Schlagwort: Bericht

  • HAJUSOM – Ein Theater der Zukunft 

    Alles beginnt mit einem Performance-Workshop am Hamburger Stadtrand. Dort, in einer sogenannten Erstversorgungseinrichtung für minderjährige, unbegleitete Geflüchtete, stehen im Jahre 1999 Ella Huck und Dorothea Reinicke vor dreißig jungen Menschen, um mit ihnen einen Theaterworkshop durchzuführen. Aus drei Monaten ist ein Vierteljahrhundert geworden.

    „Wir hatten total Feuer gefangen“

    Der Name HAJUSOM erinnert an die ersten drei Jugendlichen, die mit HAJUSOM und vielen anderen Geflüchteten auf der Bühne standen oder in der ersten Gruppe aktiv waren: HA für Hatice aus Kurdistan, JUS für Jusef aus Afghanistan und OM für Omid aus dem Iran.

    „Die Jugendlichen wollten, dass die Arbeit weitergeht und auch wir hatten total Feuer gefangen – die gemeinsame Arbeit machte Spaß und hat auch unseren Wunsch, uns als Performancekünstlerinnen politisch und sozial zu engagieren, voll entsprochen“, erklärt Ella Huck. Ella Huck ist Mitbegründerin von HAJUSOM und bringt als gelernte Tischlerin und Schauspielerin bei Jacques Lecoq an der Ecole internationale de Thèâtre in Paris den handwerklichen Griff für die Kunst und Performance.

    Ella Huck und ihrer Kollegin Dorothea Reinicke war damals klar: Sie wollen mit den jungen Erwachsenen Kunst schaffen. Gemeinsam mit den Jugendlichen stellen sie einen ersten Antrag auf Kulturförderung bei der Stadt Hamburg. Das Ziel: Eine professionelle Produktion ermöglichen. Die erste Premiere fand in einer kleinen Konzerthalle in St. Pauli statt, einem ehemaligen Schlachthof.

    „So etwas gab es zu dieser Zeit noch nicht und viele Zuschauer*innen waren glücklich, sich durch das Geschehene repräsentiert und gesehen zu fühlen“, erzählt Ella Huck. Für die Jugendlichen, die ihre Performance selbst kreiert, Texte geschrieben und ihre Tanzbewegungen erfunden hatten, war das ein Moment voller Stolz und Freude.

    „Kunst kann Schutzräume schaffen“

    Orte wie HAJUSOM braucht es immer mehr. Gerade geflüchtete Menschen sind oftmals vulnerabler. Menschen, die mit der Geschwindigkeit der Gesellschaft nicht mitkommen, brauchen geschützte Räume, um sich entfalten zu können.

    „Kunst kann Schutzräume schaffen. Räume, um zu sich emanzipieren und Selbstvertrauen zu entwickeln. Um sich wieder sicherer zu fühlen. Um selbst andere zu unterstützen und ein selbstbewusster Teil der Gesellschaft zu werden. Auch geflüchtete Menschen haben ein Mitspracherecht und dürfen Gesellschaft mitgestalten und verändern“, pointiert Ella Huck. „HAJUSOM ist eine Welt, in der Menschen, die etwas verloren haben, es wiederfinden können.“

    Denn HAJUSOM wirkt wie der Entwurf einer selbstgewählten Familie, Menschen aus der ganzen Welt, die in Deutschland als Minderheit gelten. Dabei wirft das Familienkonstrukt alle zuvor geltenden Regeln über Bord und schafft Störung und Verzerrung in bekannten Konstrukten. Das entspricht auch den Produktionen von HAJUSOM, denn selten gibt es eine durchgängige Story. Viel eher folgt die Dramaturgie einer Aneinanderreihung von Geschichten und Schicksalen als ein bewusst konstruierter Fantasieraum voller Lügen und Wahrheiten.

    „Wir respektieren und schätzen die Lebenserfahrungen aller Menschen“

    Zu Gründungszeiten bestand HAJUSOM vor allem aus Kriegsgeflüchteten und ehemaligen Kindersoldat*innen. Die Jugendlichen sind ohne Eltern nach Hamburg gekommen und mussten um ihren Aufenthalt kämpfen. „Oft war während einer Produktion nicht das gemeinsame Kunstschaffen im Fokus, sondern die Organisation des Alltags“, verrät Ella Huck.

    Sie führt aus: „Durch die Performance-Theater versuchen wir einen künstlerischen Ausdruck für unsere Anliegen zu finden, auch durch neue experimentelle Wege. Um die Ideen der anderen zu verstehen, braucht es Zeit und Gespräche“. Vertrauen ist die Basis. „Wir respektieren und schätzen die Lebenserfahrungen und -realitäten aller Menschen.“

    Mit viel Herz und einem analytischen Blick auf die gesellschaftlichen Zusammenhänge und politischen Zustände, leistet HAJUSOM einen Beitrag zu aktuellen Diskursen, in denen es um die Positionierung von Theater und Kunst in der Gesellschaft geht. „Wir versuchen in den aktuellen gesellschaftlichen Diskurs von Migrationspolitik eine wichtige Perspektive einzubringen, nämlich von den Menschen selbst, über die so viel gesprochen wird, aber viel zu selten mit ihnen“, betont Ella Huck.

    Dafür hat sich HAJUSOM immer wieder mit anderen transnationalen und lokalen Künstler*innen verbunden. HAJUSOM lebt vom Austausch, gegenseitiger Bereicherung und davon, den Horizont immer weiter zu öffnen.

    „Es ging uns gleichzeitig um den ganzen Menschen“

    Dabei stellt HAJUSOM den Performer*innen zeitgenössische Kunstformen und Materialien zur Verfügung, aus denen sie autonom etwas bauen können. Das Ziel ist, eine Performance-Produktion zu schaffen, die öffentliche Räume neu gestaltet und Platz im Diskurs einnimmt. HAJUSOM ist ein Ensemble, das eine eigene künstlerische Position in den Kontext von Performance-Kunst einbringt. Mittlerweile sind mehr als 25 Produktionen mit dem Koproduktionspartner Kampnagel entstanden.

    „Bisher war das wichtigste Ziel für uns als künstlerisches Team des Ensembles, für jede einzelne Person, die zu HAJUSOM kommt, Zeit und Raum zu haben. Die Brücke war immer die künstlerische Arbeit, aber es ging uns gleichzeitig um den ganzen Menschen“, sagt Ella Huck. Die politische Arbeit für Geflüchtete und bei Bedarf juristischer Beistand sind für HAJUSOM bis heute allgegenwärtig und prägen die Arbeit weiterhin.

    „Es ist eine neue Generation von HAJUSOM entstanden“

    Heute ist HAJUSOM ein anerkannter Ort für transnationale Performance-Kunst. Mehr als hundert Menschen unterschiedlicher Herkunft und Geschichte haben diesen Ort geformt. Nach rund 25 Jahren hat sich auch intern bei HAJUSOM einiges getan.

    „Es ist eine neue Generation von HAJUSOM entstanden. Ehemalige Performer*innen haben heute ihre Familien und geben das Gefühl von HAJUSOM weiter. Viele ehemalige Mitglieder, die wir beispielsweise als 14-Jährige kennengelernt haben, besuchen uns heute in den Proben und bringen Geflüchtete mit, die ihre Geschichte erzählen möchten, unsicher sind oder irgendeine Form des Ballast mit sich tragen“, erzählt Ella Huck. Dadurch entsteht ein Kosmos mit Menschen, die ähnliche Erfahrungen teilen und sich auf Basis dessen auf einer ganz besonderen Ebene treffen.

    Für HAJUSOM wünscht sich Ella Huck vor allem eines: Dass die nächste Generation den Geist von HAJUSOM erhält und weiter in die Welt trägt. Ihr ist bewusst, dass sie als weiße cis-Frau jahrelang eine durchaus machtvolle Position innehatte. Doch manchmal braucht es genau das: Verbündete, die die Steine aus dem Weg räumen, damit in Zukunft neue Generationen die Plätze einnehmen können und die Chance bekommen, alt bewährte Strukturen aufzubrechen.

    • HAJUSOM steht für HAtice, JUSef und Omid
    • Ella Huck hält die Auszeichnung THE POWER OF THE ARTS 2019 in den Händen. Die Jury urteilt: „HAJUSOM wagt den Schritt in die Zukunft, bringt unterschiedliche Bevölkerungsgruppen neu zusammen, macht dabei nicht Diskriminierung sichtbar, sondern hält vor allem der Gesamtgesellschaft den Spiegel vor.“

    Mehr zum Thema Räume – in Kultur, in der Stadt und sonst im Leben – findest du in unserer Printausgabe #10

  • Who is liable for our plastic waste?

    Black smoke drifts over the waste incinerators of Istanbul, Adana and Mersin — smoke that makes the people exposed to it ill and poisons the environment and animals. This smoke, produced by the burning of plastic, is also due to the increase in the export of plastic waste from European countries to Turkey.

    For 25 years, China was the main buyer of European plastic waste. This ended when the Chinese government announced in 2018 that it would no longer import plastic waste in the future. When other countries like Vietnam, Malaysia and Thailand followed suit, Europe found a new dumping ground in Turkey.

    Plastic waste exports increase by 102 percent

    Turkey is an attractive country to export plastic waste to due to its geographical proximity as well as good trade relations with the EU. According to Greenpeace, plastic waste exports from Germany to Turkey increased by 102 percent from 2019 to 2020. A total of 136,083 tonnes of plastic waste ended up there, making Turkey the main buyer of European plastic waste in 2020. There, the plastic waste is meant to be recycled according to European standards prior to being reused by the Turkish industry for petroleum-based products.

    Yet what is presented as a win-win-situation mostly serves European interests. The main motivation is, as so often, the accumulation of capital, which is carried out on the backs of countries of the Global South as well as emerging economies like turkey. Exporting plastic waste to countries like Turkey is profitable: recycling is much cheaper there than in EU countries like Germany. It is no surprise that Germany ranks third among the countries that export the most plastic waste to Turkey.

    Plastic waste that poisons people, animals, and the environment

    According to reports of organisations such as Human Rights Watch, the main problem is the lack of checks on whether the recycling process is actually carried out according to European standards. Buyers in Turkey have a great interest in importing as much of the waste as possible, as it is a lucrative business. On the part of the European waste management companies, there are often only superficial checks to see whether the buyers are actually suitable for disposing of the waste properly. Some waste ends up in temporary storage facilities, where it is simply incinerated.

    Waste that causes illness

    In addition, only pure plastic is allowed to be shipped to Turkey, but often this is not the case. The packaging is often not made of pure plastic, but of a plastic-mixture. Among other things, it contains flame retardants, plasticisers and carcinogenic dyes. The combustion of these substances potentiates their carcinogenic effect.

    The majority of the exported waste is also industrial waste. This means that environmentally conscious citizens in Germany and other EU countries who reduce their plastic waste can hardly make a difference here. As is often the case, there is a lack of political measures to stop the plastic problem.

    Waste on the beaches and in the sea

    Another problem: even before the rapid increase in plastic waste imports, Turkey was not keeping up with recycling its own waste. Turkish streets, beaches and the sea have been covered with waste for years. Turkey’s coastal regions on the Mediterranean Sea, for example, were among the worst littered with plastic waste in the world in 2019.

    I was able to witness this immense plastic waste pollution myself every year when I spent the summer with my family in Ayvalık, a small coastal town on the Turkish Aegean. There you could walk the beaches several times a day, collect rubbish and find new plastic waste after only a few hours every time you walked along the beach. My cousins Ella and Lara took photos of the plastic waste pollution during one of these beach walks.

    The fact that the beaches are so quickly littered with plastic again is also due to the fact that it is often very windy in coastal regions like Ayvalık. If the rubbish is not disposed of correctly, the wind carries it everywhere – onto the beaches and into the sea. There, fish and other marine life ultimately die from eating the plastic waste, as organisations like WWF report.

    New EU law

    A new EU law could put an end to the massive export of plastic waste in the future. For example, on 17 January, members of the European Parliament voted in favour of a law to ban the export of plastic waste to non-OECD countries, such as Indonesia.

    Further, the law should also have a positive impact on countries that are members of the OECD, such as Turkey, by phasing out exports to those countries within four years. The EU Council has yet to vote on the law. If the law passes, this could have a positive effect.

    Organisations such as Greenpeace however have always demanded that reusable systems be expanded in order for masses of plastic waste not to arise in the first place. Such waste that cannot be prevented in the future should then be disposed of and recycled under high ecological and social standards. These could be approaches to make industrial nations like Germany, which have a large share in plastic waste pollution and thus also in CO² emissions, more responsible in the future.

    This article was also published in German

  • The climate crisis – who is responsible?

    While the climate crisis in Germany is mainly felt through temperature fluctuations, the consequences in countries of the Global South are much more grave.

    Climate consequences in the Global South

    Desertification in the Sahel region intensifies. This leads to droughts as well as to small island states, such as the Maldives, sinking continuously because of rising sea levels. In East Africa, for example in Sudan, Eritrea or Somalia, droughts are a major problem. Since most people live from agriculture, droughts regularly lead to famine.

    People in Asian countries are increasingly suffering from greater water scarcity due to the melting of the Himalayas. Myanmar, the Philippines, Thailand, Vietnam and Cambodia will be the worst affected by climate-related weather changes, according to Germanwatch’s assessment.

    Already, the increase in storms and typhoons claims thousands of lives every year. Climate consequences have a direct impact on the lives and livelihoods of people around the world. However, these impacts do not affect all people equally; there is a clear south-north divide. While we in Germany are largely only dealing with climatic changes, climate consequences are already claiming lives in the global South.

    The problem: Nations that are most affected by the consequences of climate change have historically contributed the least to the climate crisis. Moreover, they are predominantly poor countries, and therefore less able to adapt to the climate crisis.

    The main responsible parties

     Industrialisation marked the beginning of mass emission of greenhouse gases. The limitations previously imposed by the sun, biomass, wind, and water as the sole energy sources were suddenly removed by the use of fossil fuels. Since the Great Acceleration at the beginning of the 20th century resource consumption has risen sharply. Just from 1970 to today, energy consumption has quadrupled.

    The main responsible parties: almost exclusively Europe and the USA. Europe’s climate debt, i.e., its contribution to the accumulation of carbon dioxide equivalents (CO₂), is estimated at 110 gigatonnes, or 30 per cent of the total accumulation. This is more than twice the contribution to the total accumulation of Africa or South America.

    If we want to avoid warming the atmosphere by more than 2 °C, we must not emit more than around 2,200 billion tonnes of CO₂ between 1800 and 2050. As things stand, about 1,200 billion tonnes of CO₂ have already been emitted. The lion’s share of around 860 billion tonnes of CO₂ was emitted by industrialised countries by 2008. It is twice as much as they would actually be entitled to according to historically fair distribution. Even if the Western countries could reduce their emissions to zero with immediate effect, they would no longer be able to account for the historical climate debt. This has serious consequences for the ecosystem and for people’s livelihoods.

    The increase in the Earth’s mean temperature affects all areas of life, such as ecology, agronomy, economy, health and socio-culture. Since all sectors are inextricably linked, changes in one sector can lead to a so-called „domino effect“. For example, crop failures or food insecurity can lead to mass migration movements and epidemics. Therefore, if one takes a look at historical emissions since the beginning of industrialisation, a clear climate debt can be identified.

    A question of money, sex, socio-economical status and race

    The distribution of climate consequences is not just divided in North and South, but also in poor and rich. Looking at the total sum of all emissions, it turns out that the top 10 per cent are responsible for 45 per cent of all emissions. The bottom 50 per cent, however, are responsible for only 13 per cent of global emissions.

    The average per capita emissions of the poorest countries in the world, such as Niger, Somalia or the Central African Republic, are 140 times smaller than the average per capita emissions in Germany. In addition, the German government is better suited to adapt to the climate crisis, for example by investing in new technologies. After all, those who have sufficient financial resources can better protect themselves against the effects of climate change. This applies not only to governments, but also to different population groups within society.

    When Hurricane Katarina hit the state of New Orleans in autumn 2015, poorer neighbourhoods where predominantly African-Americans live were especially affected. The neighbourhoods were very poorly equipped against the floods. In addition, many residents did not own a car, which made it difficult for them to get to safety.

    Not only socio-economic background or ethnicity influence how well one can adapt to climatic changes, but also gender. Women die much more frequently in natural disasters than men due to gender-specific behavioural norms and unequal distribution of resources. For example, they are less likely to be able to swim or to have access to transport. Categories such as gender, socio-economic status, race, age and disability have a major impact on adaptation. Already existing social inequalities are increasingly reinforced by the climate crisis.

    The presumed other

    German climate discourse mostly blocks out capitalist and colonialst structures. Yet  Postcolonial approaches are important, since they make visible processes and structures that have their origin in European colonialisation under which colonialised countries suffer to this day.

    One of these concepts is Othering, which was developed by Eward Said. This concept can be inherently embedded in postcolonial contexts. Nature is conceptualised as the radically „other“ for this purpose. It is excluded from the human sphere and denied any agency. This devaluation of humanity can be understood as the basis and legitimisation of the almost limitless possession, exploitation and plundering of nature since colonial times. By presenting nature only as a setting for human activity and as a resource to be exploited, while at the same time characterising it as wild, untouched and uncultivated, Europe is elevated to a rationally thinking and acting conqueror whose destiny is to dominate or tame nature.

    Nature outside of Europa is considered to be wild, exotic, untouched and desolate. The people living there are looked at as uncivilised, wild, primitive and bestial. This discourse served and still serves to justify exploitation, slavery and even the genocide of indigenous communities. Exploitation during colonialism made today’s industrial capitalism possible. The exploitation of natural resources was used to drive technological progress in Western industrialised countries and to expand prosperity. This exploitation continues to this day.

    The majority of goods such as cloths or electronic devices that we purchase in the North are produced in the Global South. Precisely here, the working conditions are very bad for the people and the environment. We benefit from the low prices while people’s living conditions deteriorate.

    Fighting climate crisis

    When it comes to combating climate crisis, many different aspects must be taken into account: from historical climate debt to colonial times to the socio-economic background of individuals. For those who have sufficient access to income, property, work, mobility, technologies, credit and political decision-making processes can also better protect themselves against the impacts of climate change.

     When talking about climate change, we must therefore also always automatically talk about climate justice if we want to keep the gap between the Global North and the Global South from widening. Europe, as well as other industrialised countries, has more responsibility. And not only because they are among the main causes of the climate crisis, but also because they have the necessary wealth to effectively counteract it.
    Climate (in)justice – although climate change is a global phenomenon, the effects vary greatly in different regions.

     

     

    This article was also published in German

  • Bildungszentrum Optimum – niedrigschwelliger Zugang zu Bildung

    Efecan Köse (23), Ahmad Al Mefalani (26) und Mohammad Al Mefalani (23) studieren heute Maschinenbau. Während Efecan in Deutschland geboren ist und türkische Wurzeln hat, sind Ahmad und Mohammad 2015 aus Daraa in Syrien nach Deutschland geflohen. Gemeinsam wollen sie sich dafür einsetzen, dass jede Person Zugang zu einer qualitativ hochwertigen Bildung bekommt. „Schule bedeutet nicht nur, zu unterrichten und den Schulstoff zu verstehen, sondern auch, erstmal mit dem Schulsystem klarzukommen. Wenn man ein Problem in der Schule hat, ist man nicht für den Empfang von Wissen bereit. Dabei wollen wir den Schüler*innen mit professioneller Unterstützung helfen”, so Efecan.

    Die Schwächen des Bildungssystems

    Efecan beklagt, dass im Schulalltag oft nicht umsetzbar sei, was im Bildungssystem theoretisch vorgesehen ist. Um zum Beispiel Lesen zu lernen, müssen bereits bei Schulbeginn ausreichende Sprachfähigkeiten vorhanden sein, die sich im Laufe der weiteren Entwicklung immer mehr verfeinern.

    Überforderte Lehrer*innen kämen in zu großen Klassen jedoch an ihr Limit; sie können nicht ausreichend auf die verschiedenen Lerntypen sowie Lerntempos der Kinder eingehen. „Es geht alles zu schnell und es wird von den Kindern erwartet, dass sie sich zeitlich nur mit der Schule beschäftigen“, sagt Efecan. Darüber hinaus würden viele Schulen nur Hausaufgaben als Art der Lernförderung anbieten.

    Efecan, Ahmad und Mohammad seien selbst oft mit den Schwächen des Bildungssystems konfrontiert gewesen. Das ist auch der Grund, weshalb sie das Bildungszentrum Optimum gründeten.  „Ob im Schulstoff oder im Leben – Wir können mit unserem Migrationshintergrund den Kindern Vieles auf den Weg mitgeben”, so Efecan. Das bestätige die positive Rückmeldung der Kinder und ihrer Eltern.

    Kennengelernt haben sich die drei Studenten durch einen anderen Bildungsanbieter,  bei dem sie zusammengearbeitet und Schüler*innen Nachhilfe gegeben haben. „Nach einiger Zeit haben wir festgestellt, dass viele Schülerinnen und Schüler bei uns privat Nachhilfe haben wollten. Sie haben uns gesagt: ‘Ihr macht es so gut, macht daraus was eigenes’“, erzählt Efecan. Die Idee des eigenen Projekts entstand.

    Vielfältiges Angebot mit professioneller Hilfe

    Das neue Bildungszentrum bietet ein vielfältiges Angebot an Kursen für Kinder an.  Wichtig sei es ihnen, individuelle Förderung zu bieten. Von Konversationskursen bis hin zu Mathematik, Englisch und Naturwissenschaften – es deckt fast alle Fächer ab und gibt den Schüler*innen die Möglichkeit, ihr Wissen und ihre Fähigkeiten zu verbessern.

    „Wir versuchen, den Kindern nicht nur im Unterricht, sondern auch mental zu helfen, indem wir sie zum Beispiel ihren eigenen Tee machen lassen. So haben sie kleine Erfolgserlebnisse“, sagt Efecan. Dabei bekommen die drei ehrenamtliche Hilfe von Freund*innen: „Mein Bruder ist eine pädagogische Lehrkraft. Er hilft uns dabei, die Kinder professionell zu unterstützen“, so Efecan.

    Hart arbeiten für wenig Geld

    Für die Studenten war es nicht einfach, das Projekt zu starten. Obwohl Sie keine externe finanzielle Unterstützung finden konnten, haben sie losgelegt.  „Wir haben unser Bafög in einen Topf getan und versucht, das Projekt zu finanzieren“, erzählen sie.

    Bekannte halfen ihnen bei der Suche nach ersten Räumlichkeiten in Bochum, Tische und Stühle sammelten sie sich bei Kleinanzeigen und aus Büroauflösungen zusammen. Efecan, Mohammad und Ahmad verbrachten viele Stunden damit, Materialien zu sammeln und Kurse zu planen, um sicherzustellen, dass jede Schülerin und jeder Schüler das bestmögliche Lernerlebnis bekommt. Dafür zogen sie auch andere Expert*innen und Pädagog*innen zusammen, um das volle Potenzial der Schüler*innen auszuschöpfen.

    Doch Geld verdienen sie damit bisher nicht. Alle Einkünfte fließen zurück in die Versicherungen, die Buchhaltung und in die Miete. Trotzdem haben sie entschieden, dass das Angebot günstig bleiben soll. Neun Euro kostet eine Stunde. „Das Ziel ist es, vor allem Schüler*innen und ihre Eltern, die wegen der Corona-Zeit viel Bedarf an Nachhilfe haben, und Familien, die mehrere Kinder haben, zu erreichen. Sie könnten solche Kurse ansonsten nicht bezahlen”, erklärt Efecan. Das Angebot sei monatlich kündbar. „Während der Ferien können Familien ihren Vertrag kündigen und brauchen keine Gebühren zu bezahlen, und können natürlich nach den Ferien wieder zu uns kommen”.

    Das Bildungszentrum hat sich schnell einen Namen gemacht. Efecan, Mohammad und Ahmad sind stolz auf das, was sie erreicht haben. Sie planen, ihr Angebot weiter auszubauen und hoffen, dass sie in Zukunft noch mehr Menschen helfen können, Zugang zu einer qualitativ hochwertigen Bildung zu erhalten.

     

    Du interessierst Dich für Bildungsgerechtigkeit? Mehr zum Thema findest Du in unserer Printausgabe #9 „Was weiß ich?“

  • Bildungsgerechtigkeit in Deutschland – eine Bestandsaufnahme

    Der Bildungsweg von Menschen mit Migrationsgeschichte in Deutschland ist von einer Vielzahl herausfordernder Situationen geprägt – von der Schulzeit bis zur Hochschulbildung. Zum einen wegen der Bildungsressourcen der Eltern und zum anderen durch diskriminierende Haltungen von Lehrkräfte gegenüber Migranten*innen und geflüchteten Menschen.

    Dies beschreibt Havva Engin,  Professorin für Allgemeine Pädagogik, als „sichtbare und unsichtbare Bildungssysteme“ im aktuellen kohero Printmagazin. Havva Engin bezieht sich hier auf die Tatsache, dass das Bildungsniveau und die Sprachkenntnisse der Eltern Auswirkungen auf die Bildungschancen ihrer Kinder haben können. Kinder, die zu Hause, also im „unsichtbaren Schulsystem“, nicht ausreichend gefördert werden, können dadurch langsamer vorankommen als Kinder, die solche Ressourcen zur Verfügung haben.

    Auch die Haltung von Lehrkräften und ihre Entscheidungen haben einen erheblichen Einfluss auf den weiteren Lebensweg von Kindern und Jugendlichen. In einer Studie des Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitors (NaDiRa) wird festgestellt, dass Schüler*innen mit Migrationsgeschichte trotz gleicher Leistung seltener eine Gymnasialempfehlung erhalten als ihre Mitschüler*innen. Im Gegensatz dazu ist ihre Anzahl an Gesamt- und Realschulen höher. In den niedrigeren Schulformen ist die Abbrecherquote besonders hoch. Ein weiteres Problem besteht in der übermäßigen Zuweisung von angeblichen Lernbehinderungen bei Kindern und Jugendlichen mit Migrations- und Fluchtgeschichte. Dies betreffe  insbesondere viele Schüler*innen , die nach 2015 zugewandert seien, so Engin.

     

    Antirassismus im Lehrplan und Klassenzimmer

    Ein wesentliches Merkmal eines gerechteren Bildungssystems besteht darin, dass das Schulpersonal bereit ist, eigene Vorurteile und rassistische Einstellungen zu hinterfragen. Dies sei aber nicht immer der Fall, da „Lehrer*innen ihre Ausbildung absolvieren können, ohne sich auch nur einmal mit Rassismuskritik auseinandersetzen zu müssen“, wie Sam Schulz, Referent*in für Diversität und Anti-Rassismus, betont. In einem Interview im aktuellen kohero Printmagazin “Was weiß ich?” erklärt Sam, warum antirassistische Bildung einen festen Platz im Lehrplan einnehmen sollte. Sowohl Schüler*innen als auch Lehrer*innen sollten sich intensiver mit diesem Thema auseinandersetzen, denn ohne eine solche Auseinandersetzung würden gute Absichten oft ohne langfristige Veränderungen bleiben.

    Nadire Biskin, Lehrerin und Journalistin berichtet über ihre Erfahrungen im Klassenzimmer: „Es gibt Lehrer*innen, die zwar sehr offen und bemüht sind, aber über wenig Wissen verfügen. Sie stammen beispielsweise aus Kleinstädten, in denen es keine Personen mit Migrationshintergrund gibt.“ Daher sei es wichtig, sich für die Förderung von Lehrkräften, die selbst zugewandert sind, oder diesen familiären Hintergrund haben, einzusetzen.

    Dieser Lösungsansatz verdient mehr Aufmerksamkeit, da Menschen mit Migrationshintergrund in den Lehrerzimmern in Deutschland unterrepräsentiert sind. Im Jahr 2021 hatten laut Mediendienst Integration etwa 13% der Lehrkräfte einen statistischen Migrationshintergrund. Eine neue Studie des DIPF Leibniz-Instituts für Bildungsforschung und Bildungsinformation und der Goethe-Universität Frankfurt zeigt zudem, dass Student*innen mit statistischem Migrationshintergrund während ihres Lehramtsstudiums im Vergleich zu ihren Kommiliton*innen ein geringeres Zugehörigkeitsgefühl zum Studium haben und eher dazu neigen, das Studium abzubrechen. Dies unterstreicht die Notwendigkeit, gezielte Maßnahmen zur Unterstützung und Stärkung dieser Studierenden zu ergreifen.

     

    Bildungsgerechtigkeit geht über Schule hinaus

    Auch in der nächsten Phase des Bildungswegs setzt sich die Ungleichheit fort. Egal ob es um ein Studium oder eine Ausbildung geht, die Bildungsressourcen der Eltern spielen auch hier eine entscheidende Rolle. Besonders schwierig gestaltet sich jedoch der Einstieg für junge Menschen aus migrantischen Familien, die keinen akademischen Hintergrund haben. Laut dem Hochschulbildungsreport beginnen von 100 Kindern aus Akademikerfamilien 79 ein Studium. Bei Nicht-Akademikerfamilien sind es hingegen gerade einmal 27 von 100. Es ist jedoch anzumerken, dass in dieser Erhebung nicht nach dem Migrationshintergrund differenziert wird.

    In deutschen Universitäten gibt es derzeit 441.000 Student*innen ohne deutsche Staatsangehörigkeit. Gleichzeitig haben 39% der Jugendlichen, die sich um eine Berufsausbildung bewerben, eine Migrationsgeschichte. Forschungen, die Bildungsteilhabe beleuchten wollen, sind nicht spezifisch genug. Themen wie der Leistungsdruck, den Menschen mit Migrationserfahrung erleben, oder ob sie auch an Unis oder Ausbildungsplätzen diskriminierenden Strukturen ausgesetzt sind, werden kaum thematisiert. Genau hier kann angesetzt werden, um eine echte Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit für alle zu erreichen.

     

    Mehr zu unserem Fokusthema Bildungsgerechtigkeit erfährst du im zu.flucht-Podcast, in unserer neuen Printausgabe „Was weiß ich?“ und in unserem zu.flucht-Newsletter!

     

  • Dabkeh und Sufi im WhyNotCollective

    In den Räumen der Szenischen Forschung in der Bochumer Innenstadt wird derzeit hart gearbeitet, um eine atemberaubende Performance auf die Beine zu stellen. Das Team des WhyNotCollective ist voller Energie und Begeisterung, denn es bereitet sich auf die Aufführung einer Mischung der traditionellen Tänze Dabkeh und Sufi vor. 

    Regisseurin Romy Schmidt hat großes Interesse daran, den Sufi-Tanz ästhetisch zu untersuchen. „Ich habe in Sufi sehr viel gesehen, und das hat mich berührt. Das wollte ich gerne tiefer untersuchen. Man findet jedoch sehr wenig, vor allem wenn man jetzt nur in der Lage ist, auf Deutsch oder Englisch zu recherchieren.  Deswegen musste ich mich mit Experten in Kontakt bringen und austauschen“, sagt sie. 

    Klischees abbauen

    Mit dem Projekt „Universal Rotation“ plant das Ensemble eine neue Konzeption für eine Performance in den Disziplinen Tanz, Komposition, Sound Design und Medienkunst mit dem Schwerpunkt Choreografie. Ziel sei es, Klischees über Dabkeh und Sufi-Tanz abzubauen. „Sufi-Tanz wird oft von außen betrachtet. Es wird hier in Deutschland als etwas Islamisches oder Spirituelles gelesen. Mit unserem Projekt wollten wir diese islamophobischen Gedanken abschaffen“, so Tänzerin Paulina Nafer. Die aus Chile stammende Künstlerin lebt und arbeitet in NRW. Sie wirkt als Tänzerin, Performerin oder Choreographin in Tanz-, Theater- und Filmproduktionen. 

    Das Team habe nach einer langen Auseinandersetzung mit dem Thema daran gearbeitet, wie diese Form von Tanz hier in Deutschland dargestellt wird. „Damit wir diese Stereotypen nicht bedienen, haben wir lange überlegt, welcher Effekt, welche Art von Darstellung, welche Kameraarbeit dazu dienen könnte, diesen Tanz von diesen Vorurteilen zu verfremden oder zu abstrahieren“, so Nafer. 

    „Leidenschaft für den Tanz verbindet uns“

    Die Gruppe besteht aus einer Tänzerin (Paulina Nafer) und einem Tanzer (Mohammad Tamim), die aus verschiedenen Ländern stammen. Trotz ihrer unterschiedlichen Hintergründe und Erfahrungen haben sie eine gemeinsame Leidenschaft für die orientalischen Tänze und Kulturen entdeckt. Nafer und Tamim verbringen Stunden damit, ihre Bewegungen zu perfektionieren und die Choreografie zu verfeinern. Die Proben sind intensiv, aber die beiden sind motiviert und wissen, dass harte Arbeit und Hingabe der Schlüssel zum Erfolg sind.

    „Es ist eine Herausforderung, aber es macht auch unglaublich viel Spaß“, sagt der Tänzer Tamim. Der Palästinenser stammt aus Syrien und beherrscht seit seiner Kindheit den Dabkeh-Tanz. „Wir alle haben eine gemeinsame Leidenschaft für den Tanz und die Kultur, und das verbindet uns“, sagt er. 

    Widerstand als Ausdrucksform

    Doch Dabkeh und Sufi sind zwei verschiedene Tanzformen mit unterschiedlichen Ursprüngen und Charakteristiken. Der Dabkeh ist ein fröhlicher und energetischer Gruppentanz aus dem Nahen Osten, der bei gesellschaftlichen Anlässen aufgeführt wird. Die Tänzerinnen und Tänzer bilden eine Reihe oder einen Kreis und führen synchronisierte Schritte und Sprünge aus. Hingegen ist der Sufi-Tanz ein meditativer und spiritueller Tanz, der auf die Verbindung zum Göttlichen abzielt. Die Bewegungen sind fließend, langsam und repetitiv. Der Fokus liegt auf der inneren Kontemplation und Hingabe an das Göttliche.

    Also, wie diese ganz verschiedene Tanzformen zusammenkommen: „Aus biografischen Gründen“, sagt Schmidt und ergänzt: „Trotz des Unterschieds zwischen den beiden Tänzen haben sie mit Widerstand zu tun. Sie sind nur anders aufgebaut und werden anders praktiziert. Allerdings gibt es darin eine Verbindung. In dem wir solche Performance auf eine Bühne bringen, sprechen wir zu den Menschen aus verschiedenen Diaspora, die vielleicht da eine Verbindung spüren oder etwas sehen, und herausfinden, was sie gemeinsam verbindet“. 

    Allgemein bietet der Tanz eine kreative körperliche Ausdrucksform, um Widerstand zu zeigen und auf soziale, politische oder persönliche Themen aufmerksam zu machen. „Der Widerstand ist für jeden von uns auf ganz verschiedene Art und Weise definiert. Und er findet jeden Tag in der alltäglichen Praxis statt“, so Schmidt.

    Widerstand sei in den Augen vieler eine Art von Gewalt. Doch das Ensemble sehe, dass Widerstand eine Art von Erinnerung sei. „Für uns bedeutet der Widerstand, nicht zu vergessen und etwas am Leben zu halten. Indem wir diese Tänze hier in Deutschland nicht aussterben lassen, versuchen wir diese Erinnerungen an unsere Familien oder kulturellen Hintergründe nicht verschwinden zu lassen“, erklärt Nafer. 

    Cancel Culture

    Durch Bewegung, Symbolik und gemeinschaftliche Darstellung wollen Tänzerinnen und Tänzer nicht nur die Botschaft des Widerstands eindrucksvoll vermitteln, sondern auch sie wollen das kulturelle Erbe des Dabkeh zeigen, das von Generation zu Generation weitergegeben wird. „Seit meiner Kindheit tanze ich Dabkeh. Dieser Tanz hat mit meiner Identität als Palästinenser viel zu tun. Als Staatenloser in Deutschland möchte ich diese Identität nicht verlieren. Denn Dabkeh spielt eine wichtige Rolle bei der Ausdrucksform und dem Gefühl der Zugehörigkeit“, sagt Tamim. 

    Zwar hat Dabkeh immerhin keine direkte Verbindung zur Cancel Culture oder zu den damit verbundenen sozialen Diskussionen und Debatten, es kann jedoch vorkommen, dass bestimmte kulturelle Ausdrucksformen, einschließlich des Dabkeh, im Kontext der Cancel Culture diskutiert werden. Dabkeh ist der traditionelle palästinensische Volkstanz und damit Teil der palästinensischen Identität. Wegen der aktuellen Diskussion in der deutschen Politik und Gesellschaft befürchtet das Ensemble, dass diese Tanzform aus politischen Gründen gecancelt werden. Daher versuche das Ensemble an Strategien arbeiten, um das zu verhindern.

    „Uns ist bewusst, wie gefährlich das Thema ist, deswegen versuchen wir neue Strategien zu finden, und zwar: durch indirekte Symbole und nicht mit klaren Texten oder Wörter, die direkt ein Tabuthema thematisieren“, so Schmidt. 

    Das transnationale Kollektiv „Why Not?“ widmet sich seit seiner Gründung im Jahr 2018 den zentralen Themen und Fragen um Sichtbarkeit und Repräsentation außereuropäischer und diasporischer sowie (p)ostsozialistischer Narrative in Kultur und Medien. 

     

  • Dualität zwischen Deutschland und dem Mutterland

    Deutschland hat derzeit rund 22 Millionen Einwanderer, darunter Flüchtlinge aus verschiedenen Teilen der Welt. Dieses Land ist angesichts der Migrationskrise eines der Länder mit der größten Unterstützung, da es mehr als 18 % der Flüchtlinge aus Europa hat. 

    Für die meisten Zuwanderer ist es jedoch immer vorrangig, nach Deutschland zu kommen, entweder um zu überleben oder um ein stabiles Leben zu führen, da ihnen in ihren Herkunftsländern aus verschiedenen Gründen keine Chancen geboten werden und sie so zu „deutschen Staatsbürgern“ mit ausländischen Wurzeln werden. 

    Als Einwanderer sehe ich keine Möglichkeit der „deutschen Staatsbürgerschaft“ jenseits der rechtlichen Verfahren, da du deine Kultur und deine Bräuche immer überall hin mitnehmen wirst, im Falle Deutschlands passt du dich einfach mit dem, was du mitbringst, an das Land an. 

    Deutschland als zweite Heimat

    Allerdings lernt man viel dabei und mit der Zeit wird das, was man aus der Heimat mitgebracht und aus Deutschland gelernt hat, zu seiner zweiten Heimat. Ich bin im Alter von 22 Jahren aus meiner Heimat Venezuela nach Deutschland ausgewandert. Es war kein einfacher Prozess, aber ohne Zweifel ist der schwierigste Schritt auf dieser ganzen Reise, die Entscheidung, zu gehen, und das Verlassen ist das, was dich auszeichnet: weil du erkannt hast, dass der Ort, an dem du dich befindest, nicht die notwendigen Möglichkeiten für dein Wachstum bietet. Oder du musst ihn verlassen, weil du weißt, dass du in deinem Land nicht leben kannst; es ist nicht einfach.

     Zu wissen, dass man nicht dort sein kann, wo man herkommt, ist schwierig. Die Schwierigkeiten, die Einwanderer durchmachen, sind meistens: Migrationstrauer, Einsamkeit, Mangel an wirtschaftlichen Ressourcen und die Angst, einer anderen Kultur und Sprache ohne Gesellschaft gegenüberzustehen. Nicht jeder hat das Glück, sein Land mit seinen Lieben zu verlassen, um gemeinsam ein neues Leben zu beginnen, und sich mit Entfernungen, Zeitumstellungen und weiteren damit verbundenen Problemen auseinandersetzen zu müssen, erzeugt normalerweise eine emotionale und persönliche Krise für Einwanderer, Job, einen Studienplatz oder ihre gerichtlichen Verfahren zu erledigen. 

    Gerade in Deutschland, das eines der Länder mit der höchsten Einwanderungs- und Flüchtlingsquote in Europa ist, dauern all diese Verfahren für Arbeit, Studium, Wohnung usw. aufgrund der Anzahl von Ausländern im Land und der berühmten deutsche Bürokratie lange. Trotzdem kämpfen wir alle vereint dafür, dieses Land mit dem, was wir sind, zu unserer Heimat zu machen. 

    Staatenlosigkeit in Deutschland

    Staatenlosigkeit ist jedoch eine Situation, in der Menschen, die keine Staatsangehörigkeit besitzen, in einem Land sind und daher keine Identifikation oder Rechte genießen. Nach Angaben des UNHCR gibt es derzeit weltweit etwa 10 Millionen staatenlose Menschen als Folge der Kriege und politischen, wirtschaftlichen und sozialen Krisen, die sich in den letzten Jahren entwickelt haben. 

    Die Staatenlosigkeit in Deutschland ist eine der wichtigsten Migrationssituationen des Landes, da es aufgrund der bewaffneten Konflikte in den Vorjahren rund 27.000 Staatenlose aufgenommen hat. Zudem hat es durchschnittlich 1,20 Millionen Flüchtlinge und 23.000 Asylbewerber im Exodus von Millionen von Menschen, hauptsächlich aus arabischen Ländern. 

    Die Position des deutschen Staates in dieser Situation war es, den meisten dieser Menschen Asyl und Zuflucht zu gewähren und nach den Vereinigten Staaten das europäische Land zu werden, das die meisten Flüchtlinge aufnimmt, und auch das Land, das Organisationen wie UNHCR und UNHCR am meisten unterstützt. Neben der Bereitstellung von Integrationsprogrammen und dem Deutschunterricht für Einwanderer, Flüchtlinge und Asylbewerber durch nationale Schulen wie die VHS im ganzen Land. Deutschland ist ein Land, das bereit ist, für alle, die es wollen, eine zweite Heimat zu werden, insbesondere aber für diejenigen, die aus schwierigen Verhältnissen kommen, da es ihnen alle notwendigen Ressourcen zur Verfügung stellt. Dein Herkunftsland wirst du jedoch nie außer Acht lassen.

  • Rassismus im Gesundheitssystem – eine Bestandsaufnahme

    Im Jahr 2021 hat ein Forschungsteam im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes das Forschungsprojekt Diskriminierungsrisiken und Diskriminierungsschutz im Gesundheitswesen vorgelegt. Das Ergebnis: Diskriminierungsrisiken gibt es sowohl im Zugang als auch in der Inanspruchnahme von gesundheitlicher Versorgung. Diskriminierungen wie Rassismus äußere sich nicht nur in Form von diskriminierendem Verhalten seitens des medizinischen Personals, sondern viel mehr durch institutionelle Praktiken und Abläufe, die ein ungleiches Behandeln von Patienten*innengruppen begünstigen würden.

    Rassismus im Gesundheitswesen ist vielschichtig und betrifft Menschen auf vielen Ebenen. Manchmal richtet sich der Rassismus an das Personal im Gesundheitswesen, manchmal an die Patient*innen und manchmal kostet der Rassismus auch Leben, wenn dadurch verhindert wird, dass Krankheiten frühzeitig erkannt und richtig behandelt werden können.

    Es gibt in Deutschland allerdings kaum Forschung zum Thema; wegen mangelnder Daten verläuft die Debatte oft einseitig, institutionelle Praktiken und strukturelle Ungleichheiten bleiben ausgeklammert. Daher lohnt sich ein Blick in die USA, Kanada, oder nach Großbritannien, wo es deutlich mehr belastbare Zahlen gibt.

    Institutioneller Rassismus in der Medizin

    Laut der Studie „We Need Access“ von Human Rights Wach in Verbindung mit der Southern Rural Black Women´s Initative of Economic and Social Justice wird bei Schwarzen Frauen viel später Gebärmutterhalskrebs diagnostiziert als bei weißen Frauen. Auch sterben sie häufiger daran, und dass, obwohl Gebärmutterhalskrebs verhinderbar und gut behandelbar ist, sofern man ihn früh genug bemerkt. Im US-Bundesstaat Georgia sterben Schwarze Frauen doppelt so oft an Krebs wie weiße Frauen, weil sie zum Beispiel seltener auf Gebärmutterhalskrebs untersucht werden, sie weniger oft über Präventionsmaßnahmen informiert werden oder ihre Schmerzen weniger ernstgenommen werden. Obwohl Gebärmutterhalskrebs in den meisten Fällen verhinderbar ist, sorgen institutioneller Rassismus, oder Faktoren wie der sozioökonomische Hintergrund für das Gegenteil. Damit werden BIPoC vom Gesundheitssystem exkludiert und von wichtigen Informationen und Dienstleistungen abgeschnitten, die ausschlaggebend für Leben und Tod sein können.

    Auch in Deutschland häufen sich die Vorwürfe zu Rassismus im Gesundheitswesen, was vor allem durch die Coronapandemie bedingt wurde. Der Anteil der ausländischen Staatsangehörigen an allen Todesfällen ist während der Pandemie überdurchschnittlich gestiegen. Zwischen Januar und August 2021 starben 4500 ausländische Staatsangehörige – mehr als es 2019 im gleichen Zeitraum waren. Verursacher für die erhöhte Sterblichkeit könnten die im Schnitt schlechteren Wohn- und Arbeitsverhältnisse, der eingeschränkte Zugang zu gesunder Ernährung sowie das häufigere Nutzen von Transportmitteln sein. Doch auch hier fehlen Daten, die eine strukturelle Diskriminierung valide abbilden könnten.

    Kleine Geschichtsstunde – kolonialhistorische Annahmen

    Dass Menschen mit Migrations- und Fluchtgeschichte oft medizinisch unzureichend versorgt werden, liegt auch an einer Forschungs- und Wissenslücke in der Medizin. Viele Krankheitsbilder wie Hautausschläge, Neurodermitis oder Borreliose sind für das ungeschulte Auge auf dunkler Hautfarbe schwer zu erkennen – was daran liegt, dass sich entsprechende Lehrbücher vorwiegend auf weiße Patient*innen beziehen. 2020 brachte der Schwarze Medizinstudent Malone Mukwende aus Großbritannien das Fachbuch „Mind the Gap“ heraus, wo Symptome auf unterschiedlichen Hautfarben gezeigt werden, um diesem Problem entgegenzuwirken.

    Zudem bestehen heute noch kolonialhistorische Vorannahmen, die abgebaut werden müssen. Andere Studien aus den USA belegen zum Beispiel, dass Herzinfarkte bei Schwarzen Frauen häufiger übersehen und deshalb nur halb so oft behandelt werden. In Großbritannien wurde herausgefunden, dass die Sterblichkeit Schwarzer Mütter infolge von Geburtskomplikationen fünfmal so hoch ist wie von weißen Müttern.

    Intersektionale Perspektive nötig

    Was auffällt: Es sind besonders oft Schwarze Frauen betroffen. Dies ist auf eine Verbindung von Anti-Schwarzem-Rassismus und Sexismus zurückzuführen, welche ihre Wurzeln in der Kolonialzeit hat. Um die Sklaverei zu verharmlosen, wurden Schwarzen Körpern eine höhere Leistungsfähigkeit zugesprochen. Dies zeigt sich auch heute noch im Stereotyp der „starken Schwarzen Frau“, die resistenter und angeblich weniger schmerzempfindlich sein soll. Auch das sogenannte „Südländersyndrom“ (morbus bosporus) ist heute noch weit verbreitet. Demnach werden Patient*innen, deren Herkunft aus dem mediterannen Raum vermutet wird, eine überhöhte Schmerzempfindlichkeit und ein überhöhter Schmerzausdruck zugeschrieben, obwohl schon lange bekannt ist, dass Menschen Schmerzen individuell und unabhängig von Geschlecht und Herkunft wahrnehmen. Schwarze Menschen berichten oft, mit Stereotypen seitens der Ärzteschaft konfrontiert zu werden oder bei ihren Beschwerden nicht ernst genommen zu werden.

    Die Folge: Das Vertrauen in das Gesundheitswesen sinkt. Das kann dazu führen, dass Betroffene seltener medizinische Einrichtungen aufsuchen – und somit ihre Gesundheit zunehmend gefährdet wird.

     

    Mehr zu unserem Fokusthema Gesundheit erfahrt ihr bald im zu.flucht-Podcast, im Online-Magazin und hier in unserem zu.flucht-Newsletter!

  • Wer spricht im Klimajournalismus und wem hört er zu?

    Reichlich spät und ziemlich lückenhaft, aber Klima ist angekommen, könnte man sagen.

    Die Journalistin Sara Schurmann, die sich seit Jahren intensiv mit der Klimakrise und der Rolle des Journalismus beschäftigt, aber schreibt: „Die Lücke zwischen Berichterstattung und Klimakrise schließt sich nicht. Die Klimakrise eskaliert zusehends und wir kommen nicht hinterher.“ Die journalistische Abbildung der Welt zeige nicht die strukturellen Zusammenhänge. Dabei sei die „journalistische Abbildung der planetaren Krisen […] ein entscheidender Schlüssel zum öffentlichen Bewusstsein und damit zu politischer Verantwortlichkeit. Aber Medien bilden das Ausmaß und die Dringlichkeit nicht angemessen ab.“

    Wo sind all die Stimmen?

    Ein Problem durchzieht all das: die mangelnde Vielfalt im Klimajournalismus und im Journalismus im Allgemeinen. Wer hat denn überhaupt die Möglichkeiten, Gehör zu finden? Wer wird aufgrund von Herkunft, Geschlecht, Glauben, Körper ausgeschlossen? 

    Eine demokratische Gesellschaft soll allen Menschen ermöglichen, ihre Perspektiven einzubringen und mitzugestalten. Voraussetzung dafür ist, dass es Räume gibt, gleiche Chancen zur Beteiligung und Zugänge. Aber spiegelt sich das wider in dem, wer berichtet, wer gefragt wird, was gezeigt wird? 

    Der Medienverbund Covering Climate Now schreibt: „Eine vollständige Erzählung der Klimageschichte schließt die Menschen ein, die davon betroffen sind, und die Menschen, die versuchen, das Problem zu lösen […] Eine Berichterstattung, die sich überwiegend auf wohlhabende Gemeinschaften konzentriert und nur weiße Stimmen zu Wort kommen lässt, geht einfach an der Geschichte vorbei.“ Sind bestimmte Stimmen unserer Gesellschaft nicht präsent, fehlen uns ihre Erfahrungen, Ideen und Blickwinkel, die für nachhaltige Veränderungen unverzichtbar sind. 

    Eintönigkeit als Sinnbild für Ungleichheiten

    Alle Menschen tragen die eigenen Geschichten mit sich und die wirken sich darauf aus, wie ein Thema betrachtet wird, wie recherchiert wird, wer für Interviews angefragt wird, was ausgelassen wird, wie geschrieben wird. Mangelt es an Geschichten, wird auch die Vielfalt der Gesellschaft nicht repräsentiert. Die Wahrnehmung des Publikums der Wirklichkeit verzerrt sich. Gemessen an der Vielfalt der Gesellschaft, bleiben öffentliche Diskurse zwangsweise gleichförmig.

    Realitätscheck: Genau das passiert nach wie vor. 

    Die internationale Nachrichtenagentur Reuters hat 2021 die nach ihren Kriterien die 1.000 „einflussreichsten“ Klimawissenschaftler*innen aufgelistet. Sie enthält nur fünf Wissenschaftler aus Afrika, die in Ländern des Kontinents forschen. Fünf von 1.000. Die immens ungleiche Verteilung von Ressourcen und Zugängen etwa kann dieses Ungleichgewicht nur teilweise erklären. Denn es gibt sie ja, die Expert*innen: Grob zehn Prozent der Autor*innen des Berichts des Weltklimarats, dem wohl wichtigsten Bericht in der globalen Klimapolitik, sind Bürger*innen afrikanischer Staaten. 

    Wessen Geschichten werden erzählt?

    In einer Studie zeigte das Netzwerk Neue deutsche Medienmacher*innen, dass sechs Prozent der Chefredakteur*innen der reichweitenstärksten Medien in Deutschland einen Migrationshintergrund hätten. Zwar wünschten sich viele Redaktionen mehr Vielfalt, etwas getan hätten dafür die wenigsten. 

    Im Projekt „Wer Macht Meinung“ wiederum haben die Autor*innen knapp 15.000 Artikel untersucht. Im Ergebnis überwogen männliche Journalisten deutlich. Wie sollen weiße Männer im mittleren Alter die postmigrantische, diversifizierte Gesellschaft widerspiegeln oder sich in bestimmte Lebensrealitäten denken?

    Im „Media Pluralism Monitor 2022“ für Deutschland des Centre for Media Pluralism and Media Freedom stufen die Autoren den Zugang zu Medien für Minderheiten und Frauen als höchstes Risiko für die Pluralität in Medien ein. Bislang hätten Maßnahmen kaum Auswirkung.

    Expert*innen vor Ort

    Mangelnde Vielfalt ist kein Problem des Journalismus allein, sondern über Sektoren hinweg und prägt ebenso Wissenschaft, Klima- und Naturschutz und soziale Bewegungen. Diese Ungleichheiten bestimmen, wessen Geschichten erzählt werden und wessen nicht.

    Die Wissenschaftsjournalistin Ayesha Tandon der Plattform Carbon Brief hat 2021 Autor*innen der 100 meistzitierten klimawissenschaftlichen Arbeiten analysiert. Das Ergebnis: 90 Prozent waren mit Institutionen aus dem globalen Norden verbunden. Weniger als ein Prozent waren in Afrika ansässige Autor*innen. Letztlich sind diese damit auch in Medien weniger sichtbar. Ihre Sichtweisen, Expertise und Erfahrungen verschwinden an den Rändern der Aufmerksamkeit.

    Vielfalt finden per Datenbank

    Im Oktober letzten Jahres veröffentlichte Carbon Brief zusammen mit dem Oxford Climate Journalism Network die Global South Climate Database. Dazu schrieben die Macher*innen, dass die Stimmen, die die Klimageschichten erzählen, in den Medien zu homogen seien. Über die Datenbank können Journalist*innen aus aller Welt Klimaexpert*innen aus Asien, Afrika, Lateinamerika und der Karibik sowie dem Pazifik anfragen. Sie ist öffentlich zugänglich und enthält inzwischen über 900 Expert*innen, die mehr als 70 Sprachen sprechen – ihre Handynummern inklusive. Ähnliche Projekte gibt es auch in Deutschland. Der Vielfaltfinder des postmigrantischen Netzwerks bietet eine Datenbank mit Expert*innen verschiedener Disziplinen. 

    Journalismus weiterdenken

    „Denk doch mal positiv!“ In den meisten Fällen ist das ein leerer Zuspruch, der kaum hilft. Krisen muss man nicht schönreden. Aber man kann sich mit Lösungen befassen, die in der eigenen Handlungsmacht stehen. Das Solutions Journalism Network vergibt zum Beispiel Stipendien an Journalist*innen in den USA, mit unterschiedlichsten Erfahrungen und Backgrounds.

    Außerdem organisiert das Netzwerk Trainings im lösungsorientierten Journalismus. Das ist kein naiver Gute-Laune-Journalismus. Vielmehr sind für ihn auch Lösungsversuche berichtenswert. Expert*innen dafür sind oft Menschen aus Gemeinschaften, die bereits unverhältnismäßig unter Ungleichheit leiden.

    Wiederum internationale Zusammenschlüsse von Redaktionen, etwa für grenzüberschreitende Recherchen, können dazu beitragen, hervorragende journalistische Arbeit im Ausland hierzulande sichtbarer zu machen. 

    Gleichberechtigung 

    Nicht zuletzt muss die Klimakrise immer noch als alles durchdringendes Problem erkannt und behandelt werden. Die globale Erderhitzung ist kein rein naturwissenschaftliches Phänomen. Vielmehr offenbart sie den katastrophalen Stand der gesellschaftlichen Beziehungen zur Umwelt.

    Dieser Zustand ist eng mit schwerwiegenden Ungerechtigkeiten im Zusammenleben der Menschen verzahnt. Die Klimakrise trifft jene am stärksten, die bereits unter Ungleichheiten leiden und besonders verletzlich sind. Das sind außerdem jene, die am wenigsten zur Krise beigetragen haben. In einer Studie von Oxfam und des Stockholm Environment Institute heißt es, dass die reichsten ein Prozent der Weltbevölkerung doppelt so viele CO2-Emissionen verursachen würden wie die ärmste Hälfte der Weltbevölkerung. 

    Umso wichtiger ist, dass verschiedene Stimmen Gehör finden. Zusammenhänge und Ungleichheiten transparent gemacht werden. Menschen von ihren Erfahrungen erzählen können und nicht als Schablonen für vorgefertigte Ideen dienen. Die Autorin Kübra Gümüşay schreibt in ihrem Buch „Sprache und Sein“: „[Es] ist die beständige Vielzahl der Perspektiven, die den Unterschied macht. Eine neue Erzählung – die Ausnahme – reicht nicht aus. Wir brauchen zahlreiche Betrachtungen […], die gleichberechtigt nebeneinander stehen.“

    Weitere Beiträge zum Schwerpunktthema Klimaaktivismus gibt es hier.

  • Warum Europa mehr Verantwortung für die Klimakrise übernehmen muss

    Während sich die Klimakrise in Deutschland überwiegend durch Temperaturschwankungen bemerkbar macht, sind die Klimafolgen in Ländern des globalen Südens viel gravierender.

    Klimafolgen im globalen Süden

    In den Ländern der Sahelzone intensiviert sich die Desertifikation. Das führt zu Dürren oder dazu, dass kleine Inselstaaten, wie die Malediven wegen des Meeresspiegel-Anstiegs kontinuierlich sinken. In Ostafrika, beispielsweise im Sudan, Eritrea oder Somalia sind Dürrekatastrophen ein großes Problem. Da die meisten Menschen von der Landwirtschaft leben, führen Dürren regelmäßig zu Hungersnöten.

    In asiatischen Ländern leiden die Menschen durch das Abschmelzen des Himalayas zunehmend an größerer Wasserknappheit. Myanmar, die Philippinen, Thailand, Vietnam und Kambodscha werden nach der Einschätzung von Germanwatch am schlimmsten von klimabedingten Wetterveränderungen betroffen sein.

    Schon jetzt fordert die Zunahme von Stürmen und Taifunen jährlich tausende von Toten. Klimafolgen haben direkte Auswirkungen auf das Leben und die Existenzbedingungen von Menschen auf der ganzen Welt. Diese Auswirkungen treffen jedoch nicht alle Menschen gleichermaßen, es gibt ein klares Süd-Nord-Gefälle. Während wir uns in Deutschland größtenteils nur mit klimatischen Veränderungen rumschlagen, fordern die Klimafolgen im globalen Süden jetzt bereits Leben.

    Das Problem: Länder, die am meisten von den Folgen des Klimawandels betroffen sind, haben historisch am wenigsten zur Klimakrise beigetragen. Außerdem handelt es sich überwiegend um arme Länder, die sich deshalb schlechter an die Klimakrise anpassen können.

    Die Hauptverantwortlichen

    Die Industrialisierung markierte den Beginn der massenhaften Emittierung von Treibhausgasen. Die Beschränkungen, die zuvor durch Sonne, Biomasse, Wind, und Wasser als einzige Energiequellen auferlegt waren, wurden auf einmal durch die Nutzung von fossilen Brennstoffen beseitigt. Seit der großen Beschleunigung Anfang des 20. Jahrhunderts, auch „Great Accelaration“ genannt, ist der Ressourcenverbrauch stark angestiegen. Allein von 1970 bis heute hat sich der Energieverbrauch vervierfacht.

    Die Hauptverantwortlichen; fast ausschließlich Europa und die USA. Die Klimaschulden Europas, das heißt ihr Beitrag zur Akkumulation von Kohlenstoffdioxideqivalenten (CO₂), wird auf 110 Gigatonnen geschätzt, beziehungsweise auf 30 Prozent der Gesamtakkumulation. Das ist mehr als doppelt so viel wie der Beitrag zur Gesamtakkumulation von Afrika oder Südamerika.

    Wenn wir vermeiden wollen, dass die Atmosphäre um mehr als 2 °C erwärmt wird, dürfen wir zwischen 1800 und 2050 nicht mehr als rund 2.200 Milliarden Tonnen an CO₂ emittieren. Nach dem aktuellen Stand wurden ungefähr 1.200 Milliarden Tonnen CO₂ bereits emittiert. Den Löwenanteil von rund 860 Milliarden Tonnen CO₂ haben bis 2008 die Industriestaaten ausgestoßen. Das ist doppelt so viel, wie ihnen eigentlich nach historisch gerechter Verteilung zustehen würde. Auch wenn die westlichen Länder ihre Emissionen ab sofort auf null reduzieren würden, könnten sie der historischen Klimaschuld nicht mehr Rechnung tragen. Das hat schwerwiegenden Folgen, für das Ökosystem und für die Lebensgrundlage der Menschen.

    Der Anstieg der Erdmitteltemperatur wirkt sich auf alle Lebensbereiche wie Ökologie, Agrarwissenschaft, Ökonomie, Gesundheit und Soziokultur aus. Da alle Bereiche untrennbar miteinander verbunden sind, können Veränderungen in einem Sektor zu einem sogenannten „Dominoeffekt“ führen. So können zum Beispiel Ernteausfälle oder Ernährungsunsicherheit, Massenmigrationsbewegungen und Epidemien auslösen. Wenn man einen Blick auf die historischen Emissionen seit Beginn der Industrialisierung wirft, lässt sich daher eine klare Klimaschuld erkennen.

    Eine Frage von Geld, Geschlecht, sozio-ökonomischem Status und race

    Die Verteilung der Klimafolgen gliedert sich nicht nur in Nord und Süd, sondern auch in Arm und Reich. Wenn man die Gesamtheit aller Emissionen betrachtet, stellt sich heraus, dass die obersten 10 Prozent für 45 Prozent aller Emissionen verantwortlich sind. Die unteren 50 Prozent haben jedoch lediglich 13 Prozent der weltweiten Emissionen zu verantworten.

    Die durchschnittlichen Pro-Kopf-Emissionen der ärmsten Länder dieser Welt wie Niger, Somalia, oder die Zentralafrikanische Republik sind 140-mal kleiner als die durchschnittlichen Pro-Kopf Emissionen in Deutschland. Zudem kommt, dass sich die deutsche Regierung besser der Klimakrise anpassen kann, in dem sie zum Beispiel in neue Technologien investiert. Denn wer über ausreichend finanzielle Mittel verfügt, kann sich besser gegen die Auswirkungen des Klimawandels schützen. Das gilt nicht nur für Regierungen, sondern auch für verschiedene Bevölkerungsgruppen innerhalb der Gesellschaft.

    Als im Herbst 2015 Hurrikan Katarina den Bundesstaat New Orleans traf, waren vor allem ärmere Viertel, in denen vorwiegend Afroamerikaner*innen leben, betroffen. Die Viertel waren sehr schlecht gegen Hochwasser ausgerüstet. Zudem besaßen viele Einwohner*innen kein Auto, weshalb sie sich nur schwer in Sicherheit bringen konnten.

    Nicht nur der sozioökonomische Hintergrund, oder die Ethnie haben Einfluss darauf, wie gut man sich klimatischen Veränderungen anpassen kann, sondern auch das Geschlecht. Frauen sterben aufgrund von geschlechtsspezifischen Verhaltensnormen und ungleicher Ressourcenverteilung viel häufiger bei Naturkatastrophen als Männer. Sie können zum Beispiel seltener schwimmen, oder verfügen seltener über einen Zugang zu einem Verkehrsmittel. Kategorien wie Geschlecht, sozioökonomischer Status, race, Alter und Behinderung haben große Auswirkungen bezüglich der Adaption. Schon bestehende soziale Ungleichheiten werden durch die Klimakrise zunehmend verstärkt.

    Das vermeintlich Andere

    Der deutsche Klimadiskurs blendet größtenteils kapitalistische und koloniale Strukturen aus. Postkoloniale Ansätze sind jedoch wichtig, da sie Prozesse oder Strukturen aufzeigen, die ihren Ursprung in der europäischen Kolonialisierung haben.  Unter denen leiden die kolonialisierten Länder heute immer noch.

    Einer dieser Konzepte ist das von Eward Said entwickelte Othering. Dieses Konzept kann von Natur aus in postkoloniale Kontexte eingebettet werden. Die Natur wird zu diesem Zweck als das radikal „Andere“ konzeptualisiert. Sie wird aus der menschlichen Sphäre ausgeschlossen und ihr wird jegliche Handlungsmacht abgesprochen. Diese Abwertung der Menschlichkeit kann als Grundlage und Legitimierung des fast grenzenlosen Besitzens, Ausbeutens und Plünderns der Natur seit der Kolonialzeit verstanden werden. Indem die Natur nur als Kulisse für menschliche Aktivitäten und als auszubeutende Ressource dargestellt wird, und gleichzeitig als wild, unberührt und unkultiviert charakterisiert wird, wird Europa zu einem rational denkenden und handelnden Eroberer erhoben, dessen Schicksal es ist, die Natur zu beherrschen oder zu zähmen.

    Die außereuropäische Natur gilt als wild, exotisch, unberührt und verlassen. Die dort lebenden Menschen als unzivilisiert, wild, primitiv und bestialisch. Dieser Diskurs diente und dient immer noch dazu, Ausbeutung, Sklaverei und sogar den Völkermord an indigenen Gemeinschaften zu rechtfertigen. Die Ausbeutung während des Kolonialismus machte den heutigen Industriekapitalismus erst möglich. Die Exploitation von natürlichen Ressourcen wurde genutzt, um den technischen Fortschritt in den westlichen Industrieländern voranzutreiben und um den Wohlstand auszubauen. Diese Ausbeutung dauert bis heute an.

    Ein Großteil von Waren wie Kleidung oder elektronischen Geräte, die wir im Globalen Norden kaufen, werden im Globalen Süden produziert. Genau hier sind die Arbeitsbedingungen für die Menschen und die Umwelt sehr schlecht. Wir profitieren von den niedrigen Preisen, während sich die Lebensumstände der Menschen verschlechtert.

    Bekämpfung der Klimakrise

    Wenn es um die Bekämpfung der Klimakrise geht, müssen viele verschiedene Teilaspekte beachtet werden: von der historischen Klimaschuld bis zur Kolonialzeit hin zum sozioökonomischen Hintergrund einzelner Personen. Denn wer ausreichend Zugang zu Einkommen, Eigentum, Arbeit, Mobilität, Technologien, Krediten und politischen Entscheidungsprozessen hat, kann sich auch besser gegen die Auswirkungen des Klimawandels schützen.

    Wenn wir über Klimawandel sprechen, müssen wir daher auch immer automatisch über Klimagerechtigkeit reden, wenn wir verhindern wollen, dass die Kluft zwischen globalisierten Norden und globalisierten Süden immer größer wird. Europa sowie andere Industriestaaten kommt mehr Verantwortung zu. Und das nicht nur, weil sie zu den Hauptverursachern der Klimakrise gehören, sondern weil sie über nötigen Wohlstand verfügen, um der Krise effektiv entgegenzuwirken.

     

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