ideen und Erfahrungen sammeln, die darüber hinausgingen, was mir durch meine Eltern vorgegeben wurde. Vieles ist durch das Internet gekommen, einiges durch die Zeit in der Schule und den Austausch mit anderen Kindern und Teenager*innen.

    Sich in einem Land, in wirtschaftlichen geschwächten Umständen zu daten, ist eine ziemlich andere Erfahrung

    Obwohl ich zu Hause in dieser arabischen Kultur aufgewachsen und mit dieser Denkweise groß geworden bin, muss ich sagen, dass ich sehr frühreif in meinem freien Willen und Denken war. Ich war früh daran interessiert, neue Menschen kennenzulernen und Beziehungen aufzubauen. Zu Beginn habe ich heimlich gedatet, das war mal ein kritisches Thema in meiner Familie. Es war ein Prozess für mich, darüber kommunizieren zu können und dazu zu stehen.

    Entscheidungen waren mit Rücksicht verbunden, denn Offenheit führte eher zu unterschiedlichen Ansichtsweisen, die unter dem religiösen Aspekt eh nicht wirklich zu diskutieren waren. Deshalb nahm ich Rücksicht auf die Lebensweise meiner Familie und erlaubte mir erst später, meine Art der Offenheit zu erforschen.

    Das ist alles sehr viel einfacher geworden als ich nicht mehr zu Hause gelebt habe. Und da habe ich dann schon gemerkt, dass die Leute, mit denen ich intim geworden bin, unter ganz anderen Umständen aufgewachsen sind, was den Umgang mit und das Reden über Sexualität und Liebe, aber auch was Erfahrungen angeht. Aber ich habe alles nachgeholt, so schnell es geht.

    Das eigenständige Leben, was ich als eine Art von Unabhängigkeit empfand, öffnete viele Türen, um andere Denkweisen und Perspektiven kennenzulernen. Es erleichterte mir im Nachhinein meinen eigenen Umgang über die Aussprache meiner Sexualität, aber auch die Erfahrungen, die ich damit verknüpfe, nach außen zu teilen.

    Undercover-Dates

    In der Zeit, wo ich im Libanon gelebt habe, habe ich gemerkt, dass es dort eine ganz andere Art und Weise des Datens gibt. In Beirut war es zwar schon fast ein europäischer Style, und da konnte ich auch Frauen daten. Aber in der Gegend, wo ich herkomme, wohnen viele junge Menschen noch bei ihren Familien und das Leben ist sehr muslimisch geprägt. Da gibt es wenig Frauen, die daten. Dort habe ich mich eher mit Männern getroffen und das waren dann wirklich Undercover-Secret-Dates. Das ist eine ganz andere Welt von Dating in der schwulen, lesbischen und bisexuellen Szene.

    Ich bin eigentlich ziemlich humorvoll und locker damit umgegangen, weil ich gar nicht gewusst hätte, dass das ein strukturelles Problem ist

    Eigentlich bin ich der Meinung, keine rassistischen Erfahrungen beim Dating gemacht zu haben. Mit gewissen Vorurteilen bin ich ziemlich humorvoll und locker umgegangen. Das liegt bestimmt auch daran, dass ich in einer multikulturellen Großstadt aufgewachsen bin. In dörflichen Gegenden hätte das wahrscheinlich anders ausgesehen. Aber dazu muss ich auch sagen, dass ich mich bis vor ein paar Jahren gar nicht mit Rassismus als strukturelles Problem auseinandergesetzt habe.

    Heute habe ich einen anderen Blick auf diese Dinge als damals. Aber ich hatte nie das Gefühl, dass die Personen, die ich gedatet habe, mich falsch behandelt haben. Ich bin irgendwie mehr zu Menschen hingezogen, die mich wirklich mögen für die Person, die ich bin. Das einzige, was in der Richtung dann vielleicht passiert ist, war wegen meiner Körperbehaarung. Aber da denke ich dann auch wieder, dass es einfach Geschmackssache ist, manche mögen es und manche nicht.

    Wie lernt man jemanden kennen?

    Die meisten Menschen lerne ich über Dating-Apps kennen. Das ist zwar nicht meine allerliebste Art Menschen kennenzulernen, aber es ist ein einfacher Weg heutzutage. Es ist wie ein Katalog, wo du dir etwas raussuchst und dann swipest, wenn es dir gefällt. Wenn es nach mir geht, dann würde ich lieber Menschen auf ganz spontanen, zufälligen Wegen kennenlernen. So wie man auch Freund*innenschaften schließt. Und ich denke auch, das sind die wertvollsten und längsten Beziehungen, weil es sich einfach so fühlt, als wäre es Schicksal gewesen, anstatt die Menschen über eine Online-Dating-App zu stalken.

    Salah’s Wunsch ist es, dass alle Menschen offener im Dating werden und solidarischer im Allgemeinen. Dazu gehört auch, dass Menschen die Möglichkeit haben, zu reisen, neue Menschen kennenzulernen und dadurch Neues zu erfahren. Denn das kann dazu führen, dass Vorurteile abgebaut werden und die Dating-Welt sich verändert. Dafür müssen sowohl Grenzen geöffnet und Visa-Strukturen abgebaut werden als auch wirtschaftliche und bildungstechnische Möglichkeiten geschaffen werden, damit nicht mehr so viele Menschen in ihren Ländern wie in Gefängnissen wohnen müssen.

  • Neuanfang

    Du gehst die Straße entlang. Schritt für Schritt. Du versuchst schneller zu laufen, aber dein Bein will nicht mitmachen. Du siehst die Bäume an der Straße. Eine Sekunde schaust du ohne zu blinzeln, du hörst zu. Nach einiger Zeit erreichst du ein großes Gebäude, dessen Fenster so hell erleuchtet sind, dass die Straße gegenüber in der Nacht strahlt. Du drehst dich um und entdeckst dein eigenes Blut auf dem Weg, den du gekommen bist. Dein Blick folgt der Spur bis zu deiner Hose, die wegen deines Blutes kaum mehr als eine grüne Uniform erkennbar ist. Dann schaust du auf das Gebäude und siehst die Krankenwagen, die davor geparkt sind. Du holst deinen Geldbeutel aus deiner Hosentasche. Ein vergilbtes Foto: eine Frau mit einem Kind in den Armen. Du steckst den Geldbeutel wieder ein und gehst weiter geradeaus, bis die Straße wieder ganz dunkel wird.

    Du erinnerst dich an damals. Jetzt kannst du schneller laufen. Du erinnerst dich an die Grenzen, daran, dass du dasselbe Foto in deinem Unterhemd versteckt hattest. Jedes Mal nach den Bombenangriffen hast du deinen Herzschlag gespürt. Hast das Papier auf deiner Haut gefühlt, wie es die Muskeln deiner Brust bewegt haben. Dann konntest du wieder atmen und dein Herz beruhigen. Du gehst weiter und schaust nach vorne.

    In der Dunkelheit erkennst du einen etwas älteren Mann mit einer grünen Uniform. Du freust dich. Er sagt: „Schöner Wollmantel!“

    „Danke.“

    „Hält der warm?“

    „Ja.“

    „Das letzte Mal hab‘ ich so‘ nen Mantel vor dreiundzwanzig Jahren gesehen. Im Urlaub. In den Bergen.“

    „Schade, dass die Produktion bei uns nicht mehr läuft.“

    „Bei Euch? In den Bergen?“

    „Ich meinte am Meer.“

    „Ach so! Dafür haben wir goldene Fischschuppenmäntel. Siehste nicht?“

    „Doch. Steht Ihnen.“

    „Bin zwar alt, aber immer noch Fischer! Wie mein Vater. Weißt du?“

    „Interessant.“

    „Der Fisch hat dein Bein aber zerrissen, nicht wahr?“

    „Ja.“

    „Ich hab noch kein Schäferkind mit Angelrute gesehen. Könnt ihr es in den Bergen lernen?“

    „Ich glaube, man kann es dort lernen.“

    „Ach was!“

    „Ich hab‘s hier gelernt.“

    „Kein Wunder, dass du sieben glückliche Fische in deinem Kübel zu schlachten hast. Offizieller Fischer?“

    „Nein.“

    „Ich hatte es auch nicht einfach. Und bin als Fischer geboren. Das ist die Entscheidung der Fabrik. Nicht persönlich gemeint, aber die ist vorsichtig bei Schäfern.“

    „Die ist nicht so toll.“

    „Warste schon mal drinnen?“

    „Nein.“

    „Ich war vor fünfzehn Jahren da. Die Wände da haben so‘ ne Farbe. So diamantartig. Maschinen funktionieren wie Kettensäge. Und die Fische liegen schuppenlos auf der Produktionsband wunderbar nebeneinander.“

    „Vor fünfzehn Jahren?“

    „Ja. Siehste. Bin Uralt.“

    „Uralt. Und Sie haben das Fischen verlernt.“

    „Bitte?“

    „Ihr Kübel ist leer.“

    Er schaut dich an. Sprachlos. Neben euch ist eine Haltstelle. Eine Bahn kommt gerade und du steigst ein. Das grelle Licht des S-Bahn-Screens blendet deine Augen und sie werden gleich kleiner. Der US-Präsident hat erneut die weihnachtliche Stimmung an den Börsen getrübt. 06:23 Uhr. Auf zwei weiteren Sitzplätzen sitzen ein junges Mädchen und ein Mann. Das Mädchen hat die Schultasche auf den Beinen mit ihrem Heft darauf. Sie schaut eine Sekunde auf ihr Handy und schreibt etwas auf einen Zettel. Das macht sie ständig ohne Pause.

    Der Mann neben ihr sieht durch das Fenster nach draußen. Er macht die Augen langsam zu und ein wenig später wieder auf. An der nächsten Station steigt ein dünner Kerl ein und plötzlich stinkt es überall nach vergammeltem Fleisch. Der Dünne läuft durch die Bahn. In seiner Nähe werden die Köpfe weggedreht und von hinten beobachten ihn alle. Die Bahn hält. Du gibst dem Obdachlosen zwanzig Cent.

    Er sagt: „Mit zwanzig Cent kannst du doch selber einkaufen gehen. Mit zwanzig Cent bist du doch reich.“

    Du steckst die Münze wieder in den Geldbeutel. Steigst aus. Die Treppen. Die Straße. Die Bushaltstelle. Ein betrunkener Mann an Weihnachten. Im Bus schreit er, er sei ein Schauspieler. Eine Frau neben dir riecht nach Alkohol und Desinfektionsmittel. Sie nimmt ihre Tasche zur anderen Seite, damit sie dein blutiges Bein nicht berührt. An der nächsten Haltstelle will sie aussteigen. Sie sagt zu dem Mann: „Passen Sie bitte auf, Sie sind sehr betrunken.“ Die Türen sind wieder zu. Er schreit: „Ich bin ein Schauspieler!“

    Pause. Und ein Scheißmann. Du musst aussteigen. Du bist angekommen. Jemand wartet schon auf dich. Es gibt eine Klingel, eine Tür und eine Frau, die aufmacht und sagt: „Was ist passiert?“

    „Er war hungrig nach meinem Blut.“

    „Und du hast ihn einfach dein Bein zerreissen lassen?“

    „Ich hoffe, es hat ihm geschmeckt.“

    „Gib deinen Mantel her und setz dich.“

    „Danke.“

    „Kannst du nicht wo anders arbeiten?“

    „Weißt du, was unser Kommandeur damals immer gesagt hat?“

    „Dass man seinen vertrauten Ort wegen Gemütlichkeit nicht verlässt.“

    „Ja. Hab‘ ich schon erzählt.“

    „Mehrmals, sogar im Schlaf.“

    „Ich hab‘ damals immer von euch geträumt, jetzt träume ich von ihm.“

    Stille. Du stehst langsam auf.

    Sie sagt: „Du sollst sitzen bleiben.“

    Von hinten fasst sie dabei deine Schulter. Und. Plötzlich. Liegt sie auf dem Boden. Wegen einer Hand. Eine Hand außer Kontrolle, weil man die Schulter von hinten nicht anfasst. Das weiß sie doch. Hast du es nie erzählt? Eine Nase blutet. Du gehst zu ihr.

    Sie sagt: „Ist in Ordnung.“

    Sie sagt: „Du kannst jetzt schlafen gehen.“

    Sie sagt: „Ich verstehe das.“

     

    Diese Geschichte ist im Schreibtandem mit Natalia Grote entstanden.

  • Migration: Wenn der Hintergrund in den Vordergrund rückt

    Der Begriff Migrationshintergrund

    Ein Viertel aller deutschen Bürger*innen hat einen Migrationshintergrund. Diese Bezeichnung wirkt, als hätten sie ihre Migrationsgeschichte selbst erlebt. Bereits 2013 wurde in einem Workshop der Neuen deutschen Medienmacher*innen mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge über den Begriff des „Migrationshintergrundes“ diskutiert. Bis heute stellt sich die Frage, ob der Ausdruck Mensch mit Migrationshintergrund eine identitätsstiftende Bezeichnung ist oder vorrangig ausgrenzt.

    Vor 45 Jahren kamen meine Großeltern aus Krios, einem winzig kleinen Dorf im Norden Griechenlands, als Gastarbeitende nach Deutschland und sind bis heute geblieben. Sie kamen an, ohne die Sprache zu sprechen, ohne Kontakte, aber voller Hoffnung. Mama war damals fünf oder sechs. Für meine Großeltern und meine Mutter war es anfangs sicher nicht leicht, in einem fremden Land von vorne zu beginnen. Aber ich liebe diesen Teil in der Geschichte meiner Familie, obwohl ich etwa bei Gesprächen nur die Hälfte verstehe und meine Mama häufig übersetzen muss.  

    Als Migration wird laut der Bundeszentrale für politische Bildung „die längerfristige Verlegung des Lebensmittelpunkts über eine größere Entfernung und administrative Grenze hinweg“ bezeichnet. Die UN unterscheiden zwischen temporärer Migration mit einer Dauer von mehr als drei Monaten und dauerhafter Migration ab einem Jahr Aufenthalt im Zielland. Nicht nur die Zeitspanne definiert Migration, es ist auch die Motivation, aus der Migrant*innen handeln. Eine erste Unterteilung wird etwa in „Arbeits-, Familien- oder Bildungsmigration, Flucht- oder Gewaltmigration oder Lifestyle Migration“ (bpb) vorgenommen. Sogenannte Push- und Pull-Faktoren differenzieren die Gründe für Migration. Das können Faktoren im Herkunftsland (Push-Faktoren; etwa Gefährdung des eigenen Lebens durch Kriege oder politische Verfolgung) und Umstände im Zielland (Pull-Faktoren; Aussicht auf eine Anstellung) sein.

    Verallgemeinerung einer diversen Gruppe kann dazu führen, dass rassistische Diskriminierung unsichtbar wird

    Die Bezeichnung des Migrationshintergrunds wurde 2005 vom Statistischen Bundesamt etabliert, um eine bestimmte Gruppe an Menschen in Deutschland zu kategorisieren. Dabei geht es um Menschen, die „selbst oder [bei denen] mindestens ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren wurde“. Unter diesen 21,2 Millionen (Stand 2019) besitzt mehr als die Hälfte die deutsche Staatsangehörigkeit – überwiegend seit ihrer Geburt, also ohne eine eigene Migrationsgeschichte erlebt zu haben. Es handelt sich um eine so große und heterogene Personengruppe, dass man keine allgemeingültigen Aussagen über sie treffen kann. So viele Menschen unter einem Begriff zusammenzufassen birgt auch Gefahren. Eine Folge sei laut Journalistin Azadê Peşmen, dass rassistische Diskriminierungen schnell unsichtbar werden können.
    Auch die kroatisch-deutsche Schriftstellerin, Dramatikerin und Kolumnistin Jagoda Marinić ordnet die Zuschreibung „Mensch mit Migrationshintergrund“ kritisch ein. „Besonders klebrig haftet dieser Migrationshintergrund an jener Generation, die nie eingewandert ist […] Der Gast, der Geduldete, der Ausländer, Eingebürgerte, der Eingewanderte, der Deutsche mit Migrationshintergrund. Es ist, als wollte die Kette nicht enden, nur um nicht sagen zu müssen: Aus dem Gast wurde ein Deutscher. Seine Kinder sind Deutsche“. Menschen, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, werden durch diese Benennung von anderen als „nicht zugehörig“ oder „anders“ gesehen. Bis zu dem Punkt, an dem ihnen ihre Identität, zu der gegebenenfalls das „Deutschsein“ gehört, abgesprochen wird.

    Herkunft ist mehr

    Ich wurde schon häufig belächelt, wenn ich erzählt habe, dass ich Halbgriechin bin. Daher hatte ich oft das Gefühl, dass ich als Mensch mit Migrationshintergrund bestimmte Erwartungen oder Kriterien erfüllen muss. Ich spreche beispielsweise kaum Griechisch und es ist eher eine Mischung aus beiden Sprachen, in der ich mich mit meinen Großeltern unterhalte. Pappous (παππούς, gr. für Opa) nickt immer stolz, wenn ich griechische Worte benutze. Außerdem sieht man mir meine griechische Herkunft nicht unbedingt an. Ich habe zwar dunkle Haare und Augen, entspreche aber nicht dem äußerlichen Klischee einer Südländerin. Für mich bedeutet meine Herkunft aber mehr. Es ist das Lebensgefühl, der Familiensinn, die Bräuche und Traditionen, die ich schon als Kind kennenlernen durfte und die ich für immer in mir tragen werde. 

    Alternative Begrifflichkeiten

    Kritik an der Bezeichnung Mensch mit Migrationshintergrund wurde 2018 auch von Kadir Özdemir formuliert. Der Journalist und Autor migrierte im Alter von zwölf Jahren nach Deutschland und erlebte dadurch, wie identitätsstiftend – aber auch exkludierend – Sprache sein kann. In einem Plädoyer fordert er, fortan den Ausdruck Migrationserbe zu nutzen. „Ähnlich wie Gender ist ‚Migrationshintergrund‘ ein machtvolles gesellschaftliches Konstrukt“, argumentiert Özdemir und weiter, dass „[d]ieser Begriff längst zu einem Ausdruck des Ausschlusses, des (häufig negativen) Sonderfalls geworden [ist].“ Ein weiterer Vorschlag für eine alternative Begrifflichkeit wurde Ende Januar von der Fachkommission Integrationsfähigkeit an die Bundeskanzlerin Angela Merkel übergeben. Die Kommission um SPD-Politikerin Derya Çağlar empfiehlt die Bezeichnung „Eingewanderte und ihre Nachkommen“.

    Diese Menschen haben in ihrem Leben eine mutige Entscheidung getroffen

    Aufgrund ihrer Migrationsgeschichte habe ich auch meine Mutter gefragt, wie sie die Begriffe nutzt: „Ich bezeichne mich als Mensch mit Migrationshintergrund, weil ich damals alles direkt miterlebt habe. Aber ich sehe auch, dass der Begriff in der Öffentlichkeit negativ konnotiert ist. Das ist schade und übersieht, dass diese Menschen mehrere Kulturen in sich tragen und in ihrem Leben eine mutige Entscheidung getroffen haben. Wir brauchen eine positiven Begriff, der zeigt, was man erreicht hat. Ich habe zwar nur einen griechischen Pass, hätte aber am liebsten beide, weil ich mich mit beiden Ländern identifiziere. Meine Eltern dagegen sehe ich immer noch als griechische Gastarbeitende, weil das eben ihre Intention war. Ich bin sehr stolz auf sie, dass sie sich in Deutschland so gut zurechtfinden und diese Entscheidung zum Wohle einer besseren Zukunft auch für ihre Kinder getroffen haben.
    Meine Kinder sind für mich durch ihren Geburtsort, ihren Lebensmittelpunkt und ihren deutschen Vater eher Deutsche. Mein Mann hat sich sehr für meine Herkunft interessiert, die Sprache und die traditionellen Tänze gelernt und das hat geholfen, das auch meinen Kindern weiterzugeben. Es war immer selbstverständlich, auf die griechischen Tanzfeste zu gehen und beide Osterfeste zu feiern. Ihnen wurde die Familiengeschichte vererbt. Es ist wie eine Abstufung der Begriffe von Generation zu Generation.“

    Unsere Sprache reduziert Menschen auf Kategorien

    „Die jüdische Frau. Der Schwarze Mann. Die Frau mit Behinderung. Der Mann mit Migrationshintergrund. Die muslimische Frau. Der Geflüchtete. Die Homosexuelle. Die Transfrau. Der Gastarbeiter.“ Auch Kübra Gümüşay, Journalistin und Aktivistin aus Hamburg, stellt in ihrem Buch „Sprache und Sein“ fest, dass unsere Sprache Menschen auf Kategorien reduziert. Doch eine Person ist deutlich mehr als die Bezeichnung, die ihr von anderen gegeben wird. Kommunikation muss auf Augenhöhe stattfinden, da Sprache unsere Realität prägt. Die Abschaffung der Bezeichnung Mensch mit Migrationshintergrund wäre ein erster Schritt. Der nächste wird sein, darüber zu diskutieren, ob wir dann überhaupt eine Alternative finden müssen.

  • Wenn die Mutter die Tochter verkuppelt

    Im Sommer 2016 verspürte ich das Bedürfnis, mich in irgendeiner Form in der Flüchtlingshilfe einzubringen. Deshalb schloss ich mich dem Helferkreis in unserem Dorf an. Bei einem Treffen der Initiative wurde erzählt, das sieben junge syrische Männer in unser Flüchtlingsheim kommen sollten. Die Frage stand im Raum: Wer kümmert sich um sie? Ich meldete mich dafür.

    Gesagt, getan. Eine Woche später waren sie da. Ich ging zu den jungen Männern, bewaffnet mit einer kleinen Schokolade für jeden. Ich stellte mich vor und wir kamen ins Gespräch. Einer der Jungs, Eili, war sehr schüchtern, sagte nicht viel und hatte zu der Zeit immer eine Mütze auf. Ich glaube, er fand sich schick. Kurze Zeit später gab es in unserem Dorf ein Treffen zwischen den bisherigen Bewohnern und den Neuankömmlingen. Dort lernten Jessica und Eili sich kennen.

    Sie kamen ins Gespräch, so gut es eben ging, denn Eili sprach damals noch nicht sehr gut Deutsch. Eili zeigte Jessica Musik auf seinem Handy, die er mag. Sie staunte nicht schlecht: Eili hörte deutschen Schlager, nicht zuletzt um besser Deutsch zu lernen, wie er erzählte. Als auch Jessica ihm Musik auf ihrem Handy zeigte, stellte sich heraus, dass es genau die gleiche Musik war. Sie hatten den gleichen Geschmack.

    Missglückte Annäherungsversuche

    Durch meine Hilfe bei den jungen Männern, waren sie alle sehr oft bei uns zu Hause zu Besuch. So konnten Jessica und Eili sich beschnuppern. Es wurden viele Blicke hin und her geworfen. Mehr passierte erstmal nicht, da beide und ganz besonders Eili sehr schüchtern waren. Jessica versuchte dann, Eili auf einen Tee in ihr Zimmer einzuladen, weil sie mit ihm ein paar Wort alleine wechseln wollte. Eili lehnte das allerdings immer wieder ab und Jessica war ratlos.

    Eilis Freund Mouad leistete Hilfe, indem er Eili auf den Zahn fühlte, wie er zu Jessica steht. Mein Gedanke war, dass Eili aufgrund seiner syrischen Erziehung nicht in ihr Zimmer gehen konnte. Sein Respekt vor mir als seiner ehrenamtlichen Helferin und gleichzeitig Jessicas Mutter war wahrscheinlich zu groß.

    Also nahm ich die Sache in die Hand und teilte ihm mit, das es für mich überhaupt kein Problem ist, wenn er mit Jessica Zeit in ihrem Zimmer verbringt. Nachdem das geklärt war, wurde Eili etwas mutiger und lud Jessica auf einen Kaffee in ein Café ein. Danach war das Eis gebrochen. Sie lernten sich besser kennen und verliebten sich ineinander.

    Alle unter einem Dach

    Weihnachten 2016 stand vor der Tür und Eili fragte mich, ob Jessicas sich über ein silbernes Armband mit den eingravierten Namen der beiden freuen würde. Natürlich würde sie das! Ab diesem Zeitpunkt waren sie fest zusammen. Im Mai 2017 haben sie sich verlobt, was in Deutschland ja gar nicht mehr so üblich ist. Eili war die Verlobung jedoch aufgrund seines Glaubens sehr wichtig.

    Im Juni 2017 zog er zu uns ins Haus. Seitdem leben wir hier alle zusammen, was trotz der kulturellen Unterschiede sehr gut funktioniert. Jessica und Eili haben sich im Obergeschoss unseres Hauses eine kleine Wohnung eingerichtet, gehen beide arbeiten und leben ihren gemeinsamen Alltag wie jedes andere Paar auch. Wenn weiterhin alles so gut klappt, wollen Sie nach ihren Ausbildungen heiraten.

  • Beziehung auf Vorbehalt – Liebe, Dublin und Tattoos

    Wir lernten uns im Februar 2017 in einer Facebook-Gruppe für tätowierte Singles kennen. Was Dates anging, war ich allerdings ein wenig scheu und es vergingen ein paar Wochen, bis wir uns das erste Mal trafen. Dieses Treffen war dann aber besonders. Wir schrieben an diesem Tag und er berichtete mir, dass es ihm nicht gut ginge – sein Asylantrag wurde zum wiederholten Male abgelehnt und ihm drohe eine Abschiebung. Er floh 2014 aus Syrien und landete zuerst in Spanien, weshalb er ein Fall für die Dublin 02-Verordnung ist. Ich weiß nicht genau wieso, vielleicht war es meine fürsorgliche Ader und linksliberale Einstellung, aber ich wollte ihn an diesem Tag kennenlernen und ihm in dieser schwierigen Zeit beistehen.

    Also vereinbarten wir ein spontanes Treffen. Er holte mich vom Bahnhof ab und wir gingen ganz romantisch essen – bei McDonald’s. Er sprach bereits gutes verständliches Deutsch, sodass wir uns leicht unterhalten konnten. Sowieso ist er ein absoluter Musterflüchtling: Er befand sich zu diesem Zeitpunkt bereits in seiner Berufsausbildung, hatte eine eigene Wohnung und ein Auto. In dieser Woche haben wir uns täglich getroffen und schnell kamen Gefühle dazu. Dann wurde es ernst: Wir kamen zusammen.

    Für ihn gehören sie zur Familie und es ist ihm egal welche politische Einstellung sie haben

    Am Anfang machte es den Eindruck, dass meine Familie ihn mochte und akzeptierte. Bis es im Sommer zum großen Knall kam. Es war kurz vor meinem Geburtstag im August, als er mir erzählte, dass er mir einen Ring schenken wolle und sich mit mir verloben möchte. Nach nur sechs Monaten. Deshalb hat er sich mit meiner Schwester in Verbindung gesetzt, doch diese reagierte sehr negativ. Sie fand es einfach zu früh für eine Verlobung und sein Hintergrund machte sie misstrauisch. Sie machte sich Sorgen, ob er es wirklich ernst meinte oder nur auf eine Scheinehe aus war.

    Doch wie sich herausstellte, war das Ganze ein riesiges Missverständnis: Er erklärte mir, dass er mich zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht heiraten wollte. Für ihn war diese Verlobung rein symbolisch, als Zeichen, dass wir zusammen gehören. Danach hat es aber noch einige Zeit gedauert, bis meine Schwester ihm wieder vertraute und sich die Beziehung zwischen den Beiden besserte.

    Auch meine andere Schwester sah das Ganze kritisch. Sie und ihr Partner haben einfach eine komplett andere politische Einstellung als ich und lernten ihn obendrein auch erst nach dem erwähnten Missverständnis kennen. Im Sommer fuhren wir zu ihrer Einweihungsfeier ins 500 km entfernte Bayern, an denen auch einige rechts-gesinnte Bekannte meines Schwagers teilnahmen.

    Trotz aller Bedenken liefen die Feier und das Kennenlernen sehr entspannt. Mittlerweile haben wir schon zweimal Weihnachten mit meiner Schwester und ihrem Partner gefeiert. Für mich sind diese Situationen wahrscheinlich aufregender als für ihn. Er ist in dieser Hinsicht einfach wesentlich entspannter. Für ihn gehören sie zur Familie und es ist ihm egal, welche politische Einstellung sie haben. Dennoch versuchen wir, Streit und unnötige Diskussionen über Politik zu vermeiden.

    Die fast perfekte Beziehung

    Dann kam unser Jahr: Anfang 2018 zogen wir in eine gemeinsame Wohnung und im Sommer machte er mir einen offiziellen Heiratsantrag – sogar meine Schwestern freuten sich für mich. Sie sind glücklich, solange ich es bin und akzeptieren unsere Beziehung, wenn auch mit einer gewissen Vorsicht. Mit seiner Familie gibt es ebenfalls keine Probleme, denn obwohl sie muslimischen Glaubens sind, sind sie sehr liberal mir und unserer Beziehung gegenüber.

    Im Herbst wurde ich schwanger, worüber sie sich sehr gefreut haben, obwohl das Kind unehelich entstanden ist. Leider gibt es noch einige Hürden zu nehmen, was unsere Hochzeit betrifft: Unser Antrag ruht noch beim Oberlandesgericht und auch das Klageverfahren um seinen Asylstatus ist noch offen. Unsere Zukunft ist deswegen noch unklar.

    Unser Zusammenleben ist sehr einfach und harmonisch. Das liegt sicherlich auch daran, dass er gute Sprachkenntnisse hat und offen und tolerant erzogen wurde. Selbst wenn es mal zu Missverständnissen kommen sollte, können wir diese gut wieder auflösen. Eine Sache gibt es aber noch, die immer noch fehlt: Er hat nach wie vor kein Tattoo.

  • Dialog über Liebe, Ehe und Familie

    Was bedeutet für euch die Ehe?

    Moaayad: Ich finde die Ehe sehr wichtig und bedeutender als eine Beziehung. Man verpflichtet sich für eine Person. Die Ehe wird von einem Ehevormund arrangiert. Das sind in der Regel die Eltern des Mannes. Es ist eher unüblich, dass eine Frau ihren Eltern sagt, wen sie heiraten will. Von der Verlobung bis zur Heirat kann es bis zu einem Jahr dauern.

    Selbstverständlich ist das verlobte Paar nie allein, sondern immer in Begleitung. Da die Eheschließung den Mann schon mal über 5.000 Euro kosten kann, überlegt man sich sehr genau, wen man heiratet. Männer müssen sehr lange und viel arbeiten, um sich eine Familie leisten zu können. Mein Bruder hat zum Beispiel in Saudi Arabien gearbeitet, um sich eine Heirat leisten zu können. Mehrere Frauen kann sich also nicht jeder leisten.  

    Thing: Die Ehe halte ich für etwas Unantastbares. Beide geben sich ein Versprechen bis zum Lebensende: Füreinander da sein. Dieses Versprechen sollte man ernst nehmen – aber auch schon in der Beziehung. Die Schnelllebigkeit heutiger Beziehungen und deren Abbruchgründe machen mich sprachlos. Dieses Ghosting finde ich unehrenhaft und letztens habe ich mitbekommen, wie sich eine Frau von ihrem Freund getrennt hat, weil er hässliche Schuhe trug.

    Meine Eltern haben mir gut vor Augen geführt, dass man es in der Ehe – und im Leben generell – mit ganz vielen Hürden zu tun hat. Gängige Themen wie sexuelle Unlust, Alltagsstress und das Gefühl des Auseinanderlebens sind hier eher Kleinigkeiten.

    Gibt es einen Unterschied zwischen einer Beziehung und der Ehe?

    Moaayad: In jedem Fall. Aus meiner Sicht kann man in einer Beziehung sein und die Frau darf schon Sex mit anderen Männern gehabt haben. Aber ich würde niemals eine Frau heiraten, die schon mal Sex gehabt hat. In einer Ehe sollte die Frau Jungfrau sein. Sonst ist es komisch, denn in meinem Kopf weiß ich ja, dass sie schon mal einen anderen Mann hatte. Wenn ich ihn dann noch sehen oder kennen würde, wäre das schlimm. Für einen Mann ist es aber in Ordnung, mit sexueller Erfahrung in die Ehe zu gehen. Bei uns ist die Jungfräulichkeit auch mit 30 Jahren ganz normal.

    Thing: Ich sehe hier keinen großen Unterschied. Die Verbindlichkeit in einer Ehe ist stärker. Aber bei einer Beziehung ab zwei Jahren ist die Verbindlichkeit auch gegeben. Daher kann ich Leute verstehen, die nur zusammen sind, aber nicht heiraten. Schließlich empfinde ich die Ehe als eine von der Gesellschaft erschaffene Institution, um die Frauen an die Männer zu binden und weiter in der Abhängigkeit zu behalten. Einen sexuell unerfahrenen Mann kann ich mir nicht vorstellen. Meine Mutter hat mal gesagt, dass unerfahrene Männer dann später ihre Erfahrungen sammeln. Mein Umkreis bestätigt mir dieses Bild. Zudem sind erfahrene Männer eher weise. So etwas mag ich eh lieber.  

    Welchen Sinn hat für euch die Ehe?

    Thing: Das Verfolgen gemeinsamer Ziele und die gemeinsame persönliche Entwicklung – ein Leben lang.

    Moaayad: Eine Heirat hat für mich den Sinn der Familienplanung. Dann gehe ich arbeiten, bekomme Kinder und ziehe diese groß. Die Familie aber bleibt zusammen und im Alter kümmere ich mich um die Eltern. Wenn ich mich hier in Deutschland umschaue, sehe ich die Einsamkeit, die ältere Menschen plagen. Das finde ich schade. Bei uns ist es normal, dass sich die Kinder dann später um die Eltern kümmern und sie nicht einfach ins Altersheim schicken. Weiterhin ist die Ehe auch mit Pflichten verbunden: Ich muss mich um die Frau finanziell kümmern können. Sie kann, muss aber nicht arbeiten. Letztendlich beinhaltet die Ehe den Lebenssinn für mich, weil damit das Leben beginnt.

    Wie ist es mit dem Thema Liebe für die Flüchtlinge?

    Moaayad: Für Männer ist es etwas einfacher. Als Mann darf ich eine Frau heiraten, die nicht die gleiche Religion hat. Zudem kann ich mehrere Frauen haben. Aber das kostet viel. Eine Frau darf leider keinen Mann heiraten, der eine andere Religion hat. Daher sind viele bereits froh, dass sie ihre Töchter überhaupt verheiratet bekommen, und verzichten dann auch schon mal auf die Mitgift. Zudem haben viele geflüchtete Frauen das Problem, dass meist nur noch ältere Männer auf dem Heiratsmarkt sind. Es gibt mehr ältere als jüngere Männer.

    Wenn ein syrischer Flüchtling und eine deutsche Frau zusammen kommen, wird es schwer. Es treffen kulturelle Unterschiede aufeinander und man muss noch kompromissbereiter sein. Es gibt aber auch viele Paare, die sich nach der Ankunft in Deutschland für eine Scheidung entschieden haben. Das ist verständlich. Denn bei einer Flucht erlebt jeder Extremsituationen und lernt den Ehepartner auf eine ganz andere Weise kennen. Zudem entwickeln sich die Menschen weiter. Die Mischung der Kulturen sorgt auch bei uns für Verwirrung und man kommt schnell in eine kulturelle Identitätskrise. Langfristig werden wir wohl alle liberaler.

    Thing: Ich bekomme das Thema nur am Rande mit. Eine Beziehung an sich ist bereits kompliziert. Wie ist es nur, wenn zwei komplett verschiedene Ansichten aufeinandertreffen? Ich würde mir nicht vorschreiben lassen, ob ich einen Mann zur Begrüßung umarme oder nicht. Und Zärtlichkeiten in der Öffentlichkeit austauschen ist für mich auch normal. Die Lebensansichten müssen sehr gleich sein.  

    Welche Meinung habt ihr über Scheidung?

    Moaayad: Mir ist klar, dass Beziehungen oft mit Streitereien verbunden sind. Diese sollte man aber versuchen zu lösen. Meistens lassen sich Probleme mit der Zeit klären. Wenn es aber überhaupt nicht geht, ist eine Scheidung in Ordnung. Auch Frauen dürfen sich bei uns scheiden lassen. Dann ist deren Mitgift aber hinüber und sie haben es schwerer im Leben. Meist kümmern sich dann die Familie und Eltern der Frau finanziell um sie. Ist ein Kind im Spiel, wird es komplizierter. Der Mann muss sich natürlich finanziell um ihn kümmern, aber nicht um die Frau. Es gibt also keinen Unterhalt.

    Thing: Man gibt heute leider zu schnell auf. Bei ersten Hürden oder Gefühlsveränderungen denkt man ans Aufgeben. Aber eine Beziehung ist wie das Leben: ein auf und ab. Und diese Schmetterlinge nehmen auch mit der Zeit ab. Ich bin hier pragmatisch und bin der Meinung, dass die Liebe eine Erfindung der Moderne ist. Allerdings kann ich mir gut vorstellen, dass sich auch andere Gesellschaften irgendwann dem zuwenden.  

    Autoren: Sook Thing und Moaayed Eudy.

  • Freundschaft – ein Dialog. Folge 3

    Für mich auch, aber warum muss ich dich anlügen? In einer Freundschaft gibt es, glaube ich, keinen Grund für Lügen.

    Ja, wenn man sich wirklich versteht und kein Bild abgeben muss oder meint dies zu müssen. Wenn ich glaube, dass Du mich nur akzeptierst, wenn ich z.B. eine tolle Autorin bin, dann lüge ich vielleicht, damit du mich toll findest.

    Ehrlichkeit brauchen wir immer, zwischen allen Menschen, nicht nur zwischen Freunden.

    Das stimmt, aber Unehrlichkeit zwischen Freunden tut mehr weh als zwischen anderen Menschen, da das Vertrauen dann zerbrochen ist. Um das Vertrauen aufzubauen, habe ich Zeit in die Freundschaft investiert und Zeit ist eigentlich neben der Zuneigung, der Liebe das einzige, was wir wirklich zu geben haben. 

    Ich bin deiner Meinung.  Das hat damit zu tun, dass wir unter Freunden keine Vorurteile haben. Nur mit unseren Freunden können wir oder müssen wir sogar ehrlich sein. Mit andere Menschen müssen wir diplomatisch umgehen, indirekt sein, ausweichend reagieren oder wir müssen mit allen Menschen ehrlich umgehen und direkt sein. Freunde können wir teilhaben lassen an Freude und Trauer ohne das Gefühl zu haben, dass es nicht passend ist. Das hat auch etwas mit Vertrauen zu tun.

    Auch hier muss ich dich fragen, warum kann ich nicht alle Menschen teilhaben lassen an meiner Freude oder Trauer?

    Natürlich müssen wir auch mehr am Leben unserer Freunde oder Bekannten teilnehmen. Nicht nur das: Wir müssen versuchen, sie zu unterstützen und ihnen zu helfen, um sie aus ihrer Trauer rauszubekommen.

    Natürlich kann ich alle Menschen an meinem Leben teilhaben lassen. Aber ich und mein Leben sowie das Leben jedes Menschen sind wertvoll und ich muss Vertrauen haben, dass es nicht mit Füßen getreten wird. Das weiß ich aber nicht bei allen Menschen, d.h. ich bin vorsichtig, wem ich mich anvertraue.

    Vorurteil oder Selbstschutz?

    Die Frage ist, warum hast du Angst, wenn dein Leben öffentlich wird? Warum möchten wir nur in kleinen Kreisen leben? Das ist, was die sozialen Medien uns fragen. Ich weiß nicht, ob wir unsere Leben veröffentlichen müssen. Bei mir war es eine andere Situation, weil ich fremd war und andere Menschen interessierten sich für meine Geschichte, und sie haben mir viele Frage gestellt. Dann habe ich mich gefragt, warum kann ich nicht mein Leben öffentlichen machen.

    Es überfordert mich, wenn ich alle Menschen an meinem Leben teilhaben lasse. Ich bewundere es manchmal, wie Du über Social Media die Menschen an deinem Leben teilhaben lässt.

    Vielleicht waren sie interessiert, weil sie keine anderen Menschen haben. Oder sie haben gesehen, dass ich Unterstützung brauchte. Vielleicht interessierte es sie, was ich geschrieben habe, oder sie haben mich als Freund gesehen. Es kann aber auch einen ganz anderen Grund geben. Ich weiß es nicht genau.

    Was muss ein Freund machen, damit du ihn als Freund bezeichnest?

    Er muss mich nur als Freund haben wollen, nichts anderes. Wir sind Freunde, weil wir uns gut verstehen, nicht weil wir voneinander etwas brauchen. Freundschaft ist für unsere Seele, ohne einen bestimmten Grund.

    Ich meinte nicht “machen” im Sinne von tun, sondern was unterscheidet einen Freund von einem anderen Menschen in deinem Leben? Was genau ist es, was einen Freund zum Freund macht?

    Zeit zum Treffen, Unterstützen, Spaß gemeinsam haben, Diskutieren über alles. Sind das wirklich die Dinge, die eine Freundschaft ausmachen?

    Oder was darf er auf keinen Fall machen, weil sonst die Freundschaft zerbricht?

    Ich glaube, dass der Freund in der Freundschaft alles machen darf. Was ist es, warum du in einer Freundschaft ein Problem siehst? Wenn wir uns nach einiger Zeit als Freunde bezeichnen, dann glaube ich, gibt es keinen Grund, warum unsere Freundschaft zerbrechen sollte.
    Sonst ist die Frage, warum haben wir uns nicht wirklich verstanden? Warum haben wir einander nicht wirklich vertraut?  

    Ich glaube, dass die Freundschaft nur beendet wird, wenn es Missverständnisse oder Verrat gibt. Und natürlich ist die Zeit ganz wichtig, weil, wenn wir füreinander keine Zeit haben, dann sinkt unser Gefühl, unsere Motivation für unsere Freundschaft. Das ist sehr wichtig. Kann aber leider auch von beiden Seiten unterschiedlich empfunden werden.

    Wie kann ich einem Freund deutlich machen, dass er mir wichtig ist, auch wenn ich keine Zeit habe und momentan meine Prioritäten anders setze? Wie kann man ein unterschiedliches Empfinden/Gefühl ausgleichen? Doch nur wenn beide Seiten miteinander reden und sich aufeinander zu bewegen und es Verständnis gibt für den jeweils anderen.

    Das ist ganz richtig. Nur wenn wir miteinander reden, und zwar ehrlich miteinander reden, können wir einander verstehen.

    Immer wieder stoße ich auf den Schriftsteller Saint-Excupéry: „Ein Mensch unterscheidet sich von anderen Menschen, weil wir uns miteinander vertraut gemacht haben, wir haben Zeit füreinander investiert. Vertrauen braucht Zeit und die Bereitschaft den anderen in seiner Welt, seinen Gedanken, seinen Gefühlen zu verstehen, ohne zu urteilen. Es braucht auch Offenheit.“

    Richtig, aber er spricht allgemein, nicht nur über Freundschaft.

    Was meinst Du damit? Du meinst, er spricht allgemein über die Menschen? Ich glaube, er spricht sehr wohl über Freundschaft.

    Ich habe ein tiefes Gefühl zu einigen Menschen. Ist es Freundschaft, ist es Liebe?

    Die Frage ist, was bedeutet “tiefes Gefühl”?

    Das ist eine wichtige Frage, aber kann man Gefühle wirklich beschreiben, erklären?

    Nicht immer, aber man kann es immer versuchen. Mit deinen Versuchen kannst du alles erzählen.

    Okay, ich versuche es. Es ist ein sehr verbindendes Gefühl, das tief in meinem Herzen sitzt, da kann ich es richtig spüren. Es hat etwas zu tun mit der Nähe zu dem Menschen.

    Manchmal ist es weder Freundschaft noch Liebe: Zum Beispiel das tiefe Gefühl für unseren Vater (oder einen Menschen, der wie unser Vater ist), ein tiefes Gefühl für unsere Lehrer, weil sie uns viele Sachen mitgegeben haben, oder ein tiefes Gefühl für einen Autor, weil er sehr gut unsere Gefühle beschreiben kann.
    Warum haben wir dieses tiefe Gefühl für einige Menschen? Diese Frage kannst du stellen und dann sagen, ob es Freundschaft, Liebe oder etwas anderes ist. Nur du selbst kannst diese Frage beantworten und musst auch diese Fragen beantworten können: Was suche ich? Was finde ich bei ihm?

    Diese Fragen kann ich mir stellen, aber für das Gefühl, das ich meine, gibt es keine Beschreibung in meinen Worten. Es ist eine Seelenverwandtschaft, die es nur mit ganz wenigen Menschen gibt.  

    Vielleicht erinnerst du dich durch sie an eine wichtige oder tolle Sache. Vielleicht kannst du dich mit ihnen richtig finden oder eine neue tolle oder schlechte Sache an dir finden.

    Ja natürlich, weil wir bestimmte Gefühle haben und wir unterschiedlich sind, in dem was wir brauchen, was wir suchen und was wir finden. So fällt auch unsere Antwort auf diese Fragen unterschiedlich aus.
    Ich glaube auch, und das ist ein Aspekt von Vorurteilen, dass wir nur mit bestimmten Menschen Freundschaft schließen bzw. führen.

    Warum ist es ein Teil von Vorurteilen? Heißt das, Freundschaft wäre dann etwas, was über den Kopf, über den Verstand abläuft? Hat mein Herz Vorurteile? Oder ein sicheres Gefühl, was gut und richtig ist?

    Ich glaube ja. Freundschaft braucht immer deine Gedanken und deinen Geist. Und du kannst keine Freundschaft ohne Gedanken schließen. Gedanken verbunden mit Gefühl ist Freundschaft, nur Gefühl ohne Gedanken ist vielleicht Liebe.

    Oh, sehr spannend diese Sätze. Das Schließen von Freundschaften ist sicherlich ohne Gedanken nicht möglich. Aber davor ist ja schon etwas passiert, was ich auch weiter oben im Text schon mal angesprochen hatte.

    Was unterscheidet dann Freundschaft von Liebe?

    Vielleicht ist es Sex, aber die Menschen haben drei Sachen: Geist, Herz und ein Geschlechtsorgan. Und dann brauchen wir drei Worte: Freundschaft, Gefühl und Liebe.
    Unser Geist und vielleicht auch unser Herz brauchen Freundschaft und viele Freunde oder bestimmte Freunde, nicht nur einen.
    Aber unser Herz und unser Geschlechtsorgan brauchen Liebe und einen Geliebten.

    Interessant. Wo ist darin die Seele für dich? Wir sprechen immer von Körper, Geist und Seele. Die Seele bedeutet auch Herz, aber Rabea hat mir jetzt gesagt, dass die Seele nicht dasselbe ist wie das Herz, weil das Herz ein Gefühl ist. Meine Frage ist nun, was ist dann die Seele?

    Das Herz (oder ist es die Seele?) findet sich in allem wieder. Und alles ist miteinander verbunden. Je mehr Erfahrungen ich im Leben mache, desto klarer und faszinierender wird es, dass alles miteinander verbunden ist.

    Das ist auch richtig, aber die sexuellen Wünsche sind eine andere interessante Sache.

    Stammen sie nicht auch aus der Verbundenheit von allem, erleben wir in einem erfüllten, sexuellen Liebesleben nicht genau die Verbundenheit von allem: Körper, Geist und Seele. Ist dann nicht alles eins? Oder was meinst Du mit “interessante Sache”?

    Es gibt so viele Schattierungen von Beziehungen zu Menschen.

    Ich habe dich mit diesem Satz nicht ganz verstanden. Aber wenn du verschiedene Arten von Beziehungen meinst, ist es so, dass es so viele unterschiedliche Arten gibt, wie es unterschiedliche Menschen gibt?

    Es gibt Freundschaft mit Liebe oder ohne, es gibt Liebe ohne Gefühl oder mit bestimmtem Gefühl, wie z.B. zum Vater oder der Mutter und auch zu Freunden.

    Zwei Menschen können immer eine neue Art von Beziehung eingehen, sofern sie das möchten.

    (Für die Lesbarkeit des Dialogs verwenden wir nur die Bezeichnung “Freund”, meinen aber natürlich auch “Freundin”.)

    Freundschaft – ein Dialog. Folge 1
  • Freundschaft – ein Dialog. Folge 2

    Angst ist ja nicht grundsätzlich etwas Schlechtes. Ohne Angst kein Mut. Sie warnt uns vor etwas. Ich glaube, es ist vor allem die nicht verarbeitete Angst, die uns zum Problem wird. Ängste muss man sich anschauen, hinschauen, aber nur wenige Menschen tun das.

    Können wir Menschen uns nur am negativen Beispiel entwickeln? Könnten wir dann unseren Feind als Freund betrachten, indem wir sehen, dass er nur etwas in uns spiegelt, was wir an uns selbst nicht lieben? Oder das Bewusstsein haben, dass wir ein Vorurteil haben, da wir ihn nicht verstehen, da er uns fremd ist?

    Wir brauchen nicht nur unsere Freunde, sondern auch alle anderen Menschen. Für mich ist Kritik wie ein Rat und in meiner Kultur müssen wir immer anderen Menschen raten, sie beraten.  

    Vorurteil oder tatsächlich ein kultureller Aspekt? Was meinst du damit, wenn Du sagst, dass ihr in Deiner Kultur immer raten/beraten müsst?

    Das bedeutet, dass ich Kritik mag, wenn sie mit Respekt kommt.

    Jetzt sprichst Du von Dir, aber wie ist es in Deiner Kultur? Muss man bei Euch in einem Gespräch immer Lösungen auf die Fragen haben?

    Deine Frage ist auch Vorurteil. Ich kann nur über mich reden, über andere Syrer oder Flüchtlinge kann ich leider nicht immer reden.

    Kann eine Frage ein Vorurteil sein? Mit einer Frage möchte ich doch etwas verstehen, etwas begreifen, damit ich mit Wissen und nicht mit Vorurteilen die Welt betrachte. Es gibt ja kulturelle Verhaltensweisen, in die wir hineinwachsen, die uns in unserer Sozialisation geprägt haben, die volkstypisch sind. Daher nochmal die Frage: Zuhören allein reicht nicht?

    Vielleicht reicht es nicht immer, weil wir manchmal eine andere Meinung hören möchten und es das ist, was wir brauchen. Aber oft ist es so, dass derjenige, der redet, einfach Kritik übt, ohne, dass der andere darum gebeten hat. So viele Missverständnisse, Verletzungen passieren genau deswegen, weil wir nicht achtsam sind, sondern meinen, an dem anderen Kritik üben zu dürfen. Dabei sind es oft nur Spiegelungen des eigenen Mangels, Versagens, Fehlverhaltens.

    Muss man kritisieren?

    Bei mir ist Kritik etwas Schönes.  

    Ein Lob zählt nicht? Ist dies Deine Kultur oder ist es Dein Charakter?

    In jedem Fall mag ich Kritik, aber auch nicht immer. Aber wir mögen auch andere Menschen kritisieren und wir brauchen immer ein Lob.

    Jetzt sprichst Du einmal von Dir und dann von Wir. Was ist davon Deiner Meinung nach kulturell bedingt, was bist nur Du?

    Die Frage ist, wie wir raten/beraten. Das ist das Problem: raten um zu (be)raten oder um mich selbst dabei als weiser darzustellen und mein Gegenüber klein zu machen? Und von der anderen Seite ist die Frage, wie wir den Rat akzeptieren können und ob wir verstehen, warum unsere Freunde uns kritisiert haben.

    Für uns gibt es einen Unterschied zwischen Rat und Kritik. Wenn ich einen Rat gebe, dann akzeptiere ich trotzdem, was der andere getan hat. Wenn ich kritisiere, dann akzeptiere ich es nicht. Wie ist das bei Euch?

    Bei uns akzeptieren wir beides nicht, aber bei mir ist es so, dass ich die Kritik brauche, weil ich nicht allein meine Fehler oder meine Beule sehen kann, sondern ich brauche andere Menschen, die mir das sagen. Meine Freunde können mich unterstützen, aber meine Feinde können mich lehren, damit ich besser werden kann. Für mich ist es so, dass ich immer alle Menschen kritisieren muss, aber mehr noch meine Freunde, weil ich an meinen Freunden andere Seite sehe und versuche, andere Gedanken zu vermitteln. Ohne das können wir nicht leben.

    Glaubst Du, es gibt so etwas wie den richtigen Moment für Kritik?

    Auch zwischen Geschäftspartnern muss es Vertrauen geben. Bei der Freundschaft kommt eine Zugewandtheit zum Gegenüber als Mensch hinzu, eine Zuneigung, Sympathie.

    Ist es das, was den Unterschied macht oder gibt es andere Aspekte?

    Das ist richtig, aber es kann für beides gelten, für Freundschaft und für Geschäftspartner. Verständnis ist auch wichtig mit Zugewandtheit, die vom Verständnis her kommt. Ein Aspekt von Freundschaft ist für mich auch die Zeit. Zum einen fühlt sich die Zeit, die ich mit Freunden verbringe, positiv gefüllt an. Zum anderen kann auch Zeit vergehen, ohne dass man sich sieht und spricht und man fühlt sich trotzdem verbunden und kann jederzeit den Kontakt aufnehmen. Das ist auch ein Teil von Freundschaft. Freundschaft braucht eine Entscheidung, um mit einem Menschen als Freund zu leben.

    Spannend, wenn Du das so sagst. Triffst Du die Entscheidungen für Menschen bewusst?

    Ja, weil ich glaube, dass ich die Menschen brauche, aber natürlich nicht immer. Unter Menschen zu sein, ist fast immer schön, weil die Einsamkeit sehr schlecht ist. Ich treffe die Entscheidung für einen Menschen nicht wirklich bewusst, sondern es passiert. Es gibt eine Zuneigung, ein Verständnis, ein Gefühl.

    Aber was ist es genau, was da passiert, wenn ich in Beziehung gehe mit einem Menschen? In dem Moment oder auch mit der Zeit? Warum passiert es mit einem Menschen und mit dem anderen nicht?

    Die Menschen sind ganz unterschiedlich. Du kannst nicht mit allen Menschen gut sein, weil du nicht alle Menschen gut verstehen kannst und nicht alle Menschen können dich gut verstehen. Deswegen kannst Du nur mit einigen Menschen Freundschaft schließen. Ich suche eine Beziehung unter den Menschen, auf der Straße nicht zuhause. Man muss aktiv sein und dabei gibt es keinen Unterschied zwischen Freundschaft und Liebe. 

    Ehrlichkeit spielt für mich eine Rolle.

    Für mich auch, aber warum muss ich dich anlügen? In Freundschaft gibt es, glaube ich, keinen Grund für Lügen.

    Ja, wenn man sich wirklich versteht und kein Bild abgeben muss oder meint dies zu müssen. Wenn ich glaube, dass Du mich nur akzeptierst, wenn ich z.B. eine tolle Autorin bin, dann lüge ich vielleicht, damit du mich toll findest.

    Ehrlichkeit brauchen wir immer, mit allen Menschen, nicht nur mit Freunden.

    Das stimmt, aber Unehrlichkeit zwischen Freunden tut mehr weh, als zwischen anderen Menschen, da das Vertrauen dann zerbrochen ist. Für Vertrauen habe ich mit dem Freund Zeit investiert, um uns vertraut zu machen. Und Zeit ist eigentlich neben der Zuneigung, Liebe das einzige, was wir wirklich zu geben haben.

    Ich bin deiner Meinung. Das hat damit zu tun, dass wir unter Freunden keine Vorurteil haben, dass wir nur mit unseren Freunden wirklich ehrlich sein können oder müssen. Mit anderen Menschen können wir mit Diplomatie, indirekt, ausweichend agieren. Oder wir können mit allen Menschen Ehrlichkeit üben und alles direkt sagen. Freunde können wir teilhaben lassen an Freude und Trauer, ohne das Gefühl zu haben, dass es nicht passend ist. Das hat auch etwas mit Vertrauen zutun.

    Auch hier muss ich dich fragen: Warum kann ich nicht alle Menschen teilhaben lassen an Freude und Trauer?

    Aber natürlich müssen wir auch mehr am Leben unserer Freunde oder Bekannten teilnehmen. Mehr noch: Wir müssen versuchen, sie zu unterstützen und ihnen zu helfen, aus ihrer Trauer herauszukommen. Natürlich kann ich alle Menschen an meinem Leben teilhaben lassen, aber ich und mein Leben wie das Leben eines jeden Menschen sind wertvoll. Ich muss Vertrauen haben, dass es nicht mit Füßen getreten wird. Das weiß ich aber nicht von vielen Menschen, d.h. ich bin vorsichtig, wem ich mich anvertraue.

    Vorurteil oder Selbstschutz?

    Die Frage, die sich dabei stellt: Warum hast du Angst, wenn dein Leben öffentlich wird? Warum möchten wir nur in kleinen Kreisen leben? Das ist, was die Sozialen Medien uns fragen. Ich weiß nicht, ob wir unsere Leben veröffentlichen müssen. Bei mir war es eine andere Situation, weil ich fremd war und andere Menschen interessierten sich für meine Geschichte. Sie haben mir viele Frage gestellt und dann habe ich mir gesagt: Warum kann ich nicht mein Leben öffentlichen machen?

    Es überfordert mich, wenn ich alle Menschen an meinem Leben teilhaben lasse. Ich bewundere es manchmal, wie Du über Social Media die Menschen an Deinem Leben teilhaben lässt.

    Vielleicht, weil sie keine anderen Menschen haben, vielleicht haben sie gesehen, dass ich Unterstützung brauchte, vielleicht interessierte es sie, was ich geschrieben habe. Oder sie haben mich als Freund gesehen. Vielleicht gibt es andere Gründe. Ich weiß es nicht genau.

    (Für die Lesbarkeit des Dialogs verwenden wir nur die Bezeichnung “Freund”, meinen aber natürlich auch “Freundin”)

    Freundschaft – ein Dialog. Folge 1
    Freundschaft – ein Dialog. Folge 3
    In Gespräche von Julia Vweymarn
  • Unwahrscheinliche Freundschaft – Gedanken zu einem Film

    Philippe, der rund um die Uhr auf die Hilfe angewiesen ist, sucht nach einem neuen Angestellten und begegnet so Driss, der gerade erst aus der Haft entlassen wurde. Der sucht eigentlich keinen Job, sondern nur eine Unterschrift als Bestätigung fürs Arbeitsamt möchte.

    Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft…

    Doch Philippe hat einen Narren an dem unbeschwert, humorvollen und manchmal etwas unbeholfenen jungen Mann gefressen. Er bietet ihm, zum Entsetzen der übrigen Mitarbeiter, die Stelle auf Probe an. So beginnt eine wunderbar verrückte und unwahrscheinliche Freundschaft zwischen zwei gänzlich unterschiedlichen Menschen, die sich gegenseitig das geben, was ihnen zuvor gefehlt hatte.

    Driss schafft es, dem einsamen und desillusionierten Philippe wieder Lebenswillen einzuhauchen. Er bringt ihn zum Lachen und zeigt ihm, dass man die Dinge manchmal auf die leichte Schulter nehmen muss. So arrangiert er sogar heimlich ein Treffen zwischen Philippe und seiner langjährigen Brieffreundin Éléonore.

    Driss bekommt im Gegenzug ein neues Zuhause, nachdem ihn seine Tante vor die Tür gesetzt hat, findet aber vor allem Halt und Struktur in seinem neuen Freund. Der kultivierte Phillip schafft es sogar ihn für Bach und Mozart zu begeistern. Driss fängt außerdem an zu malen und verkauft dank der Unterstützung von Philippe eins der Bilder gewinnbringend.

    Ein Film aus dem Leben, über das Leben und für das Leben

    Das Drehbuch ist keine fiktive Geschichte, sondern basiert auf der Autobiografie von Philippe Pozzo di Borgo, ein französischer Unternehmer, der seit einem Paraglidingunfall an den Rollstuhl gefesselt ist. Im wahren Leben verbindet ihn eine tiefe Freundschaft zu seinem ehemaligen algerischen Pfleger Abdel Yasmin Sellou, der in ähnlichen Verhältnissen wie Driss groß wurde. Er half Philippe, seine Depression zu überwinden, die durch den frühzeitigen Tod seiner Frau ausgelöst wurde.

    Der Film wurde europaweit zu einem Riesenerfolg. Was wäre wohl gewesen, wenn dieser Film nicht 2011, sondern 2015 oder 2016 erschienen wäre?
    Die Zuschauer hätten ihn vielleicht in einem anderen Kontext wahrgenommen. Er hätte viele wichtige Fragen aufwerfen und Denkanstöße liefern können. Denn eines ist sicher: Von diesem Film kann man unglaublich viel über Menschen, über das Leben und vor allem über die Bedeutung von Freundschaft lernen.

    Freunde ermutigen dazu, über den eigenen Schatten zu springen

    Man kann lernen, wie wichtig gerade die Menschen sind, die einen dazu ermutigen, über seinen eigenen Schatten zu springen und die einen zwingen, seine Komfortzone zu verlassen. An der Seite von Freunden scheint jede Herausforderung bekanntlich plötzlich nur halb so groß. Manche Freunde begleiten uns ein Leben lang, durch Höhen und durch Tiefen.

    Ein guter Freund ist jemand, auf den man sich auch in Krisensituationen verlassen kann, der für einen da ist, auch wenn man gerade nicht die beste Gesellschaft abgibt. Das zeichnet wahre Freundschaft aus. Es kommen immer wieder Momente, da wird die Freundschaft auf die Probe gestellt. Da weiß man sofort, ob es für die Ewigkeit bestimmt ist oder eben nicht – das spürt man einfach.

    Doch was früher für uns selbstverständlich war, sehen wir heute mit anderen Augen: Erst spät erkennen wir den Wert dieser langjährigen und tiefen Freundschaften und wissen sie oft erst im Alter wirklich zu schätzen. Bei den guten Freunden bedarf es in manchen Situationen nicht vieler Worte, denn sie kennen einen meist besser als man sich selbst. Sie geben Zuneigung, Geborgenheit und Selbstvertrauen. In manchen Situationen müssen sie aber auch brutal ehrlich sein und dürfen kein Blatt vor den Mund nehmen.

    Freunde sind die Familie, die man sich aussuchen kann

    Die neue Realität sieht so aus: Partner kommen und gehen. Jobs und Wohnorte werden immer öfter gewechselt. In der heutigen Schnelllebigkeit geben uns unsere Freunde Halt, seit Internet und Smartphone neuerdings auch über Kontinente und Zeitzonen hinweg.
    Freunde sind, wie man so schön sagt, die Familie, welche man sich aussuchen kann. Ein Großteil der Deutschen betrachten, einer Umfrage der Stiftung für Zukunftsfragen zufolge, ihren Freundeskreis als eine zweite Familie.

    Freundschaften sind im Notfall sogar in der Lage, zerrüttete Familienverbände zu ersetzen. Laut einer Studie leben Menschen mit Freunden erwiesenermaßen sogar länger als Menschen ohne Freunde. Soziale Kontakte stärken das Immunsystem, beschleunigen die Wundheilung, senken Herz-Kreislauf-Erkrankungen und beugen Depression vor. In Stresssituationen bewahren wir mit ihnen eher die Ruhe als ohne sie. Unsere Freunde sind also gut für unsere Gesundheit, da ist sich die Forschung einig.

    Intimität und Vertrauen sind wichtig

    Dabei geht es keineswegs darum, möglichst viele Freunde zu haben, sondern lieber wenige und dafür gute. Natürlich müssen wir mit unseren Freunden lachen können und man muss sich in ihrer Gegenwart wohlfühlen. Wir brauchen Intimität und Vertrauen zu ihnen. Unsere Aufmerksamkeit und Zuneigung muss von ihnen erwidert werden. Macht ein Freund gerade eine schwierige Phase durch, ist es selbstverständlich, dass ihm in dieser Zeit etwas mehr Aufmerksamkeit zuteil wird, als er in diesem Moment zurückgeben kann.

    Doch umgekehrt erwarten man in Krisenzeiten die gleiche aufopferungsvolle Hingabe. Mit den Freunden kann man ganz so sein, wie man eben ist, und muss keine Rolle spielen. Freundschaft ist, wenn man sich nach Monaten oder Jahren wieder sieht und es ist, als wäre man nie getrennt gewesen.

    Aufrichtigkeit und Loyalität gehören dazu

    Freundschaft bedeutet, ehrlich miteinander zu sein ohne sich zu verletzten. Mit Freundinnen und Freunden kann es gelingen, sich zu streiten und wieder zu vertragen. Aufrichtigkeit und Loyalität sind dabei wichtige Voraussetzungen. Zur Freundschaft gehört, die Macken des Anderen zu akzeptieren. Freunde können einen auf die Palme bringen. Freundschaft bedeutet immer da zu sein wenn man gebraucht wird – auch um 4 Uhr morgens. Freundschaft bedeutet einander bedingungslos zu lieben.

    Der Film „Ziemlich beste Freunde“ ist weder unrealistisch noch naiv. Natürlich werden beide zunächst mit einem fremden Lebensstil, einer neuen Denkweise konfrontiert, was Driss’ und Philippes Beziehung komplizierter, aber auch tiefgründiger werden lässt, da sie gezwungen sind, wirklich mit ihrem Gegenüber auseinandersetzen. Nur auf diese Weise erkennen wir uns selbst und wachsen an und mit dem Versuch, ein guter Freund zu sein. Dafür braucht es vor allem Gegensatz.

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