Schlagwort: Afghanistan

  • Warum mich das Medium Film interessiert

    In dem folgenden Gespräch spricht Jamil Jalla über die letzte Zeit in seiner Heimatstadt Kabul, er gibt Einblicke in seine Tätigkeit sowohl vor als auch hinter der Kamera und er erklärt, warum ihn das Medium Film so fasziniert.

    Wie haben Sie die Situation in Afghanistan wahrgenommen, bevor Sie geflohen sind?

    „Das war nicht einfach damals, denn schon da waren die Taliban sehr aktiv, haben schlimme Gräueltaten begangen. Jeden Tag, wenn jemand von meiner Familie oder meinen Freunden das Haus verlassen hat, war nicht sicher, ob er jemals wieder zurückkommt. Viele Menschen sind einfach spurlos verschwunden. Sogar ein guter Freund von mir, mit dem ich auch zusammengearbeitet habe, ist verschollen. Keiner weiß, was mit ihm passiert ist. Gerade Menschen wie ich, die in den Medien arbeiten, bekommen große Schwierigkeiten. Am besten ist es, drinnen zu bleiben, alles andere ist einfach zu gefährlich. Das war also eine sehr schwierige Zeit für mich. Die Situation an sich war angespannt und geprägt von Angst.“

    Sie haben an der Kabul University Faculty of Fine Arts studiert – was war Inhalt dieses Studiums?

    „Ja, ich habe an dieser Universität meinen Bachelor gemacht. Das war im Bereich Film. Als ich mein Studium begonnen habe, war das Universitätsgebäude komplett zerstört und kaputt. Wir hatten kaum technische Ausrüstung, wie zum Beispiel einen Beamer oder Laptops. Das Gute war aber, dass meine Dozenten wirklich, wirklich gut gewesen sind. Viele waren aus dem Ausland und sie haben mir sehr viel beigebracht. Ich habe also gelernt, wie man Regie führt, wie man Rohmaterial schneidet und wie man mit einer Kamera umgeht. Das war sehr bereichernd.“

    Mögen Sie etwas über Ihre Tätigkeit als Videojournalist und Kameramann in Kabul erzählen?

    „Nach meinem Studium habe ich als Freelance- Filmemacher gearbeitet, unter anderem beim afghanischen Fernsehen. Und ich habe viele Filme selber gedreht. Das hat mich oft in Schwierigkeiten gebracht, wenn nicht sogar in Gefahr. Denn so etwas darf man in Afghanistan nicht – das ist das große Problem. Aus diesen Gründen bin ich schließlich nach Deutschland gekommen, um in Sicherheit arbeiten zu können.“

    Wie ging es dann beruflich für Sie in Deutschland weiter?

    „2018 habe ich ein Stipendium bekommen und konnte mich an der Hochschule für bildende Künste für den Masterstudiengang im Bereich Film einschreiben. Jetzt habe ich mein Studium gerade ganz frisch abgeschlossen – mit der Noten 1,0. Mit dieser Note bin ich mehr als zufrieden. Und ich arbeite für eine Organisation, sie heißt Sportexperten. Wir machen Filmprojekte mit Kindern zu den Themen Sport und Bewegung. Ich habe dort eine pädagogische Aufgabe. Ich bringe den Kids bei, wie man beispielsweise ein Interview vorbereitet, aber auch, wie man ein Set aufbaut und eine Kamera richtig bedient. Damit habe ich 2019 angefangen und diese Art der Arbeit gefällt mir sehr.

    Und ich habe eine Teilzeitstelle als Büroassistenz. Meine Aufgabe hierbei ist es, Dokumente auszudrucken, Materialien zusammenzustellen und manchmal koche ich auch Kaffee. Von Zeit zu Zeit arbeite ich auch für die GEW. Die haben ein Magazin und dafür mache ich Grafiken oder stelle Fotos zur Verfügung. Ich bin also ganz gut beschäftigt. Aber mein Hauptaugenmerk liegt definitiv beim Filmemachen.“

    Wie beschreiben Sie die Medienlandschaft in Afghanistan?

    „Momentan wird alles stark zensiert, ist Propaganda von den Taliban. 2016 war – rein medientechnisch gesehen – sehr viel los. Es gab diverse Zeitungen und viele verschiedenen Fernsehsender, so an die 20 Stück alleine in Kabul. Und auch die Social-Media-Kanäle wurden viel und gerne genutzt. Heute, fünf Jahre später, ist alles anders. Es gibt keine freien, unabhängigen Medien mehr.“

    Sie arbeiten kreativ – woher bekommen Sie Inspiration?

    „Das ist eine gute Frage. Ich denke viel nach, über die Dinge, die passiert sind. Und ich habe viel gesehen, viel erlebt. Diese Erlebnisse befinden sich tief in meinem Innersten und ich verarbeite sie dadurch, dass ich kreativ werde. Wenn mich zum Beispiel etwas berührt oder beschäftigt, dann fange ich an, zu fotografieren oder ich male etwas oder ich mache sogar einen kurzen Film daraus. Denn oft möchte ich über diese Dinge nicht sprechen. Wenn ich aber kreativ arbeite, dann fühle ich mich ganz frei. Und das wiederum macht mich zufrieden.“

    Wie bewerten Sie die jüngsten Ereignisse in Afghanistan?

    „Wenn ich ehrlich sein soll, dann lese ich manchmal gar nicht die Zeitung und ich schaue oder höre keinen Nachrichten. Ich bin zu sensibel dafür, es macht mir Angst. Wenn ich etwas darüber lese, was gerade in Afghanistan passiert, dann macht mich das sehr, sehr traurig. Die Lage im Land ist so angespannt, so dramatisch. Natürlich mache ich mir große Sorgen um meine Freunde und meine Verwandten, die ich dort habe. Denn ihr Leben ist in Gefahr, jeden Tag aufs Neue. Das beunruhigt mich sehr.“

    Was ist mit Ihrer Familie?

    „Wissen Sie, ich habe eine sehr große Familie. Und von uns allen bin ich der Einzige, der hier in Europa gelandet ist. Zwei Brüder und zwei Schwestern sind in den USA und in Kanada. Meine Eltern sowie mein Onkel und meine jüngste Schwester sind noch in Kabul.“

    Haben Sie manchmal Heimweh?

    „Ja, mit Sicherheit. Ich bin in Kabul aufgewachsen, habe Familie und Freunde dort. Und obwohl ich schlechte Erinnerungen habe, vermisse ich meine Heimat. Andererseits habe ich aber auch viele schöne Erinnerungen von Afghanistan. Manchmal, wenn ich eine bestimmte Musik höre oder einen gewissen Duft rieche, dann kommen diese Erinnerungen hoch – sowohl die guten als auch die schlechten. Dann habe ich Heimweh, ja.“

    Was wünschen Sie sich für Afghanistan?

    „Natürlich wünsche ich mir Frieden für Afghanistan, dass die Menschen dort friedlich und ohne Angst leben können. Der Krieg muss aufhören. Aber das ist ein langer Weg. Ich beobachte die Ereignisse in meiner Heimat mit Sorge.“

    Lest hier unsere Kolumne Neues aus Afghanistan: Dezember

      

  • Gerichte aus Afghanistan

    Frische Tomaten, Auberginen, Minze, Brot, Zwiebeln und Knoblauch. Die Zutaten für unser 3-Gänge-Menü aus Afghanistan liegen fein säuberlich nebeneinander auf dem Bartresen. Der Blick des jungen Mannes fällt auf die Auberginen. Er runzelt die Stirn, denkt kurz nach. “Das sind die Falschen”, sagt er trocken und blickt in die Runde. Die Umstehenden schauen sich fragend an. “Die Kleinen wären besser gewesen. Immer die Kleinen kaufen. Die zerfallen nicht.” Aber es wird schon gehen, fügt der junge Mann hinzu. Ein kleines Lächeln erscheint im rechten Mundwinkel. Ayaz, 34 Jahre alt, aus Ghazni und Ehrenamtlicher bei Über den Tellerrand Hamburg e. V., ist an diesem Abend unser Küchenchef.

    Wie bei einer WG-Party

    Immer wieder ertönt die Klingel. Jede Person, die reinkommt, betritt neugierig den Raum. Wer wohl die anderen sind? Als Erstes fällt der Blick der meisten auf die “Küche”. Sie besteht aus einem Bartresen inklusive Spülbecken, Kühlschränken sowie zwei mobilen Herdplatten. Besonders Ayaz und Freba steht die Frage “Hier kochen wir?” klar ins Gesicht geschrieben. Doch sie verschwindet, als sie den Klang von Dari hören. Schnell entsteht ein munteres Stimmengewirr aus Deutsch und der Landessprache Afghanistans.

    Küchenchef Ayaz

    “Wollen wir uns erstmal vorstellen und ein wenig über uns erzählen?”, schlägt Karla von Über den Tellerrand Hamburg vor. Für einen kurzen Moment wird es ganz still, keine*r traut sich anzufangen. Ayaz erzählt, dass er seit zwei, drei Jahren bei Über den Tellerrand Hamburg dabei ist. Freba ist ebenfalls aus Afghanistan und Teil von Über den Tellerrand Hamburg. Ihr Blick und ihre Stimme sind fest.

    “Meine Kinder sind erwachsen und aus dem Haus. Jetzt habe ich Zeit für andere Dinge”, erklärt sie mit einem winzigen Lächeln. Sie wirkt entschlossen, ihr Wissen weiterzugeben. Nachdem auch wir anderen uns vorgestellt haben, nimmt Ayaz seine Rolle als Küchenchef verlegen an. Der Rest krempelt die Ärmel hoch.

    “Wie möchtest du das geschnitten haben?”

    Linsensuppe, Borani Banjan und Ferni – mit diesen Gerichten reisen wir gedanklich in die Restaurants Kabuls. Sahar hat für Ferni extra ein “special Powder” mitgebracht. Sina erklärt, dass Borani Banjan, ein Gericht mit gebratenen Auberginen und Tomaten, sehr typisch sei für die afghanische Küche: “Es ist eigentlich eine Vorspeise, kann aber auch gut als Hauptgericht gegessen werden.”

    Doch bevor die Aufgaben verteilt und geschnippelt werden kann, wird über die Rezepte diskutiert. Auf Dari. Ayaz, Freba, Sahar und Sina blicken auf die Zutaten, nehmen sie in die Hand, drehen und wenden sie. Ihre Blicke sind skeptisch, sie murmeln, zucken mit den Schultern und schauen sich gegenseitig fragend an. Um was es geht, können wir anderen nur erahnen und schauen uns ratlos und amüsiert an.

    “Wir fangen einfach an”, beschließt Ayaz und legt für einen kurzen Moment seine Schüchternheit ab. Wir verteilen das Sammelsurium an Messern sowie Brettern und holen Schalen, Töpfe und andere Kochutensilien aus den kleinen Schränken. Immer wieder schielen wir zu Ayaz. “Wie soll ich die Auberginen schneiden?” fragt jemand. “Die Auberginen werden zuerst geschält und in Scheiben geschnitten”, antwortet Ayaz routiniert. Freba fügt hinzu: “Sie kommen dann ins Salzwasser. Auberginen müssen immer noch mit Salz bestreut werden und ziehen, aber so geht es schneller.” Nach und nach werden Auberginen, Tomaten, Zwiebeln sowie alle anderen Zutaten klein geschnitten.

    Ein afghanischer Kochabend

    Ein kleines Tänzchen schadet nie

    “Es fehlt noch Musik!”, bemerkt Sina. Kaum ausgesprochen, ertönt Ahmad Zahir aus dem Lautsprecher ihres Handys. Freba verrät: “Das ist der afghanische Elvis Presley. Er hat sich sogar so angezogen wie Elvis! Ehrlich!” “Den kennt jede*r in Afghanistan”, ergänzt Sina und beginnt ihre Arme rhythmisch zur Musik zu bewegen. “Bei uns tanzt man viel mit den Armen”, lacht sie und bringt uns dazu, die Sachen für einen kurzen Moment liegen zu lassen und mitzumachen.

    Die Küchencrew im Einsatz

    Wer mit dem Schneiden fertig ist, unterhält sich – über Erfahrungen, Auslandsreisen, Zukunftswünsche, die aktuelle Situation. Fast unbemerkt wird als Erstes der Nachtisch zubereitet. Freba hilft Sahar, die etwas Sorge hat, dass das Ferni nichts wird. “Ich habe das noch nie gemacht”, gesteht sie mit zitternder Stimme. Die Zubereitung ist zum Glück einfach. Schnell wird die weiße Flüssigkeit in kleine Schüsseln gefüllt und zum Abkühlen nach draußen gestellt.

    Auch die Linsensuppe entsteht wie von selbst und köchelt leise vor sich hin. Nachdem die ersten zwei Gerichte so gut wie fertig sind, beginnt Ayaz, die Auberginenscheiben zu braten. Er wirkt dabei konzentriert, lächelt verlegen, wenn er sich unterhält. Für so viele hat er noch nicht gekocht, erzählt er und seine Augen funkeln. Als Küchenchef wirkt er zufrieden.

    Wir brauchen nur Geduld

    Langsam kommt der Hunger. “Es würde schneller gehen, wenn wir mehr Kochplatten hätten”, bemerkt Ayaz. “Ach, wir brauchen nur Geduld”, begegnet Freba ihm optimistisch. Während wir dabei zusehen, wie sich die gebratenen Auberginenscheiben stapeln, erzählt Freba von sich. Vor knapp 15 Jahren kam sie nach Deutschland, lebte zuerst in einem kleinen Dorf. Sie spricht neben Dari auch Russisch und fühlte sich eine Zeit lang der russischen Community verbundener. In Hamburg arbeitet sie im Bereich Bau und Elektrotechnik und ist die einzige Frau in der technischen Abteilung. “Ach, das geht schon. Die kennen mich ja”, winkt sie die Frage, ob es nicht manchmal anstrengend sei, die einzige Frau zu sein, mit einem Lächeln weg.

    In der Luft liegt der schwere Duft von gebratenen Zwiebeln, Knoblauch und Auberginen. Im Nachbarraum werden zwei große Tische liebevoll eingedeckt. Sogar an die Teelichter wird gedacht. Die Musik ist mittlerweile verstummt. Als auch die Hauptspeise fertig ist, kommt es erneut zu einem kurzen Austausch auf Dari. Ayaz und Sina diskutieren offensichtlich darüber, wie das Essen angerichtet werden soll. Mit gekonnten Bewegungen verteilt Ayaz die Hauptspeise auf mehreren Platten, die direkt rüber getragen werden. Die anderen warten mittlerweile am Esstisch, wo schon Vor- und Nachspeise bereitstehen.

    Mit den Händen schmeckt es am besten

    Es ist halb zehn. Nach knapp drei Stunden sitzen wir nun gemeinsam am Tisch, vor uns das Essen. Für einen Moment blicken wir uns erwartungsvoll an. Dann werden Stühle nach hinten geschoben, um besser ans Essen zu kommen. Die ersten Bissen werden probiert und hier und da erklingt ein wohliges “Mhhh”.

    Abwechselnd erzählen Ayaz, Freba, Sina und Sahar von den Eigenschaften der Esskultur der afghanischen Küche. “Lautes Lachen beim Essen ist bei uns nicht erlaubt”, erzählt Ayaz. “Was sich total widerspricht, weil wir laut sind”, lacht Sina. “Man darf reden und lachen, aber alles in Maßen. Gute Manieren eben”, sagt Freba mit einem leicht mahnenden Ton und genießt ihre Suppe. Ayaz erzählt weiter, dass die Menschen in Afghanistan auf den Boden sitzen und ihr Essen mit der Hand zu sich nehmen. “Mit den Händen schmeckt es am besten”, schwärmt er und Sina stimmt zu, “so verfälscht du nicht den Geschmack.”

    Nach dem Kochen lassen wir uns die Gerichte aus Afghanistan schmecken

    Auch wenn wir zum Essen auf Stühlen sitzen, schmeckt es hervorragend. Immer wieder werden die Schüsseln herumgereicht und löffelweise nachgenommen. Die afghanische Küche sei nicht aufwendig, aber schnell sei sie auch nicht, erzählen die vier. Besonders der Reis ist zeitintensiv. “Er wird erst gekocht, aber nicht durch und dann wird er mit dem Topf in den Ofen getan, damit er durchgaren kann. Und auch die Gewürze werden separat in Öl und Wasser erhitzt und dann über den Reis gegossen”, erklären Sina und Freba. In Afghanistan koche man für 20, obwohl man nur zu dritt ist, lachen sie.

    “Ich würde es gern morgen wieder essen.”

    Langsam kehrt Ruhe ein. Wir sind müde, aber glücklich. Wir möchten wissen, ob Ayaz, Freba, Sahar und Sina lieber zu Hause afghanisch kochen oder auch mal auswärts essen. Sofort ist ein schroffes “Nein” von Freba zu hören und wir anderen lachen. “Afghanisch kann ich auch zu Hause kochen”, erläutert sie. Sie gehe lieber deutsch oder chinesisch essen.

    Und was muss man unbedingt probieren, wenn man afghanisch essen geht? “Kabuli Palau”, kommt es bei Ayaz, Freba, Sahar und Sina wie aus der Pistole geschossen, “das ist unser Nationalgericht!” Kabuli Palau oder Qabili Palau ist ein Reisgericht mit Lamm, Möhren und Rosinen, das durch die besonderen Gewürze ganz besonders schmeckt. Als sie darüber reden, kommen sie ins Schwärmen und ihre Augen leuchten. Auch Bolani und Mantu, beides Teigtaschen, müsse man probieren. Die Teigtaschen sind unterschiedlich gefüllt, etwa mit Lauch. “Lauch ist super. Alles was stinkt … Zwiebeln, Knoblauch …”, lacht Sina.

    Obwohl wir alle satt sind, können wir uns die Gerichte gut vorstellen. Vor uns stehen die leeren Teller und die Reste. Wir haben gut gegessen, es sei aber etwas kalt gewesen, bemerkt Ayaz selbstkritisch. “Ich würde es gern morgen wieder essen”, gähnt jemand mit einem zufriedenen Lächeln. Es folgt Ferni als Nachtisch. Mit aufgeregten Blick beobachtet Sahar uns anderen. Es schmeckt süß, aber nicht zu süß, genau richtig für einen perfekten Abschluss. Freba erinnert lächelnd: “Sahar war so aufgeregt, dass es nicht funktioniert.”

    Es setzt die typische Stille ein, wenn alle essen und ihren Gedanken nachhängen.

    Sina, Sahar und Freba schwärmen von anderen süßen Speisen aus Afghanistan. Es gebe ein Gebäck, das aussehe wie kleine Hüte oder Cream Rolls, ganz modern. In Afghanistan ist Gebäck jedoch nicht nur süß, sondern auch salzig. Für jeden Geschmack sei was dabei. Und immer ist Kardamom im Rezept.

    Zurück in den Alltag und in die Nacht

    Wir unterhalten uns nach dem Essen noch eine Weile. Dabei bestimmen vor allem Ayaz, Sahar und Freba das Gespräch. Es geht um die jeweilige persönliche Situation. Ayaz, der seine Schüchternheit abgelegt hat, berichtet vom Deutschlernen, von Bewerbungen, Tests, Anträgen und den zahlreichen Steinen auf seinem Weg. Wir machen ihm Mut, besonders Freba hat für ihn aufbauende Worte: “Viele haben das durchgemacht. Mach, was du kannst. Wenn das Papier kommt, das kommt, dann kommt der Rest auch.” Sie berichtet von Menschen, die sie kennt und die ihre Aufenthaltserlaubnis Jahre später erhalten haben.

    Er dürfe einfach nicht aufgeben, auch wenn es schwer sei, sind wir der Meinung und ein Schweigen legt sich über uns.

    Wir beschließen, dass es an der Zeit sei, abzuräumen. Stühle werden zurückgeschoben und jede*r nimmt, was er/sie tragen kann. Zusammen geht das Aufräumen ganz einfach. Statt einem Stimmengewirr ist nun immer wieder ein Gähnen zu hören. Die Müdigkeit ist groß. Die Ersten verabschieden sich. Es sei ein ganz toller Abend gewesen, doch nun müsse man zur Bahn, denn der Heimweg ist noch lang. Zwei müssen morgen noch arbeiten. “Dann los, los. Raus mit euch!” Hier noch ein Teller, da noch eine Schüssel und die “Küche” sieht aus wie vorher. Als das Licht im leetHub gelöscht wird, liegt noch immer der Geruch von gebratenen Zwiebeln, Knoblauch und Auberginen in der Luft.

     

    Appetit bekommen? Ein Rezept aus Afghanistan findest du hier.

  • Ventimiglia – Rassismus in Solidaritätskollektiven

    Was ist Progetto20k?

    Ein selbstorganisiertes Kollektiv, welches sich für die Bewegungsfreiheit aller Menschen einsetzt. Wir unterstützen seit 2016 People on the Move in Ventimiglia.

    Was passiert in Ventimiglia?

    Ventimiglia ist Transitzone für People on the Move, die über die Balkan- oder Mittelmeerroute kommen und nach Europa wollen. Das sind täglich 300-400 Leute, die teils direkt aus ihren Herkunftsländern kommen und zum Teil bereits mehrfach abgeschoben wurden und erneut versuchen die Grenze zu passieren. Die Situation vor Ort verändert sich ständig, daher müssen wir als Kollektiv uns immer neu dynamisch an die Umstände anpassen. Besonders in der Corona Zeit hat sich die Lage extrem zugespitzt.

    Vorher hatten People on the Move die Möglichkeit in einem Camp des Roten Kreuzes am Rand der Stadt zu schlafen. Das war zwar auch keine optimale Lösung, aber immerhin hatten sie eine gewisse Sicherheit und Verpflegung. Aufgrund der Pandemie wurde dieses Camp geschlossen, sodass die Menschen während des Lockdowns auf der Straße landeten. Viele schliefen unter Brücken, am Strand oder in verlassenen Häusern. Gleichzeitig wurden Kontrollen und das Polizeiaufgebot erhöht- die Zahl der Push Backs steigt. Auch die Arbeit des Kollektivs war durch die Maßnahmen und Sperrstunden hart. Zwar ist der Lockdown vorbei, doch die Situation ist immer noch schwierig. Es gibt kaum staatlich geförderte Einrichtungen, Essen wird von Kollektiven gestellt; doch das ist keine Lösung bei steigenden Migrationszahlen.

     

    Was sind die Tätigkeiten des Kollektivs?

    Wir versuchen durch Zuhören und Erfragen herauszufinden, wie wir unterstützen können. Wir informieren People on the Move über ihre Grundrechte in Italien und anderen Europäischen Ländern. Da es nicht genügend Dolmetscher*innen gibt, die die Menschen über ihre Rechte aufklären, sind viele Fehlinformationen im Umlauf. Die Behörden und die Polizei sind sich dessen bewusst, aber unternehmen nichts dagegen. Zusätzlich verteilen wir essenzielle Gegenstände (Decken, Schlafsäcke, Masken, Hygieneartikel und Kleidung) und ermöglichen das Aufladen von Handys. Dabei wurden wir auf einen Parkplatz am Rand der Stadt verdrängt- dem einzigen Ort an dem Kollektive und People on the Move von der Stadt geduldet werden. Zusätzlich versuchen wir die Lage im Auge zu behalten und zu dokumentieren (Polizeigewalt, illegale Pushbacks und andere Komplikationen).

    Welche Werte vertretet ihr?

    Wir sind eine horizontale Gemeinschaft. Das heißt wir treffen unsere Entscheidungen gemeinsam und im Konsens. Dabei versuchen wir inklusiv und hierarchiefrei zu sein. Wir kämpfen gegen Machtstrukturen, von denen unsere Gesellschaft durchzogen ist (Rassismus, Sexismus, Homophobie…).

    Wie finanziert ihr euch?

    Nur durch Spenden von Privatpersonen oder Organisationen. Wir haben jedoch keine konstanten, nur einmalige Spenden. Daher müssen wir unsere Aktivitäten an den verfügbaren Geldbetrag anpassen. Letzten Winter zum Beispiel mussten Aktivist*innen teils aus eigener Kasse zahlen, da uns das Geld ausgegangen ist.

     

     Wodurch bist du auf das Kollektiv aufmerksam geworden?

    Gemeinsam mit anderen Freund*innen waren wir einen meiner besten Freunde in Genua besuchen. Er ist bei Progetto20k aktiv und erzählte mir von den Aktivitäten und Werten des Kollektivs. So rutschte ich aus Zufall ins Kollektiv. Nach einem langen Wochenende in Ventimiglia, beschloss ich nicht weiter als Architektin in einer Vollzeitstelle in Deutschland zu arbeiten. Stattdessen übe ich dies nur noch freiberuflich aus und war ein Jahr lang hauptsächlich in Ventimiglia aktivistisch beschäftigt. Da ich afghanische Wurzeln habe, empfinde ich meine Präsenz dort als wichtig, um zu kommunizieren, was die People on the Move, die aus Afghanistan kommen wirklich benötigen.

    Viele der in Ventimiglia ankommenden Afghan*innen sprechen keine Kolonialsprache, daher ist es schwierig für sie sich mit anderen Freiwilligen zu verständigen. Jetzt bin ich für eine gewisse Zeit wieder nach Berlin zurückgekehrt.

    Wie beeinflusste die Zeit dort dein Denken oder sogar Leben?

    Ich war vorher jahrelang vollzeitbeschäftigt. Meinen Job zu kündigen, bedeutet mich auf eine neue Lebensweise einzustellen, zu akzeptieren mit weniger Dingen auszukommen. Doch aufs Wesentliche zurückzukommen hat auch etwas Befreiendes und Schönes.

    Hat die aktuelle Situation in Afghanistan dein Handeln im Kollektiv und in Ventimiglia verändert?

    Die drastische Verschlechterung der Lage in Afghanistan kam so schnell und unerwartet, dass es für uns alle ein großer Schock war. Besonders, da ich noch Familie und Freund*innen dort habe. Zu diesem Zeitpunkt in Ventimiglia zu sein, hat bei mir sehr unterschiedliche Gefühle ausgelöst. Einerseits war es gut und wichtig, dass ich meinen Kummer mit anderen Afghan*innen teilen konnte. Andererseits lebe ich das Paradoxon, Afghanin und gleichzeitig Aktivistin und Freiwillige zu sein. Ich habe das Gefühl, dass meine Stimme innerhalb des Kollektivs nicht gehört wurde. Wir organisieren Demonstrationen für das Recht von BIPoC (Black, Indigenous and People of Colour) ohne sie dabei wirklich zu involvieren. Es zeigt für mich, dass Organisationen, die solidarisch sein möchten, nicht racially diverse (multikulturell) sind.

    Repräsentiert das eine allgemeine Struktur unserer Gesellschaft?

    Ja, besonders in den letzten Wochen sind mir die Power Dynamics (Machtstrukturen) zwischen BIPoC und Weißen immer stärker aufgefallen. Wenn man einmal beginnt es zu sehen, versteht man immer mehr- man kann nicht mehr wegschauen. Wenn es beispielsweise Diskussionen oder Talkshows über die Lage in Afghanistan im Fernsehen gibt, wird eine Person mit afghanischen Wurzeln eingeladen. Die restlichen fünf Plätze werden von weißen ,,Experten“ besetzt. Es ist, als hätten BIPoC keine eigene Stimme und bräuchten jemanden, der für sie spricht. Tun sie nicht. Stattdessen sollten wir eine Bühne für diese Themen bauen, aber die wirklich betroffenen Personen auftreten lassen.

    Wie kann man diese Machtstrukturen innerhalb des Kollektivs, aber auch der Gesellschaft, ändern?

    Wir müssen unseren internalisierten Rassismus anerkennen und dekonstruieren. Das ist ein langer Prozess, den wir alle gemeinsam durchgehen müssen. Denn internalisierter Rassismus ist nicht nur ein Problem weißer Menschen. BIPoC sehen sich häufig in der Opferposition, weil es das ist, was ihnen beigebracht wurde. Es geht darum Bewusstsein zu schaffen, nicht zu verurteilen. Wir müssen BIPoC zuhören und erzählen lassen, denn sie haben mehr Erfahrung darin diese Dynamiken zu verstehen. Wir müssen Workshops machen, die die Thematik betreffen und richtige Terminologien verwenden. Die Formulierung ,,People On the Move helfen“ ist beispielsweise problematisch. Sie vernachlässigt den Fakt, dass ein Individuum autonom ist. Es geht um Unterstützung und Empowerment, nicht ums Helfen. Wenn wir nicht aktiv daran arbeiten unseren internalisierten Rassismus zu dekonstruieren, wird sich gesellschaftlich so schnell nichts ändern.

  • Neues aus Afghanistan: November

    Hilfe aus Deutschland

    Deutschland hat angekündigt, dass es 600 Millionen Euro bereitstellen wird, um den Hunger zu bekämpfen und die humanitäre Krise zu verhindern, die durch die Armut in Afghanistan verursacht wird. Die Hilfe wird für die Versorgung bedürftiger Familien mit Nahrungsmitteln durch internationale Hilfsorganisationen verwendet. Bakhtar News

    Hilfe aus den USA

    Die USA haben angekündigt, dass sie 144 Millionen Dollar bereitstellen werden, um die humanitäre Krise in Afghanistan zu lindern, die die Armut verursacht. Globale Hilfsorganisationen wickeln die Hilfe ab. Die USA sind besorgt, da die Dürre, die Arbeitslosigkeit, der Rückgang der weltweiten Hilfe und die Nichtzahlung der Regierungsgehälter die Hauptfaktoren für die Zunahme von Armut und Hunger in Afghanistan sind. Bakhtar News

    Hilfe der WHO

    Die WHO unterstützte Afghanistan mit Medikamenten und medizinischer Ausrüstung. Die Sendung enthielt Dutzende Tonnen an Medikamenten und medizinischer Ausrüstung. Diese sollen in die Krankenhäuser der Hauptstadt und anderer Landesteile gebracht und zur Behandlung von Patienten eingesetzt werden.  Bakhtar News

    Treffen mit den Medien

    Bei einem Treffen zwischen dem Islamischen Emirat Afghanistan und den Medien rief der amtierende Minister Mullah Khairullah Khairkhah zu einer gemeinsamen Zusammenarbeit auf. Er sagte, dass die Politik des IEA darin bestehe, die Medien und Journalisten zu schützen. Er fügte hinzu, dass die Medien die Fakten in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Neutralität und im nationalen Interesse des Landes wiedergeben sollten. Weiter betonte er die Notwendigkeit gemeinsamer Treffen. In der Zwischenzeit tauschten die Journalisten auch ihre Probleme mit dem amtierenden Ministerium für Information und Kultur aus. Bakhtar News

    Treffen in Doha

    Der Außenminister der IEA trifft in Doha mit den Botschaftern und Sondervertretern von 14 Ländern, vor allem der europäischen Länder, zusammen. Themen waren die neue islamische Regierung, die Sicherheit, die Beziehungen zur internationalen Gemeinschaft, die wirtschaftliche Lage, die gegen Afghanistan verhängten Sanktionen und die Beseitigung der Korruption. Der Außenminister rief die internationale Gemeinschaft auf, mit den USA zusammenzuarbeiten, um das Embargo gegen afghanisches Staatsvermögen aufzuheben. Er sagte, die neue Regierung habe alle Bedingungen für die Anerkennung erfüllt. Tolo News

    Import

    Afghanistan importiert weiterhin über den Hairatan Hafen. Bei den eingeführten Materialien handelt es sich hauptsächlich um Mehl, Weizen, Öl, Gas und Baumaterial wie Zement. Tolo News

    Grenzübergang zu Pakistan geöffnet

    Der Grenzübergang zwischen Afghanistan und Pakistan wurde für Handel und Reisende wieder geöffnet. In den letzten zwei Monaten oder seit der Machtübernahme der neuen afghanischen Regierung war die Grenze geschlossen. Tausende Tonnen landwirtschaftlicher Erzeugnisse warten nun darauf, nach Pakistan exportiert zu werden. Immer mehr Landwirte sind gezwungen, ihre Erzeugnisse zu niedrigen Preisen auf dem heimischen Markt zu verkaufen, da sie nicht exportieren können. Bakhtar News

    Medien

    257 Medienunternehmen haben in den letzten 100 Tagen seit der Machtübernahme aufgrund finanzieller Probleme und Einschränkungen geschlossen. Darunter fallen Printmedien, Radio und Fernsehen.  Organisationen, die die Medien unterstützen, gaben an, dass über 70 Prozent der Medienmitarbeiter ihre Arbeit verloren oder das Land verlassen haben.

    Die IEA erklärte jedoch, dass sie sich für den Schutz der Errungenschaften der Medien und der freien Meinungsäußerung einsetze. Allerdings hat sie hat jedoch in der Zwischenzeit zwei Listen mit Grundsätzen für die Arbeit der Medien veröffentlicht. Diese geben Anlass zur Besorgnis über die Einschränkungen der Medienaktivitäten im Land. Den Medien mangelt es an Informationen. Sie haben finanzielle Probleme, und Berichten zufolge sind in diesen 100 Tagen sechs Reporter bei verschiedenen Vorfällen ums Leben gekommen, darunter Angriffe durch unbekannte bewaffnete Männer, Explosionen, Selbstmord und Verkehrsunfälle.

    Sicherheitslage in den 100 Tagen seit der Machtübernahme

    Die Ergebnisse zeigen, dass sich in den ersten 100 Tagen der IEA-Herrschaft neben kleineren Zwischenfällen 7 große Zwischenfälle im Land ereignet haben. Diese führten in 630 Fällen zu Todesfällen oder Verletzungen. Tolo News

    Menschenrechtslage nach 100 Tagen Islamisches Emirat:

    Nach dem politischen Wandel im Land wurden die Menschenrechte, insbesondere die Rechte von Frauen und Mädchen, sowohl in Afghanistan als auch international diskutiert. Die internationale Gemeinschaft erklärte, dass die Beteiligung der afghanischen Frauen an der Regierung und die Achtung der Frauenrechte Voraussetzung für die Anerkennung der neuen Regierung sind. Am 16. September gab die IEA ihre Kabinettsmitglieder bekannt, und es waren keine Frauen im Kabinett vertreten. Außerdem wurde das Ministerium für Frauenangelegenheiten aufgelöst und in Ministerium für die Verbreitung von Tugend und die Verhinderung von Lastern umbenannt. In der Zwischenzeit wurde den Schülerinnen an weiterführenden Schulen und den Lehrerinnen der Schulbesuch untersagt. Tolo News

    Tolo News

    Bakhtar News

    Den Überblick über die Ereignisse in Afghanistan im Oktober, findest du hier

  • Afghanic e.V. – Entwicklungszusammenarbeit nach der Machtübernahme

    „In den westlichen Medien wird sehr viel über den Flughafen und die Ortskräfte gesprochen. Man muss allerdings auch über die Lage und Sorgen der Leute berichten, die in Afghanistan bleiben. Das sind über 30 Millionen Menschen, die von der Politik vernachlässigt werden“, kritisiert Yahya Wardak. Der in Afghanistan geborene Arzt lebt seit 1992 in Deutschland und steht als Vorsitzender des Afghanic e.V. im engen Kontakt mit Menschen vor Ort. Der Verein setzt sich seit Jahren für die Integration von afghanischen Geflüchteten in Deutschland ein. Darüber hinaus  fördert er auch in Zusammenarbeit mit deutschen Partner*innen zahlreiche Projekten im Bereich Bildung und Gesundheit in Afghanistan. Mit der Machtübernahme der Taliban bleibt die Zukunft dieser Projekte jedoch ungewiss.

    Klinikpartnerschaft in Kabul

    Die Dewanbegi-Tagesklinik im 5. Distrikt in West-Kabul ist eins der geförderten Projekte. Der Verein unterstützt die Klinik nicht nur finanziell. Im Rahmen der Klinikpartnerschaft reiste Wardak zuletzt im März für drei Monate nach Kabul, um die Arbeitsweisen der Klinik näher kennenzulernen.

    Das Ziel war der Aufbau eines Zentrums für Frauenheilkunde, da weit über 80% der Patient*innen sowie etwa die Hälfte des Personals weiblich sind. Zudem wird die Klinik von einer Frau geführt. „Wir wollen, dass die Klinik personell richtig aufgestellt und qualifiziert ist“, erläutert Wardak. Geplant war es daher die Mitarbeiter*innen an lokale Universitäten zu schicken. Und digitale Schulungen aus Deutschland zum Thema Geburtenvor und -nachsorge abzuhalten. All dies scheint in Anbetracht der Politik der Taliban stark gefährdet zu sein. So kündigte der Universitätsrektor Mohammed Aschraf Ghairat an, Studentinnen von den Universitäten auszuschließen, bis es ein „echtes islamisches Umfeld“ für alle gebe.

    Der Betrieb der Klinik werde hingegen unverändert fortgeführt, berichtet Wardak. „Auch in diesen schwierigen Zeiten kommen alle Mitarbeiterinnen ohne Unterbrechung zur Arbeit“. Die Klinik hat keinen Tag Pause, denn der Bedarf ist nach wie vor groß. „Kurz nach der Machtübernahme der Taliban kamen zunächst weniger Patienten, jetzt allerdings viel mehr“, erzählt Wardak. Während im April 2021 etwa 70-80 Patient*innen täglich in der Klinik behandelt wurden, verzeichneten die Mitarbeiter*innen nun einen Höchststand von 162 Patient*innen an einem Tag.

    Grund dafür sind unter anderem die zunehmenden Versorgungsprobleme des Landes. „20 Jahre lang hing Afghanistan am Tropf der internationalen Gemeinschaft: Gehälter, Gesundheitsdienste, Schulen und vieles mehr wurden fast komplett aus dem Ausland bezahlt. Plötzlich kommt nun aber kein Geld mehr“, erklärt Wardak. Infolgedessen mussten zahlreiche Kliniken in anderen Stadtteilen schließen, sodass der Andrang in der Dewanbegi-Tagesklinik wächst.

    „Die Menschen fühlen sich alleingelassen“

    Das Ausbleiben der internationalen Unterstützung wirkt sich auf alle Lebensbereiche der Afghan*innen aus. „Die allgemeine Wirtschaftslage wird von Tag zu Tag schwieriger. Hunderttausende haben ihre Arbeit verloren, Mitarbeiter von Ministerien haben seit über drei Monaten kein Gehalt bekommen und zusätzlich steigen die Preise. Die Menschen haben große Sorgen“, führt Wardak aus. Nachdem die Banken wochenlang geschlossen hatten, können Privatpersonen nun gerade mal 200 US-Dollar in der Woche abheben. „Die Menschen fühlen sich alleingelassen“, betont Wardak.

    Der Westen habe große Fehler gemacht und die Konsequenzen müsse jetzt die afghanische Bevölkerung tragen. Er warnt: „Aufgrund der Dürre wird sich die Situation verschlechtern. Wenn der Winter einbricht, wird es nur noch schwieriger. Wir befürchten eine humanitäre Krise. Die internationale Gemeinschaft muss tätig werden, man darf keinen Tag verlieren“. Aus dem Scheitern der NATO muss man nun lernen.

    Du möchtest mehr Informationen?

    Mehr Informationen über den Afghanic e.V. findest Du hier. Dort kannst Du dich unter anderem für ein Wochenendseminar zum Thema „Afghanistan nach der Machtübernahme durch die Taliban“ anmelden.

    Hier kannst du noch mehr über Afghanistan lesen.

  • Afghanische Rezepte

    Kochen, das war immer schon eine meiner Leidenschaften. Zugegeben, in Afghanistan sind es weniger die Männer, die sich mit dem Kochen beschäftigen und sich damit auskennen. Es war meine Oma, die mir, als ich noch ein kleiner Junge war, einmal einen kleinen Topf gekauft hatte, nur für mich, und das war der Auftakt für meine Kochleidenschaft. Oft stand ich in unserer Küche an ihrer Seite oder der meiner Mutter, um ihnen abzuschauen, wie sie all die leckeren Gerichte, die mir immer so gut schmeckten, am Herd mit dem offenen Feuer zubereiten; und sie haben mich immer geduldig unterstützt und ermutigt, sie nachzukochen. So konnte ich meine Kochkünste entwickeln.

    Dass ich einmal ein afghanisches Kochbuch in Deutschland veröffentlichen würde, das hätte ich mir damals nie träumen lassen. „Salam. Rezepte & Geschichten aus Afghanistan“ ist im Mai 2021 im Christian Verlag erschienen. Bis dahin aber war es ein weiter Weg.

    Ich kam 2014 von Afghanistan nach Deutschland. Meine Heimat zu verlassen, das fiel mir nicht leicht, aber ich hatte keine Wahl. Das Heimweh war gerade in der Anfangszeit groß; ein gutes afghanisches Essen, zubereitet nach bewährtem Familienrezept, war da oft tröstlich, für mich wie auch für meine afghanischen Freunde, die ebenfalls neu in Deutschland waren. Sie kamen gerne vorbei, um gemeinsam die vertrauten Köstlichkeiten zu genießen, die ich für sie gekocht habe, und in Erinnerungen zu schwelgen.

    zusammenkochen.com

    Meine Freunde brachten mich dann auf die Idee, den Blog zusammenkochen.com zu schaffen. Viele von ihnen hatten zu Hause nicht gelernt, afghanische Gerichte zuzubereiten. Also veröffentlichte ich auf dem Blog typisch afghanische Rezepte, die sich gut mit den Zutaten aus dem deutschen Supermarkt kochen lassen, die einfach nachzukochen sind auch für die, die noch nicht so gut kochen können oder die sich nach der Schule oder der Arbeit schnell ein gutes Essen zubereiten möchten, ohne auf Tiefkühlpizza und Döner vom Imbiss zurückgreifen zu müssen.

    Der Blog wurde tatsächlich eine kleine Erfolgsgeschichte, und zunehmend waren es auch Nicht-Afghanen, die sich begeistert zeigten von den Rezepten zu Gerichten, die sie bestenfalls aus dem afghanischen Restaurant kannten. Und so war es perfekt, als der Christian Verlag anbot, ein Kochbuch über die afghanische Küche zu veröffentlichen. Ich bin stolz auf dieses Angebot und auf das Ergebnis. Das Buch enthält Rezepte zu den typischen, aber auch zu unbekannteren afghanischen Gerichten, die es zu entdecken lohnt; es erzählt darüber hinaus über die Kultur des Kochens in Afghanistan, über die Art und Weise, wie die Menschen die Gärten und Felder bestellen, über das Familienleben, die nachbarschaftliche Verbundenheit, die Gastfreundschaft der Menschen, über ihre Freude an Festen, über Kultur und Traditionen, die das Leben der Menschen in Afghanistan zusammenhalten.

    Auch wenn es gerade in diesen Tagen wieder einmal nicht so aussieht: Afghanistan ist mehr als Krieg und Terror. „Salam“ lädt ein zu einer Entdeckungsreise, die den Blick auf die wunderbaren Seiten Afghanistans richtet. Herzlich willkommen.

    Rezept:

    Kofta (Fleischbällchen in Tomatensauce)

    Zutaten:

    Für die Fleischbällchen: 2 Tomaten, 2 Zwiebeln, 4 Knoblauchzehen, ½ Bund frischer Koriander, 1 kg Rinder- und/oder Lammhackfleisch, Salz, frisch gemahlener schwarzer Pfeffer, 3 TL Korianderpulver

    Für die Sauce: 3 Tomaten, 1 Zwiebel, 2 Knoblauchzehen, 3 EL Pflanzenöl, Salz, frisch gemahlener schwarzer Pfeffer, ½ TL Korianderpulver

    Zubereitung:
    1. Für die Fleischbällchen die Tomaten waschen und den Stielansatz herausschneiden. Die Zwiebeln und den Knoblauch abziehen. Die Tomaten sowie die Zwiebeln in feine Würfel schneiden und den Knoblauch fein hacken. Den Koriander waschen, trockenschütteln und ebenfalls fein hacken.
    2. Das Hackfleisch mit den Zwiebeln und dem Knoblauch in einer Schüssel verkneten. Die Masse mit Salz, Pfeffer und dem Korianderpulver würzen. Dann die Tomaten und den frischen Koriander zufügen, alles gut vermengen und kurz ruhen lassen. Anschließend aus der Masse mit den Händen Bällchen formen.
    3. Für die Sauce die Tomaten waschen und den Stielansatz herausschneiden. Die Zwiebel und den Knoblauch abziehen. Die Tomaten sowie die Zwiebel in feine Würfel schneiden und den Knoblauch fein hacken.
    4. Das Öl in einem großen Topf erhitzen und die Zwiebel darin langsam goldbraun schmoren. Dann die Tomaten und den Knoblauch zufügen und die Mischung etwa 5 Minuten zu einer Sauce einköcheln lassen. Zuletzt mit Salz, Pfeffer und dem Korianderpulver würzen. Die Fleischbällchen in die Sauce geben und bei aufgesetztem Deckel etwa 25 Minuten darin garen.
    5. Zum Anrichten die Kofta mit Sauce auf Teller verteilen und servieren. Dazu passt Brot.

    Wenn ihr mehr afghanische Rezepte lesen möchtet, könnte ihr das Buch von Imraan (Salam. Die neue afghanische Orientküche. Magisch. Geheimnisvoll. Eine kulinarische Reise entlang der Seidenstraße. Genießen Sie die orientalische … Heimat. Magisch. Geheimnisvoll. Überraschend.) kaufen.

  • Nachrichtenüberblick KW 46

    Aus Deutschland

    Polizei versuchte den Todesfall in Gewahrsam zu verheimlichen

    Nach dem Tod des jungen Mannes in Polizeigewahrsam letzte Woche, bekommt der Fall nun immer mehr Aufmerksamkeit. Nicht durch die Polizei selbst, sondern durch ein Video, welches in sozialen Medien kursierte, wurde der Fall erst in der Öffentlichkeit bekannt. Weiterhin besteht die Polizei auf ihre Erklärung, dass der Tod nicht durch Fremdverschulden passiert ist und will sich damit selbst entlasten. Die Erklärung löste Empörung aus.

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    Antisemitische Straftaten in Deutschland

    Im Jahr 2021 wurden in Deutschland 1850 antisemitische Straftaten erfasst. Tote gab es dabei zum Glück nicht. Die Tatverdächtigen bewegen sich überwiegend in rechtsextremen Kreisen. Bisher wurden lediglich fünf Personen festgenommen und zwei Haftbefehle erlassen. Im Vergleich zu den vorherigen Jahren ist ein Anstieg von antisemitischen Straftaten zu beobachten.

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    Aachener Friedenspreis für Angehörige der Hanau-Opfer

    Zwei Initiativen der Hinterblieben von dem rassistischen Anschlag in Hanau, Initiative 19. Februar und Bildungsinitiative Ferhat Unvar, und ein interreligiöser Frauenrat aus Nigeria, Women’s Interfaith Council (WIC), erhielten am Samstag den Aachener Friedenspreis. Die Initiativen setzen sich für ein friedliches Zusammenleben und gegen Rassismus ein. Bei der Verleihung wurde betont, wie wichtig es sei, dass Menschen nicht alleine gelassen werden, dass erinnert wird sowie die Wichtigkeit sich gegen Ungerechtigkeiten zu engagieren.

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    Evakuierung von mehr als 400 Menschen aus Afghanistan nach Deutschland

    Die deutsche Regierung hat erstmals seit August einen eigenen Charterflug nach Afghanistan organisiert. Mit diesem wurden 349 Menschen evakuiert. Zeitgleich organisiert die zivilgesellschaftliche Initiative “Kabul Luftbrücke” eine Evakuierung von 100 Menschen. Die Initiative arbeitet momentan deutlich effektiver an der Evakuierung gefährdeter Menschen als die Bundesregierung.

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    Mit Musik durch Schicksalsschläge

    Ein Konzert mit Musik, die dem Schicksal trotzt und voller Lebenslust ist. Im Rahmen des Festaktes „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ wurden die Werke von drei Komponist*innen jüdischer Herkunft gespielt.

    Zum Anhören geht es hier lang.

     

    … und der Welt

    Forderung nach erleichtertem Asylverfahren für Frauen, Mädchen und LGBTQ+ Personen

    Die Feministasylum Koalition, bestehend aus verschiedenen feministischen Organisationen und Vereinigungen, fordert eine wirksame Anerkennung spezifischer Asylgründe für Frauen, Mädchen und LGBTQ+ Personen in der EU. Die spezifischen Asylgründe dieser Personen werden häufig nicht anerkannt, obwohl beispielsweise geschlechtsspezifische Gewalt als eine Form von Verfolgung anerkannt ist.

    Mehr dazu hier

    Das erste von fünf neuen Auffanglagern eröffnet

    Auf der griechischen Insel Samos sollen fünf neue Lager für Geflüchtete entstehen. Das erste von ihnen wurde nun geöffnet. Die griechische Regierung spricht von “Closed Controlled Access Center of Samos“. Der Name ist Programm, das Gelände ist umringt von zwei Reihen Stacheldrahtzaun. In der ersten Woche darf niemand das Lager verlassen, Gründe werden nicht genannt.

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    Kritik an Beschlüssen des Klimagipfels (COP26)

    Die Beschlüsse der Klimakonferenz in Glasgow werden von Klimaaktivist*innen kritisiert. Die Ergebnisse würde Menschen, die bereits vor unerträglichen Klimafolgen stehen, und junge Menschen, die auf einen klimagerechte Zukunft hoffen, verraten. Zwar wird die Forderung nach einem gemeinsamen Geldtopf für Hilfen zur Bewältigung klimabedingter Schäden erstmals behandelt. Eine konkrete Summe wurde allerdings nicht bestimmt. Die Gelder würden vor allem ärmeren Ländern zugute kommen, die weitaus häufiger Dürren, Sturmfluten und Wirbelstürmen betroffen sind.

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    Zahl der Menschen auf Flucht weltweit steigt

    Der Bericht des UN-Flüchtlingshilfswerk besagt, dass sich weltweit 84 Millionen Menschen auf der Flucht befinden. Gründe dafür sind vor allem Gewalt, Konflikte und Folgen des Klimawandels. Durch die Grenzbestimmungen aufgrund von Corona sind vielerorts die Zugänge zu Asyl erschwert. Verschlechtert hätte sich die Lage in der Republik Kongo, Äthiopien, Myanmar und Afghanistan.

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    Streit um die Aufnahme von Geflüchteten

    Die Situation an der polnischen Grenze ist weiterhin angespannt. Am Wochenende wurde im Waldgebiet an der Grenze die Leiche eines jungen Mannes gefunden. Asylsuchende werden am Grenzzaun mit Tränengas und von Wasserwerfern angegriffen. Teilweise gelingt ihnen ihnen ein Durchbruch des Grenzzaunes. Gleichzeitig wird in Deutschland darüber diskutiert ob diese Menschen nach Deutschland gelassen werden sollten.

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    Mauerbau in Polen soll mit EU Geldern finanziert werden

    Seit der angespannten Situation an der polnisch-belarussischen Grenzen kamen in Brüssel Gespräche über physische Grenzinfrastrukturen auf. Zwölf EU-Staaten drängen darauf, dass mit EU-Geldern der Bau von Grenzzäunen und Mauern finanziert wird. Der polnische Ministerpräsident ist darüber erfreut.

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    Opfer belgischen Kolonialismus klagen Reparationszahlungen ein

    Fünf Frauen haben haben den belgischen Staat wegen Verbrechen gegen die Menschheit in der Kolonie Belgisch-Kongo verklagt und verlangen Entschädigung. Geboren in der Kolonie Belgisch-Kongo als Töchter einer kongolesischen Mutter und einem belgischen Vater wurden sie in jungen Jahren nach Belgien verschleppt und haben Misshandlungen und Prügel erfahren. Sie sind nicht die einzigen, die dieses Schicksal erlitten. In den kommenden Tagen wird das Gericht ein Urteil fällen.

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  • „Meine Hoffnung sind die afghanischen Frauen“

    Frau Ahmadi, Sie machen als Aktivistin und Anwältin auf die Krise in Afghanistan aufmerksam und prangern auf Social Media, auf Demos und in vielen Interviews die Menschenrechtsverletzungen der Taliban an. Dabei werfen Sie vor allem ein Licht auf die Unterdrückung der Frauen im Land. Wieso ist es so wichtig, dass wir in Deutschland Afghanistan nicht aus dem Blick verlieren?

    Ich möchte den afghanischen Frauen und Mädchen eine Stimme geben. Die afghanischen Frauen haben verdient, dass man ihre Stimme wahrnimmt, dass man ihnen einen Raum gibt. Durch die Machtergreifung der Taliban wurden die Frauen ins Mittelalter katapultiert, so dass sie überhaupt keine Möglichkeit haben, sich zu äußern – geschweige denn, ihre Rechte auszuüben.

    Frauen sollen das Haus nicht verlassen, Mädchen dürfen ab der sechsten Klasse die Schule nicht mehr besuchen. Universitäten sind für die Frauen geschlossen. Alle diese Grausamkeiten in Afghanistan geben mir das Recht und Anspruch, mich als Anwältin für diese Frauen einzusetzen.

    Sie stammen selbst aus Afghanistan. Als sie 17 Jahre alt waren, mussten Sie mit Ihrer Familie nach Deutschland fliehen. Trotzdem ist Ihre Verbindung in die alte Heimat nie abgerissen. Was berichten Ihre Kontakte in Afghanistan über die Situation im Land?

    Die Menschen leben in Angst und Schrecken. Familienmitglieder, die sich offen gegen die Taliban ausgesprochen haben, werden bedroht – Verwandte haben mir berichtet, dass seit Tagen ein bewaffneter Talib vor ihrer Haustür postiert ist. Besonders schwierig ist die Situation für Frauen: Ich stehe zum Beispiel in Kontakt mit zwei Anwältinnen, die sich seit der Machtübernahme der Taliban versteckt halten. Sie sind besonders gefährdet, weil sie nicht verheiratet sind. Das ist ein riesengroßes Problem, weil die Taliban festgesetzt haben, dass man ohne männliche Begleitung das Haus nicht verlassen darf.

    Durch 40 Jahre Bürgerkrieg sind aber viele Männer gestorben oder geflüchtet, weil sie keine Waffe in der Hand nehmen wollten. Deshalb sind viele Frauen Witwen – unter der Herrschaft der Taliban haben sie keine Möglichkeiten, selbst ihren Lebensunterhalt zu bestreiten und wissen nicht, wie es jetzt für sie weitergehen soll.

    Was muss jetzt geschehen, um den Menschen in Afghanistan zu helfen?

    Die Taliban haben das Land erobert, wir können sie nicht militärisch abschaffen. Stattdessen sollten wir nach diplomatischen Lösungen suchen. Die Taliban brauchen die Anerkennung des Westens, um den afghanischen Staat wieder aufzubauen und sich als rechtmäßige Regierung zu legitimieren. Der Westen muss die Einhaltung der Menschenrechte als Bedingung für Anerkennung und wirtschaftliche Unterstützung einfordern.

    Sie setzen sich zusammen mit Ihrem Bruder Hamid Rahimi, einem ehemaligen Boxweltmeister, auch persönlich für die Menschen im Land ein. Können Sie erklären, was es damit auf sich hat?

    Mein Bruder hat 2009 das Projekt Fight4Peace ins Leben gerufen. Unter dem Motto „Bildung und Sport statt Waffen und Krieg“ organisierte er unter anderem Boxkämpfe in Kabul und bildete Jugendliche in dem Sport aus. Dieses Projekt wollen wir in Form einer Denkfabrik erweitern. Sie soll als eine Art Brücke zwischen dem Westen und dem Osten dienen. Wir als Diaspora möchten eine breite zivilgesellschaftliche afghanische Bewegung schaffen. Mit dem Wissen und den Fähigkeiten, die wir überall auf der Welt gesammelt haben, können wir dabei helfen, Afghanistan mit aufzubauen – ich zum Beispiel als Anwältin.

    Deutschland und der Westen haben mit ihrem fluchtartigen Rückzug aus Afghanistan eine Mitschuld für das aktuelle Chaos im Land. Wir hoffen, dass Deutschland nun Verantwortung übernimmt und unsere Mission unterstützt. Falls unsere Sicherheit gewährleistet wird, sind mein Bruder und ich sogar bereit, in Afghanistan vor Ort zu helfen. Vielen Exilafghanen geht es genauso. Eine Freundin hat in Kabul Jura studiert, sie arbeitet jetzt im Auswärtigen Amt und ist bereit, an ihrer ehemaligen Universität Frauen zu unterrichten. Wenn wir auf Augenhöhe mit den Taliban kommunizieren – in ihrer eigenen Sprache – dann kann ich mir gut vorstellen, dass selbst sie in der Lage sein werden, unsere Position zu verstehen.

    Ihre Familie gehört zu einer der bekanntesten in der afghanischen Community Hamburgs. Wie nehmen Sie die Stimmung in der Diaspora wahr?

    Jeder von uns ist so schwer davon betroffen, dass wir weder essen noch trinken. Sogar Kinder erzählen mir, dass sie Albträume haben, obwohl sie nie in Afghanistan waren. Sie sind hier in Deutschland geboren und aufgewachsen, sie studieren – und die aktuelle Krise trifft sie trotzdem. Als Diaspora sind wir zweigeteilt. Wir fühlen uns als Teil der deutschen Gesellschaft, Deutschland ist unsere Heimat.

    Genauso wichtig sind uns unsere Wurzeln in Afghanistan. Es ist für uns sehr schmerzhaft, dass wir ein so privilegiertes Leben führen, während unsere Verwandten in Afghanistan Hunger leiden. Die Hilflosigkeit tut weh. Als Anwältin habe ich in den letzten Jahren viele Erfolge erreicht. Ich dachte, jetzt könnte etwas Ruhe einkehren. Und plötzlich kamen die Taliban. Das hat mich wirklich aus der Bahn geworfen.

    Was ist Ihre Hoffnung für Afghanistan?

    Meine Hoffnung sind die afghanischen Frauen. Sie haben 20 Jahre Freiheit erlebt, haben studiert, gearbeitet. Wenn ein Vogel die Freiheit gesehen hat, möchte er nicht mehr im Käfig bleiben. Das heißt, sie werden kämpfen. Das hat man an den afghanischen Frauen gesehen, die auf die Straße gehen. Sie werden sich nicht ohne Widerstand unterdrücken lassen. Mit Unterstützung der internationalen Gemeinschaft und der Diaspora kann ich mir gut vorstellen, dass sie demokratische Grundwerte für sich erkämpfen.

    Sie setzen sich seit der Machtübernahme der Taliban mit voller Kraft für die Menschen in Afghanistan ein. In einem Interview haben Sie erzählt, dass sie zurzeit nur zwei Stunden pro Nacht schlafen. Die Krise in Afghanistan wird aber zurzeit eher schlimmer, als dass sie besser wird. Was macht das mit Ihnen persönlich?

    Ich habe gelernt, mit schweren Schicksalsschlägen umzugehen. Als mein Bruder unschuldig im Gefängnis saß, hat er sich mit einem Sprichwort Mut gemacht: Alles was mich nicht tötet, macht mich nur stark. Mit einem Auge weine ich, aber mit dem anderen Auge lache ich. Ich bekomme sehr viel Unterstützung – auch von Leuten, die zuvor nichts mit Afghanistan zu tun hatten. Das zeigt mir, dass Menschlichkeit noch existiert. Es ist unsere Pflicht, die Augen nicht zu verschließen und Verantwortung zu übernehmen – so bewahren wir unsere Menschlichkeit.

    Mehr von Jacqueline Ahmadi könnt ihr in der nächsten Folge von unserem Podcast multivitamin hören!

  • Vertrauenskrise

    Wie kann der Westen aber über die Warnungen der Expert*innen hinwegschauen und handeln? Ganz einfach: Weil solche Entscheidungen auf Basis von „politisierter Intelligence“ getroffen werden. Das bedeutet, dass alle innen- und außenpolitisch wichtigen Entwicklungen eines Staates analysiert werden. Es ist absolut unumstritten und konventionell, dass dabei unterschiedliche Analysen vorgelegt werden.

    In den USA ist es etwa davon abhängig, welche Analyse die Regierung bevorzugt. Dementsprechend werden verschiedene Interpretationen vorgelegt. Regierungen kennen aber alle in Betracht kommenden Sachverhalte und geben es sogar öffentlich zu.

    Sie erkennen dies nicht als Fehler an, da es doch eine Analyse von vielen war und sie darauf aufbauend ihre Entscheidungen trafen. Damit können politische Entscheidungen, deren Scheitern eventuell schon vorauszusehen ist, trotzdem getroffen werden, weil man anderen Belangen – angelehnt an eine imperiale Lebensweise – gerecht werden oder diese priorisieren möchte.

    Das außenpolitische Handeln vieler mächtiger Staaten der Welt hatte bereits Risse, die irreparabel schienen. Franklin Delano Roosevelt sagte einst: „In der Politik passiert nichts zufällig. Wenn es doch passiert, war es so geplant.“

    Fraglich ist, wie glaubwürdig die vermeintlichen Friedensprozesse zukünftig sein werden, wenn es um den Nahostkonflikt, Afghanistan, Syrien, Libyen und weitere afrikanische Staaten geht. Man muss aber auch fair sein und zwischen dem europäischen und amerikanischen Westen differenzieren. Der europäische ist in seinem politischen Handeln, nicht nur aufgrund der kolonialen Vergangenheit, anti-imperialistisch orientiert, sondern unterscheidet sich auch durch den Irak-Krieg vom amerikanischen Westen. Dennoch hat sich der europäische Westen in seiner blinden Solidarität mitreißen lassen. Das wurde auch durch die Beteiligung der Briten im Irak-Krieg deutlich.

    Der Terror hat weltweit zugenommen. Wie kann die US-Regierung davon sprechen, dass man militärisch einen Sieg in Afghanistan (in Teilen)  gegen diesen Terror gewonnen hat, wenn es doch jüngst noch Anschläge gab? Wer denkt, dass sich die Geschehnisse in Vietnam, im Irak oder Afghanistan nicht wiederholen könnten, der lebt realitätsfern oder unwissend.

    Nachdem das Schlachtfeld im Irak geräumt wurde, entstand der IS. Nachdem das gleiche in Afghanistan geschieht, tritt verstärkt ein Ableger der IS auf.

    Ergo:

    Unverhältnismäßige Gewaltanwendung als Konfliktlösung zu sehen, führt eher zu einer Eskalation statt zur Deeskalation!
    Nicht nur an diesen Beispielen sieht man, dass amerikanische Offensiven zu einem Machtvakuum führen, das dann von anderen gefüllt werden möchte.

  • zu.flucht-Podcast: Frieden und Freiheit für Afghanistan

    Wir haben in dieser Folge die erste afghanische Dragqueen Najib Faizi zu Gast. Im Interview hat er uns berichtet, wie er sich für die Rechte und Sichtbarkeit von queeren Menschen in Afghanistan einsetzt. Außerdem gibt es dieses Mal etwas ganz Besonderes zu hören – Musikproduzent Farhot hat uns seine Musik zur Verfügung gestellt und uns Fragen über sein Album Kabul Fire Vol. 2 beantwortet.

    Wir sprechen mit Prof. Dr. Conrad Schetter über die Konflikte in Afghanistan und decken ein paar Mythen über diese auf. Zudem beschäftigen wir uns mit der Evakuierungsmission und sprechen mit Zara Haiderzadeh, die vor der drohenden humanitären Krise in Afghanistan warnt. Anwältin Jacqueline Ahmadi erzählt uns mehr über die Rechte der Frauen und die Stimmung in der afghanischen Diaspora.
    Ihr hört uns überall, wo es Podcasts gibt!
    Wenn ihr Fragen, Anmerkungen oder Themenvorschläge habt, schreibt uns gern an podcast@kohero-magazin.de oder über unsere Social Media Kanäle!
    Das Multivitamin-Team:
    Valeria Bajaña Bilbao, Florent Gallet, Jonas Graeber, Sassetta Harford, Sophie Kolodziej, Lionel Märkel, Sina Nawab, Anna Seifert, Anne Josephine Thiel, Lili Rihl, Lena Tuulia Wilborn, Sarah Zaheer

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