Schlagwort: Alltagserfahrungen

im Exil / in der Heimat

  • Als Ukrainerin in Deutschland: 10 Selbstverständlichkeiten

    1. Höflichkeit!

    Man sagt „Hallo“ zu seinem Nachbar und lächelt dabei, ein Lächeln ist die Norm, auch wenn man seinen ersten Kaffe und sein Brötchen beim Bäcker bestellt. Danach wünscht sich jeder „einen guten Tag“, „einen schönen Nachmittag“ und „ein schönes Wochenende“.

    Gleiches gilt für Textnachrichten. Es gibt Redewendungen für den Anfang und das Ende der Nachricht, und wenn man dies nicht tut oder vergisst, dann folgt direkt ein Kommentar, denn im Deutschen gilt: Höflichkeit muss sein!

    2. Beide Elternteile erziehen das Kind

    In der Ukraine ist vieles im Wandel, was dieses Thema betrifft, doch in Deutschland ist es schon alltäglich zu beobachten. Wenn ich meine Tochter zur Schule bringe, sehe ich, wie Väter in die Klassenräume stürmen und wie sie ihre Kinder liebevoll mit einem Kuss am Schultor verabschieden.

    An Spielplätzen sehe ich, wie sie mit ihren Kindern im Sandkasten spielen während die Mutter gemütlich auf der Bank sitzt, doch besonders hat mich beeindruckt wie ein junger Vater seiner Tochter ein rosa Kleid kaufte.

     

    3. Ältere Leute draußen

    Als ich mit meiner Tochter einkaufen gewesen bin, sahen wir einen älteren Herrn, (oder wie ich sagen würde Großvater), der sein Eis genoss. Wir dachten, „Oh, in der Nähe muss eine Eisdiele sein.“, und so war es auch. In Solchen Cafés sehe ich häufig ältere Menschen, die am Wochenende zusammen sitzen und bei einem lockeren Gespräch ein Glas Wein trinken, ohne Enkelkinder! Viele Ehepaare in diesem Alter gehen im Park spazieren, besuchen Ausstellungen und halten sich romantisch dabei ihre Hände.

     

    4. Familientreffen und Geburtstage nach Termin

    Wundern Sie sich nicht, wenn Sie eine Einladung bekommen, (die höchstwahrscheinlich per Post zugesendet wird), Beginn und Ende der Party angegeben wird. Oder Sie werden eine Woche im Voraus, wenn nicht sogar zwei Monate, zu einem Abendessen eingeladen.

    Bei Geburtstagsfeiern sitzen alle Gäste nicht bis spät in die Nacht an einem Tisch, auch wenn es die engsten Freunde sind.

     

    5. Post

    Das ist etwas ganz außergewöhnliches für diejenigen, die neu in Deutschland sind. Ich beschreibe es wie bei Harry Potter, wo die Briefe von Hogwarts ohne Ende ins Haus strömen.

    Seit etwas über 6 Monate lebe ich in Deutschland und habe mittlerweile zwei Ordner gefüllt mit Dokumenten und überlege mir einen dritten zu kaufen. Etwas Romantisches habe ich doch bei der ganzen Post gefunden: spezielles Papier und Umschläge. Jetzt schreibe ich handschriftliche Briefe und Postkarten an meine Verwanden. 

    Die Deutschen lieben es Briefe zu schreiben, sie haben sogar ein eigenes Buch mit Vorlagen für alle Gelegenheiten, dieses Buch hat 958 Seiten!

     

    6. Essen

    Mir ist aufgefallen, dass die Deutschen selten Mittag essen, bei uns ist es üblich, das wir zum Mittagessen eine Vorspeise (in der Regel Suppe), Hauptspeise und danach Kompott (ein Erfrischungsgetränk aus gekochten Früchten) essen. Die Deutschen hingegen nehmen gern ihr essen mit.  Zum Frühstück Müsli mit Jogurt oder Milch (aber immer kalt). Sonntag wird stets ausgiebig Gefrühstückt, meist mit frischen Brötchen vom Bäcker. In Geschäften gibt es viele ungewöhnliche Produkte; rohes Hackfleisch, das direkt auf das Brot gestrichen wird, Fleisch das kompakt im Glas kommt, doch was ich mir direkt gekauft habe waren viele leckere Frikadellen, doch für das leckere Borsch habe ich noch nichts gefunden.

     

    7. Schule

    Meine Tochter ist 8 Jahre alt, sie geht in die Grundschule. Hier gibt es überhaupt keine Schuluniform. Jeder Schüler und jeder Lehrer trägt, was er will. Es gibt keine Aufgaben für Wochenenden und Urlaube. Die Kinder gehen viel an der frischen Luft spazieren, das ist obligatorisch, in der Pause können sie nicht im Klassenzimmer sitzen, sie müssen nach draußen gehen. Die Kinder sind sehr glücklich darüber, sie kommen oft sehr schmutzig, aber glücklich nach Hause. Es gibt viele verschiedene Ausflüge und Aktivitäten, nicht so viel Lernen. Als wir ankamen, war es für meine Tochter etwas einfacher, weil sie bereits wusste, was gelehrt wurde.  

     

    8. Cafés und Restaurants

    In Deutschland gibt es viele Bäckereien, für jeden Geschmack mit einer riesigen Auswahl an Brot und Brötchen. Cafés und Restaurants sind komplizierter. Sie sind etwas teurer, öffnen oft abends und schließen in ein paar Stunden oder arbeiten nicht am Wochenende. Ein bisschen ungewöhnlich nach unserem. Viele Menschen essen Pommes mit verschiedenen Soßen und Würstchen mit Currysauce. Und im Norden Deutschlands sind Fischbrötchen sehr lecker, also ein Fischbrötchen. Ich vermisse so gemütliche und vielfältige Cafés wie in der Ukraine.

     

    9. Ökologie und Wirtschaft

    Wasser aus dem Wasserhahn kann man trinken, das war eine Überraschung für mich, außerdem wird die Qualität des Wassers täglich kontrolliert, so dass es sicherer ist, Wasser aus dem Wasserhahn zu trinken als aus einer Flasche. Das ist der erste Ort, an dem ich angefangen habe, Müll zu sortieren, und jetzt kann ich mir nicht einmal mehr vorstellen, wie ich alles in eine Kiste werfen soll.

    Besonders beeindruckt war ich von dem Container für alte Kleidung und Schuhe. Kleidung, die noch in gutem Zustand ist, wird zum Roten Kreuz gebracht, so dass Sie alles, was Sie brauchen, mitnehmen können. Hier werden Dinge repariert, solange sie funktionieren, und erst wenn sie ihre Funktion nicht mehr erfüllen, werden neue gekauft.

     

    10. Geschenke und Musik

    Die Deutschen lieben Geschenke, die mit ihren eigenen Händen gemacht wurden. Ein Kuchen, eine Zeichnung, eine Collage oder eine Stickerei sind viel wertvoller und angenehmer als etwas, das man in einem Geschäft gekauft hat. Auch ein musikalisches Geschenk ist ein besonderes Geschenk. Fast alle Deutschen spielen ein oder manchmal auch mehrere Instrumente, und zwar nicht beruflich, sondern als Hobby.

    10 bis 15 Euro für Kollegen und Freunde, etwas mehr für Freunde, sind keine teuren Geschenke. Wenn sie ein teures Geschenk machen wollen, wird der Betrag auf mehrere Personen aufgeteilt. Einige Unternehmen haben sogar eine Grenze für die Höhe des Geschenks, das heißt, Sie können nicht mehr als 15 Euro geben.

     

     

    Dieser Beitrag ist im Schreibtandem entstanden.

  • Migrantisches Leben in Zeiten der Pandemie

    „Migrant Lives in Pandemic Times“ ist ein internationales Digital Storytelling Projekt, dass aktuelle und persönliche Momentaufnahmen aus dem Leben von Menschen mit Migrationsgeschichte aufgreift, die sonst kaum in den Medien vorkommen. Ihre Erlebnisse während der Pandemie zeigen, was uns in Ausnahmesituationen und darüber hinaus als Menschen verbindet. Sophia Burton, Projektmanagerin und Mitgründerin von MIGRATION MATTERS, und Bernadette Klausberger, Creative Director und Produzentin, erzählen von den Anfängen, Zielen und Überraschungen des wissenschaftlich-künstlerischen Projekts.

     

    Erfahrungsaustausch zwischen Migrant*innen und Wissenschafter*innen

    ,,Ausgangspunkt war die Frage, was diese spezielle Zeit der Pandemie mit Menschen macht, die migriert sind, und weit weg von Familie und Herkunftsort leben und arbeiten.“  Dabei sollten Menschen aus unterschiedlichen Ländern und sozialen und wirtschaftlichen Umgebungen porträtiert werden.

    „Warum Menschen migrieren hat so viele Gründe. Also haben wir nach einer möglichst großen Vielfalt in punkto Persönlichkeiten und Lebensumstände gesucht. Von der simbabwischen Doktorandin in Südafrika, die versucht ihr Studium abzuschließen, über die philippinische Haushaltshilfe in Sizilien, die wegen einer Covid-Infektion sofort gefeuert wird, bis zur chilenischen Barmanagerin in Kalifornien, die sich als Lehrerin beruflich völlig neu findet als die Gastronomie über Monate geschlossen bleibt – was die Porträtierten verbindet, ist die Tatsache, dass sie alle eine Migrationsgeschichte haben, die sich auf ihr Leben während der Pandemie unmittelbar ausgewirkt hat.“

    Inwiefern, davon erzählen die Migrant*innen selbst, anstatt dass, wie so oft, nur über sie gesprochen wird.  ,,Ein Forschungsansatz hinter dem Projekt ist es, Erfahrungen von Migrant*innen teilbar zu machen – mit Wissenschafter*innen, mit einer breiten Öffentlichkeit, und schlussendlich auch mit politischen Entscheidungsträger*innen. Die Projektbeteiligten – Migrant*innen wie Wissenschafter*innen – zeigen aus ihrer Perspektive persönliche Herausforderungen und strukturelle Schwierigkeiten auf, die Menschen rund um den Globus gerade in dieser Zeit verbinden oder eben auch trennen.“

     

    Was uns jetzt alle verbindet

    Es geht um Erlebnisse auf der Suche nach einem neuen Job oder einer neuen Wohnung während der Pandemie. Um die Schwierigkeit Kinder und Arbeit unter einen Hut zu bringen und die Sehnsucht, endlich wieder zurück nach hause gehen zu können. Universelle Themen, die auf die Bedeutung des sozialen Umfelds, (seelischer) Gesundheit und stabiler Beschäftigungsverhältnisse eingehen. Themen, die besonders während der Pandemie noch wichtiger geworden sind. ,,Kein Mensch ist darauf vorbereitet, wie es ist, wenn plötzlich große Teile des eigenen Soziallebens wegbrechen. Oder darauf, wie es ist sich allein und zunehmend isoliert zu fühlen. Während das Projekt anfangs auf das aktuelle Arbeitsleben der Protagonist*innen fokussiert war, wurde die psychologische und soziale Ebene im Gesprächsverlauf schnell mindestens genauso wichtig“, erzählt Bernadette.

    Migrant*innen als Expert*innen

    Dabei mussten sich Migrant*innen schon lange bevor die Pandemie begann mit prekären Arbeitsverhältnissen, sozialer Unsicherheit und eingeschränkter Mobilität auseinandersetzen. Nun sind wir fast alle – egal ob Migrant*in oder nicht – in dieser Ausnahmesituation gezwungen eigene Gewissheiten zu überprüfen. Wie komme ich zurecht, wenn keine Freund*innen und Familie in greifbarer Nähe sind; wenn die Bewegungsfreiheit innerhalb der eigenen Stadt oder zwischen Ländergrenzen plötzlich eingeschränkt ist? ,,Man muss keine eigene Migrationserfahrung haben, um mit diesen Geschichten etwas anfangen zu können. Es geht um Dinge, die wir alle gerade in unterschiedlichen Intensitäten erleben – und für die Migrant*innen durch ihre Lebenserfahrungen möglicherweise schon länger Expert*innen sind.“

     

    Eine Kollektion von persönlichen Geschichten

    „Migrant Lives in Pandemic Times“ versammelt filmische Kurzportraits von zwölf Migrant*innen, begleitet von Videostatements und Texten von Wissenschafter*innen. Im Zentrum stehen die Geschichten der Migrant*innen. Die Wissenschaftler*innen ordnen in ihren Beiträgen die Erfahrungen der Portraitierten in einen globalen und politischen Zusammenhang ein. Ihre Analyse verdeutlicht, welche Rolle der Staat und informelle Unterstützungsnetzwerke spielen, und wie die Politik Migrant*innen in Krisensituationen mitunter vernachlässigt. Gleichzeitig geben sie auch einen Ausblick darauf, durch welche Maßnahmen Migrant*innen auf gesamtgesellschaftlicher und individueller Ebene unterstützt werden können.  Teilweise sind es kleine, ganz konkrete Maßnahmen, die einen großen Unterschied machen. So soll das Projekt auch politische Entscheidungsträger*innen ansprechen. Die Videos sind online auf der Website und in einer Playlist auf youtube frei zugänglich und können, wie alle Videos von Migration Matters, gerne von Einzelpersonen, Institutionen und Vereine weiterverwendet werden. Sie sind ,,dazu gemacht geteilt und diskutiert zu werden“, betont Sophia.

     

    Wer dahinter steht

    Das Projekt ist eine Zusammenarbeit von ,,Migration Matters“, einer Non-Profit Organisation mit Sitz in Berlin, und dem Canada Excellence Research Chair (CERC) in Migration and Integration an der Ryerson University in Toronto, Kanada. ,,CERC Ryerson hat ein internationales Netzwerk an Migrationsforscher*innen zusammengebracht. Wir von Migration Matters haben mit ihnen ein  multimediales Projekt entwickelt, wie Wissen von Betroffenen und Wissenschaftler*innen medial am besten aufbereitet und zugänglich gemacht werden kann. Diese Form von institutionen-übergreifender Wissenschaftskommunikation wird in der Zukunft eine immer größere Rolle spielen.“ sind sich Bernadette und Sophia sicher. „Migration Matters“ sieht sich dabei als Vermittlerin, die akademisches Wissen für ein breiteres Publikum zugänglich macht. „Wir  möchten damit einen Beitrag leisten, dass Diskussionen über Migration insgesamt nuancierter werden und auf wissenschaftlichen Erkenntnissen statt nur auf Meinungen basieren.“

     

    Kein Top-down Projekt

    Neben dem Ziel, eine möglichst diverse Gruppe von Menschen mit Migrationsgeschichte vorzustellen, war es dem Team wichtig, eine Vertrauensebene zu den Protagonist*innen aufzubauen. Die Migrant*innen geben tiefen Einblick in ihre Geschichte und Person. Sie ermöglichen echte Lebenseinblicke und nehmen das Filmteam teilweise auch mit in ihr altes oder neues Zuhause. ,,Vertrauen ist ein wichtiger Punkt in unserem Ansatz. In diesem Projekt treffen sich Menschen mit Neugier und Respekt, und jede*r ist dabei ein*e Expert*in in einem bestimmten Bereich. Wir wollen nicht, dass es top-down ist, dass Wisschenschaftler*innen sich Statements abholen, die sie so vorher schon im Kopf hatten, sondern dass die Protagonist*innen wirklich sagen, was ihnen wichtig ist. Dass sie ihre Geschichte aktiv mitgestalten Dass sie entscheiden können, was sie zeigen – und was nicht!“

    Dabei begleitete das Team von „Migration Matters“ die Wissenschaftler*innen und Migrant*innen durch Gruppen Coachings und Trainings im Prozess. Außerdem vermittelte es Einblicke in Digital Storytelling und die praktische Planung von Dreharbeiten. ,,Wir nehmen da eher eine unterstützende Position ein. Die Migrant*innen und Wissenschafter*innen sind die wahren Autoren ihrer Geschichten.“

     

    Verbindungen, die auch nach Corona bleiben

    ,,Unser Ziel ist erfüllt, wenn diese Kurzporträts dazu beitragen, dass man sich einfach von Mensch zu Mensch in Verbindung setzt – ohne gleich in Kategorien zu denken. Und wenn Menschen interessiert über den eigenen Tellerrand blicken und damit etwas mehr Verständnis für das Leben anderer entwickelen.“ Die Videos verdeutlichen, welche Rolle Politik und Solidarität im Alltag von zwölf Migrant*innen während der Pandemie spielen. Vor allem aber zeigt „Migrant Lives in Pandemic Times“, was uns alle auf menschlicher Ebene verbindet.

  • Meet a Jew – Jüdischsein in Deutschland

    Meet a Jew“ ist ein Begegnungsprojekt des Zentralrats der Juden in Deutschland. Es schafft Begegnungen zwischen Menschen jüdischen Glaubens und Menschen, die mehr über das Judentum und Jüdischsein in Deutschland erfahren möchten. Dabei kommen zwei jüdische Teilnehmende in die Gruppe, erzählen aus ihrem Alltag und beantworten Fragen. In unserem Fall fand das Gespräch online statt. In einem Interview haben Mitglieder der Redaktion die Begegnung reflektiert.

    Was hast du dir von der Begegnung erhofft und mit welchen Fragen und Erwartungen bist du in das Gespräch gegangen?

    Anna Sophie: Ich habe gehofft, dass ein angenehmes und natürliches Gespräch entsteht, in dem wir uns alle auf Augenhöhe unterhalten, und nicht das Gefühl entsteht, dass eine Gruppe der anderen Gruppe „einen Vortrag“ hält. Ich hatte keine lange Liste an Fragen entworfen, denn es sollte ja einfach ein Gespräch werden.

    Natalia: Ich habe relativ kurzfristig erfahren, dass unsere Redaktion bei „Meet a Jew“ mitmacht. Ich bin also ohne konkrete Erwartungen, aber gespannt und voller Vorfreude online gegangen.  Da es in meinem Leben wenig Momente gab, in denen ich mich aktiv mit dem Judentum auseinandergesetzt habe, habe ich mich über diese Möglichkeit sehr gefreut. Ich habe mir einen persönlichen Einblick in jüdisches Leben in Deutschland erhofft, der über das hinausgeht, was etwa im Internet zu finden ist.

    Anna H.: Ich habe vor allem erwartet, Einblicke in den jüdischen Alltag zu bekommen. Ich meinem Umfeld habe ich wenig Kontakt zu jüdischen Menschen, eher zu Muslim*innen und Christ*innen. Generell spielt Religion in meinem Leben keine sehr große Rolle. Auch bei den meisten meiner engeren Freund*innen ist das so. Daher hat es mich interessiert, was jüdisch zu sein vor allem für junge Menschen bedeutet.

    Gab es in deinem Leben zuvor Berührungspunkte mit dem Judentum?

    Emily: Zugegebenermaßen spielt das Judentum nur theoretisch, und lediglich reduziert auf wenige Aspekte, in meinem Leben eine Rolle – ich lese oft über Antisemitismus, über den Nahost-Konflikt und den zweiten Weltkrieg. Über jüdische Lebensrealität, über Feiertage und jüdische Communities in Deutschland weiß ich jedoch fast nichts.

    Anna Sophie: Bevor das Judentum Thema bei kohero wurde, habe ich mich auch noch nie wirklich mit der Religion oder mit der Lebensrealität von Jüd*innen heute in Deutschland beschäftigt. In der Schule wurde das Judentum nur im Zusammenhang mit dem Holocaust behandelt, Antisemitismus wurde als Phänomen der Vergangenheit betrachtet. Bei meiner Recherche für kohero musste ich dann schockiert feststellen, dass ich so gut wie gar nichts über das Judentum wusste. Ich kannte nur einen einzigen jüdischen Feiertag – Chanukka (aus dem amerikanischen Fernsehen). Und ich wusste beschämenderweise nicht, was für ein riesiges Problem Antisemitismus noch heute ist.

    Jenny: Ich hatte ein paar Tage vorher ein Interview mit Sasha Marianna Salzmann. In dem Interview ging es unter anderem um jüdisch-queere Perspektiven.

    Diane: In der Realschule kam ein jüdischer Zeitzeuge zu Besuch und hat von seinen Erlebnissen erzählt. Ehrlich gesagt ist davon nicht viel hängen geblieben; damals waren andere Dinge wichtiger. Deshalb war ich auf das Treffen sehr gespannt. Erwartungen hatte ich keine – ich war einfach neugierig.

    Wie hat sich die Begegnung für dich angefühlt?

    Emily: Ich war zuerst unsicher über das Format der Begegnung: Wenn sich eine große Gruppe Unwissender mit zwei Menschen jüdischen Glaubens trifft, die allein durch ihre Religionszugehörigkeit zu einer solchen Begegnung qualifiziert sind, kann sich das schnell wie „Othering“ anfühlen. Das heißt, man kategorisiert jemanden als „andersartig“ oder „fremd“ und distanziert sich gleichzeitig von ihm oder ihr. Schließlich war ich jedoch erleichtert, dass Igor und Julia mit der Situation umzugehen wussten und uns ermutigten, alle Fragen zu stellen. So hat sich das Gespräch sehr ungezwungen angefühlt.

    Anna Sophie: Ich glaube, alle von uns waren anfangs noch sehr aufgeregt und verunsichert. Doch mit der Zeit hat sich ein angenehmes Gespräch entwickelt. Natürlich hingen immer mal wieder Fragen, wie „Darf ich da nochmal nachhaken?“ oder „Wie formuliere ich das jetzt am besten?“ in der Luft, aber ich denke, das ist normal. Ich fände es auch absolut nicht richtig, die zwei jüdischen Gesprächspartner*innen ungefiltert und ohne Distanz mit Fragen zu bombardieren. Wie bei jedem normalen Gespräch sollte man ein Gefühl dafür haben, wo gewisse Grenzen für die andere Person sind, und diese auch nicht überschreiten.

    Anna H.: Was ich erwartet habe, hat sich auch erfüllt. Ich habe viel darüber gelernt, wie unsere Gesprachspartner*innen ihr Jüdischsein leben. Etwas überrascht hat mich, wie selbstverständlich sie die Religion und ihre Regeln nehmen.

    Natalia: Schon während des Gesprächs und noch eine Weile danach hat mich beschäftigt, dass wir Julia und Igor in dieser Situation auf ihren jüdischen Glauben reduziert haben. Dafür haben wir uns zwar alle getroffen und so scheint die Idee von „Meet a Jew“ zu sein, aber es war anfangs ungewohnt für mich. Noch stärker war allerdings das Gefühl, dass mir während des Gesprächs sehr bewusst wurde, wie vielfältig wir Menschen sind.

    Ich fand es sehr bereichernd, dass mir ein bisher unbekannter Teil dieser Welt eröffnet wurde, und bereue ein wenig, dass ich mich nicht früher mit dem Judentum beschäftigt habe. Julia und Igor haben von interessanten Geboten, von Feiertagen und deren Ritualen erzählt, aber auch (innerjüdische) Konflikte und den spürbaren Antisemitismus in Deutschland angesprochen.

    Diane: Am Anfang des Treffens fühlte ich mich etwas komisch, weil ich doch überlegt habe, ob es ein Richtig oder Falsch bei den Fragen geben könnte. Aber Julia und Igor waren so entspannt, dass ich ihnen einfach gern zugehört habe. Als es um den Antisemitismus und die aktuelle Lage in Deutschland ging, erzählte Igor von seinem Freund, der sagte: „Ich habe immer eine Hand am Koffer.“ Das fand ich ziemlich krass. Auch die Tatsache, dass sich Igor selbst Gedanken darüber macht.

    Was hast du gelernt?

    Emily: Mir ist klar geworden, dass Menschen jüdischen Glaubens keine homogene Gruppe sind: Julia und Igor hatten durchaus unterschiedliche Positionen zum jüdischen Leben in Deutschland und leben ihren Glauben auf unterschiedliche Art und Weise. Außerdem habe ich einige praktische Dinge gelernt: zum Beispiel über die Geschichte der jüdischen Kontingentflüchtlinge und wie Jüd*innen den Schabbat verbringen.

    Anna Sophie: Ich fand es sehr lehrreich, einen persönlichen Einblick in die verschiedenen Traditionen und Feiertage des Judentums zu bekommen und zu erfahren, wie individuell und unterschiedlich Personen jüdischen Glaubens diese leben. Ich fand vor allem Igors Idee, das Handy am „Ruhetag“ abzuschalten, sehr inspirierend und dachte mir, dass die Mehrheitsgesellschaft sich davon vielleicht noch eine Scheibe abschneiden könnte. Außerdem wusste ich vorher nichts über „jüdische Gesetze“, z.B. dass das Jüdischsein über die Mutter vererbt wird. Es war interessant, einen kleinen Einblick zu kriegen, was es vielleicht auch an innerjüdischen Konflikten gibt, über die die jüdische Community streitet.

    Jenny: Ich habe viel über die Integration von jüdischen Praktiken in den Alltag gelernt. Ich möchte mir jetzt einen Kalender für alle religiösen Feiertage besorgen, damit ich das auch in meinem Alltag mehr mitdenke.

    Gibt es etwas, das dich im Gespräch überrascht oder berührt hat?

    Emily: Ich denke, am meisten hat mich der Satz „Eine Hand ist immer am Koffer“ berührt. Auch wenn Julia und Igor betont haben, dass sie sich allgemein sicher in Deutschland fühlen, wurde mir klar, dass manche Menschen einen Notfallplan haben müssen, und dass es ein großes Privileg ist, sich um so etwas keine Gedanken machen zu müssen.

    Anna Sophie: Igor meinte, dass das Antisemitismusproblem vor 10 bis 15 Jahren nicht so allgegenwärtig war und er sich damals sicherer gefühlt hat als heute. Heute überlege er schon manchmal, ob seine Kinder sicher seien. Ich war einfach nur unglaublich traurig und wütend, dass sich ein Vater in Deutschland Gedanken darüber machen muss, ob seine Kinder sicher sind, wenn sie Menschen von ihrer Religionszugehörigkeit erzählen.

    Außerdem ist mir sein Satz: „Ja, ich kann meine Religion frei ausleben – in meinen vier Wänden“ sehr stark in Erinnerung geblieben. Igor hat davon geredet, wie absurd es ist, dass er als Jude für die Taten von Netanyahu verantwortlich gemacht wird. Er habe ja noch nicht einmal einen israelischen Pass, er dürfe dort nicht wählen. Er sei Deutscher und nicht Israeli. Und dann das Thema Symbolpolitk der deutschen Politiker*innen. Julia meinte so eindrücklich: „Einmal im Jahr ’nie wieder‘ sagen und dann war’s das“. Wir müssen aufhören, immer nur die gleichen Rituale abzuspielen, und anfangen, uns ernsthaft mit dem Thema „Jüdisches Leben heute“ auseinanderzusetzen.

    Anna H.: Berührt hat mich, dass es immer schwieriger wird, die jüdische Religion zu praktizieren, ohne Diskriminierung oder Anfeindungen zu erfahren, bzw. dass sich viele jüdische Menschen zumindest Gedanken darüber machen müssen, ob das Leben hier sicher ist.

    Was ist nach dem Gespräch anders als vorher?

    Emily: Entgegen meiner anfänglichen Skepsis glaube ich nun, dass das Projekt „Meet a Jew“ wirklich wichtig ist – viele Menschen in Deutschland haben überhaupt keine praktischen Berührungspunkte mit dem jüdischen Glauben. Durch eine persönliche Begegnung wird das Judentum greifbarer und weniger abstrakt. Man kann Gesichter und persönliche Geschichten mit dem Thema verbinden.

    Anna Sophie: Ich fühle mich persönlich verbundener mit diesem Thema und fühle eine gewisse Verantwortung, Menschen in meinem Umfeld von dieser Begegnung zu erzählen und Menschen für dieses Thema zu sensibilisieren.

    Anna H.: Ich hätte Lust, mich tiefgehender mit Menschen zu unterhalten, die ihre Religion aktiv leben. Mir ist sehr stark bewusst geworden, wie sehr wir uns in Deutschland in der Auseinandersetzung mit dem Judentum auf den Holocaust beschränken. Die Beschäftigung mit der deutschen Geschichte ist wichtig und richtig – das steht nicht zur Diskussion. Aber wir übersehen oft, was jüdisches Leben heute bedeutet.

    Welche neuen Perspektiven hat die Begegnung für dich eröffnet?

    Anna H.: Meine Perspektive auf die deutsche Bildung hat sich total gewandelt. Ich habe mal geglaubt, dass wir in der Schule schon ganz gut über Antisemitismus aufgeklärt werden und dass  Antisemitismus so nie wieder zu einem Problem in Deutschland werden kann. Heute sehe ich das wie Julia: Wir müssen mehr über jüdisches Leben abseits des Holocaust lernen, damit Jüd*innen in Deutschland endlich als Teil der „Normalität“ gesehen werden.

    Natalia: Durch die (virtuelle) Begegnung bei „Meet a Jew“ wurde mir klar, dass ich zwar ein offener Mensch bin und gerne Neues lerne, aber nicht immer aktiv danach suche. Es gibt so viele Perspektiven, die ich noch nicht kenne. Das möchte ich ändern. Ich will, dass wir als Gesellschaft und als Redaktion von kohero dazu beitragen, dass sich alle Menschen sicher fühlen, dass sie leben können, wie sie wollen, und das auch sichtbar nach außen, nicht versteckt.

    Bezogen auf unser Gespräch mit Julia und Igor von „Meet a Jew“ wäre das eine christlich-jüdisch-muslimische Kultur in Deutschland, weil diese Vielfalt unsere Realität und auch Stärke ist. Wir sollten miteinander sprechen und nicht übereinander. Das ist ein Grundsatz bei uns in der kohero-Redaktion und er sollte sich generell in unserer Gesellschaft etablieren.

  • BePrepared – eine App zur Suchtprävention bei jungen Geflüchteten

    Alkohol und Drogen sind unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen eine ernstzunehmende Problematik. Besonders Geflüchtete sind wegen ihrer hohen psychischen Belastung stark gefährdet, abhängig zu werden. Professor Dr. Michael Klein ist Klinischer Psychologe und Psychotherapeut. Er forscht an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Köln auf dem Gebiet der Suchtprävention. Gemeinsam mit seinem Team hat Klein „BePrepared“ entwickelt, eine App zur Suchtprävention.

    Cannabis- und Alkoholkonsum unter Geflüchteten

    „Zielgruppe sind junge Geflüchtete, insbesondere sprechen wir Männer an. Die App zur Suchtprävention soll niedrigschwellig und selbstverständlich anonym sein. Es geht dabei vor allem um Alkohol und Cannabis“, beginnt der Kölner Professor das Gespräch mit unserem Magazin. Und: Die Betroffenen sind noch nicht abhängig, haben allerdings Probleme mit den eben genannten Substanzen. Die App soll die jungen Geflüchteten also möglichst früh erreichen, um einer schweren Suchterkrankung vorzubeugen.

    Hilfestellung zur Konsumreduktion

    Klein fährt fort: „Die Geflüchteten haben also im Alltag Probleme mit Alkohol und Cannabis, sie konsumieren. Über die App können sie sich informieren, weiterbilden, sich selbst reflektieren und ihren Konsum beobachten. Wir bieten ihnen konkrete Hilfestellung zur Konsumreduktion, zeigen neue Perspektiven auf, motivieren zu einem alternativen Verhalten.“

    Kostenlose App in verschiedenen Sprachen

    „BePrepared“ kann im App-Store kostenlos heruntergeladen werden. Die App zur Suchtprävention ist in fünf Sprachen verfügbar: Deutsch, Englisch, Arabisch, Farsi und Paschtu. „Die Übersetzung der App in die verschiedenen Sprachen war mit das Komplizierteste beim Programmieren. Wir haben Sprach- und Kulturmittler mit dieser Aufgabe beauftragt, und ich denke, dass das Ergebnis wirklich gut geworden ist“, erzählt der Psychologe.

    Vielfältige Gründe für Drogenkonsum

    Die Gründe, warum Menschen zu Drogen greifen, sind vielfältig. Sehr oft geht es um Stressreduktion oder um den Umgang mit psychischen Problemen. Beide Aspekte finden sich bei Geflüchteten sehr häufig. Sie leiden extrem unter einem hohen, inneren Druck, unter psychischem Stress. Viele sind schwer traumatisiert. Die Folge sind dann oft posttraumatische Belastungsstörungen.

    Prof. Dr. Klein. Privat

    Folgen der Sucht

    Doch der Drogenkonsum hat fatale Folgen. Dazu sagt der Suchtexperte: „Zunächst helfen die Drogen, die Angst wird geringer, man schläft besser, die Depressionen lassen nach. Die Drogen sind also erst einmal wirksam. Genau deswegen ist der Substanzmissbrauch auch so erfolgreich und so weit verbreitet, denn am Anfang geht es den Betroffenen ja besser. Doch die Langzeitfolgen sind gravierend.“

    Denn: Drogenkonsum kann vielfältige, psychische Störungen hervorrufen. Drogen lösen Depressionen und Angststörungen aus, können zu Psychosen führen. Doch wie kommen Betroffene aus dieser Sucht wieder heraus?

    Wege aus der Sucht

    Klein erklärt: „Zuerst einmal müssen die Abhängigen erkennen, dass sie ein Problem haben, dass die süchtig sind. Dagegen gibt es jedoch oft eine immense Abwehr: Man will nicht süchtig, man will nicht abhängig sein. Das ist einer der Gründe, warum es meistens so lange dauert, bis die Drogenproblematik angegangen wird. Aber es gibt Wege da raus. In der Regel hilft eine Therapie, und auch eine Sucht-Selbsthilfegruppe kann auf dem Weg, clean zu werden, unterstützen.“

    Institutionelle Hürden und sprachliche Barrieren

    Doch damit es gar nicht so weit kommt, haben Klein und sein Team die App „BePrepared“ entwickelt. Die App leistet einen wichtigen Beitrag zur Suchtprävention bei der schwer erreichbaren und unterversorgten Zielgruppe:  junge geflüchtete Menschen. Gerade Geflüchtete sind im deutschen Gesundheitssystem oft unterrepräsentiert. Das liegt zum einen an diversen institutionellen Hürden, aber auch an sprachlichen Barrieren. Beides führt dazu, dass bestehende Angebote für Geflüchtete nicht so leicht zugänglich sind und sie daher nicht wirken können. Die App „BePrepared“ soll also gerade diejenigen erreichen, die bisher nur unzureichenden Zugang zum Hilfesystem haben.

    „Wir haben etwa ein dreiviertel Jahr an der App gearbeitet. Bis jetzt wurde sie ungefähr 120-mal runtergeladen“, so Klein abschließend.

  • „Ein ganz normales Leben, nichts Besonderes“

    Amir wirkt müde am Telefon. Er hat kohero um Rat gebeten, da ihm seine Arbeitserlaubnis entzogen wurde und er fürchtet, abgeschoben zu werden. Zwei Mal ist sein Asylantrag abgelehnt worden, nun lebt er mit einer Duldung in Fulda. Man hört seinen hessischen Akzent, wenn er sagt: „Der Richter glaubt mir ned, das mein Leben in Gefahr ist, wenn ich zurück in den Iran gehe“.

    Amir ist 28 Jahre alt und stammt aus dem kurdischen Teil des Irans im Westen des Landes. Er hat im Iran studiert und einen Abschluss im Fach der Buchhaltung. Seine Familie hat er das letzte Mal vor über fünf Jahren gesehen, bevor er geflüchtet ist. Warum er flüchten musste? „Ich will darüber nicht mehr reden, es hat keinen Sinn mehr.“, sagt er kurz angebunden, aber dann erzählt er doch etwas:

    Mit zwei Lehrern und einigen Kommiliton*innen hat er eine politische Gruppe gegründet, die gegen das iranische Regime protestiert hat. Sie werden von einem Freund in der Gruppe verraten, bei Regimespionen oder inoffiziellen Polizist*innen, auf Persisch heißen sie اطلاعات [ettelā’āt], „Informanten“, wie er sagt. Sie kommen manchmal aus anderen arabischen Ländern, wie Syrien oder dem Libanon, sie führen Imbisse oder kleine Geschäfte, aber eigentlich arbeiten sie als zivile Polizist*innen.

    Als die Gruppe verraten wird, werden zwei der Mitglieder getötet, und Amir bekommt Angst: „Weißt du, in unserem Land, wenn man gegen das Regime protestiert, darauf steht unbedingt die Todesstrafe“, erklärt er. Amir beschließt zu flüchten. Sein Ziel ist nicht unbedingt Deutschland, er will einfach nur weg aus dem Iran. Kurdische Schleuser helfen ihm über die Grenze in die Türkei, und sie sagen ihm: In der Türkei kannst du nicht bleiben, du wirst abgeschoben. Geh besser weiter nach Europa, aber in Osteuropa kannst du auch nicht bleiben. Geh nach Deutschland, oder Holland, geh weiter.

    „Wenn ich zurück in den Iran muss, werde ich umgebracht. Ich muss in Deutschland bleiben.“

    Also läuft Amir weiter, die meiste Zeit ist er allein unterwegs, zu Fuß. Auf dem Weg lernt er manchmal andere Geflüchtete kennen, andere Kurd*innen, die heute über ganz Europa verstreut oder zurück im Iran sind. „Die Schleuser in Europa waren schlechter, sie wollen Geld verdienen, klar, aber manche betrügen oder schlagen uns“, sagt er.

    Mit 250 Leuten auf einem Schlauchboot setzt er auf eine kleine griechische Insel über. Dort greift ihn das Deutsche Rote Kreuz auf und bringt ihn in einem Bus nach Deutschland. Er ist jetzt illegal in Deutschland, doch er ist sich sicher: „Wenn ich zurück in den Iran muss, werde ich umgebracht. Ich muss in Deutschland bleiben.“

    Amir ist müde nach sechs Monaten Flucht. Er landet in einem Asylheim in Fulda mit fast 2000 Menschen, zu acht auf einem Zimmer für sechs Monate. Amir hat Schlafstörungen und kommt in den Mehrbettzimmern nicht mehr zur Ruhe. Dann wird er verlegt in ein kleineres Heim, wo er mit 30 Menschen auf 40 bis 50 qm wohnt. Trotzdem ist er allein. Er hat das Gefühl, niemandem vertrauen zu können.

    Die Menschen um ihn herum haben nichts zu tun, sie telefonieren, singen, schnarchen, streiten. Einige sind wach bis morgens früh, einige trinken, weil es sonst nichts zu tun gibt. Viele von ihnen hängen schon fast ein Jahr im Asylheim fest. Die Geflüchteten werden dort sich selbst überlassen, und wo so viele Menschen aufeinander wohnen, die nicht wissen, wie es weiter geht, entstehen ständig Konflikte. „So ist das Asylbewerberheim: Es gibt immer Streit.“, sagt Amir.

    Kontakt nur via Whatsapp

    Trotzdem macht Amir weiter, beantragt Asyl und eine private Wohnung wegen seiner Schlafstörungen. Um eine Ausbildung anfangen zu können, holt er den Hauptschulabschluss nach. Er macht einen Deutschkurs und nimmt einen Kredit auf, um den Führerschein machen zu können, Knie-Operationen und den Rechtsanwalt zu bezahlen.

    Manchmal telefoniert Amir mit seiner Familie über Whatsapp, und in den Gesprächen erfährt er, dass er im Iran immer noch gesucht wird. Seine Familie musste inzwischen aus dem kurdischen Teil des Irans in die Nähe der Hauptstadt umziehen. Amir kennt seine rechtliche Lage in Deutschland selbst kaum, aber für ihn ist klar, dass er nicht in den Iran zurückkehren kann. Sein Schicksal liegt jetzt in den Händen des Richters, der über seinen Asylantrag entscheidet.

    Doch der Antrag wird abgelehnt. Der Richter glaubt ihm nicht, dass er im Iran verfolgt wird. Er bekommt lediglich eine Duldung. Amir ist frustriert: „Sie sehen doch, wie die Leute im Iran hingerichtet werden, wie können sie mir nicht glauben?“ Andere Geflüchtete machen gar nichts, und bekommen trotzdem alles, sagt er. Er schraubt seine Ansprüche herunter, sagt der Ausländerbehörde, er brauche keine eigene Wohnung, nur ein privates Zimmer, damit er wieder schlafen kann. Sie wollen ihm nicht helfen. Erst nach drei bis vier Jahren bestätigt ein Arzt, dass Amir alleine wohnen muss. Endlich darf er umziehen.

    Im Oktober 2018 fängt er nach einer Woche Praktikum eine Ausbildung zum Mechatroniker an. „Den Hauptschulabschluss habe ich umsonst gemacht, mein Chef hat nicht mal die in die Zeugnisse geguckt“, sagt er. Aber das ist jetzt egal, Amir hat einen unbefristeten Arbeitsvertrag. Er und sein Arbeitgeber hoffen, damit seine Chancen auf eine Bewilligung seines Asylantrages zu erhöhen.

    Damit er sich die Arztkosten, den Kredit, die Wohnung, die Versicherung und ein Handy finanzieren kann, arbeitet Amir sechs Tage die Woche, fünf in der Ausbildung und samstags zusätzlich als Nebenjob. Er mag die Arbeit, sein Chef ist zufrieden, Amir kann seine Rechnungen bezahlen. Es scheint bergauf zu gehen – bis sich mit der Corona-Pandemie eine neue Krise am Horizont abzeichnet.

    Rückschläge und Chancen

    Im Januar 2021, als Deutschland bereits im zweiten Lockdown steckt und sich eine allgemeine Pandemiemüdigkeit breit macht, bekommt Amir Post von der Ausländerbehörde. Er hat vier Monate Zeit, einen Reisepass vorzulegen, die Arbeitserlaubnis wird ihm ab dem 15. Januar entzogen. Für Amir, der kaum finanzielle Unterstützung vom Staat bekommt und jeden Monat 200€ seines Kredites zurückzahlen muss, ist das ein herber Rückschlag. „Jetzt habe ich nichts mehr, ich darf nicht arbeiten.“, sagt er.

    Er versucht eine Identifikationsnummer im Iran zu beantragen, doch die Behörden haben wegen Corona zwei Monate lang geschlossen. Als er endlich eine vorläufige Bescheinigung vom iranischen Konsulat erhält, mit der Geduldete normalerweise weiterarbeiten dürfen, behält die Ausländerbehörde seine Arbeitserlaubnis trotzdem ein. Amir ist misstrauisch, denn er fürchtet, dass die Ausländerbehörde ihn aufgrund einer Vorstrafe, die er wegen einer Schlägerei im Asylbewerberheim bekommen hat, abschieben will.  Er hat außerdem von anderen Iraner*innen gehört, die ihren Reisepass abgegeben haben und dann abgeschoben wurden.

    Amir ist wieder auf sich gestellt, und er wartet, wie alle anderen, dass die Pandemie vorüber geht. Aber er wartet auch vor dem iranischen Konsulat, wo sich die Menschen in langen Schlangen aufreihen, und er wartet darauf, dass die Behörden im Iran wieder öffnen. Er wartet auf Dinge, die für andere Menschen selbstverständlich sind. Denn fragt man ihn, was er sich für die Zukunft wünscht, sagt Amir: „Einfach ein normales Leben. Nach sechs Jahren wünsche ich mir ein normales Leben, wie andere eine Wohnung haben, wie andere arbeiten, nichts Großes. Einfach ein normales Leben.“

    Mittlerweile sind einige Wochen vergangen. Amir hat seinen Reisepass vorgelegt und darf wieder arbeiten. Er hat eine Ausbildungsduldung beantragt und wartet auf eine Entscheidung der Behörde.

  • Abschiebung – Drei Menschen und ihr Schicksal

    Mitte Januar 2020 landete einer der ersten Abschiebeflüge aus Deutschland seit Beginn der Corona-Pandemie in Afghanistan. Die 26 Betroffenen an Bord gehören zu den über 20.000 Menschen, die jährlich aus Deutschland abgeschoben werden. Für sie hört ein Leben auf, das sie gerade erst begonnen oder schon immer hier geführt haben. Für viele Betroffene ist es aufgrund von Einreisesperren nach der Abschiebung unmöglich, dieses Leben wieder aufzunehmen. Wie geraten Betroffene in diese Lage, was bedeutet die Abschiebung für sie und wie kann eine drohende Abschiebung verhindert werden? Wir erzählen anhand von drei Menschen, wie eine Abschiebung das Leben verändert.

    Farah Demir – die Staatenlose

    Farah flüchte 1986 mit ihrer Familie vor dem Krieg im Libanon. Der Vater verliert auf der Flucht die Ausweise, fälscht sie und erhält damit in Deutschland Asyl für die Familie. Doch das fliegt später auf – die Familie wird in Deutschland geduldet, ist jedoch staatenlos. Das heißt: Farah hat keinen Pass, kann nicht wählen gehen und darf ihre Heimat Hameln nicht verlassen. Sie befindet sich, wie 26.000 andere Staatenlose in Deutschland, in einem rechtlichen Schwebezustand: Um weiter in Deutschland leben und arbeiten zu können, muss sie einen gültigen Pass nachweisen können.

    Farah kann weder in den Libanon reisen, um die entsprechenden Nachweise zu besorgen, noch erkennen türkische Konsulate in Hannover und Berlin mögliche Nachweise aus der Türkei an. So hangelt sie sich von Duldung zu Duldung, die alle sechs Monate erneuert werden muss. Allen Hindernissen zum Trotz macht Farah Abitur, dann eine Ausbildung zur Krankenpflegerin – ohne Pass darf sie nicht studieren. Heute arbeitet sie auf der Intensivstation des Klinikums der Medizinischen Hochschule Hannover. Im November 2020 stellt ihr die Ausländerbehörde ein Ultimatum: Bis spätestens 20. Dezember soll sie einen gültigen Ausweis vorlegen, andernfalls droht ihr der Verlust der Arbeitserlaubnis oder gar die Abschiebung. Ein Schock für die 36-Jährige: „Ich würde in ein Land abgeschoben, das ich gar nicht kenne.“

    Als ihr Fall im Klinikum bekannt wird, beginnt die Personalleitung eine Petition für Farahs Bleiberecht. Sie kontaktiert Kommunalpolitiker*innen, um sie auf Farahs Schicksal aufmerksam zu machen. Mehrere Zeitungen berichten über ihre Geschichte und mehr als 30.000 Menschen unterschreiben die Petition. Schließlich kann Farah aufatmen: Das niedersächsische Innenministerium kündigt an, sie bei der Nachweisung der libanesischen oder türkischen Staatsbürgerschaft zu unterstützen oder ihr das Aufenthaltsrecht zu gewähren. Farah Demir ist glücklich, so viele Menschen hinter sich zu haben. Doch ihr Personalleiter, der die Petition aufsetzte, ist wütend über das Vorgehen der Ausländerbehörde: „Es ist doch absurd, dass wir Pflegepersonal aus Mexiko und den Philippinen anwerben und unseres abschieben.“

    Die Petition für Farah Demirs Bleiberecht findet ihr hier.
    Eine Initiative für staatenlose Menschen findet ihr hier.
    Quellen: Zeit, nds-fluerat.org

     

    Tina – das junge Mädchen aus Österreich

    Der Fall von Tina hat Anfang 2021 in Österreich eine Protestwelle ausgelöst. Die Zwölfjährige ist in Österreich geboren und hat den Großteil ihres Lebens dort verbracht. Georgien, das Land, aus dem ihre Eltern kommen, kennt sie kaum. Doch alle sechs Asylanträge, die ihre Eltern in Österreich stellen, werden abgelehnt. Als Tina plötzlich nicht mehr am Online-Unterricht teilnimmt, versuchen ihre Klassenkamerad*innen und Lehrer*innen sie zu erreichen. Tina meldet sich: Sie sei von der Polizei abgeholt worden und fliege in drei Tagen nach Georgien.

    Während Tina, ihre Mutter und ihre Schwester in der Abschiebehaft sitzen, versuchen ihre Mitschüler*innen alles, um Tinas Abschiebung zu verhindern. Sie setzen eine Petition auf, wenden sich an die Öffentlichkeit und protestieren mit 160 Menschen vor dem Abschiebezentrum in Wien für ihr Bleiberecht. Doch es hilft nichts: Nach drei Tagen in der Abschiebehaft wird Tinas Familie mit einer weiteren georgischen und einer armenischen Familie abgeschoben.

    Tinas Abschiebung konnte nicht verhindert werden, aber sie hat eine öffentliche Debatte über die Praxis der Abschiebung in Gang gebracht. Der österreichische Bundespräsident Alexander Van der Bellen kritisierte den Vorfall deutlich: „Ich kann nicht glauben, dass wir in einem Land leben, wo dies in dieser Form wirklich notwendig ist.“ Er appellierte an gegenseitigen Respekt und menschlichen Umgang und forderte, dem Wohl von Kindern und Jugendlichen Vorrang zu geben. Auch Entscheidungsträger in der Politik, wie der Wiener Bürgermeister und Österreichs Vizekanzler äußerten Kritik an der Abschiebung von Kindern: Es sei unmenschlich, Kinder aus ihrer Heimat abzuschieben – Rechtsgrundlage hin oder her.

    Quellen: Zeit, Zeit, derstandart.at

     

    Razaq Yar – der zukünftige Azubi

    Razaq Yar kommt 2015 als unbegleiteter minderjähriger Geflüchteter nach Deutschland. Seine Heimat ist Afghanistan, doch seine Familie lebt inzwischen nicht mehr dort: Sie floh nach Tadschikistan, der Vater starb an den Folgen eines Anschlags der Taliban. Razaq macht in Deutschland einen Schulabschluss und beginnt in einem Seniorenheim in Kulmbach zu arbeiten. Die Bewohner*innen mögen Razaq, die Arbeit gibt ihm Halt in der neuen Heimat und schließlich bietet die Leitung des Heims ihm sogar einen Ausbildungsplatz an. Im September 2021 soll es losgehen, doch dann kommt ihm eine Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flucht (BaMF) in die Quere. Zum dritten Mal wird sein Asylantrag abgelehnt, die Arbeitserlaubnis entzogen und die „freiwillige Ausreise“ nahegelegt – ansonsten droht die Abschiebung.

    Doch auch Razaq bekommt Unterstützung durch eine Petition: Mehr als 30.000 Menschen unterschreiben, damit ihm die Ausbildung ermöglicht werden kann. Und es klappt: Razaq muss zwar ausreisen, um sein Visumsverfahren legal nachzuholen, doch bei seiner Rückkehr erhält er das Bleiberecht und kann im September 2021 die Ausbildung zum Altenpfleger beginnen.

    Die Petition zu Razaq Yar und mehr über seine Geschichte findet ihr hier.
    Quellen: rainer-ludwig-fw.de, infranken.de

     

    Nur ein kleiner Ausschnitt

    Die Geschichten von Farah, Tina und Razaq zeigen nur einen kleinen Ausschnitt der Schicksale von abgeschobenen und von Abschiebung bedrohter Menschen. Wer nach ihren Namen sucht, stößt unweigerlich auf dutzende weitere, berührende Geschichten. Kaum eine*r hatte so viel Glück wie Farah oder Razaq. Ihnen half der Einsatz ihrer Vorgesetzten und das Publik werden ihrer Geschichte. Doch die meisten, denen mit Abschiebung gedroht wird, können nicht auf die Unterstützung von Menschen mit mehr Reichweite und Macht zählen.

    Viele können nicht beweisen, dass sie bereits voll integriert sind oder einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag leisten können. Und es bleibt eine absolute Ausnahme, dass sich in kürzester Zeit 30.000 Unterschriften für das Bleiberecht einer*s Asylbewerber*in finden. Staatenlose, Asylbewerber*innen und Geflüchtete müssen sich eine Aufenthaltserlaubnis oft durch einen zermürbenden Prozess verdienen. Doch verdient das Bleiberecht nur, wer seine wirtschaftliche Verwertbarkeit und Integrationsfähigkeit demonstrieren kann? Und warum muss sich erst eine Schar an Fürsprechern hinter den Asylbewerber*innen versammeln, damit sie gehört werden?

    Während Polizei und Bundesämter auf Rechtsstaatlichkeit pochen, werden weiterhin Menschen gegen ihren Willen abgeschoben. Mit ihnen abgeschoben wird das Leben, dass sie sich in Europa aufgebaut haben – ihre Hoffnungen, Ziele und Anstrengungen, die sie auf dem Weg schon geleistet haben.

  • Barmherzigkeit als Bewegung des Herzens – Teil 2

    Barmherzigkeit – was bedeutet das für das Leben von Menschen in unterschiedlichen Teilen der Welt? Für eine zweiteilige Weihnachts-Reportage hier im kohero Magazin sind wir dieser Frage nachgegangen. Mit weiteren Stimmen aus verschiedenen Ländern wird in dieser Ausgabe der gestern begonnene Beitrag fortgesetzt.

    So unterschiedlich die hier gesammelten Erfahrungsberichte auch sein mögen – deutlich wird dabei immer wieder, wie Barmherzigkeit zu spürbaren und wirksamen Veränderungen führt. Denn es geht dabei nicht nur um fromme Wünsche oder gute Gefühle. Ganz konkret fordert Barmherzigkeit zum Handeln und Helfen heraus. Sie sensibilisiert die Sinne für die Bedürfnisse von Körper und Seele und macht einen Unterschied inmitten von lebensfeindlichen und zerstörerischen Einflüssen und Bedrohungen.

     Unterdrückung und Terror sind unbarmherzig

    Bei Tee und Kerzenschein habe ich mich mit Sajad Allah Dad im Advent dazu ausgetauscht. Seine Kindheit hat er in Afghanistan verbracht. Es folgten viele Jahre im Iran. Schließlich die Flucht. Seit 2011 lebt er nun in Deutschland.

    Barmherzigkeit, so seine Überzeugung im Rückblick auf mehr als 40 Lebensjahre, ist unverzichtbar für unser Zusammenleben. Gerade in schwierigen Situationen hat er im Miteinander von Menschen immer wieder erlebt, was es heißt, Not zu teilen, Hilfe anzunehmen und andere zu unterstützen: in Afghanistan und im Iran, auf der Flucht und schließlich in Deutschland. Es sind vor allem die persönlichen, oft überraschenden Begegnungen, die ihm da einfallen. Und die sich selbst in der größten Bedrängnis unvermutet ereignen können.

    Zugleich kennt er aber auch die andere Seite. Wo Unterdrückung und Terror, Egoismus und Machtgier die Oberhand gewinnen, wo Religion durch Gewalt entstellt und missbraucht wird – da zeigt das Leben seine grausamen und unbarmherzigen Seiten. Dennoch, so glaubt Sajad, bleibt Barmherzigkeit immer und überall eine Möglichkeit, die Gutes bewirkt und Veränderungen anstoßen kann – von Mensch zu Mensch.

    Barmherzigkeit ist eine Bewegung des Herzens

    Für Gino Victor Ruoso ist Barmherzigkeit ebenfalls eine elementare und unverzichtbare Erfahrung – aktuell ganz besonders vor dem Hintergrund der Corona-Krise. Er ist in Deutschland geboren, lebt aber schon seit seiner Kindheit in Italien. Unter dem Eindruck der Ereignisse dieses Jahres ist ihm Barmherzigkeit umso intensiver als Wert, Sinn und Sehnsucht bewusst geworden. Er berichtet:

    Ich bin fest davon überzeugt, dass Barmherzigkeit das wichtigste Wort der Welt ist: Alle wichtigen religiösen Kulturen des Planeten haben es aufgenommen und laden dazu ein, es zu praktizieren. Barmherzigkeit ist eine Bewegung des Herzens. Es ist ein Weitwerden der Seele, um den anderen mit seiner Verletzlichkeit willkommen zu heißen.

    Gerade dieses Jahr hat es sich mehr denn je als notwendig erwiesen, sich dem täglichen Leiden zu nähern, das durch die Pandemie verursacht wird: wie viele Tränen, wie viele vorzeitige Todesfälle, wie viel Schmerz nach dem Tod für diejenigen, die gesehen haben, wie ihre Lieben weggenommen wurden, ohne sie überhaupt verabschieden zu können.

    Ohne Barmherzigkeit würde ich mich leer fühlen

    Ich weiß nicht, ob ich es in diesen harten Monaten genug geübt habe, aber ich weiß, dass nur Barmherzigkeit mir geholfen hat, mein Urteilsvermögen nicht zu verhärten, Meinungen beiseite zu legen und zumindest ein wenig in Wissenschaft und Politik zu vertrauen. Damit immer weniger Menschen der Gefahr ausgesetzt sind, krank zu werden.

    Ich habe in diesen Monaten viele verschiedene Gefühle erlebt. Aber nur Barmherzigkeit möchte ich bewahren. Angst, Wut, Zweifel können ohne wirklichen Verlust verschwinden. Aber ohne Barmherzigkeit würde ich mich leer fühlen. Ich weinte mit meiner Familie über herzzerreißende Szenen, die wir gesehen haben. Und trauerte um Menschen, die gegangen sind. Ich habe mich freiwillig engagiert, um so viel wie möglich zu helfen und versucht, das Beste herauszuholen, um die langen Wochen im Haus zu ertragen. Aus Mitgefühl für die Schwächsten unserer Familie: die Kinder, Enkelkinder, Mutter und Schwiegereltern, die im Alter von 80 Jahre diese ernsten Ereignisse miterleben müssen und so viele Freunde gehen sehen.

    Wir haben uns als Menschen nie nötiger gebraucht

    Engagement und die Bereitschaft, sich zu bewegen, ist auch für Franka-Maria Andoh in Accra/Ghana ganz wichtig – besonders in diesem Jahr – um Barmherzigkeit wirklich erfahrbar werden zu lassen. Sie berichtet:

    Kürzlich hat mir der Französischlehrer meiner Tochter eine Nachricht über WhatsApp gesendet. Es war eine Predigt eines nigerianischen Priesters, der interessanterweise Pater Blessing genannt wurde. Er benutzte zwei Wörter im nigerianischen Pidgin-Englisch, um mitfühlende Menschen zu beschreiben. Er nannte sie Leute mit „sorgenden Herzen“. Jemand mit „sorgendem Herz“, erklärte er, beendet die Dinge nicht mit Worten des Mitgefühls, sondern mit Taten. Es sind engagierte, handlungsorientierte Leute, die dafür sorgen, dass andere in der Not auch wirklich Hilfe bekommen.

    Ich mochte seine Erklärung, genau zur rechten Zeit in einem Jahr, das die Leute so sehr herausfordert. Aber die Frage für mich ist, was wir angesichts der Herausforderungen gelernt haben.

    Auf echtes Mitwirken kommt es an

    Ich kann nur mit meinen Gedanken sprechen: Wir haben uns als Menschen nie nötiger gebraucht. Nicht nur für gesellschaftliche Zusammenkünfte, gemeinsame Vergnügungen oder Arbeit, sondern um mitfühlend, um barmherzig zu sein und uns umeinander zu kümmern. Wenn du ein „sorgendes Herz“ für andere hast, wirst du das tun, was beim Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung einfach erscheint: Du möchtest nicht nur dich selbst schützen, sondern auch andere. Wenn wir ein „sorgendes Herz“ haben, schaffen wir eine Welt, in der wir nicht vorbeigehen, wenn wir jemanden in Not sehen. Wir halten inne, um zu helfen und etwas zu bewirken.

    Wir haben ein Sprichwort in Ghana, das besagt: „Was nützt es, in ein Haus zu kommen, wo ein krankes Kind liegt, und zu fragen, warum das Kind nicht in die Klinik gebracht worden ist.“ Es ist ein Sprichwort, das in der Gemeinschaft ein Empfinden für echtes Mitwirken fördert, statt nur zu beobachten und zu kommentieren.

    Ich glaube, wir alle brauchen ein „sorgendes Herz“, um unsere schöne Welt mit Liebe, Freundlichkeit und Barmherzigkeit zu erfüllen. Ein „sorgendes Herz“, das sich nach vorn wendet, wird den Unterschied in unserem Leben ausmachen.

     

  • Barmherzigkeit als Kompass – Teil 1

    Der Blick zum abendlichen Himmel über dem Hafen führt vorbei an Weihnachtsdeko und Rettungsring: Hoffnungsleuchten und Nothelfer. Erinnerungen an das Schöne wie Verletzliche in diesem Jahr, an erfahrene Bedrohung wie Barmherzigkeit – hier und anderswo, auf der Flucht, in Zeiten der Pandemie…

    Barmherzigkeit? Zum alltäglichen Sprachgebrauch gehört das Wort eher nicht. Mag sein, dass es für einige einen etwas altertümlichen Klang hat. Und manche, die mit der deutschen Sprache noch nicht so vertraut sind, lesen es hier vielleicht zum ersten Mal. Aber von der leisen Kraft der Barmherzigkeit erzählt, darauf gehofft und danach gehandelt – das haben vermutlich sehr viele schon. Denn Menschen verbinden einen reichen Wort- und Erfahrungsschatz mit dem, was Barmherzigkeit bedeutet – überall und in allen Sprachen der Welt.

    Barmherzigkeit – ein Weihnachtswort?

    Barmherzigkeit gehört zu den zentralen Begriffen der Sozialethik und der Religionen. Im Islam, Judentum, Christentum und bei den Bahai wird Barmherzigkeit zugleich als eine herausragende Eigenschaft Gottes angesehen. Und als solche taucht sie in den heiligen Schriften an vielen Stellen auf – besonders auch im Kontext der Überlieferungen rund um die Geburt von Jesus von Nazareth. Barmherzigkeit – ein Weihnachtswort also für das Jahr 2020? Ein Jahreswechselwort in einer Zeit, in der das Leben durch die Pandemie eine weltweite Erschütterung erfahren hat?

    Danach haben wir Menschen in und aus verschiedenen Teilen der Welt gefragt. Für das kohero Magazin waren sie bereit, ihre persönlichen Erfahrungen mit Barmherzigkeit in verschiedenen Lebenssituationen und Regionen der Welt zu beschreiben – hier nun (z.T. ins Deutsche übersetzt) nachzulesen als zweiteilige Sammlung von Geschichten und Gedanken für die Weihnachtstage 2020.

    Barmherzigkeit ist Warmherzigkeit

    Yilmaz Holtz-Ersahin ist einer von ihnen. 1972 in Hinis bei Erzurum (Ost-Türkei) geboren, ist er aufgewachsen in einer kurdisch-armenisch-türkischen Kultur. Seit 1991 lebt er in Deutschland. Auf die Frage nach seinen persönlichen Erfahrungen mit Barmherzigkeit, antwortet er mit einer Erinnerung an das, was er als Kind in seinem Heimatdorf erlebt hat:

    Barmherzigkeit ist Warmherzigkeit und hat in meiner alten Kultur sehr viel mit Wärme und Menschlichkeit untereinander wie auch gegenüber der Natur und allen Lebewesen zu tun. Als ich Kind war, hatten wir nicht so viel, also keine großartigen Produkte, die industriell hergestellt wurden. Wir lebten ohne Strom in den von Kerzenlichtern beleuchteten Flachdachhäusern mit kleinen Fenstern in dem kleinen Wohnzimmer mit Blick auf die hohen schneebedeckten Berge. Wir sehnten uns immer nach der Wärme der Menschen in diesen kalten kargen Landschaften. Denn wir wussten nicht viel über die Vielfalt der Waren, die in Industriegesellschaften glücklich machen. Was uns glücklich machte, war die menschliche Wärme.

    Barmherzigkeit ist eine zärtliche Berührung aus Liebe zu den Kindern, den älteren oder schwachen Menschen. Die Warmherzigkeit war in den Worten zu spüren. Die Geschichten, Märchen, Mythen oder die Überlieferungen, die wir von unseren Großeltern oder Geschichtenerzählern hörten, waren für uns Botschaften der Barmherzigkeit.

    Zwischen dem Guten und dem Bösen unterscheiden

    Natürlich waren nicht alle Märchen oder Erzählungen voller Barmherzigkeit. Es gab darin auch das Böse oder Menschen mit schlechten Absichten. Unsere Aufgabe war es, zwischen dem Guten und dem Bösen zu unterscheiden. Für uns gehörte zur Barmherzlichkeit das Wissen um diesen Dualismus und das Erkennen des Guten.

    In dem Dorf, in dem ich aufwuchs, haben sich die Dorfbewohner der 50 Häuser in den langen Wintermonaten untereinander versorgt. Wenn einer kein Zucker hatte und der andere viel Tee, haben sie die Sachen untereinander getauscht. Man schämte sich nicht, den Nachbarn zu fragen oder zu sagen: Ich habe nichts zu essen oder keine Kartoffeln. Mir fehlen bestimmte Lebensmittel oder bestimmte Gewürze, Zutaten – was auch immer. Die Dorfbewohner tauschten ihre Sachen, bis der Schnee schmolz und die ersten Blumen sich aus der Erde emporhoben. Es war das Tauschen der Dinge, das Tauschen der Ideen und Gespräche, was diese Menschen glücklich machte.

    Es herrschte in unserem Dorf der Glaube, dass Hasen beziehungsweise Kaninchen heilige Tiere seien, die man nicht jagen oder schlagen, nicht schlachten und essen durfte. Wenn sie sich aus Angst vor den Jägern mit anderem Glauben aus anderen Dörfern von den Bergen retten wollten, sind sie oft in unser Dorf gekommen. Unser Dorf war Zufluchtsort für alle Hasen in dieser Natur. Und wir haben sie gerettet und geschützt.  Das war für uns zum Beispiel auch eine Barmherzigkeit der Natur gegenüber. Natürlich durften diese Jäger nicht in unser Dorf reinkommen, um sie zu jagen. Sie genossen eine Immunität und hatten Schutz.

    Über die eigene Bequemlichkeit hinausschauen

    An ein Erlebnis, das noch nicht so lange zurück liegt, erinnert sich Ellen Lindsey Awuku, eine junge Frau, die in Ghana lebt. Sie erzählt:

    Barmherzigkeit bedeutet für mich, über unsere eigenen Bedürfnisse, Leiden oder Bequemlichkeiten hinauszuschauen und die Bedürfnisse anderer zu erkennen und Maßnahmen zu ergreifen, um ein Lächeln auf ihre Gesichter und Wärme in ihre Herzen zu zaubern. Dabei denke ich besonders an eine persönliche Erfahrung mit Barmherzigkeit in diesem Jahr:

    Es gab einen Vorfall Anfang dieses Jahres, ungefähr zur gleichen Zeit, als die Pandemie begann. Ich war in meinem Zimmer, als ich von draußen viel Geschwätz hörte. Also ging ich hin, um einen Blick darauf zu werfen. Draußen sah ich einen Mann, der furchtbar krank aussah und möglicherweise schon seit vielen Tagen hungerte. Er brauchte offensichtlich Hilfe. Aber die Leute kümmerte das wenig. Manche reagierten abfällig, da er als Alkoholiker bekannt war. Ich fragte, warum alle nur dastanden, während der Mann hier dem Tode nahe schien. Die meisten antworteten, dass er es so verdient hätte. Da dachte ich: Das kann nicht sein. Menschen, die in Not sind, müssen unterstützt werden, egal welche Entscheidungen sie getroffen haben.

    Nähe schenken am Ende eines Lebens

    Ich ging zu einem Mann, der Erste Hilfe angeboten hatte, während ich selbst Sicherheitsvorkehrungen traf und holte ihm dann etwas zu essen. Ich rief nach dem Krankenwagen, aber der verzögerte sich. Also rief ich die Polizei an. Aber sie sagten nur, sie sollten ihn ins Krankenhaus bringen, da seine Familie nicht bekannt war. Kein Taxi war bereit, ihn aufzunehmen, weil er so verwahrlost aussah.

    Also suchte ich ein paar Klamotten für ihn zusammen und rief weiter den Krankenwagen. Es war schon ziemlich spät. Also suchte ich für ihn einen Platz zum Schlafen und deckte ihn zu, damit er sich die ganze Nacht über ein wenig warm fühlte. Oft kam ich, um zu sehen, ob es ihm gut ging. Und ich rief weiter nach dem Krankenwagen. Glücklicherweise kam der Krankenwagen dann endlich am Morgen. Leider starb der Mann kurz nach Erreichen des Krankenhauses.

    Es war herzzerreißend, das erleben zu müssen. Denn morgens noch schien es ihm etwas besser zu gehen. Ich denke oft daran, wie die Geschichte ausgegangen wäre, wenn alle um ihn herum ein wenig mitfühlend gewesen wären und sich rechtzeitig um ihn gekümmert hätten. Aber ich bin auch froh, dass ich ihm etwas Hilfe anbieten und bei ihm sein konnte am Ende seines Lebens. Auch wenn es nicht gelungen ist, sein Leben zu retten.

    Wir brauchen einen neuen Kompass

    Einen weiteren Aspekt zum Thema „Barmherzigkeit“ bringt Daniela Skokovic aus Serbien mit ein. Ihr ist es wichtig, dass Barmherzigkeit sich nicht allein auf eine mitfühlende Haltung anderen Menschen gegenüber beschränkt, sondern ebenso Verantwortung und Achtsamkeit für die Natur mit umfasst. Sie schreibt:

    In diesen Tagen, in denen wir in neuer Weise unter den Bedingungen eines “gefahrvollen” Lebens und der Angst vor unsichtbaren Feinden leben, müssen wir über die wichtigsten Prinzipien unseres Lebensraums nachdenken. Das Zusammenleben in unserer Zeit ist gewissermaßen von Barmherzigkeit geprägt – durch Mitgefühl für andere Menschen, aber mehr noch für die Natur: Liebe üben, sich achtsam und respektvoll um alle verlassenen Lebewesen kümmern, sauberes Wasser, frische Luft – das sind die Ziele für ein normales zukünftiges Leben. Die Natur erinnert uns ständig daran, mitfühlender damit umzugehen! Wir sind nicht allein auf diesem Planeten! Wir brauchen einen neuen Kompass, ein “an Barmherzigkeit orientiertes Herz” für die richtige Richtung auf unserem Lebensweg.

    Mit weiteren Geschichten und Gedanken aus Afghanistan, Italien und Afrika folgt morgen, am 25. 12., der zweite Teil dieses Weihnachts-Beitrags zum Thema „Barmherzigkeit“.

     

  • Kriegstraumata in der Familie

    Der Krieg in Sri Lanka brach aufgrund der Pogrome im Jahre 1983 aus, als in der Hauptstadt Colombo tamilische Zivilisten von singhalesischen Mobs getötet und zahlreiche Geschäfte geplündert wurden. Innerhalb weniger Wochen ereignete sich in Sri Lanka ein unbeschreibliches Szenario an ermordeten tamilischen Zivilisten.

    Der Monat Juli ist in der Geschichte des Bürgerkrieges von Sri Lanka als „Schwarzer Juli“ eingegangen. Im Juli 1983 wurden mehrere Tausend Tamilen durch die staatliche Bewachung von singhalesischen Mobs getötet. Brennende Autos und herumliegende Leichen waren zu dieser Zeit an der Tagesordnung. Die Flucht ins Ausland war für viele die einzige Lösung, ihr Leben noch zu retten.

    Den Flüchtlingen gehörte meine Mutter mit meinen beiden Geschwistern an. Mein Vater, der bereits vor Ausbruch des Krieges nach Deutschland gekommen war, blieb von den Pogromen verschont. Die Flüchtlinge ließen ihr gesamtes Hab und Gut zurück, um ihren Traum nach einem besseren und vor allem friedlicheren Leben im Ausland zu verwirklichen.

    Wenn Trauer und Wut sich anstauen

    Unterschätzt wird das traumatisierte Erlebnis, welches sich in der Heimat ereignete. Gerade diese Traumatisierung führt später zu unkontrollierten emotionalen Verhaltensweisen gegenüber den Kindern. Die betroffenen Menschen tragen eine unbeschreibliche angestaute Trauer und Wut in sich. Das Anstauen des Erlebten aus der Heimat, begleitet von zusätzlichen Problemen im Exil-Land, kann die Psyche ab einem bestimmten Punkt nicht mehr tragen. Emotionale Gewaltausbrüche sind das Resultat dieses psychischen Drucks, unter dem die betroffenen Flüchtlinge jahrelang leiden. Viele Migranten ignorieren dies. Die Selbstreflexion, dass man ein Kriegstrauma erlebt hat, gelingt nur wenigen.

    In meiner Familie waren beide Elternteile von unterschiedlichen Erlebnissen geprägt. Mein Vater blieb von einem Kriegstrauma und der ständigen Angst um sein Leben verschont. Er machte sich auf die weite Reise nach Deutschland, um ein neues Leben aufzubauen.

    Meine Mutter – im September 2008 verstorben – dagegen erlebte den Bürgerkrieg zusammen mit meinen beiden älteren Geschwistern. Fünf Jahre verbrachte sie ohne meinen Vater in Sri Lanka und erlebte die Flucht, um zu überleben. Vereint in Deutschland standen sich meine Eltern gegenüber wie zwei komplett unterschiedliche Menschen.

    Auf der Suche nach jeweils eigenen Fluchtgebieten

    Dass die Ehe nach fünfundzwanzig Jahren irgendwann in die Brüche gehen würde, ist für mich nach heutiger Sicht nachvollziehbar. Geprägt war die weitere Beziehung in Deutschland vor allem von Verletzungen und unkontrollierten emotionalen Ausbrüchen, die sich sowohl in verbaler als auch in körperlicher Art äußerten. Sie suchten jeder für sich ihr eigenes Fluchtgebiet, um die negativen Gefühlszustände zu verdrängen. Meinem Vater fehlte die Erfahrung im Umgang mit im Krieg traumatisierten Menschen. Der Zugang zu den Gefühlen meiner Mutter blieb ihm daher verschlossen.

    In dieser Hinsicht gibt es eine Fülle von Exil-Tamilen, die aufgrund persönlicher Kriegserlebnisse seelisch leiden.

    Eine aus der Kindheit nicht verheilte Wunde, die möglicherweise durch die Großeltern hinzugefügt worden ist, wird durch dieselbe Verhaltensweise an die eigenen Kinder weitergegeben. Wenn ein betroffenes Kind die dadurch entstehenden Wunden nicht verarbeitet und mit seinem Schmerz beispielsweise eine Ehe eingeht, entsteht ein sich ständig wiederholender Kreislauf von Verletzungen.

    Wege aus dem Gefühlschaos

    Versucht man, den Umgang deutscher Eltern mit ihren Kindern den Eltern gegenüber als gut und positiv zu erklären, könnte man abgestempelt werden als „zu westlich“ und „zu deutsch“. Ziel ist es nicht, sich selbst darzustellen, sondern eine mögliche Änderung in den häuslichen Umgangsformen zu bewirken. Ein Weg aus diesem Gefühlschaos wäre für betroffene Kinder, zu verstehen, dass die Eltern aufgrund von Kriegserlebnissen in der Heimat ein schweres Schicksal erlebt haben. Und dass bestimmte Schicksalsschläge bei ihnen zu gewissen Verhaltensweisen führen.

    Nach dieser Erkenntnis könnte man durch externe Hilfe lernen, welche weiteren Wege man für sich im Umgang mit den Eltern wählt, um den Aufenthalt unter ihrem Dach erträglich zu machen. So lange, bis man das Glashaus eines Tages mit einer gesunden Psyche verlassen kann. Der Vorteil einer solchen Erkenntnis ist der, dass man die Fehler der Eltern nicht kopiert. In der eigenen Familiengründung könnte auf Aspekte geachtet werden, die bei einem selbst nicht erfüllt waren.

    Manche erkennen ihre Chance und setzen sie auch in die Tat um, andere brauchen eine helfende Stütze, die sie auf dem langen Weg durch das Tal der Emotionen begleitet. Auch hier ist wichtig: Man sollte keine Angst haben, die eigenen Eltern zu verraten oder das Miteinander ins Negative zu ziehen. Die Hilfe von außen kann diskret und persönlich geschehen, ohne die Eltern dabei zu involvieren.

     

  • „Ich habe das Heimatgefühl verloren“

    Ich bin geboren und aufgewachsen in Sankt Petersburg in Russland. In den turbulenten Neunzigern arbeitete ich als Tänzerin und Schauspielerin in verschiedenen Theatern und studierte an der Theater-Akademie. Danach ging in nach Holland, um in einer Tanzhochschule in Arnheim weiter zu studieren. Im Sommer flog ich für einen Tanz-Workshop in die USA und blieb dort. Ich heiratete meinen Boyfriend.

    Mein Leben in den USA

    Wir lebten damals in New Jersey und arbeiteten in Manhattan. Jeden Tag fuhren wir nach New York und steckten anderthalb bis zwei Stunden im Stau. Ich nähte Taschen und Koffer für Musikinstrumente und mein Mann lieferte gemietete Instrumente für Konzerte. Gleichzeitig begann ich in einer Musikgruppe zu singen, tanzte und probte für meine Aufführungen weiter. Im Jahr 2002 zeigte ich eine Solo-Performance beim New York Fringe Festival. Scheinbar war in den USA alles möglich – im Gegensatz zu Russland, wo alles unmöglich schien.

    Auch wenn man als Künstler nicht anerkannt ist, kann man in New York trotzdem irgendwie Geld verdienen und sich weiter mit der Kunst beschäftigen. Zum Beispiel Kostüme im Atelier nähen und nebenbei tanzen, singen und Songs aufnehmen. Was ich auch bis 2008 tat.

    Das zweite Kapitel in New York

    Dann die Scheidung, neue Liebe, Heirat und Kinder. Gleich nach der Geburt meines ersten Kindes ist mir klar geworden, dass ich nicht mehr lange so arbeiten könnte: Ich verdiente 19,50 Dollar die Stunde und der Babysitter verlangte 15. Der Kindergarten kostete 1000 Dollar pro Monat.

    So blieb ich zu Hause und bekam noch zwei Kinder. Bis 2013 fuhr ich jeden Morgen mit Kindern im Alter von fünf, drei Jahren und einem drei Monate alten Baby zwei Stunden im Auto, um sie zur Schule und in den Kindergarten zu bringen, und zwei Stunden am Nachmittag, um sie von dort abzuholen. Also, mein Baby verbrachte vier Stunden täglich unterwegs im Auto!

    Neuanfang in Hamburg

    2014 haben wir uns entschlossen, nach Deutschland zu ziehen, um nicht so viel Zeit mit der Fahrerei zu vergeuden und so schnell wie möglich zu einer richtigen Arbeit zu kommen. Mein zweiter Mann ist in Hamburg geboren und aufgewachsen. Wir wussten bereits, wie viel Hamburg für Familien mit Kindern tut. Erschwingliche Preise für Kindergärten, Schulen mit guter Unterrichtsqualität, freie Universitäten. All dies und die relativ übersichtliche Größe Hamburgs waren für uns entscheidend.

    So leben wir schon seit sechs Jahren hier. Sechs Jahre lerne ich Deutsch. Sechs Jahre Erfahrungen im deutschen Bildungs- und Theatersystem. Ich habe das Weiterbildungsprogramm als Gewandmeister absolviert. Jetzt kann ich im Theater arbeiten, aber Corona schlug zu und alles ist stehengeblieben.

    Ein Land voller Gegensätze

    Bisher habe ich geteilte Gefühle für Deutschland. Einerseits gibt es Kapitalismus und Meritokratie, anderseits aber auch ein sehr verschlossenes, deutsch-orientiertes, steifes, altmodisches System. Oft gibt es in Theatern eine Aufteilung in „Meister“ und „Geselle“, was Menschen daran hindert, ihr Wissen mit einander zu teilen und der Atmosphäre, der Kreativität und dem Teamgeist schadet. Manchmal gibt es buchstäblich eine verschlossene Tür zwischen ihnen. Einerseits uralte Traditionen, die man pflegen und bewahren möchte, die wertvolle Erfahrung der älteren Generation, andererseits – Vorurteile und Klassenbarrieren.

    Als ich noch in Russland lebte, schien mir Deutschland technisch ein sehr fortschrittliches Land zu sein. Aber jetzt, als ich 2014 aus den USA hergezogen bin, wo man auf dem Bauernhof neben dem Kuhstall ein Eis kaufen und mit Karte bezahlen konnte, sah ich, dass Deutschland irgendwo im Jahr 2000 stecken geblieben ist. Ein Großhandel für Stoffe sagte mir, dass ich schriftlich per Post bestellen muss, um Fehler bei der telefonischen Bestellung zu vermeiden!

    Und dies im Jahr 2020. Amazon und Ebay gibt es seit 1995, und hier bittet das größte deutsche Unternehmen ihnen einen Brief mit der Bestellung per Post zu schicken. Es gibt viele Dinge, die ich einfach nicht verstehen kann: Warum verwischen Leute ihre Häuser auf Google Maps? Oder warum möchten sie ihre Adresse nicht bei der Arbeitsstelle öffentlich z.B. für einen Krankheitsfall oder vielleicht für die Weihnachtspost angeben?

    Trotzdem kann ich mit Zuversicht sagen, dass wir die richtige Wahl getroffen haben. Für unsere Kinder ist dies der beste Ort, an dem sie wachsen und stärker werden können. Ich habe es noch nicht geschafft, meinen Platz in Deutschland zu finden, ich schaue aber mit Optimismus nach vorne. Wie in allen anderen Ländern, in denen ich lebte, fand ich auch hier eine russischsprachige Diaspora. Es hilft mir, mich nicht wie eine Ausgestoßene zu fühlen.

    Heimatgefühl bedeutet für mich…

    Wenn ich in New York traurig war, ging ich nach Brighton Beach, um Pfannkuchen mit rotem Kaviar zu essen. Dort – wie in einem Mini-Russland – konnte ich sehen, warum ich nicht in Russland leben wollte. Jetzt kann ich in zwei Flugstunden in St. Petersburg sein und fliege doch nur einmal in zwei Jahren. Dies reicht mir aus, um die Illusion zu vertreiben, dass sich dort etwas geändert hat. Wenn ich nach Russland komme, fühle ich mich trotz der Sprache fremd.

    Ich habe in den letzten 25 Jahren in 6 Ländern (Österreich, Holland, USA, Frankreich, Deutschland, Indien) gelebt und gearbeitet. Ich habe das Heimatgefühl verloren. Gleichzeitig weiß ich immer besser, wo ich Unterstützung suchen, wie ich mich anpassen, mein Leben einrichten und meine innere Ressourcen wieder auffüllen kann. Dabei spielt es keine Rolle, in welchem Land ich mich befinde. Es bedeutet, die Heimat ist immer dort, wo meine Söhne, meine Familie und ich gerade sind.

    Eugiena Loginova hat diesen Bericht vom Russischen ins Deutsche übersetzt.

kohero-magazin.com