Schlagwort: Arbeit

  • „Ganz unten im System“: Sichern Arbeitsmigrant*innen „uns“ den Wohlstand?

    Fabiu und Adrian, Eugen und Petre, Samim und Imud – sie sind Bauarbeiter, Arbeiter in Schlachthöfen und LKW-Fahrer. In „Ganz unten im System. Wie uns Arbeitsmigrant*innen den Wohlstand sichern“ (Hirzel Verlag, 2024) erzählt Sascha Lübbe ihre Geschichten. Er versteht das Buch als eine „Reise zu ihnen, zu den Menschen in Deutschland, die auf der untersten Stufe der Pyramide und sonst nicht im Fokus stehen“. 

    Statt von außen auf ein verstricktes und unübersichtliches System zu blicken, kommt Sascha Lübbe mit den Menschen ins Gespräch, die täglich unter prekären Bedingungen in diesem arbeiten. Er spricht sie vor den Fabriken an, besucht sie in ihren Unterkünften, spricht mit denen, die sich gegen ihre Chef*innen zur Wehr gesetzt haben oder sich aus Angst vor einer Kündigung dagegen entschieden. Nur weibliche Perspektiven fehlen dem Buch, die vielfältigere Einblicke gegeben hätten.  

    Die Geschichte von Fabiu

    Da ist zum Beispiel Fabiu, den er in einer Unterkunft trifft, in der mehrere Bauarbeitende zusammenleben. Fabiu ist aus Rumänien nach Deutschland gekommen, um für seine Familie zuhause Geld zu verdienen. Er arbeitet seit neuen Jahren als Maurer auf Baustellen, musste immer wieder das Unternehmen wechseln. Er arbeitet sechs Tage die Woche, ungefähr zehn Stunden am Tag, seinen Lohn bekommt er nur zum Teil offiziell ausgezahlt, den Rest schwarz. Dadurch wird ihm weniger für die Rente angerechnet, bei Krankenversicherungen wird er auch nicht von allen Chefs angemeldet. Urlaub hatte Fabiu noch nie. 

    Um all diese Erfahrungen auch einzuordnen, zieht Sascha Lübbe in journalistischer Manier Wissenschaftler*innen, Berater*innen von NGOs und Unternehmer*innen für die Recherche heran. Er erklärt, wie das System Arbeitsmarkt kontrolliert wird (ausbaufähig), welche Rolle Politik, Lobbyismus und Gesellschaft spielen (egoistisch und ignorant), warum Geld wichtiger ist als die Arbeiter*innen (Kapitalismus) und wer die Menschen sind, die unterstützen und Widerstand leisten (wichtig, aber wenige). 

    Es sind keine Einzelfälle, die das Buch erzählt

    Dabei wird deutlich: Ob Bau, Fleischproduktion, Transport – diese Industrien basieren auf einem Netz von Illegalität, Ausbeutung von Arbeitnehmer*innen und mangelnder Kontrollen. Und das Buch lässt erahnen, dass viele Branchen so funktionieren. Spätestens im Kapitel „Die Gesellschaft, die Politik“ wird man dann ertappt, hat man sich bis dato auf der Frage „Was sollen wir dagegen tun?“ ausgeruht. Das Buch benennt all jene Akteur*innen, die Antworten auf diese Frage finden sollten und spart auch unsere Gesellschaft dabei nicht aus. 

    Nur angedeutet wird aber, was mit den Menschen passiert, würde das System abgeschafft. Nicht zu arbeiten, ist für viele Migrant*innen in ihren Lebensrealitäten fataler, als unter schlechten Bedingungen zu arbeiten. Sascha Lübbe begleitet den Zoll bei einem Einsatz zur Überprüfung einer Baustelle, auf der sie illegal angestellte Arbeiter*innen vermuten. Auffällig ist in diesem Kapitel, dass die Menschen nicht mehr beim Namen genannt werden, es geht etwa um „den Mazedonier“, der keinen gültigen Aufenthaltstitel und dadurch keine Arbeitserlaubnis hatte. Für den Zoll zählen keine Einzelschicksale, sondern die Gesetzgebung. Was mit dem Mann aus Mazedonien passiert, nachdem er auf diesem Weg kein Geld mehr bekommen kann, bleibt offen. 

    Was nun?

    Das Buch schafft durch das Personifizieren der Probleme im Niedriglohnsektor einen einfachen Zugang in die komplexen Zusammenhänge der Industrien. Auch einige Wochen nach dem Lesen des Buches sind es insbesondere sie persönlichen Geschichten einzelner Menschen in dem Buch, die im Kopf bleiben. Man wird jedoch nicht mit einem bedrückenden Gefühl von Hoffnungslosigkeit aus dem Buch entlassen. „Was nun?“, fragt Sascha Lübbe am Ende des Buches und zeigt Fälle auf, die zu positiven Veränderungen führen können. Beim Erzählen bleibt er konstruktiv, zeichnet keine falschen Bilder von Happy Ends und einem grundsätzlichen Systemwandel, der sich anbahnt.

    Die Leser*innen bekommen das Gefühl, dabei zu sein, während Sascha Lübbe das kapitalistische Konstrukt aufdeckt. Arbeitnehmer*innen sprechen über ihre Existenzängste und Schicksale, dazwischen weist Sascha Lübbe geschickt auf Zusammenhänge hin, wo sie zum Verständnis notwendig sind und geht mit Expert*innen in die Tiefe, wenn das Ausmaß der Problematiken erkennbar werden soll. „Ganz unten im System. Wie uns Arbeitsmigrant*innen den Wohlstand sichern“ richtet sich dabei an die Menschen, die sich als Teil des „uns“ verstehen und mehr über jene erfahren wollen, die im System Arbeitsmarkt bisher unsichtbar geblieben sind. 

     

    Auch in der kohero-Redaktion haben wir uns für unsere 7. Printausgabe mit den Erfahrungen von Menschen mit Flucht- und Migrationsgeschichte im deutschen Arbeitsmarkt auseinandergesetzt. Hier kannst du die Ausgabe bestellen.

  • Zwischen Jurastudium und Küche: Orwas Erfahrung auf dem Arbeitsmarkt

    Im Klassenzimmer, mit einer Gruppe von jungen Männern und Frauen aus verschiedenen Ländern, saß Orwa und lernte Deutsch. Es brachte Erinnerungen von vor zwanzig Jahren zurück. In einer Klasse wie dieser lernte er in der weiterführenden Schule in seiner Heimat Syrien. Nach der weiterführenden Schule träumte er davon, in den Anwaltsberuf einzusteigen und tatsächlich studierte er Rechtswissenschaften an der Universität Aleppo, schloss sein Studium an der Universität mit hervorragenden Noten ab.

    Orwa Al Sousis Werdegang

    2017 kam Orwa Al Sousi aus Syrien nach Deutschland, nach 20 Jahren Studium und Arbeit in Syrien. Als 2011 die syrische Revolution ausbrach, beteiligte er sich an Demonstrationen gegen das Regime und wurde in einem Staatssicherheitsgefängnis festgenommen. Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis reiste Orwa nach Ägypten und arbeitete drei Jahre lang in einem Restaurant als Hilfskoch.

    Er gelangte über ein Programm der Vereinten Nationen nach Deutschland. Nach seiner Ankunft erhielt er eine Aufenthaltserlaubnis; er konnte ein B2-Zertifikat erlangen. Nach dem Ende des Sprachkurses begann der Kampf um die Arbeit.

    Zunächst hatte Orwa sich um eine Anstellung als Verkäufer beworben, und als Zugfahrer, bekam aber keine der Stellen. Danach arbeitete er eine Probezeit bei der Deutschen Post, doch die Arbeit war schwierig und er konnte sie nicht weiterführen. Dies zwang ihn, sich schnell einen Job zu suchen, der weder eine Ausbildung noch gute Sprachkenntnisse erforderte. Er entschied sich für die Arbeit als Reinigungskraft in einem Hotel und arbeitete dort zweieinhalb Jahre lang, konnte aber nicht weitermachen und gab den Job danach auf.

    Danach konnte Orwa sein Jurastudium in Bonn ergänzen: Er erlangte ein Zertifikat, das einem Bachelor-Abschluss entspricht. Er versuchte zunächst, als Anwaltsgehilfe bei einem deutschen Anwalt in den Anwaltsberuf einzusteigen, was ihm jedoch nicht gelang, da die Arbeit im als Anwaltsgehilfe eine lange Ausbildung erforderte. Sprach- und Kommunikationsschwierigkeiten waren zusätzliche Erschwerungen.

    Er war mit seiner Arbeit nicht zufrieden und arbeitete nur um der Arbeit willen, um nicht arbeitslos zu bleiben.

    Derzeit arbeitet er Vollzeit in einem Restaurant und versucht, sich weiterzuentwickeln und neue Dinge in der deutschen Küche zu lernen. Gleichzeitig versucht er immer noch, einen Job zu finden, der mit seinem Jura- oder Journalismusstudium vereinbar ist.

    Vor welchen Herausforderungen stehen Migrant*innen?

    Orwa ist einer von zehntausenden Migrant*innen, die über Universitätsabschlüsse in ihren Herkunftsländern aus verschiedenen Fachrichtungen, in Medizin, Pharmazie, Ingenieurwesen, Lehramt und vielen mehr verfügen. Sie haben viele Jahre Berufserfahrungen in ihren Ländern, stehen aber vor Hindernissen. Sie stoßen auf Hürden und finden auf dem deutschen Arbeitsmarkt keinen geeigneten Platz für sich.

    Einige der am häufigsten ausgewählten Berufe für Migrant*innen in Deutschland sind die Altenpflege und die Arbeit im Reinigungsbereich, ebenso Arbeit in Restaurants, im Sicherheitsdienst und Paketvertrieb. Ein Führerschein ermöglicht die Arbeit im Transportwesen: in der Lebensmittellieferung, als Fahrer*innen bei Unternehmen und in Unternehmen des öffentlichen Verkehrs.

    Viele Herausforderungen im deutschen System und auf dem Arbeitsmarkt halten Migrant*innen davon ab, in ihrem angestammten Beruf zu arbeiten. Ein großer Teil von ihnen ist gezwungen, einen neuen Beruf zu erlernen, verbringt mehrere Jahre damit und kann darin keinen Erfolg haben. Im Vordergrund dieser Herausforderungen steht die Vermittlung der deutschen Sprache, gleichzeitig ist das Erlernen der Sprache ist die größte Schwierigkeit. Migrant*innen erlernen viele Jahre lang die deutsche Sprache, doch vor allem für Ältere gestaltet sich dies schwierig. Mit der Zeit vergessen Migrant*innen aufgrund mangelnder Übung die gelernte deutsche Sprache, da meiner Erfahrung nach viele keine sozialen Beziehungen zu deutschen Muttersprachler*innen haben.

    Auch gibt es meiner Einschätzung nach Schwierigkeiten bei der Integration zwischen Migrant*innen und der einheimischen Bevölkerung, die Schwierigkeit, ihre Anwesenheit in einigen Berufen zu akzeptieren, die die Landsleute als ihre eigenen betrachten. Wenn sich ein*e Migrant*in und ein*e Einheimische*r um dieselbe Stelle Ort bewerben, werden oft die ursprünglichen Einwohner des Landes vor der migrantischen Person akzeptiert. Vor allem migrantische Frauen werden eher abgelehnt. Auch haben muslimische Frauen aufgrund des Tragens des Hijab mit Schwierigkeiten bei der Beschäftigung zu kämpfen.

    Für weitere Schwierigkeiten sorgen komplexe bürokratische Voraussetzungen. Darüber hinaus werden einige Zertifikate und Universitätsabschlüsse in Deutschland nicht anerkannt.

    Die meisten Berufe in Deutschland erfordern eine Ausbildung, die Dauer und erstreckt sich über drei Jahre, hinzu kommt ein Zeitraum von etwa zwei Jahren Deutschunterricht. Diese Jahre kommen im Leben von Migrant*innen zusätzlich zu den Jahren der Bildung und Ausbildung im Herkunftsland, und viele von ihnen wechseln deshalb in Berufe, für die keine Ausbildung erforderlich ist.

    Dann ist da noch die Schwierigkeit, eine Wohnung in der Nähe des Arbeitsplatzes zu finden, insbesondere in Großstädten, in denen sich Unternehmen und Fabriken befinden. Migrant*innen sehen sich gezwungen, Arbeitsangebote abzulehnen, da sie keine Unterkunft in der Nähe finden können. Auch bei der Bewerbungen an sich berichten Migrant*innen über Schwierigkeiten. Bewerbungsschreiben über elektronische Portale einzureichen, sowie die große Anzahl von Fragen in Formularen, das Anfordern von PDF-Dateien und Bildern in verschiedenen Größen und Formaten, die der Antragsteller möglicherweise nicht bereitstellen kann, kann sich problematisch gestalten.

    In einer Zeit, in der Fachkräfte gebraucht werden, und versucht wird, diese für hohe Kosten aus dem Ausland anzuwerben, gibt es gleichzeitig Hunderttausende Migrant*innen mit Erfahrungen in diesem Land, die die Gesetze verstehen und Arbeit brauchen.

    Und Orwa? Er steht immer an der Seite der Mitarbeiter*innen in der Küche, wenn es Probleme am Arbeitsplatz gibt; er erinnert den Chef daran, Gerechtigkeit zu üben und die Bedingungen des Vertrags umzusetzen, den die Arbeiter*innen vor der Arbeit unterzeichnet haben.

     

     

     

  • Fatima Nasser-Dine: Über Transnationalität

    „Ich liebe Sprachen und das Entdecken neuer Kulturen. Je mehr wir über andere lernen, desto mehr lernen wir über uns selbst“, betont Fatima. Sie hat eine Leidenschaft für transnationale Dialoge und Geschichten und ist von der Wichtigkeit des interkulturellen Austauschs überzeugt. Diese Neugierde und Offenheit für die Welt um sie herum treibt sie nicht nur in ihrer akademischen Laufbahn an, sondern prägt auch ihre persönlichen Werte und Überzeugungen.

    Ihr Streben nach Wissen und Verständnis hat sie zu dem Beruf des International Business und Intercultural Management geführt, denn sie träumt davon, eines Tages ihr eigenes Unternehmen zu gründen und dabei ihre betriebswirtschaftlichen Kenntnisse mit ihrem Verständnis für verschiedene Kulturen zu verbinden. „Ich glaube fest daran, dass jeder Mensch einzigartig ist und dass wir durch den Austausch von Ideen und Perspektiven viel voneinander lernen können“, erklärt Fatima, was sie antreibt.

    Fatimas eigener kultureller Hintergrund ist von großer Bedeutung für ihr Verständnis der Herausforderungen, denen Geflüchtete und Migrant*innen gegenüberstehen. Durch ihre eigenen Erfahrungen mit Migration und kultureller Anpassung kann sie besser nachvollziehen, wie es ist, in einer neuen Umgebung anzukommen und sich in einer fremden Kultur zurechtzufinden. Diese persönlichen Erfahrungen ermöglichen es ihr, Empathie für die Herausforderungen und Hürden zu entwickeln, denen Geflüchtete und Migrant*innen gegenüberstehen.

    Fatima hat während ihrer Reise als Migrantin und Studentin eine Vielzahl von Herausforderungen gemeistert, mit denen sie aufgrund ihres Kopftuchs und ihrer Identität konfrontiert wurde. „In Italien fühlte ich mich sehr wohl und integriert, und ich habe dort keine Diskriminierung oder rassistischen Äußerungen erlebt“, erklärt Fatima, “aber als ich nach Frankreich gezogen bin, um zu arbeiten, habe ich das Gefühl gehabt, dass mein Hintergrund und meine Identität Probleme waren.”

    Sie erzählt von ihrer schwierigen Erfahrung, einen Job in Frankreich zu finden. „Ich wurde von Unternehmen abgelehnt, weil ich ein Kopftuch trug, und einige Unternehmen sagten mir, dass sie mich wegen des Images der Firma nicht einstellen würden“, sagt Fatima bedauernd. Während dieser Zeit war sie unsicher über ihre Zukunft und musste mit vielen Hindernissen und Enttäuschungen kämpfen. „Das war eine sehr schwierige Phase für mich, aber ich habe mein Kopftuch nicht abgenommen, um einen Job zu bekommen, denn mein Kopftuch ist meine Identität und hat für mich eine große Bedeutung.“

    Schließlich fand sie eine Möglichkeit, ihr Potenzial zu entfalten, obwohl es nicht ihr Traumjob war. „Eines Tages wurde ich von einem Unternehmen kontaktiert, das mich mit meinem Kopftuch akzeptierte, aber es war im Bereich der IT und nicht im International Business, wie ich es wollte. Ich habe das Angebot angenommen, weil ich keine andere Wahl hatte“, sagt sie resigniert. „Bevor ich diesen Job bekam, entschied ich mich, ins Ausland zu gehen, weil ich wusste, dass das hoffentlich die einzige Lösung sein würde, um meine Karriereziele zu erreichen.“

    Die Entscheidung, ins Ausland zu gehen, war sicherlich keine leichte, aber Fatima sieht heute die positiven Auswirkungen dieser Entscheidung als eine wichtige Chance, um aus ihrer Komfortzone herauszutreten und bessere Chancen zu suchen. „Heute bin ich jedoch dankbar, dass diese Unternehmen mir keine Türen geöffnet haben, denn das hat mich dazu gedrängt, nach besseren Möglichkeiten zu suchen und aus meiner Komfortzone herauszugehen. Nach Deutschland zu kommen, war nicht einfach für mich, da ich eine neue Sprache lernen und mich an eine neue Kultur anpassen sollte“, sagt Fatima. „Aber es hat sich definitiv gelohnt. Ich habe in Deutschland viele großartige Möglichkeiten gefunden und genieße es, durch die Freundschaften und Begegnungen, die ich hier gemacht habe, zu wachsen und zu lernen.“

    Auf die Frage nach ihren persönlichen Werten und Überzeugungen, die sie in ihrer Arbeit antreiben, betont sie Offenheit, Respekt, Neugier und den Glauben an die Vielfalt als Quelle der Stärke. Sie glaubt, dass der Austausch von Ideen und Perspektiven der Schlüssel zu einer toleranten, verständnisvollen und kooperativen Gesellschaft ist.

    Trotz vieler Herausforderungen auf ihrem Weg, wie Diskriminierung aufgrund ihres Kopftuchs bei der Arbeitssuche, hat Fatima nie den Glauben an sich selbst und ihre Identität aufgegeben. Sie ist dankbar für ihre Erfahrungen und sieht sie als Inspiration, um aus ihrer Komfortzone herauszutreten und bessere Möglichkeiten zu suchen und zu schaffen.

    Was Fatima weiterhin motiviert, Herausforderungen anzugehen, ist die Chance, die sie in der Möglichkeit positiver Veränderungen und dem Wunsch, eine bessere Zukunft für sich selbst und andere zu schaffen, sieht. Sie möchte beweisen, dass wir unabhängig von unserer Herkunft, unserer Kleidung und unseren Überzeugungen erfolgreich sein können.

     

  • „Ich soll mich nicht entwickeln, nichts beisteuern und einfach nur die Arbeit ausführen“

    Doch es gibt es einen Wandel in der Arbeitskultur. Die jungen Generationen Y und Z wollen Flexibilität statt Sicherheit, Freiheit statt Wohlstand. Zu ihren Prioritäten gehören Freund*innen, Familie, soziale Gerechtigkeit, Toleranz, Diversität und Umweltbewusstsein. Junge Leute wollen sich nicht in kapitalistische Hierarchien zwängen lassen.
    Unsere Arbeitskultur muss sich anpassen an die Wünsche und Forderungen der Arbeitnehmenden, Diversität mit Offenheit begegnen und Kreativität einladen.

    Ich frage mich: Welche Erfahrungen sammeln Menschen mit Flucht- und Migrationserfahrungen auf dem deutschen Arbeitsmarkt? Unterscheiden sich diese Erfahrungen von den Erfahrungen aus ihrer Heimat/ anderen Ländern? Und welche Wünsche und Anregungen haben sie für eine moderne, vielfältige (oder offene?) Arbeitskultur?

    Im ersten Artikel zu der neuen Kolumne „Kultur der Arbeit“ erzähle ich über meine Arbeitserfahrungen und Beobachtungen in einem deutschen Staatsbetrieb und den Kontrast zu meinen Erfahrungen in Dänemark und Schweden. Besondere Probleme bereiten mir intransparente und irreführende Kommunikation, vertikale Hierarchien mit gläsernen Decken und mangelnde Solidarität.

    Persönlicher Hintergrund

    Vor 35 Jahren bin ich in Dänemark geboren, nah der Grenze zu Deutschland. Viele sind zweisprachig und pendeln oft von einem Land zum anderen, um die Vorzüge und Möglichkeiten des Nachbarlandes zu nutzen.

    In Malmö an der schwedischen Grenze zu Dänemark war es nicht anders. Das sehr urbane Grenzgebiet ist ein Ort der internationalen Migration, der Sprachen, der Mobilität und des Austauschs.
    Als demografisch junge Stadt hat sich Malmö in ihre neue Rolle eingefügt: von der verlassenen Industriestadt zu einer lebendigen, wirtschaftlich und kulturell starken und vielfältigen Metropole. Jede*r dritte Bewohner*in ist im Ausland geboren. Gleichberechtigung, Antidiskriminierung, Minderheitenrechte und öffentliche Teilhabe für alle sind Grundwerte der Stadtgemeinschaft.

    Vor knapp drei Jahren bin ich aus Malmö nach Hamburg gekommen. Erst durch meine Arbeit hier, in einem staatlichen Betrieb in mit ca. 600 Mitarbeiter*innen, habe ich erlebt, wie schwierig und zermürbend es sich anfühlt, wenn wohlwollende Offenheit als Voraussetzung keine Gegebenheit mehr ist. Wenn Kolleg*innen und Leitung Kompetenzen mit Misstrauen begegnen und Menschen für ihre Andersheit ausgrenzen, einfach weil sie es nicht beachten.

    Die Hierarchie

    Der erste Schock war der Ton unter den Kolleg*innen. Sogar in den Abteilungen gibt es strenge Hierarchien und ich merkte, dass mein Platz ganz unten ist. Wir Assistent*innen wurden für das Mitdenken gerügt. Uns wurden Informationen vorenthalten, um uns unwissend und abhängig dastehen zu lassen, wir mussten jeden Handgriff der Gesell*innen genau kopieren, um es richtigzumachen und sollten keinen Raum einnehmen. Wir sollten schweigen, wenn sie sprachen, sitzen, wenn sie es uns erlaubten. Nur wenn man ihnen Fragen zu sich selbst und ihrer Arbeit stellte, erzählten sie gerne von ihrer Erfahrung. Es wurden aber keine Gegenfragen gestellt.

    Es kommt vor, dass man zum Arbeiten geschickt wird, während die Kolleg*innen Sekt trinken. Auf die Bitte, von einer Abteilung befreit zu werden, sagte man mir, dass ich keinen Einfluss hätte, das stünde so in meinem Vertrag. Seither sind jedoch Kolleg*innen mit deutschem Gesellenbrief sehr wohl auf ihr Begehren von der Arbeit in der Abteilung befreit worden.

    Der Gesellenbrief

    Die zweite Enttäuschung war wohl, dass mein Gesellenbrief aus Dänemark vom Staatsbetrieb nicht anerkannt wurde. Ich hatte mit einer Stelle als Aushilfe angefangen und man hatte mich bei der Anstellung gefragt, ob ich denn auch als Fachkraft arbeiten wollen würde, wenn eine Stelle frei würde. Ich ging also nicht davon aus, dass es hier ein Problem geben würde. Als dann mein Vertrag auslief und ich mich für die freie Stelle als Facharbeiterin beworben habe, wurde mir gesagt, ich hätte ja leider keinen Gesellenbrief. Damals war es eine ziemliche Enttäuschung und Ungerechtigkeit. Ich empfand es, als würden sie mir meine Kompetenzen abschreiben.

    Um mich wieder bewerben zu können, habe ich also die Anerkennung von der Handwerkskammer beantragt und nach 6 Monaten auch bekommen. Heute weiß ich, dass man in Deutschland einen bestimmten Werdegang sehen möchte: Ausbildung, Gesellenjahre, Meister. Mein eher bunter Werdegang würde in einem Staatsbetrieb nicht ernst genommen werden.

    Transparenz

    In meiner Zeit in jenem Betrieb habe ich es immer wieder erlebt, dass ich und andere migrantische Kolleg*innen nicht ordentlich informiert wurden, z. B. dass bestimmte Tätigkeiten über einen längeren Zeitraum zusätzlich vergütet werden, dass man sich immer wieder auf freie Stellen neu bewerben muss. Aber diese Regeln sind nicht gleich für alle. Um mich herum werden Kolleg*innen mit weniger Berufserfahrung, ohne Gesellenjahre, mit deutschem Gesellenbrief der Reihe nach angestellt. Männliche Kollegen werden bevorzugt. Als ich meiner Enttäuschung bei der Teamleiterin Luft mache, rutscht ihr heraus: Du hast halt keinen deutschen Gesellenbrief.

    Die Sprache

    Ich erlebe, dass die deutschen Kolleg*innen sich leichter in diesem Konstrukt bewegen. Sie wissen, wie man sich im richtigen Maß durchsetzt, sie beherrschen die formale Schriftsprache und müssen ihre Kompetenzen nicht extra beweisen. Eine Vorgesetzte sagte mir, der Grund für meine ‘Missverständnisse’ mit der Chefin sei die „Sprachbarriere“.

    „Sprachen und Sprachakzente [können] als Symbole von Zusammengehörigkeit oder auch Fremdheit wirken und zu Abgrenzungen oder Diskriminierungen führen“, schreibt die Arbeitsstelle interkulturelle Konflikte und gesellschaftliche Integration (AKI) in ihrer Forschungsbilanz. Ich denke, es sind diese Sprachakzente, die in dieser sehr geschlossenen, homogenen Gruppe zu Irritationen führen.

    In einem anderen Kontext sagte eine Kollegin zu mir, es sei meine freundliche, dänische Art, weswegen man mich nicht ernst nimmt. Ich solle bestimmter auftreten. Leider gelingt es mir nicht, den richtigen Ton zu finden. Bitte ich um ein Mitarbeitergespräch, lässt man mich Monate warten, um mich dann einen Kopf kleiner zu sägen. Setze ich einmal meine Grenzen, heißt es, ich hätte mich im Ton vergriffen. Übersehe ich eine wichtige, bürokratische Deadline, sagen sie, dass man ‘davon ausgeht, dass man das halt weiß’.

    Ich bin verwirrt: Zum einen bin ich so fremd, dass ich aufgrund sprachlicher Akzente Missverständnisse mit der Chefin habe. Zum anderen sollte ich eigentlich alles wissen.

    Generell kann man sagen, dass es in diesem Betrieb keine gute Feedbackkultur gibt, keine Fehlerkultur, keine transparente und klare Kommunikation. Die Mitarbeiter*innen werden einer undankbaren Arbeitskultur ausgeliefert. Der Druck wird von oben nach unten getreten. Am Umgangston und Krankenstand unter den Kolleg*innen sehe ich, wie toxisch dies für viele ist. Jede*r kämpft nur noch für sich selbst.

    Erst nach vielen Monaten wird mir klar, dass ich mich nicht einbringen soll. Ich soll meinen Platz kennen und dort bleiben. Ich soll mich nicht entwickeln, nichts beisteuern und einfach nur die Arbeit ausführen, so wie Kolleg*innen es seit Jahrzehnten schon getan haben. Dies unterscheidet sich sehr von meiner Ausbildung in Dänemark und Schweden.

    Dort lernen wir, wie man lernt. Wir lernen, selber zu denken und zu gestalten. Es gibt eine ausgeprägte Feedbackkultur und auch Chef*innen können durchaus meine Kritik anhören, ohne sich zu rechtfertigen oder alles als meinen Fehler oder mangelnde Kompetenz darzustellen. Der Staatsbetrieb hat mit seinen guten Verträgen sehr viel Potenzial für Arbeitnehmende. Ich hoffe, dass das Arbeitsumfeld mit einem kommenden Generationswechsel für die Kolleg*innen bald besser wird.

  • Ana Álvarez Monge: Die Zukunft Deutschlands sind Migrant*innen

    Ana Álvarez Monge ist aus Costa Rica nach Deutschland migriert und lebt seit 2015 in Berlin. Schnell geht sie auf Jobsuche, doch bleibt trotz guter Karriere in ihrem Heimatland zunächst erfolglos. Potenzielle Arbeitgebenden begegnen ihr mit Misstrauen. Als sie sich mit anderen Migrant*innen austauscht, in einer gemeinnützigen Organisation arbeitet und stärker mit Inklusion auseinandersetzt, entsteht die Idee eines Netzwerkes für Menschen mit und ohne Migrations- und Fluchterfahrung, die sich unterstützen.

    Heute werde sie häufig gefragt, warum sie einen Unterschied bei lokalen und migrantischen Gründer*innen mache. Darauf hat Ana eine klare Antwort: „Der Unterschied besteht darin, dass man, wenn man neu in einem Land ankommt, nicht weiß, welche Regeln es gibt. Wenn man allerdings schon seit vielen Jahren hier arbeitet, dann weiß man, wo man nach Finanzierungsmöglichkeiten oder anderen Dingen suchen muss. Die Tatsache, dass man schon so viele Jahre in einem Land lebt, die Tatsache, dass man das Ökosystem und seine Umgebung bereits kennt, verschafft einem einen Vorteil im Vergleich zu denjenigen, die erst in den letzten fünf bis zehn Jahren angekommen sind. Das war mein Grundgedanke, als ich Migrapreneur gegründet habe: Wie oft haben Menschen wie ich, als wir unser erstes Unternehmen gründeten, Dinge nicht erreicht, weil sie manches schlichtweg nicht wussten.“ Sie sagt, genau das sei die Kluft, sie sie für migrantische Entrepreneur*innen schließen wolle.

    „Ich habe nicht verstanden, wie die Bürokratie funktioniert“

    Wenn Ana von der Community und anderen migrantischen Gründer*innen spricht, tut sie das in der „Wir“-Form. Mit all diesen Herausforderungen hatte Ana anfangs in Deutschland selbst zu kämpfen: „Als ich im September 2015 in Deutschland ankam, begann ich mit einem Projekt namens Migration Hub, das ich schließlich als meine erste gemeinnützige Organisation gründete.“ Sie sagt, dass das eigentlich erstaunlich sein müsse, doch so fühlte es sich nicht an. „Ich habe nicht verstanden, wie die Bürokratie funktioniert. Aber trotzdem wuchs Migration Hub sehr schnell. Alles, was ich danach tat, baute ich auf den Erfahrungen auf, die ich als Migrantin in Deutschland gemacht hatte“, erzählt sie.

    Mit der Zeit hat sie verstanden, dass sie mit diesen Erfahrungen nicht allein ist. „Eine lange Zeit habe ich nicht darüber gesprochen, wie schwer es ist, Unternehmerin zu sein. Denn jedes Mal, wenn ich mit Leuten sprach, sagten alle: Ana, herzlichen Glückwunsch, du bist in die deutsche Gesellschaft integriert. Das ist es, was jeder durchmacht. Und dann dachte ich immer, dass das nicht normal sein kann. Es gibt eine Menge Diskriminierung in diesem Prozess.“ Ein eigenes Unternehmen führen, Menschen einstellen, Papierkram, zu teure Rechtsberatung, Finanzierung – es folgte ein Burnout. Sie wollte alles aufgeben. Es waren ihre habibis und ihr soziales Umfeld, dass sie an ihre Vision erinnerte, erzählt Ana.

    Heute muss sie sich nicht mehr allein durchkämpfen. In Munzer Khatab, ihrem späteren Mitgründer von Migrapreneur, findet sie damals wahrhaften support: „Er ist zufällig auch mein Nachbar und das ist meine Familie, weißt du, das sind meine Leute.“ Sie gab Migration Hub auf und fokussierte sich mit ihm auf die Gründung von Migrapreneur. Dabei treibt Ana die Ungerechtigkeit an, die Migrant*innen auf dem deutschen Markt erfahren: „Ich gebe mich nicht mit dem Status Quo ab, der den Zustand einfach akzeptiert. Wir müssen etwas verändern. Um das Problem an der Wurzel zu packen, müssen wir die Arbeitsweise der Bürokratie ändern und sie inklusiver gestalten“, sagt sie nachdrücklich.

    Migrapreneur startete im Dezember 2020 mit der Kampagne „Call 911. You were crazy.“ Damit erreichte das Team Menschen, die bereits ein Unternehmen gegründet, aber Probleme hatten. Anas Idee zu Migrapreneur war dabei von vielen Anrufen und Kontakten inspiriert, die sie in diesem Jahr von migrantischen Menschen erhielt: „Angefangen hat das Ganze damit, dass sich die Menschen in der deutschen Bürokratie verloren fühlten, wenn es um Unternehmensgründungen und auch freie Arbeit ging“, erklärt sie.

    „I know my habibis“

    Im Jahr 2021 begannen Ana mit ihrem Team, die Entrepreneur*innen zu unterstützen, sie durch die Bürokratie zu navigieren und ihnen zu zeigen, wie sie einen möglichen Bankrott überstehen können, da durch die Coronapandemie viele Geschäfte geschlossen wurden. „Die ursprüngliche Absicht war, den Migrant*innen zu helfen, die Schließung ihrer Unternehmen zu verhindern“, sagt Ana. Aber tatsächlich wurde eine neue Gemeinschaft geboren, denn jede*r hatte zu dieser Zeit Probleme: von Unternehmensgründer*innen bis zur Freiberuflichkeit. Diese aufstrebenden Entrepreneur*innen hätten nun die Möglichkeit, Teil der pro-Bono-Community von Migrapreneur zu werden und Peer-to-Peer-Unterstützung zu bekommen, führt sie weiter aus.

    Immer wieder betont sie die Relevanz von Netzwerken, glaubt an den festen Zusammenhalt und gegenseitige Unterstützung in Communities. „In Costa Rica habe ich bereits mit Menschen aus der ganzen Welt zusammengearbeitet und kannte Menschen aus Syrien, Palästina, Irak und noch 130 Ländern mehr. Als ich also sah, dass Deutschland z.B. Syrer*innen aufnimmt, wollte ich sie hier in die Community. I know my habibis. Als Migrantin bin ich bereits auf viele Probleme gestoßen, die sie noch bekommen könnten“, sagt Ana.

    Dabei braucht Deutschland Migrant*innen, betont sie. Ihre Forderung an die Politik: „Arbeitet mit uns zusammen, denn die Zukunft Deutschlands, ob es euch gefällt oder nicht, sind Migrant*innen. Schon seit vielen Jahren verdienen Migrant*innen in Deutschland Anerkennung für das, was wir für Deutschland leisten. Wir sorgen für Arbeit, wir sorgen für Wohlstand, wir sorgen für Arbeitsplätze.“ Sie ergänzt zum Schluss: „Wir sind nach Deutschland gekommen, um zu arbeiten, weil wir Geld nach Hause schicken wollen, weil wir unsere Familien unterstützen und ein Leben gestalten wollen. Wir wollen arbeiten. Also lasst uns arbeiten und lasst uns zusammenarbeiten.“

  • Omar Halabi: Gründung mit Migrationsgeschichte

    Omar wurde in Dürren, einer Stadt in NRW geboren, doch aufgewachsen ist er in Oldenburg. Beide seiner Eltern stammen aus Syrien und kamen in den 80er-Jahren nach Deutschland. Der Sohn eines migrantischen Arztes entschied sich später, Wirtschaftswissenschaften in Maastricht zu studieren. Später studierte er im Master Betriebswirtschaft und Volkswirtschaft in den Niederlanden. Diese Entscheidung traf er, weil das Studium dort praktisch orientiert war und er den Stoff mit einer kleinen Gruppe von 15 Leuten besser konzipieren konnte. Während seines Masters gründete er gemeinsam mit seinem Bruder ein kleines Café. Das Konzept des Cafés war dort völlig neu und so konnte er seinen ersten Erfolg verzeichnen. Doch dann ereignete sich das Attentat in Hanau und Omar wusste, dass sich etwas ändern musste. Nur wie? 

    Das Streben nach Veränderung  

    Omar beobachtete in den Nachrichten, wie Menschen mit Migrationsgeschichte dauernd in eine Ecke gedrängt wurden. Schon in seiner Jugend sah er dieses Bild von Migrant*innen im Fernsehen, die als gewaltvoll, barbarisch und als Problem dargestellt wurden. Im Jahr 2015 erlebte er die Flüchtlingskrise hautnah mit, als Verwandte nach Deutschland flohen. Dann kam der Wendepunkt – Hanau. Er wollte etwas gegen den Hass unternehmen. „Da dachte ich: Okay, wenn ich mich dagegen irgendwie einsetzen möchte, dann muss das mit dem verbunden sein, was ich gelernt habe. Ich bin weder Journalist noch Aktivist, aber ich habe Wissen erworben, und damit möchte ich eine Veränderung bewirken“, sagt er. Aus dieser Motivation heraus zog Omar nach Berlin und gründete mit seinem Freund Mo yolla!.  

    yolla (= Komm mal her) 

    „Integration funktioniert am besten durch das Essen“, betont Omar. Die Idee war es, die Lieferung ausländischer Lebensmittel zu vereinfachen, sodass sie für alle leicht zugänglich werden. Ursprünglich stammte die Idee von seinem Freund und das Projekt blieb lange ein loser Gedanke für ihn. „Es gab eine Diskussion zwischen uns beiden. Ich dachte mir, wenn Gorillaz funktioniert, dann können wir das ja eigentlich auch für alle Lebensmittel machen. Irgendwann kam der Gedanke: Lass uns das zusammen machen.“ 

    Auf WhatsApp organisierten sie die Bestellungen der Produkte und kommunizierten mit ihren Kunden. Zuerst kaufte ihre Familie bei ihnen ein, dann wuchsen sie langsam. Omar und sein Geschäftspartner entwickelten ein neues Konzept und merkten, dass es keinen Zeitdruck für die Lieferung der Lebensmittel gab. Daher legten sie den Fokus nicht mehr auf die prompte Zustellung, sondern auf die Qualität der Produkte.  

    Wie vielfältig ist Start-Up-Szene? 

    Auf dem Weg zur Gründung eines Start-ups stehen Menschen mit Migrationsgeschichte oft vor einigen Hürden. Oft sind dies fehlende Netzwerke, mangelnde Investitionen und das bekannte deutsche Problem der Bürokratie (Mehr dazu in der kohero Printausgabe „In Arbeit“). Doch sind dies Probleme, die jede*n Einsteiger*in betreffen? 

    Omar ist der Meinung, dass diese Hürden besonders für Migrant*innen noch schwieriger zu überwinden sind, da sie von der Gesellschaft noch nicht die nötige Anerkennung erhalten haben. Migrantische Menschen sind etwa in der Werbung unterrepräsentiert, was es schwierig macht, Investor*innen anzuziehen. „Wenn man sich Deutschland ansieht, sind wir ein Bestandteil der Gesellschaft. Aber wenn man die Geschichte Deutschlands betrachtet, waren wir niemals als Teil anerkannt.“ 

    Blickt man auf die Zahlen, wird deutlich, dass nur 0,7 % des Investitionskapitals in migrantische Start-Ups fließt. Gleichzeitig zeigen Statistiken, dass in Deutschland über 60 % der erfolgreichen Firmen, insbesondere Unternehmen mit einem Wert von über einer Milliarde, von Menschen mit Migrations-  oder Fluchtgeschichte haben. „Das bedeutet, dass die Erfolgsquote überdurchschnittlich hoch ist. Dies hat sowohl soziologische als auch soziale Gründe. Menschen, die zwischen zwei Kulturen aufwachsen, lernen frühzeitig, mit Widerständen umzugehen“, sagt Omar entschlossen.  

    Optimistische Zukunftsaussichten  

    Trotzdem bleibt Omar sehr optimistisch, wenn er über die Zukunft spricht. „Man muss dazu sagen, es tut sich sehr viel in der Start-Up-Szene. Es gibt mittlerweile viele erfolgreiche Beispiele und Initiativen, die darauf abzielen, die Richtung positiv zu beeinflussen.“ 

    Für ihn geht es auch um Solidarität innerhalb der Community und darum, vielen nachfolgenden Generationen von Unternehmern die Türen zu öffnen: „Wenn es uns gelungen ist, uns auf dem Markt zu etablieren, dann können wir auch anderen helfen, in dieser Branche Fuß zu fassen.“ 

    Für die Zukunft von yolla! plant Omar eine Expansion und den Versuch, auch außerhalb Deutschlands Fuß zu fassen. Derzeit wird yolla! in über 50 Städten in Deutschland geliefert. Zudem möchte er die Integration weiter fördern, indem sie Kochrezepte erstellen und die Zutaten als Paket liefern, damit jedes ausländische Rezept einfach nachkochen kann. „Wir wollen, dass unsere Küche in jedes zuhause kommt.“ 

     

  • Geflüchtete Syrerinnen in den Arbeitsmarkt integrieren

    Deutschland wird von vielen Migranten als Land angesehen, das zahlreiche Möglichkeiten für bessere Arbeitsangebote und damit auch eine verbesserte Lebensqualität bietet. Allerdings trifft diese Sichtweise nicht auf alle Migranten zu, insbesondere nicht auf geflüchtete Frauen. Für viele syrische Frauen bedeutet Deutschland leider das Ende ihrer beruflichen Zukunft. Syrische Geflüchtete, besonders diejenigen mit akademischem Hintergrund, haben Schwierigkeiten, Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt zu finden. Viele von ihnen sind gezwungen, ihren bisherigen Beruf aufzugeben oder in einem anderen, meist nicht-akademischen Bereich zu arbeiten.

    Die Hindernisse

    Laut einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) lag die Beschäftigungsquote der geflüchteten Frauen im Jahr 2020 bei lediglich 13 Prozent. Die Studie wies darauf hin, dass Bildungsmangel, Sprachfähigkeiten und traditionelle Rollenmodelle die Integration von geflüchteten Frauen in den Arbeitsmarkt erschweren. Die Studie empfahl die Erweiterung von Sprachförder- und Ausbildungsprogramme für geflüchtete Frauen, um Integration in den Arbeitsmarkt zu erleichtern. Allerdings wurden in der Studie andere Herausforderungen, mit denen bei geflüchteten Frauen der Integration in den Arbeitsmarkt konfrontiert sind, nicht ausreichend beleuchtet.

    Es ist wahr, dass sprachliche Herausforderungen oder familiäre Verpflichtungen, wie die fehlende Kinderbetreuung, Hindernisse für den Eintritt von geflüchteten Frauen in den Arbeitsmarkt darstellen. Jedoch verstärkt die Diskriminierung gegenüber geflüchteten Frauen am Arbeitsplatz diese Herausforderungen noch weiter. Arbeitgeber haben oft stereotypische Vorstellungen von geflüchteten Frauen, was ihre Wahrnehmung und ihre Chancen auf angemessene Arbeitsplätze beeinträchtigt. Darüber hinaus mangelt es auf dem Arbeitsmarkt häufig an effektiven Maßnahmen zur Förderung von Diversität und Geschlechtergleichstellung.

    Die Herausforderungen variieren zudem je nach Berufsfeld, in dem die Frauen arbeiten möchten. Besonders im Bereich Lehramt und Rechtswissenschaften sind die Schwierigkeiten größer. Die Chancen für dieser Frauen, die als Lehrerinnen in ihren Heimatländern tätig waren, in Deutschland eine Anstellung zu finden, sind nahezu ausgeschlossen, da ihre Abschlüsse von den deutschen Lehramtsbehörden nicht anerkannt werden.

    Aber auch die Bürokratie und das Fehlen gezielter Beratung in den Jobcentern können sich negativ auf ihre Chancen auf passende Arbeitsplätze auswirken. Sie könnten Schwierigkeiten haben, die komplizierten bürokratischen Abläufe zu verstehen, und könnten nur unzureichend über geeignete Stellenangebote oder Weiterbildungsprogramme informiert werden, um ihre Fähigkeiten zu verbessern.

    Soziale Netzwerke

    Zusätzlich können auch Kommunikationsschwierigkeiten und das Fehlen sozialer Netzwerke in der deutschen Gesellschaft die beruflichen Erfolgschancen beeinträchtigen. Starke soziale Beziehungen helfen beim Aufbau beruflicher Unterstützungsnetzwerke, erleichtern den Zugang zu Arbeitsmöglichkeiten und fördern das Verständnis des Arbeitsmarktes durch den Austausch mit anderen. Darüber hinaus könnten professionelle Mentoren ein Schlüssel sein, um geflüchteten Frauen zu unterstützen und ihnen berufliche Ratschläge und Unterstützung anzubieten. Diese Mentoren könnten Anleitung geben, wie sie ihre Fähigkeiten verbessern und erfolgreich in Deutschland eine berufliche Karriere aufbauen können.

    Mehrere syrische Frauen berichteten in Interviews über ihre Erfahrungen. Eine dieser Frauen ist Frau Bayat, 42 Jahre alt und aus Damaskus, Syrien. Sie hat Medizintechnik studiert und arbeitete zehn Jahre lang im syrischen Gesundheitsministerium. Trotz der Verantwortung für ihre zwei Kinder gelang es ihr, ihren beruflichen Weg in ihrer Heimat erfolgreich zu verfolgen. Aufgrund des Krieges verließ sie Syrien und kam 2016 nach Deutschland, wo sie derzeit in Bielefeld lebt. Sie erlernte die deutsche Sprache bis zum B2-Niveau und ließ ihre Studienabschlüsse anerkennen.

    Keine Stellen im angestrebten Berufsfeld

    Frau Bayat berichtete von den Schwierigkeiten, in Deutschland eine passende Arbeit zu finden. Über einen Zeitraum von zwei Jahren bewarb sie sich mehrfach für verschiedene Stellenangebote und Praktikumsplätze, erhielt jedoch stets Absagen. Sie betonte, dass sie bisher keine spezialisierte Beratung oder berufliche Weiterbildung erhalten hat.  Seit ein paar Monaten arbeitet sie in Teilzeit als Produktionsmitarbeiterin in einem Unternehmen. Jedoch liegt ihr aktuelles Arbeitsgebiet weit entfernt von ihrer früheren Erfahrung.

    Dennoch ist sie gezwungen zu arbeiten, um gemeinsam mit ihrem Ehemann die steigenden Lebenshaltungskosten bewältigen zu können. Es betrübt sie zutiefst, dass sie bisher keine geeignete Gelegenheit gefunden hat, in ihrem angestrebten Berufsfeld zu arbeiten. Sie fühlt sich verloren und weiß nicht, wie sie vorgehen soll.

    Bei einem weiteren Gespräch mit der 48-jährigen Frau Ali prägten Frustration und Enttäuschung ihre Worte. Ali ist eine kurdische syrische Frau aus Al-Qamishli, einer Stadt im Nordosten Syriens, die bereits in Syrien unter dem Verlust ihrer bürgerlichen Rechte litt. Ihr wurde die syrische Staatsbürgerschaft verweigert, was sich auf alle Aspekte ihres sozialen und beruflichen Lebens auswirkte.

    Obwohl sie in Syrien Jura studierte, konnte sie aufgrund der fehlenden syrischen Identität ihre Anwaltstätigkeit nicht ausüben. Dennoch ließ sie sich nicht von ihrer beruflichen Laufbahn abhalten und arbeitete im Bereich der Kindertagesstätten. Sie gründete sogar ihre eigene private Kindertagesstätte und meisterte dabei bürokratische Herausforderungen. Aufgrund des Krieges in Syrien musste Ali in die Türkei fliehen und kam schließlich 2015 nach Deutschland, wo sie seit etwa acht Jahren in Aachen lebt. Sie erlernte die deutsche Sprache bis zum B2-Niveau.

    Ali äußerte ihre Frustration darüber, dass sie bisher keine spezialisierte berufliche Beratung von Jobcentern oder anderen offiziellen oder inoffiziellen Stellen erhalten hat. Sie fühlt sich verloren und weiß nicht, welcher Beruf oder welche Weiterbildung sie befähigen würde, in den deutschen Arbeitsmarkt einzusteigen.

    Mangelnde Unterstützung

    Nach ihren Aussagen haben die Mitarbeiter des Jobcenters keine Informationen über die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes und setzen sich nicht ausreichend dafür ein, Arbeitssuchende zu unterstützen. Frau Ali wünscht sich eine berufliche Weiterbildung, um im Rechtsbereich tätig zu sein, aber es wurde ihr vorgeschlagen, eine Schulung für die Altenpflege zu absolvieren, was nicht ihren Interessen entspricht. Von anderen syrischen Frauen erfuhr sie, dass es eine berufliche Weiterbildung im Bereich OGS Schultag gibt, und nahm an einer Online-Schulung teil, musste jedoch die Kosten selbst tragen, da die Jobcenter-Mitarbeiter sich weigerten, diese zu übernehmen.

    Seit mehreren Monaten bewirbt sich Ali auf verschiedene Stellenangebote im Bereich der Kinderbetreuung, hat jedoch bisher noch keine Einladungen zu Vorstellungsgesprächen von Arbeitgebern erhalten. Obwohl sie seit etwa acht Jahren in Deutschland lebt, hat sie bisher noch nicht den passenden beruflichen Weg für sich gefunden. Am Ende unseres Gesprächs drückte Frau Ali ihre Gefühle voller Unterdrückung aus: „Ich möchte auch ein erfülltes Leben führen. Ich wünsche mir, wie andere Menschen zu leben und meinen geliebten Beruf ausüben zu können.“

    Diese beiden Frauen stehen stellvertretend für viele Frauen, denen der Einstieg in den Arbeitsmarkt ohne gezielte Unterstützung schwerfällt. Es lässt sich sagen, dass geflüchtete Frauen ein enormes Potenzial besitzen und eine wertvolle Bereicherung für den deutschen Arbeitsmarkt darstellen können.

    Doch um dieses Potenzial voll auszuschöpfen, müssen wir die vielfältigen Herausforderungen bewältigen und gezielte Maßnahmen ergreifen, um eine echte Gleichstellung von geflüchteten Frauen und anderen Frauen in der deutschen Gesellschaft zu gewährleisten. Dies erfordert die Förderung von Chancengleichheit, die Implementierung gezielter Beratungsprogramme und die Überwindung von Stereotypen, um den Arbeitsmarkt für sie nachhaltig zu verbessern. Nur durch gemeinsame Anstrengungen können wir sicherstellen, dass diese talentierten Frauen ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten in Deutschland entfalten können.

     

  • #LetHerLearn: Universitäts- und Arbeitsverbot für afghanische Frauen

    Seit der Machtübernahme der Taliban ist es Mädchen und Frauen untersagt, den Unterricht der zweiten Sekundarstufe (ab der 7. Klasse) zu besuchen, sie dürfen nicht in Parks gehen oder in Fitnessstudios trainieren. Ohne männliche Begleitung dürfen Frauen nicht verreisen und sie müssen eine vollständige Verschleierung tragen. Am 20. Dezember 2022 wurde Frauen die Universitätsbildung verboten. Begründungen für diesen Beschluss gab es keine. 

    Einen Tag nach dem Dekret sorgten bewaffnete Kräfte vor den Unis dafür, dass Studentinnen keinen Zugang mehr bekamen, so u.a. ein Bericht der Deutschen Welle.

    Im Interview mit dem Rundfunk fragt Nahid Shahalimi, afghanische Autorin, Künstlerin und Menschenrechtlerin, wie viel die Menschen dort noch ertragen können. Es gebe Dutzende Fälle von Frauen und Mädchen, die unter diesem Regime keine Zukunft für sich sehen und Selbstmord begehen, berichtet sie. Von der Politik fordert Nahid Shahalimi ernsthaftes Bemühen und keine leeren Versprechen via Tweet.

    Unter dem Hashtag #LetHerLearn sammeln sich Tausende Postings auf Instagram von Aktivist*innen und Künstler*innen, die internationale Aufmerksamkeit fordern und sich mit den Frauen in Afghanistan solidarisieren. “Wir haben protestiert und gefleht, genau wie unser Nachbarland, aber ihr habt alle geschwiegen, wir haben alle geschrien, aber ihr habt alle die Augen geschlossen. Wir sind nicht schockiert über das, was sie unseren Frauen und Männern antun, es war nur eine Frage der Zeit, und das ist es, was wir versucht haben, euch allen zu sagen”, schreibt Qeas Pirzad auf Instagram. 

    Arbeitsverbot für Frauen in NGOs

    „Als ob die Situation nicht schon schlimm genug wäre, markiert diese Ankündigung nun einen neuen Tiefpunkt in der Verletzung der grundlegendsten und universellen Menschenrechte für die gesamte Menschheit“, kritisiert Naseer Ahmad Faiq, Vertreter der gestürzten Regierung Afghanistans bei den UN, das Hochschulverbot. Noch lauter wird die internationale Politik in Bezug auf das Arbeitsverbot für Frauen in Nichtregierungsorganisationen. Dieses wurde am Samstag, den 24. Dezember durch das Wirtschaftsministerium verkündet – die Begründung der Taliban: Die Frauen würden ihre Verschleierung nicht wie angeordnet tragen.

    Während das Land aufgrund des harten Winters in einer Krise steckt und humanitäre Hilfe dringend benötigt wird, trifft diese Entscheidung alle: Frauen verlieren ein grundlegendes Recht und das Einkommen für ihre Familien. Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze (SPD) kündigte an, die internationale Hilfe für Afghanistan vorläufig zu unterbrechen.

    Organisationen wie das Internationale Rettungskomitee, Aktion gegen Hunger, die Caritas und Save the Children stellten ihre Arbeit weitestgehend ein. Ohne die weiblichen Angestellten könne man Bedürftige, unter ihnen Kinder und andere Frauen, nicht erreichen, erklärt Stefan Recker von Caritas International Afghanistan im Interview mit der tagesschau. Es gehe außerdem darum, ein Zeichen zu setzen. Der Büroleiter in Kabul hofft, dass es aufgrund der humanitären Notlage so zu einem Kompromiss mit den Taliban kommt. 

    Tatsächlich sorgte die Reaktion auf das Beschäftigungsverbot dafür, dass Mohammad Hanif, Wirtschaftsminister der Taliban, und Koordinator der humanitären Hilfe in Afghanistan für die UN, Ramis Alakbarow, sich zwei Tage nach dem Verbot zu einem Gespräch trafen. Laut des Gesprächsprotokolls, das der ARD vorliegt, wolle Mohammad Hanif helfen, das Verbot zurückzunehmen. Dieses beziehe sich nicht auf humanitäre Hilfe und die Arbeit der Vereinten Nationen. Es gehe einzig darum, dass die Frauen in den Organisationen nicht korrekt verschleiert seien, so der Wirtschaftsminister. 

    #LetHerLearn

    Afghanischen Frauen wird die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, das Verdienen eines Einkommens, der Zugang zu Bildung und vielem mehr verboten, weil Männer sich durch ihre Anwesenheit, durch ihre Haare, gestört fühlen würden. Doch viele solidarisieren sich mit den Frauen in ihrem Land. Im Live-TV zerreißt ein Universitätsprofessor aus Kabul, es handelt sich wohl um Ismail Mashal, seinen Abschluss als Reaktion auf das Hochschulverbot.

    „Der Ausschluss der Frauen von der Bildung steht im völligen Widerspruch zu den Grundsätzen unserer islamischen Kultur und den Werten unserer Gesellschaft und zeigt die Ignoranz der Taliban“, sagt eine Lehrerin aus Afghanistan. Sie steht in Kontakt mit der ARD. Sie fordert: „Wir wollen gehört werden von der internationalen Gemeinschaft. Auch weil uns die Taliban sicher noch weiter einschränken werden.” 

    Die internationale Gemeinschaft, insbesondere die Politik, muss erkennen, wie elementar die Teilhabe der Frauen an der Gesellschaft und das Recht auf Bildung für alle ist. Wie grundlegend es ist, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Vor 10 Jahren wurde die damals 15-jährige Malala Yousafzai aus Pakistan von den Taliban angeschossen, weil sie trotz eines Verbotes zur Schule gegangen ist und sich für das Recht von Bildung für Kinder eingesetzt hat. Am 12. Juli 2013 sagte sie vor den Vereinten Nationen: “Ein Kind, ein Lehrer, ein Buch und ein Stift können die Welt verändern. Bildung ist die einzige Lösung. Bildung geht vor.” #LetHerLearn

  • Moin Moin Habibi: vollefarben.de schafft Raum und Repräsentation

    Vollefarben.de ist eine Plattform, auf der Produkte von internationalen Menschen mit internationaler Geschichte angeboten werden, und das an ein Publikum, das auf der Suche nach antirassistischen Produkten mit Repräsentation ist, wie beispielsweise Kinderbücher mit Schwarzen Protagonist*innen, gerichtet ist.

    Wie kommt es, dass Künstler*innen und Unternehmer*innen ihre Produkte bei Euch und nicht in einem eigenen Online-Shop vertreiben?

    Viele kleine Unternehmer*innen mit einer internationalen Geschichte gründen vor allem aus Eigenbedarf heraus. Sie suchen etwas, worin sie sich selbst repräsentiert sehen, finden das nicht, und bilden sich dann in diese Richtung weiter, um dieses Produkt selbst herzustellen. Oftmals gründen sie in Teilzeit oder starten aus einem Hobby heraus, und wenn dann nicht die gewünschte Reichweite erzielt wird, geben sie schnell wieder auf.

    Was letzten Endes oftmals für einen erfolgreichen Geschäftsbetrieb fehlt, sind Ressourcen, ein Netzwerk, technisches Knowhow und Marketing-Kenntnisse. Dies gilt insbesondere, um sich online durchzusetzen. Viele möchten sich auch auf das Produkt konzentrieren und haben viel Spaß an der Entwicklung, können oder wollen aber beispielsweise kein Social-Media-Marketing betreiben. Dafür gibt es dann Spezialist*innen, aber die kann sich nicht jede*r am Anfang leisten.

    Genau diese Lücke wollen wir schließen und eine Plattform bieten, wo viele dieser interkulturellen Produkte zusammenkommen. Auf der anderen Seite ist vollefarben.de für Menschen da, die auf der Suche nach solchen Produkten sind. Wir machen es einfach, diese zu finden.

     

    vollefarben.de ist ein junger Online-Shop und gerade da spielt Werbung vermutlich eine große Rolle.

    Ja genau, um die Produkte zu vertreiben, nutzen wir die gesamte Palette des Online-Marketings und die Plattform selbst, welche als allgemeine Anlaufstelle für alle Produkte fungieren soll. Wir betreiben Social-Media-Marketing, sodass wir auf verschiedenen Kanälen Aufmerksamkeit für das Thema Diversität selbst generieren und dann auch gleich Lösungen anbieten, also den Ort, an dem man entsprechende Produkte finden kann.

    Wir möchten, dass sich unsere Kund*innen von den vielfältigen Produkten inspirieren lassen können. Allerdings stehen wir noch am Anfang, die Produktpalette wird nach und nach ausgebaut und wir freuen uns immer, wenn andere auf uns aufmerksam werden und Vorschläge zu Labels, Brands, Produkten etc. für unser Sortiment machen.

     

    Hast Du ein Beispiel aus dem Shop, bei welchem diese Wirkung deutlich wird?

    Ein gutes Beispiel ist das Geschenkpapier von einer Unternehmerin aus Mainz. Sie versucht ihre Produkte schon länger zu vertreiben, aber die wenigsten wissen davon. Die wenigsten werden auch darauf aufmerksam. Niemand von uns wird einfach „Geschenkpapier mit afrikanischem Muster“ suchen. Genau diese Rolle erfüllen wir, indem wir aktiv nach diesen Produkten scouten und diese dann auf der Plattform anbieten.

     

    Das aktive Scouten stellt sicherlich einen enormen Zeitaufwand dar. Rechnet ihr für die Zukunft damit, dass Unternehmer*innen und Künstler*innen selbst auf euch zukommen?

    Ja, absolut. Das ist nicht nur eine Vision, es passiert tatsächlich schon. Über Social-Media treten Leute mit uns in Kontakt und möchten die Plattform gerne für sich nutzen. Das ist genau das, was wir wollen: eine Plattform für alle aufbauen.

     

    Wie ist die Idee zu vollefarben.de entstanden?

    Die kam auch durch einen Eigenbedarf. Meine Frau und ich sind relativ bewusst beim Einkaufen und auf der Suche nach Geschenken für Nichten und Neffen war uns wichtig, etwas zu schenken, worin sie sich wiederfinden. Meine Frau hat einen pakistanischen Hintergrund, ich habe einen türkischen Hintergrund. Wir sind aber beide hier geboren und aufgewachsen und gemeinsam versuchen wir, diese vielen Facetten in Einklang zu bringen.

    Das Problem dabei ist, man weiß eigentlich nicht genau, wonach man suchen soll, so dass man letzten Endes das Gefühl bekommt, die Produktpalette wäre total klein. Aus diesem Bedürfnis heraus haben wir gedacht: Das ist doch eine super Idee, denn andere haben das Problem auch. Lass uns genau diesen Job erfüllen, dass wir eben all diese Produkte, die wir kennen, zusammenbringen und darüber hinaus weitere scouten.

    Es kommen täglich neue Produkte auf den Markt, die genau auf die Bedürfnisse von People of Color eingehen, von Beauty-Produkten für verschiedene Hautfarben bis hin zu Literatur über Identitätsfindung. Es gibt viele Autor*innen of Colour, die sich genau mit diesen Themen befassen und auch Ratgeber für Eltern über den Umgang mit Rassismus schreiben. Wir haben festgestellt, dass es einen Teil unserer Generation gibt, der sich schon damit abgefunden hat, dass es so ist. Auf der einen Seite gibt es einen Anteil, der wirklich aktiv danach sucht. Aber dann nicht nur mit den zwei, drei Sachen zufrieden ist, die man sowieso schon kennt, sondern auf der Suche nach Auswahl ist.

     

    Wenn man Eure Website besucht, übersieht man kaum das Poster mit dem Aufdruck „Moin Moin Habibi“. Welche Bedeutung hat dieses Produkt?

    Jeder, der mehrere Identitäten mit sich trägt, hat Dinge bei sich zuhause, die  kulturelle Bezüge zur Herkunft haben und die genau das widerspiegeln, wie man sich selbst sieht. Ich nenne diese Dinge „Empowerment-Artefakte“, sie vereinen die verschiedenen kulturellen Hintergründe und repräsentieren zugleich etwas Neues. Wir haben geschaut, ob wir auch in diese Richtung bedienen können und haben mit dem Poster „Moin Moin Habibi“ ein klares Statement gesetzt. Wir sind aus Hamburg und der Spruch gibt genau dieses Hamburgische wieder plus das Habibi, welches unsere kulturelle Herkunft spiegelt.

     

    Mit den Hautfarben-Stiften mit 12 verschiedenen Farbtönen sollen Pädagog*innen und Eltern in der diskriminierungsfreien Erziehung unterstützt werden. Wie ist die Resonanz auf solche Produkte und erzielen sie den gewünschten Effekt?

    Die Aufmerksamkeit für das Thema und die Resonanz auf das Buch „Gib mir mal die Hautfarbe“ sowie die Stifte nehmen immer mehr zu, sind aber noch nicht da, wo sie sein sollten. Vielleicht gerade, weil man diese nicht im stationären Handel findet. Auf der anderen Seite gibt es gerade in Großstädten schon einige Kitas und andere pädagogische Institute, die sensibel damit umgehen und wo auch verbalisiert wird: Hautfarbe ist unterschiedlich. Es gibt nicht nur das typische Rosa. Am Ende ist es stark abhängig vom Ermessen der Lehr- oder Erziehungskraft.

     

    Deutschland schreibt sich auf die Fahne, neben einem attraktiven Standort für Gründer*innen auch besonders divers zu sein. Auf welche Hürden treffen von Diskriminierung betroffene Personen im Gründungsprozess?

    Ich habe in der Scouting-Phase mit einer Gründerin gesprochen, die Beauty-Produkte für Schwarze Personen herstellen möchte. Da ihr zunächst das Wissen dazu gefehlt hat, wollte sie mit Herstellern zusammenarbeiten, während sie sich um den Vertrieb der Produkte kümmert. Als sie mit diesen Herstellern gesprochen hat, wurde sie belächelt und nicht verstanden. Statt aufzugeben, hat sie sich alles selbst beigebracht, hat sich die nötige Zertifizierung geholt und alle Produkte selbst hergestellt. Man merkt, dass die klassische Wirtschaft noch nicht auf diesem Stand ist, vermutlich, weil die Akteur*innen selbst davon gar nicht betroffen sind.

     

    Abgesehen von der Bereitschaft zur Veränderung seitens der Wirtschaft, was muss passieren, damit BIPoC dieselbe Sichtbarkeit und auch am Ende den gleichen Erfolg haben?

    Auf der einen Seite wird immer von Investor*innen gesagt, wie toll sie diverse Teams finden und dass sie diese bei der Gründungsförderung bevorzugen würden. Auf der anderen Seite fließen sehr wenige Investitionen in diese Richtung. Aufgrund von Vergangenheitserfahrungen erhalten letzten Endes Talente von renommierten Hochschulen eher die Investition als Newcomer*innen mit Migrationsgeschichte. Das ist eine besondere Herausforderung für die gesamte Wirtschaft. Es wäre ein Einfaches, das zu kopieren, was Menschen mit Migrationsgeschichte machen, allerdings ist das erstens nicht authentisch und zweitens ist die Zielgruppe, die man anspricht, eventuell auch noch zu klein in Deutschland.

     

    Das Konsumverhalten unterliegt einem Wandel, der durch die Digitalisierung vorangetrieben wird. Viele Eurer Produkte verkaufen sich üblicherweise über den lokalen Handel. Welche Rolle soll vollefarben.de in Zukunft einnehmen?

    Wir würden uns sogar wünschen, dass unsere Produkte im stationären Handel überall verfügbar wären. Im Idealfall soll die Plattform in zehn Jahren vor allem eine durchgängig bekannte Marke sein, der Ort, an dem man alles findet und wo man einfachen Zugang zu Produkten von und für BIPoC hat.

    Gleichzeitig soll vollefarben.de alle Aspekte des multikulturellen Lifestyles abbilden können, sprich, wir sehen uns ganzheitlich als Anbieter von Produkten, aber auch als Promotor von Künstler*innen jeglicher Art, also sei es von Gemälden, aber auch Musik, Schriften etc., sodass wir sagen können: Bei uns ist die gesamte Palette vorhanden, die zum multikulturellen Lifestyle gehört. Wir möchten die Bezugsperson sein, die einen einführt in die Welt, die es da draußen noch gibt, außerhalb des eigenen Kreises in der Familie.

     

    Vielen Dank für das Gespräch und Deine Zeit, Burak! Möchtest Du noch eine Botschaft an die Leser:innen von kohero mitgeben?

    Viele Unternehmer*innen oder Gründer*innen von Initiativen sagen: Wir sind Teil dieser Gesellschaft, wir sind hier, um uns einzubringen, sehen uns aber noch nicht repräsentiert. Menschen, die hierherkommen, möchten sich einbringen, möchten die Gesellschaft mitgestalten, mitprägen und suchen aktiv nach Wegen, das zu tun. Genau diese Menschen möchten wir mit vollefarben.de empowern. Sie geben sich nicht damit zufrieden, wie es ist, weil sie es in ihrer eigenen Kindheit vermisst haben. Und wenn sie so fühlen, dann ist es unsere Aufgabe, das bekannt zu machen und die Reichweite dafür zu schaffen.

     

    In der neuen Printausgabe „In Arbeit“ erfährst du noch mehr über Buraks Idee hinter vollefarben.de. Außerdem erzählen andere Gründer*innen von ihrer Selbstständigkeit, den Vorteilen und Herausforderungen. Die Ausgabe gibt es auch auf vollefarben.de zu kaufen!

  • Speak & Code Academy: Vom IT-Bootcamp in die Arbeitswelt

     2015 kam Ahmad Mobayed aufgrund der politischen Unruhen und des Krieges in Syrien nach Deutschland. Von Anfang an stand für ihn fest, dass er unbedingt studieren wollte. Schon bald wurde sein Traum wahr: Der Besuch einer Online-Universität verschaffte ihm ein Stipendium für eine „richtige“ Hochschule. Da er aus eigener Erfahrung weiß, dass Bildung ein Schlüssel zu einem besseren Leben für Geflüchtete sein kann, wollte er selbst eine Lösung für sie anbieten.

    Seit Juli dieses Jahres arbeitet er nun als Programmleiter der Speak & Code Academy an der Programmierschule le wagon in Berlin, wo Geflüchtete ab Mitte Oktober ein 6-monatiges Coding Bootcamp absolvieren können und fit für den Arbeitsmarkt gemacht werden. Im Gespräch mit kohero stellt er das neue Programm vor und erläutert dessen Mehrwert für Geflüchtete.

     

    Der Besuch einer Online-Universität öffnete Mobayed Türen

     

    Wie kann ich mir Ihr früheres Leben in Syrien vorstellen?

    Ich stamme aus einer Mittelklassefamilie im Mittelmeerraum und hatte ein ganz normales Leben. Meine Kindheit war im Großen und Ganzen ruhig. Als ich 18 war, begann die Revolution in Syrien. Von da an änderte sich alles in meinem Leben. Ich nahm an den Demonstrationen teil, weil ich mit vielen Dingen nicht einverstanden war, und dies war für mich eine Möglichkeit, meine Unzufriedenheit zum Ausdruck zu bringen. Nach den Ereignissen in Tunesien und Ägypten schien es für viele Menschen in meinem Alter der richtige Zeitpunkt zu sein, um auf die Straße zu gehen. Aber dann musste ich das Land schnell verlassen, weil die Situation zu gefährlich wurde.

     

    Der Besuch einer Online-Universität öffnete Mobayed Türen

     

    Auf welchem Wege sind Sie nach Deutschland geflüchtet? Was waren für Sie die größten Herausforderungen hier in der Anfangszeit?

    Ich ging zuerst in die Türkei. Damals konnte man die Grenze noch sehr leicht ohne Visum passieren. Anschließend zog ich für ein Jahr nach Zypern und dann wieder zurück in die Türkei. 2015 beschloss ich, mein Glück in Deutschland zu probieren, weil meine Familie aus dem Libanon hierhergekommen war.

    Die ersten Monate waren für mich sehr stressig und ich machte mir große Sorgen. Ich war voll und ganz damit beschäftigt, alles dafür zu tun, damit ich hier bleiben konnte. Außerdem wollte ich unbedingt studieren und suchte nach passenden Lösungen. Und so begann ich, bei Kiron – Open Higher Education Online-Kurse zu belegen. Insgesamt hatte ich es leichter als andere Geflüchtete, weil ich bei meiner Familie leben konnte und nicht in einer dieser Flüchtlingsunterkünfte wohnen musste.

     

    Wie haben Sie es geschafft, in Deutschland Fuß zu fassen?

    Es gab einige Schlüsselfaktoren, die mir geholfen haben, mein Leben zu stabilisieren, z. B. die Anmeldung bei der offenen Hochschulplattform Kiron im Jahr 2015. Das ist eine Art digitale Universität für Geflüchtete. Ich hatte zwar meinen Schulabschluss in Syrien gemacht, aber ich hatte die Dokumente nicht dabei, als ich nach Deutschland kam. Kiron versucht, genau diese Hürde zu nehmen.

    In meiner ersten Zeit in Deutschland habe ich wahrscheinlich sieben Stunden am Tag auf der Plattform verbracht und Online-Kurse besucht. Nach ein paar Monaten erhielt ich schließlich ein Stipendium vom Bard College und konnte dann an einer amerikanischen Universität in Berlin ein Bachelorstudium in Politik und Wirtschaft absolvieren. Im Master habe ich Public Policy studiert.

     

    Er wollte seine eigenen Erfahrungen nutzen, um Geflüchteten zu helfen

     

    Welchen Stellenwert haben Politik und Bildung in Ihrem Leben?

    Beides spielt eine große Rolle. Jeder, der im Nahen Osten aufwächst, ist politisch. Man kann nicht unpolitisch sein. Meine Arbeit und die Revolution in Syrien haben mir so viel Energie und Leidenschaft für einige Themen gegeben. Als ich nach Deutschland kam, sah ich, dass eine Lösung wie Kiron, die von Menschen entwickelt wurde, die eine Veränderung herbeiführen wollten, wirklich etwas bewirken konnte. Solche innovativen Lösungen können das Leben von Menschen verbessern.

    Nun mache ich das Gleiche bei le wagon. Mit dem Programm Speak & Code versuche ich im Prinzip, den Kreislauf zu wiederholen und ebenfalls eine Lösung für Ankommende zu schaffen. Nachdem ich mich intensiv mit dem Thema befasst habe, weiß ich, dass es tatsächlich ein Problem ist, Geflüchteten Zugang zu Bildung und Chancen zu ermöglichen, was an der Regierungspolitik und den Strukturen des Systems liegt. Ich bin bemüht, jeden Tag tiefer in dieses Thema einzutauchen.

     

    Inwiefern können digitale Lösungen dazu beitragen, die Potenziale von Migration zu nutzen und die Lebensbedingungen von Geflüchteten und Migrant/innen zu verbessern?

    Es liegt auf der Hand, dass die Bereitstellung digitaler Bildungslösungen für Geflüchtete eine große Erleichterung darstellt. Das allein reicht jedoch nicht aus. Man muss sie in der Regel mit anderen Lösungen kombinieren, um einen ganzheitlichen Kreislauf zu schaffen. Natürlich ist es immer von Vorteil, wenn eine der Lücken in diesem Kreislauf geschlossen wird. Es gibt allerdings noch andere Lücken, an die wir denken müssen. Ich bin ein großer Freund der Online-Bildung, aber wenn Menschen nur an Online-Kursen teilnehmen, die nicht mit anderen Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt verknüpft sind, dann bietet man nicht das Paket an, das die gewünschte Wirkung auf das Leben der Menschen hat.

    Sie leiten in der Programmierschule le wagon seit kurzem die Speak & Code Academy. Seit wann gibt es das Programm und wie sieht Ihr Angebot für Geflüchtete aus?

    Wir haben die Speak & Code Academy im Juli ins Leben gerufen und der offizielle Start soll im Oktober erfolgen. Das Programm dauert sechs Monate und geht täglich von 9.30 bis 17 Uhr. Es setzt sich aus drei Komponenten zusammen: Programmieren, Sprache und Inklusion. Die größte Komponente, das Programmieren, wird von le wagon abgedeckt und auf Englisch unterrichtet. Das gesamte Programm wird in Zusammenarbeit mit zwei anderen Unternehmen durchgeführt.

    Dank Lingoda, einer Online-Sprachschule, können Geflüchtete bei uns auch Deutsch lernen. Die Deutschkurse finden dreimal pro Woche jeweils fast einen halben Tag lang statt. Die „integration class“ von Kiron stellt wiederum die dritte und kleinste Komponente dar. Dort lernen die Teilnehmenden eine Stunde pro Woche mehr über die deutsche Kultur und das gesellschaftliche Leben hier.

    Der Vorteil der Speak & Code Academy besteht darin, dass sie eine Abkürzung für Ankommende bietet, die sonst einen langwierigen Prozess durchlaufen würden. Die drei Säulen erleichtern die Integration in den Arbeitsmarkt und in die Kultur. Der Deutschkurs und die „Integration Class“ sind jedoch nicht verpflichtend. Wir wollten das Programm nämlich möglichst inklusiv gestalten. Es gibt viele Geflüchtete, die seit 2015 oder 2016 hier leben und bereits Deutsch sprechen können. Ihnen geben wir die Chance, sich sechs Monate lang nur aufs Programmieren zu konzentrieren.

     

    Nach dem Bootcamp sind Geflüchtete bereit für eine Junior-Stelle

     

    Welche Vorteile hat die IT gegenüber anderen Bereichen, die es ermöglichen, dass Menschen in kurzer Zeit fit für den Arbeitsmarkt gemacht werden können und dann tatsächlich auch einen Job finden?

    Das Programm ist sehr intensiv und praxisorientiert. Die Teilnehmer/innen werden z. B. auf Webentwicklung vorbereitet und darauf, eine App von A bis Z zu erstellen. Sie erhalten die Fähigkeiten, die für eine Junior-Position als Software-Ingenieur/in oder Datenanalyst/in benötigt werden. Das Bootcamp wurde sozusagen als Antwort auf die Marktbedürfnisse und den Mangel an jungen Fachkräften in der IT-Branche entwickelt.

    Der Vorteil des Programms ist seine kurze Dauer. Außerdem muss man nicht unbedingt Informatiker/in oder Mathematiker/in sein, sondern es haben sich Menschen aus allen erdenklichen Bereichen, u. a. aus der Kunst- und Literaturszene, bei uns gemeldet, die einen anderen Berufsweg einschlagen wollen. Absolvent/innen dieser Ausbildung können sofort nach ihrem Abschluss eine Stelle antreten.

     

    Wie sind die Programmierkurse aufgebaut und welche Programmiersprachen lernen die Teilnehmenden?

    Es ist geplant, dass die Dozent/innen vormittags Vorlesungen abhalten. Im Anschluss soll praktische Arbeit folgen, d. h. den Teilnehmenden werden Aufgaben gestellt, die sie in Gruppen lösen müssen. Während der so genannten „Challenge Period“ sind die gesamte Zeit über Lehrassistent/innen anwesend, um bei Problemen zu helfen. Die Teilnehmenden lernen JavaScript, Ruby on Rails, SQL, die Grundlagen von HTML sowie UX- und UI-Design.

     

     

    Die Hürden für den Bildungsgutschein sind ein Problem

     

     

    Erhalten Geflüchtete Unterstützung, um die Kosten des Programms zu stemmen?

    Im Moment ist der Bildungsgutschein die einzige Möglichkeit. Wir können Geflüchtete nur ermutigen, ihn zu beantragen, denn dadurch werden die Kosten von der Bundesagentur für Arbeit getragen. Allerdings ist es nicht immer einfach, den Bildungsgutschein zu erlangen. Für einige, die bereits eine Weiterbildung absolviert haben oder bisher keinen Bezug zu dem Thema haben, kann es schwierig werden. Die Bewilligung hängt vom jeweiligen Jobvermittelnden ab.

    Aber alles in allem haben wir eine gute Anzahl von Menschen, die über den Bildungsgutschein zu uns kommen. Derzeit arbeiten wir noch an einer zweiten Finanzierungsmöglichkeit. Wir verhandeln gerade mit einem unserer Partner, dass er erst einmal die Kosten für all diejenigen übernimmt, die keinen Anspruch auf den Bildungsgutschein haben. Wenn die Teilnehmenden den Kurs beendet und einen Job gefunden haben, zahlen sie dann den Betrag zurück an den Partner.

     

    Wie sorgen Sie dafür, dass Geflüchtete von Ihrem Angebot erfahren?

    Ich arbeite schon seit einigen Jahren in der Tech-Branche, insbesondere für marginalisierte Menschen, und ich habe ein großes Netzwerk von Organisationen, die Zugang zu Geflüchteten in Deutschland haben. Das Gleiche gilt für Kiron. Wir aktivieren im Grunde unser Netzwerk, um die Speak & Code Academy bekannt zu machen und Teilnehmende an Bord zu holen. Aber auf lange Sicht werden wir das natürlich anders handhaben.

    Leider lohnt es sich derzeit nicht, an Flüchtlingsunterkünfte heranzutreten. Ein Problem ist, dass Geflüchtete, die seit kurzem in Deutschland leben, keinen Anspruch auf einen Bildungsgutschein haben, weil sie Deutsch lernen und deshalb den Integrationskurs besuchen müssen, der vom BAMF finanziert wird. Während dieser Zeit dürfen sie keine anderen Mittel erhalten. Wir müssen also in der Regel warten, bis diese Menschen den Integrationskurs beendet haben und erst dann könnten sie bei der Speak & Code Academy mitmachen.

     

     

    Ein wachstumsorientiertes Umfeld

     

     

    Können Geflüchtete aus Ihrer Sicht eine Lösung für den Fachkräftemangel in Deutschland sein?

    Warum nicht? Wichtig ist, und dafür setze ich mich auch persönlich ein, ein wachstumsorientiertes Umfeld für die Ankommenden zu schaffen, damit sie Lösungen und keine Probleme darstellen. Es ist durchaus machbar, diesen qualifizierten Menschen die Möglichkeit zu geben, ihre Fähigkeiten so einzusetzen, dass sie den Bedürfnissen der Gesellschaft und der Wirtschaft entsprechen. Wir wissen, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, und das wird es wahrscheinlich noch lange bleiben.

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