Kategorie: Persönliche Geschichten

Hier erzählen Menschen mit Flucht- und Migrationsgeschichte vom Ankommen und Leben in Deutschland, von ihren Problemen, Träumen und Erfolgen. Denn Vielfalt braucht echte Geschichten.

  • 70 Jahre BMFSFJ: Plädoyer für Vielfalt

    Sehr geehrte Frau Ministerin Paus, liebe Gäst*innen,

    70 Jahre BMFSFJ – herzlichen Glückwunsch! Und ganz herzlichen Dank für Ihren Einsatz für die Gleichstellung der Geschlechter! Wer hätte 1954 gedacht, dass wir uns heute kaum noch ausmalen können, dass Frauen einmal nicht eigenständig ein Bankkonto eröffnen durften? Diese ungläubige Empörung über das Unvorstellbare der Vergangenheit verdeutlicht, wie weit wir gekommen sind. Ich freue mich sehr, mit Ihnen diese Errungenschaften feiern zu können.

    Unsere Gesellschaft wurde definitiv geschlechtergerechter. Aber wir haben heute ganz neue Herausforderungen. Wir wurden älter. Und wir wurden zwar vielfältiger, aber auch rechter.

    Die Durchschnittsdeutsche, die 1954 noch 36 Jahre alt war, ist heute um knapp zehn Jahre gealtert. Auch wenn wir jungen Menschen kontinuierlich zur Minderheit werden, dürfen unsere Ideen und Bedürfnisse nicht gleichlaufend marginalisiert werden! Die Last auf unseren Schultern wird nicht weniger, nur weil wir weniger werden. Im Gegenteil!

    In der Kindheit werden die Grundsteine für das spätere Leben gelegt. Aber nicht jedes Kind bekommt das gleiche Gerüst. Struktureller Rassismus zwingt uns migrantisierte Kinder, früher erwachsen zu werden. Unsere Realität ist eine andere, mit zusätzlichen Lasten.

    Wir müssen uns mit Dingen beschäftigen, über die sich Kinder eigentlich keine Gedanken machen sollten. So möchten wir verstehen, warum wir von Fremden häufig zuerst auf Englisch statt auf Deutsch angesprochen werden. Wir müssen uns früh mit der Frage nach unserer eigenen Herkunft auseinandersetzen – nicht, weil wir es selbst reflektieren möchten, sondern weil andere es uns aufdrängen und damit unser eigenes Sein, unsere Identität infrage stellen.

    Wir verbringen vielleicht nicht alle Nachmittage auf Spielplätzen, sondern manche mit dem Übersetzen amtlicher Briefe – dem Unkindhaftesten überhaupt – und werden so zu care takern unserer eigenen Familien. Vielleicht lernen wir sogar früh, dass wir uns selbst für Süßigkeiten im Cent-Bereich einen Kassenbon geben lassen sollten, damit der Ladendetektiv uns nicht festhält, weil er denkt, der gekaufte Lolli sei geklaut.

    Und wir haben existenzielle Sorgen über unsere Zukunft in Deutschland. Seit Januar dieses Jahres, seit der sogenannten „Remigrationskonferenz“ und der Normalisierung rechtspopulistischer Forderungen, seitdem frage ich mich erstmals ernsthaft, ob meine Zukunft hier noch so bedingungslos stattfinden kann, wie ich immer dachte. Wo wäre eigentlich mein Zufluchtsort? Wo könnte ich eines Tages leben, sollte Deutschland nicht mehr mein Zuhause sein können? Ich bin ein Kind der Migration. Menschen, die Migration nicht im Land haben wollen, wollen mich nicht im Land haben.

    Ganz ehrlich, ich fühle mich oft machtlos. Dinge, die vor Jahren noch rechte Politiker:innen sagten, bei denen wir empört aufschrien, sind jetzt Teil des normalen Diskurses. Lassen Sie uns bitte vermeiden, dass die Mitte rechte Erzählungen aufnimmt. Dass wir die hart erkämpften Errungenschaften der letzten Jahrzehnte zunichtemachen. Wir stehen doch eigentlich gemeinsam zusammen für eine diverse, solidarische Gesellschaft. Lassen Sie uns solche Allianzen schmieden! Zum Schutz der Menschenrechte, für Chancengerechtigkeit und dafür, dass jeder Mensch so leben kann, wie er ist.

    Wir dürfen uns nicht durch den Ausschluss des vermeintlich Fremden definieren – dadurch verlieren wir mehr als „nur“ uns migrantisierte Menschen: Wir verlieren unsere Diversität. Und Diversität ist eine riesige Bereicherung. Diversität lehrt, verschiedene Blickwinkel einzunehmen. Anpassungsfähig zu sein in Zeiten voller Ungewissheit. Sich mit anderen Standpunkten auseinanderzusetzen. Offen und empathisch zu sein. Diversität ist der Grundpfeiler einer lebendigen Demokratie.

    In unserer aktuellen Jugend steckt enormes Potenzial. Wir sind diverser denn je. Unsere Lebensrealitäten haben es uns gelehrt, unseren Platz einzufordern. Und wenn ich mir meine Generation anschaue, dann bin ich hoffnungsvoll. Denn wir sind laut, bereit für unsere Rechte zu kämpfen. Wir sind aktivistisch, engagiert und gehen für Gerechtigkeit auf die Straße. Nutzen Sie dieses Potenzial! Verstehen Sie uns als unhinterfragten Teil der (deutschen) Zukunft. Lassen Sie uns diese Zukunft mitgestalten.

    Jeder Mensch ist einmal ein Kind gewesen. Niemand kann beeinflussen, in welchen Verhältnissen die Kindheit gelebt wird. Aber wir haben die Verantwortung, die Startbedingungen jeder Kindheit gerecht zu gestalten. Wir müssen die vielfältigen Realitäten junger Menschen in Deutschland erkennen, anerkennen, und als Ausgangspunkt unserer Bemühungen nehmen.

    In 70 Jahren bin ich 95. Ich hoffe sehr, dass Deutschland da noch mein Zuhause ist. Dass meine Kinder und Kindeskinder mehr Möglichkeiten haben. Dass sie frei von fremden Zuschreibungen ihre eigenen Themen setzen können. Vielleicht sind wir sogar ungläubig empört darüber, dass es mal eine Zeit gab, in der nicht alle Kinder wirklich Kinder sein konnten.

    Kämpfen wir gemeinsam für diese Zukunft!

    Vielen Dank allen, mit denen wir im Vorfeld der Rede gemeinsam sammelten, was uns migrantisierte Jugend und Jugend, die sich gegen Rechts einsetzt, bewegt. 

  • Nusaiba Aldaher: aus Trauer wächst eine Sprache

    Es ist ein Raum voller Erwartungen. Kinder stehen auf der Bühne, jedes von ihnen hält ein Mikrofon, jedes von ihnen ein Herz voller Aufregung. Sie sagen ihre Namen, einer nach dem anderen, und dann: „Was bedeutet dein Name?“ Die Antworten hallen durch den Saal wie Echos ihrer Herkunft, ihrer Identität. Eltern sitzen an runden Tischen, ihre Augen leuchten stolz. Die Smartphones filmen, doch das hier, so scheint es, soll mehr sein als ein Moment, der in die Kamerarolle wandert. Es ist der Abschluss einer Reise, die auf Arabisch begann. 

    Nusaiba Aldaher steht an der Seite der Bühne. Ihr Blick ruht auf den Kindern, sie lächelt, sanft und ermutigend. Sie ist die Frau, die all das möglich gemacht hat. Der Abend ist das Ergebnis ihrer Arbeit, ihres Willens und – ja, ihrer Trauer. Denn ohne diese Trauer gäbe es nicht das Theaterstück, das gleich starten wird. 

    Die Frau, die Zusammenhalt schafft

    Nusaiba Aldaher ist keine Fremde in der Welt der Brüche. Ihr Leben begann in Saudi-Arabien, wohin ihr Vater geflohen war, um den syrischen Krieg zu entkommen im Jahre 1984. Sie wuchs dort auf, in einer Welt, die sie nie ganz als ihre eigene betrachten durfte. Bürgerrechte? Fehlanzeige. Bildung und Gesundheitsversorgung? Nur eingeschränkt zugänglich. Und doch, mitten in dieser Enge, fand Nusaiba ihren Weg. Sie machte ein Diplom in Pädagogik, arbeitete über ein Jahrzehnt mit Kindern und schuf Räume für Lernen und Hoffnung. 

    Nun, diese Einschränkungen konnten sie nur so lange ertragen, bis sie mit ansehen musste, wie ihre eigenen Kinder demselben Schicksal ausgesetzt waren. Sie durften keine regulären Schulen besuchen, und Privatschulen waren unerschwinglich teuer. Schließlich entschied sich die Familie, eine neue Fremdheit zu ertragen, und wanderte nach Deutschland aus. „Ich habe die Bildungschancen hier von Anfang an sehr geschätzt“, erzählt sie. Sie lernte die deutsche Sprache, erreichte den Kurs C1, arbeitete hart und blickte nach vorne. Doch dann geschah es: Der Unfall, der ihrer Tochter das Leben kostete. „Ich war drei Jahre wie gelähmt“, sagt sie heute. 

    Aus Schmerz wird Sinn 

    Nusaiba ließ sich nicht brechen. Sie räumte das Zimmer ihrer Tochter leer, doch das bedeutete keinen Abschied. Es war ein Neubeginn. In diesem Zimmer wurden ihre Ideen geboren, ihre Kurse für Arabischunterricht, ihre Theaterstücke. Kinder, die zuvor mit den Spielsachen ihrer Tochter spielten, lernten nun, ihre Muttersprache zu schreiben und zu sprechen. „Ich hatte das Gefühl, ich konnte diesen Kindern etwas geben, was ich meiner Tochter nicht mehr geben konnte“, sagt sie. Und dieser Gedanke schien sie zu tragen. 

    Die Arabischkurse wurden zu mehr als Unterricht. Sie wurden zu Brücken – zwischen den Kindern und ihren Wurzeln. Nusaiba merkte, dass die Kinder oft nicht einmal wussten, was ihre Namen bedeuteten. Und so begann sie, Theaterstücke zu entwickeln. „Ich wollte, dass sie mit demselben Selbstbewusstsein auf Arabisch auf der Bühne sprechen, wie sie es auf Deutsch tun – und dass diesmal ihre Eltern ihnen zuhören, anstatt immer umgekehrt.“ 

    Eine Bühne der Erinnerung 

    Nun stehen zwei Mädchen vor der Bühne, die Lichter werden gedimmt. Eine Fluchtszene entfaltet sich. Das Boot auf dem Meer, die Angst, die keine Sprache kennt. „Ich weiß, dass diese Szene traurig ist“, erklärt Nusaiba später. „Aber es geht nicht darum, Traurigkeit zu erzeugen. Es geht darum, dass die Kinder die Geschichten ihrer Eltern verstehen und sie respektieren.“ Die Flucht, die Trennung, das Ankommen, es sind mehr als Geschichten. Es sind Wurzeln, die in diesen kleinen Menschen weiterleben werden.

    Als der Abend endet, stehen die Eltern auf, applaudieren, lächeln. Nusaiba sieht es und denkt schon an das, was noch kommt. Sie hat Pläne. Arabische Bücher für Kinder, die sie in ihren Kursen einsetzen will, mehr Theaterstücke, mehr Gelegenheiten, die Sprache lebendig zu halten. „Es geht nicht nur um das Sprechen“, sagt sie. „Es geht um Zugehörigkeit.“ 

  • Santiago Mariño und Juan Camilo Rojas Arévalo: Tanzen – eine universelle Sprache, die Brücken baut

    Zwei Männer, erschöpft und mit gebücktem Haupt nebeneinander; sie unterhalten sich. Juan und Santiago sitzen inmitten einer leeren dunklen Bühne, ein einziger Scheinwerfer auf sie gerichtet. Sie sprechen über die Ungerechtigkeit des Kapitalismus und was das mit globalen Migrationsströmen zu tun hat. In ihrem kontemporären Tanzstück “Echoes of Darien” verkörpern sie eine Sehnsucht und einen Schmerz, den ein ganzer amerikanischer Kontinent in sich trägt. Gerade proben sie noch, doch in wenigen Minuten beginnt ihre Tanzperformance im Ernst-Deutsch-Theater in Hamburg.

    Der sogenannte Darien Gap (tapón del Darién Spa) ist die einzige nicht befahrbare Zone zwischen Alaska und Feuerland des amerikanischen Doppelkontinents, weshalb sie auch als “Lücke” oder “Stecker” bezeichnet wird. Über 100 Kilometer erstreckt sich ein immenser Urwald und bildet die Grenze zwischen Kolumbien und Panama. An diesem von Gefahren besetzten Ort kommen Menschen aller Welt zusammen und durchqueren, meist zu Fuß, die dicht bewachsene Zone. Sie geraten dabei immer wieder in die Hände von Drogengangs und Menschenhändlern und riskieren dabei ihr Leben. Ihr Ziel: Die Erfüllung des amerikanischen Traumes.

    “Ist es nicht unfair, dass mein Geld weniger wert ist als deins?“, fragt Santiago seinen Tanzpartner in einem kurzen Zwischendialog. Dieser antwortet: „Ja, vier Sandwiches in meinem Land sind bloß ein Sandwich hier”, erwidert er. In “Echoes of Darien” spielen die beiden mit solchen Brüchen. Sie verkörpern zwei Migranten, die in einem scheinbar unendlichen Labyrinth an Dschungel zusammen sitzen und diese banal wirkende Konversation führen.

    Santiago Mariño ist zeitgenössischer Tänzer und Tanzlehrer sowie Choreograf. Der 32-Jährige studierte Darstellende Kunst in der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá und arbeitete anschließend an verschiedenen Orten der Welt. Seit 2022 arbeitet er als Freelancer in Deutschland und studiert an der Hessischen Theaterakademie in Gießen. Seinen Tanzpartner Juan Camilo Rojas Arévalo hat er 2023 über gemeinsame Freunde in Frankfurt kennengelernt. Auf die Frage, ob es einen bestimmten Grund für Juan gab, explizit nach Deutschland zu migrieren, antwortete er schlichtweg “Nein, einfach nur Leben” und lachte. Er studierte ebenfalls Darstellende Kunst mit Fokus auf Tanz in Bogotá. Seit einem Jahr lebt er in Mainz und arbeitet auch als Freelancer und Pädagoge, unter anderem an der Frankfurter Oper und dem Staatstheater Mainz. 

    Bei der diesjährigen Fluctoplasma, Hamburgs interdisziplinäres Kunstfestival, welches Ende Oktober zum fünften Mal stattfand, präsentierten die beiden Bogotaner ihr Werk. Ihr Ziel sei es, auch hier in Europa auf die humanitäre Katastrophe aufmerksam zu machen, welche sich in der unübersichtlichen Zone zwischen Panama und Kolumbien ereignet. Als lateinamerikansche Migranten, die es durch ihre Kunst auf die andere Seite des Atlantiks geschafft haben, möchten sie dieses Privileg nutzen, um auch Menschen in Deutschland für das Thema zu sensibilisieren. In ihrer Aufführung verbinden sie den Schmerz des Verlassens der Heimat mit den Lügen und den Ungerechtigkeiten des amerikanischen Traums. 

    Santiago liegt zunächst auf dem Boden und umarmt einen Berg aus Kleidung. Er wälzt sich über die Bühne, während er Kleidungsstück um Kleidungsstück verliert. Juan betritt die Bühne und zählt Dinge auf, die eine migrierende Person vermisst: die Heimat, die Musik, das Essen, die Familie, seine Muttersprache zu hören. “Wisst ihr, wie klug ich auf Spanisch bin?”, fragt er. Es folgen intensive Umarmungen der beiden Tänzer, die immer wieder auseinander und zueinander finden. Sie gleiten und zerren sich regelrecht durch das verlorenen Kleidungschaos, während düstere Musik ertönt. Dann kommen sie zur Ruhe, atmen durch und sitzen nebeneinander wie zwei Reisende nach einem langen Marsch. Sie stellen die richtigen Fragen am falschen Ort, Systemfragen zweier Leidtragender, inmitten eines scheinbar undurchdringbaren Urwalds. “Warum ist ein Reisepass mehr wert als der andere?”, “Was muss ich tun, um in diesem Land zu bleiben? Heiraten?”. “Warum ist das Sandwich hier so viel weniger wert als dort?” – Stille.

    Santiago greift nach einem Besen und beginnt mit bedröpeltem Gesicht die Kleidung zusammenzufegen. Leise erklingt im Hintergrund Salsa-Musik. Juan richtet sich auf, die Klänge werden lauter und er beginnt einen spektakulären Salsa-Solotanz. Santiago übergibt den Besen und zeigt ebenfalls sein ganzes Können. Fulminant endet die Einlage mit einem Paartanz, der die ganze Bandbreite des lateinamerikanischen Tanzes zeigt.

    Im abschließenden Artist-Talk werden die beiden gefragt, warum sie diesen sehr typisch lateinamerikanischen Tanz mit in ihre Performance packen wollten. Die Gleichzeitigkeit von Schmerz und Freude während des Migrationsprozesses zu zeigen, sei ihr Hauptaugenmerk gewesen, betonen sie. Sie haben das Glück, durch ihre Körper Menschen repräsentieren zu dürfen, die weit weg von ihrer Wirklichkeit sind. Der Tanz sei dabei eine universelle Sprache, die jeder Mensch verstehe und welche sie weiterhin nutzen wollen, um die Echos aus dem Darién in die Welt zu tragen.

  • Wie der Kieler Nähtreff Frauen stärkt

    Mary aus dem Sudan besucht zum ersten Mal den offenen Nähtreff des Vereins Kiel hilft e. V. und wagt sich an eine der Nähmaschinen. Hier, in einem Raum voller Stoffe, entstehen nicht nur Kleider, sondern auch Freundschaften und ein starkes Gefühl der Gemeinschaft. Frauen unterschiedlicher Herkunft finden beim Nähen Ruhe und Ablenkung und lernen ganz nebenbei auch Deutsch.

    Mary ist aufgeregt, denn sie wird heute etwas Neues ausprobieren. Sie sitzt an einem der Tische am Fenster, vor ihr eine Nähmaschine und um sie herum Stoffe in den verschiedensten Farben und aus ganz unterschiedlichen Materialien. Ein Bügelbrett steht vor einem Schrank, daneben lagern große, schwere Säcke mit Stoffspenden.

    „Ich habe bei mir zuhause einige Kleiderstücke, die ich gerne reparieren möchte. Bei einer Jacke ist beispielsweise der Reißverschluss kaputt und eine Hose muss gekürzt werden“, sagt Mary, „ich habe allerdings noch nie mit einer Nähmaschine gearbeitet und bin gespannt, ob das wohl schwer ist.“

    Mary ist das erste Mal beim Nähtreff

    Von der Kleiderkammer zum Nähtreff

    Angeleitet werden die Teilnehmerinnen der Nähstube von Barbara Richter. Die gebürtige Kielerin strahlt eine unglaubliche Ruhe und Gelassenheit aus, wirkt dabei zufrieden und wenn sie spricht, wird mehr als deutlich, wie wichtig ihr dieser Nähtreff ist.

    2016 hat sie gemeinsam mit weiteren Mitgliedern des Vereins eine Kleiderkammer für Geflüchtete und Bedürftige ins Leben gerufen. Doch viele der gespendeten Kleidungsstücke passten nicht, Hosen waren zu lang, Hemden zu breit und Pullover zu eng.

    Barbara Richter leitet den Kieler Nähtreff

    Barbara erinnert sich: „Das war quasi die Geburtsstunde des Nähtreffs. Wir haben mit einer einzigen Nähmaschine angefangen, Kleidung zu bearbeiten und schnell war klar, dass wir mehr Maschinen brauchen. Also schaltete ich eine Annonce bei Ebay Kleinanzeigen, dass unser Verein gebrauchte, gut erhaltene Nähmaschinen sucht.“

    Mit Erfolg. Mittlerweile verfügt der Verein über sechs funktionierende Nähmaschinen, die fleißig genutzt werden. Es sind überwiegend Frauen, die sich jeden Donnerstagnachmittag treffen. Oft bringt Barbara Kaffee und Kuchen mit und die Frauen nutzen die gemeinsame Zeit auch, um sich in Ruhe auszutauschen.

    Austausch auf Deutsch

    „Wir reden hier sehr viel, und zwar ausschließlich auf Deutsch. Das ist eine meiner Regeln – beim Nähtreff wird Deutsch gesprochen. So lernen die Frauen am meisten. Natürlich ist es manchmal auch schwierig, sich zu verständigen, aber mit Händen und Füßen geht es dann doch.“

    Inzwischen hat sich Mary für einen dunklen, karierten Stoff entschieden. Mit einer Schere scheidet sie zunächst einige Quadrate zurecht und dann geht es direkt ans Nähen. Vorsichtig legt sie die Stoffstücke unter die Nähmaschine, dann ertönt ein leises Rattern und Mary setzt ihre erste Naht. „Das bringt auf jeden Fall Spaß und ist mal etwas Anderes zwischen Sprachkurs und meinem Minijob im Krankenhaus. Und es ist so toll, sich mit den anderen Frauen zu unterhalten“, sagt Mary, und in ihrer Stimme klingt Begeisterung mit.

    Nähen lenkt ab

    Es tut den Frauen gut, einmal ohne ihre Männer und Kinder zusammenzukommen und sich ganz auf sich zu konzentrieren. Viele haben in ihren Heimatländern und auf der Flucht traumatische Erfahrungen gemacht. Das Nähen lenkt davon ab, beruhigt ein wenig und bringt die Frauen auf andere Gedanken. Barbara ergänzt: „Wir sind eine Community, die zusammenhält. Die Frauen helfen sich hier gegenseitig, zeigen einander, wie es geht“, ergänzt Barbara, „und mit der Zeit sind wir zu einer richtigen, kleinen Familie zusammengewachsen und das ist doch wirklich toll. So kann Integration funktionieren.“

    Von Anfang an mit dabei ist auch Brween Sorai. Mit geübten Fingern näht sie eine Kissenhülle aus weinrotem Samt. Es soll für die Couch in ihrem Wohnzimmer sein, dazu passt die Farbe sehr gut. Die Irakerin erklärt: „Für ein solches Kissen brauche ich in etwa 30 Minuten, mittlerweile bin ich echt schnell geworden, das war aber nicht immer so. Aber ich habe sehr viel geübt und Barbara hat mir alles gezeigt. Jetzt bringt es mir große Freude, etwas mit meinen Händen zu machen, kreativ zu sein.“

     Brween Sorai ist von Anfang an mit dabei

    Stolz und Zufriedenheit

    Als der Nachmittag langsam zu Ende geht, ist Marys erste Naht fertig. Sie hält das Stoffstück in den Händen und betrachtet es mit einer Mischung aus Stolz und Zufriedenheit. Die anderen Frauen lächeln ihr aufmunternd zu und freuen sich mit ihr. Und auch Barbara ermutigt Mary und sagt mit einem warmen Lächeln: „Das hast du gut gemacht. Mit ein bisschen Übung wird das immer leichter, glaub mir.“

    Und Mary fühlt sich langsam angekommen – in dieser kleinen Gemeinschaft, in der es nicht nur ums Nähen geht, sondern auch um Zusammenhalt, Solidarität und Unterstützung.

    Denn der Nähtreff gibt den Frauen auch ein Stück Normalität in einem Leben, das für viele von ihnen von Unsicherheit und Veränderungen geprägt ist. Hier, in diesem Raum voller bunter Stoffe und summender Nähmaschinen, entsteht ein Gefühl der Vertrautheit und des Miteinanders.

    Und als Mary ihre Sachen packt und sich von den anderen verabschiedet, weiß sie, dass sie nächste Woche wiederkommen wird. Nicht nur, um ihre Hose zu kürzen oder den Reißverschluss der Jacke zu reparieren, sondern um auch weiterhin ein Teil dieser starken und wachsenden Gemeinschaft zu sein. Sie hat heute etwas Neues ausprobiert – und dabei viel mehr als nur das Nähen gelernt. Denn hier, im Nähtreff, ist Integration greifbar. Und das vor allem durch das stille Miteinander.

  • Dana von Suffrin im Interview

    Vor einigen Wochen habe ich den für den diesjährigen Deutschen Buchpreis nominierten Roman „Nochmal von vorne“ der jüdisch-deutschen Autorin Dana von Suffrin vorgestellt. Anlässlich des ersten Jahrestags des Hamas-Angriffs auf Israel und des Beginns eines verheerenden Kriegs habe ich mit ihr über Antisemitismus in der deutschen Kulturszene sowie über ihre Arbeit und ihr Schreiben gesprochen. Von Suffrins Texte zeichnen sich durch einen bitteren Humor aus, der die Leser*innen dazu bringt, ihre Bücher kaum aus der Hand legen zu können. Auch über diesen speziellen Humor haben wir gesprochen.

    In deinen beiden Romanen steckt viel Humor, aber auch Melancholie. Welche Rolle spielt der Humor für dich als literarisches Mittel, um schwierige Themen wie Migration, Verlust und Identität zu verarbeiten?

    Ich habe nur eine einzige Erzählung geschrieben, die ziemlich humorlos ist. Ich halte es da wie Freud, der sagt, dass Humor „die siegreich behauptete Unverletzlichkeit des Ichs“ herstellt. Meine Protagonist*innen sind ja immer völlig beschädigt und angegriffen, so erhalten sie ein wenig Würde zurück, finde ich.

    Wie erlebst du den deutschen Literaturbetrieb, insbesondere als Autorin mit jüdischer Identität? Gibt es Entwicklungen in den letzten Jahren, die du als positiv oder herausfordernd empfindest?

    Ich schwanke zwischen Entsetzen und Begeisterung. Vor dem 7. Oktober habe ich mich immer beschwert, dass immer eine sehr typische, ja, stereotype Darstellung von Juden in der Kunst gewünscht wird: Juden als Opfer, als weise, kluge, einsichtige Menschen, gerne auch tot. Nervige, anstrengende, lustige Juden fand man nicht so gut. Das ist aber nur die inhaltliche Ebene, ich habe es öfter erlebt, dass man sich über meine Arbeit beschwert hat, zum Beispiel war der Held meines ersten Romans manchen Lesern zu unverschämt, zu uneinsichtig, zu negativ.

     

    „Familie formt uns, sie verletzt uns, sie schafft uns, sie zerstört uns“

     

    Nach dem 7. Oktober 2023 hat sich die Diskussion um jüdisches Leben und Antisemitismus in Deutschland stark verändert. Wie nimmst du die Rolle der deutschen Kulturszene in diesen Debatten wahr, und welche Verantwortung trägt die Literatur aus deiner Sicht?

    Ich war schon ein bisschen entsetzt, als ich gesehen habe, dass diverse Kolleginnen und Kollegen, quasi als die israelischen Leichen noch warm waren, einem entsetzlichen Antisemitismus freien Lauf gelassen haben. Das hätte ich von Intellektuellen nicht erwartet. Ich finde schon, dass man von Literaten erwarten kann, dass sie eine komplexe Situation angemessen bewerten, statt sich als moralische Institution aufzuspielen und Propaganda zu verbreiten. Die Literatur sollte dieser Anforderung gerecht werden, aber die Leute, die sie schreiben, sind halt auch nur Menschen.

    Beide deiner Romane beschäftigen sich mit komplexen Familiengeschichten und Neuanfängen. Was treibt dich an, immer wieder auf diese Themen zurückzukommen, und inwiefern spiegeln sie auch deine eigene Biografie wider?

    Ich finde: Familie ist das interessanteste Thema der Welt, wo sonst haben wir einen so bekloppten, aber auch unentrinnbaren Mikrokosmos noch? Familie formt uns, sie verletzt uns, sie schafft uns, sie zerstört uns, in ihr passieren die lustigsten und die traurigsten Ereignisse – das ist natürlich für eine Autorin ein geniales Thema, finde ich. Ich schreibe nicht autofiktional, aber ich arbeite gerne mit dem Milieu, das ich gut kenne.

    Könntest du uns zwei oder drei literarische oder non-fiction Werke nennen, die dein Schreiben und deinen Werdegang als Autorin geprägt haben?

    Benny Barbasch, mein erster Sony; Natalia Ginzburg, Familienlexikon; Isaak Babel, Reiterarmee.

  • Büsra Caramella: zwischen Authentizität und Impact

    In einer Ära, in der Social Media oft von Oberflächlichkeit geprägt ist, sticht eine Stimme durch ihre besondere Authentizität heraus: Büsra Sayed, besser bekannt als Büsra Caramella. Die 26-jährige, die ihre Wurzeln in einer Kleinstadt nahe Osnabrück hat und heute Berlin ihr Zuhause nennt, hat sich nicht nur als Influencerin etabliert, sondern auch ihre eigene Modest Fashion Marke ‚byCaramella‘ erfolgreich aufgebaut.

     Ihre Geschichte beginnt mit einer persönlichen Herausforderung, die viele Menschen mit multinationalem Hintergrund kennen. „Ich fühlte mich weder in der einen noch in der anderen Sprache richtig zu Hause“, erinnert sich Büsra an ihre frühen beruflichen Erfahrungen. Diese anfängliche Sprachbarriere wurde jedoch zum Katalysator ihrer späteren Erfolgsgeschichte.

    Werte als Unternehmens-DNA

    Was Büsra ausmacht, ist ihr kompromissloser Fokus auf Werte. „Mit unserer Brand byCaramella streben wir nicht danach, das kundenorientierteste, sondern das wertefokussierteste Unternehmen zu sein“, erklärt sie selbstbewusst. Diese Philosophie prägt jeden Aspekt ihres Unternehmens: „Bei uns steht nicht nur der Kunde im Mittelpunkt, sondern jeder Mensch, mit dem wir in Kontakt treten.“

    Auf ihren Social-Media-Kanälen verschmilzt Büsra gekonnt Unterhaltung mit gesellschaftlicher Relevanz. Durch humorvolle Charaktere wie „Bürsa“, „Lisa“ oder „AMG Mehmet“ thematisiert sie alltägliche Vorurteile und strukturellen Rassismus. Doch hinter der unterhaltsamen Fassade verbirgt sich eine tiefgründige Auseinandersetzung mit aktuellen Weltgeschehnissen. Besonders deutlich wird ihre Haltung in Bezug auf globale Krisen wie die Situation in Gaza: „Wer Unrecht sieht, der soll das in seiner Macht Stehende tun, um es zu beseitigen. Ist man dazu nicht in der Lage, so soll man seine Stimme nutzen, um darauf aufmerksam zu machen und darüber zu sprechen. Ist man dazu nicht imstande, so soll man dieses Übel zumindest im Herzen ablehnen“.

    Die Frage nach Identität und Zugehörigkeit beschäftigt Büsra intensiv. „Dass man einen ‚Migrationshintergrund‘ hat, spürt man vor allem an der Art und Weise, wie deine Mitmenschen dich behandeln“, reflektiert sie. „Einem wird oft das Gefühl gegeben, nicht zur Gesellschaft dazuzugehören, weil man anders aussieht, ein Kopftuch trägt oder Türkisch spricht.“ Sie lehnt den Begriff „Person mit Migrationshintergrund“ als aufgezwungene Fremdbezeichnung ab und plädiert dafür, Menschen in ihrer Ganzheit zu sehen.

    Menschlichkeit als Leitmotiv

    Ihre tiefste Überzeugung kommt in ihrer Antwort auf die Frage zum Ausdruck, wofür sie sich immer wieder einsetzen würde: „Menschlichkeit. Der Mensch ist ein Gefäß, in das seine Religion, Erziehung, Lebenserfahrungen, schöne Momente sowie Schicksalsschläge fließen. Ist das Gefäß schmutzig, kann eine gute Tat zu einem schlechten Ergebnis wie Hochmut führen. Ist das Gefäß sauber, kann man selbst durch einen harten Schicksalsschlag durch Glauben, Geduld und Hoffnung wachsen“.

    Unterstützt durch ihre Familie und geleitet von einem klaren moralischen Kompass, verkörpert Büsra Caramella eine neue Generation von digitalen Influencern. „Ich kenne meine Ziele, und jeden Tag versuche ich, diesen Zielen Schritt für Schritt näherzukommen“, beschreibt sie ihre Herangehensweise. Ihr Motto „Tu Gutes und wirf es ins Meer“ spiegelt dabei ihre selbstlose, werteorientierte Ausrichtung wider.

    Büsra demonstriert in einer Zeit, in der digitale Reichweite häufig mit oberflächlichem Lifestyle-Content verglichen wird, die Bedeutung von Social Media als Plattform für gesellschaftlichen Dialog und positive Veränderung. Ihre Geschichte zeigt, wie sich persönliche Erfahrungen und klare Werte zu einer authentischen und erfolgreichen digitalen Präsenz verschmelzen lassen.

  • Ömer-Kaan: musikalischer Brückenbauer zwischen Kulturen

    In einer ruhigen Ecke Berlins sitzt Ömer-Kaan, 28 Jahre alt, vor seinem Kanun – einer orientalischen Kastenzither. Im Alter von neun Jahren hat er begonnen, sie zu spielen. Mit flinken Fingern entlockt er dem Instrument sanfte Klänge, die von seiner tiefen Verbundenheit zur türkischen Musiktradition zeugen. Doch Ömer-Kaan ist weit mehr als nur ein talentierter Musiker – er ist ein Brückenbauer zwischen Kulturen, ein Bewahrer musikalischen Erbes und ein engagierter Bildungsarbeiter.

    „Es erfüllt mich mit Stolz und Freude, die Musik meines türkischen Hintergrunds in Deutschland spielen zu dürfen und sie hier weiterhin am Leben zu erhalten“, erklärt er. Als Enkel einer Gastarbeiterin, die in den 1960er Jahren nach Deutschland kam, ist sich Ömer-Kaan seiner Wurzeln sehr bewusst. „Solche Geschichten prägen einen. Sie machen einem klar, dass ich Gastarbeiter-Enkel bin und kein, wie man so sagt, ‚Bio-Deutscher’“, reflektiert er nachdenklich.

    Doch anstatt sich von dieser Erkenntnis einschränken zu lassen, nutzt Ömer-Kaan seine bikulturelle Identität als Stärke. Neben seiner musikalischen Karriere engagiert er sich in der Demokratiebildung an Berliner Schulen. „Mir ist es wichtig, die Kinder und Jugendlichen für gesellschaftliche Themen zu sensibilisieren, wie zum Beispiel Diskriminierung und Rassismus“, betont er. Sein türkischer Hintergrund verschafft ihm dabei oft einen besonderen Zugang zu Schülern mit Migrationshintergrund.

    Ömer-Kaans Weg ist geprägt von Werten wie Verbundenheit, Menschlichkeit und Toleranz. Diese Grundsätze spiegeln sich nicht nur in seiner Musik wider, sondern auch in seinem Engagement für eine gerechtere Gesellschaft. „Was für mich an allererster Stelle steht und wofür ich mich immer wieder einsetzen würde, ist die Gerechtigkeit. Es ist das Fundament für ein lebenswertes Leben“, erklärt er mit Überzeugung.

    Trotz seines jungen Alters hat Ömer-Kaan bereits viele wertvolle Lebenslektionen gesammelt. „Wer es nicht versucht, hat schon verloren!“ und „Fehler sind die besten Lehrer!“ sind nur einige der Weisheiten, die ihn auf seinem Weg begleiten. Diese Einstellung hilft ihm, Herausforderungen mit Optimismus und Entschlossenheit anzugehen.

    Während er von seinen Erfahrungen und Zielen erzählt, wird deutlich, dass Ömer-Kaan ein vielseitig interessierter junger Mann ist. Er setzt sich nicht nur mit Musik auseinander, sondern auch mit Politik, Wirtschaft und einem gesunden Lebensstil. Im November wird er an einem internationalen Kanun-Festival in Ankara teilnehmen – eine Chance, sein Wissen zu erweitern und sich mit anderen Musikern zu vernetzen.

    Ömer-Kaans Geschichte zeigt, wie kulturelle Vielfalt eine Gesellschaft bereichern kann. Mit seinem Kanun in der Hand und seinem Engagement im Herzen baut er Brücken zwischen Traditionen und Generationen, zwischen Ost und West. Er verkörpert eine neue Generation von Deutsch-Türken, die selbstbewusst ihre Identität leben und aktiv an der Gestaltung der Gesellschaft mitwirken.

  • Grasa Guevara über queere Lebensrealitäten aus Abya Yala

    In der Mitte der Pandemie beginnt Grasa Guevara damit, Drag zu machen. Im Drag findet sie Inspiration. Hier kann sie einen Teil von sich zeigen, der sonst hinter einer Maske bleibt. Dass sie in Deutschland wieder auf der Bühne steht, trägt auch dazu bei, dass sie sich hier irgendwie angekommener fühlt. Drei lange Jahre konnte sie nicht auftreten, weil sie kein perfektes Deutsch konnte. Inzwischen tritt Grasa Guevara auf Spanisch auf. Das macht sie nicht nur, weil es ihre Muttersprache ist, sondern ganz bewusst, weil ihre Zielgruppe die lateinamerikanische Community ist. Vor allem Personen, die noch nicht politisiert sind, will sie damit erreichen. 

    Auf die Frage, wieso Grasa Guevara sich für Drag als Kunstform entschieden hat, antwortet sie: „Diese Kunstform hat sich für mich entschieden.“ Um der alltäglichen Homophobie zu entfliehen, der sie begegnet, probiert sie das erste Mal Drag aus. Sie spürt sofort, dass sie ein mächtiges Werkzeug entdeckt hat. Denn es geht ihr nicht nur um die Kunst, sondern Drag war für sie schon immer auch politisch. 

    Ihre 60-minütige Comedy-Solo-Show „La Razón de mi Drag“ basiert auf dem Leben von Evita Perón. Die Ehefrau des argentinischen Präsidenten Juan Perón war eine wichtige Figur der politischen Szene des Landes in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Bis zu ihrem Tod mit nur 33 Jahren kämpfte sie für das Frauenwahlrecht. Erfolgreich. In westlichen Ländern wurde sie durch den Spielfilm „EVITA“ mit Madonna in der Hauptrolle und Madonnas Hit „Don’t Cry for me Argentina“ aus dem Film bekannt. Wenn westliche Drag Queens Evita Perón spielen, findet Grasa Guevara das meistens cringe. Sie selbst will es besser machen.  

    „Was wollen wir weniger als eine linke, migrantische, kommunistische Drag Queen?“

     Doch nicht nur mit ihrer Drag-Show ist Grasa Guevara politisch aktiv. Zusammen mit Drag-Schwester La Taura lädt sie auf YouTube als „Midragntas“ politisches Bildungsmaterial für andere Migrant*innen hoch. 2021 folgt der Instagram-Kanal und später die zweiwöchentlich erscheinende Podcast-Reihe „Grasa Saturada“. Besonders den Podcast hören auch viele Menschen in Lateinamerika. Grasa Guevara fühlt eine gewisse Verantwortung gegenüber den Menschen aus ihrer Heimat, auf Zustände aufmerksam zu machen und politische Bildungsarbeit zu leisten. Auch weil vor Ort vielen Menschen aktuell die Ressourcen fehlen, um politische Arbeit leisten zu können: Seit Dezember 2023 ist in Argentinien der rechte Präsident Javier Milei an der Macht.

    Auf Deutsch bedeutet Grasa „Fett“. Und Fett, das will die Gesellschaft gerne ausstoßen, so Grasa Guevaras Erfahrung. In Argentinien ist „grasa“ etwas, das billig ist, von schlechtem Geschmack. Durch die Wiederaneignung zeigt sie damit Schönheitsidealen den Mittelfinger. Sie weiß, dass sie unbequem ist: „Was wollen wir weniger als eine linke, migrantische, kommunistische Drag Queen?“ Die Anlehnung an Che Guevara entstammt ihren Teenagerzeiten. Noch in Buenos Aires ist sie in einer politischen Jugendorganisation aktiv. Ihr Ziel damals ist es, die queere und die linke Perspektive zusammenzubringen. Dafür kämpft sie auch noch heute. 

    „Die Gewalt erleben wir als queere Menschen zuerst“ 

     „Für mich bedeutet Freiheit nicht nur, dass ich mit meinem Körper machen kann, was ich will.“ Genauso wichtig ist Grasa Guevara der Zugang zu Bildung, Arbeit, Wohnraum und  Krankenversicherung. Die Gleichstellung mit anderen Menschen aus der Gesellschaft. Wenn diese Gleichstellung nicht vorhanden ist, gibt es für queere Menschen keine Perspektive, denn: „Die Gewalt erleben wir als queere Menschen zuerst.“ Es gehe darum, die Perspektive vom Individuum auf das Kollektiv zu lenken. Gegen aktuelle rechte Strömungen lasse sich nur ankämpfen, wenn Gesellschaft neu gedacht wird. “Viele Menschen unterstützen die rechten Bewegungen, weil sie denken, dass sie eine Antwort haben auf die Krisen, in denen wir heutzutage leben”, mutmaßt Grasa Guevara. 

    “Was die rechten Bewegungen sehr gut gemacht haben, ist, ein Narrativ zu entwickeln, in dem sie uns für die gesamten Probleme, die wir heutzutage haben, verantwortlich machen.” Das Problem der heutigen Krisen sieht Grasa Guevara vor allem im Kapitalismus. Queere Personen, migrantische Personen und Frauen* werden dabei, so Grasa Guevara, oft zu einem “inneren Feind” gemacht. Ein gefährliches Narrativ. Inflation und Kriege würden als Werkzeuge gegen marginalisierte Gruppen genutzt. “Um gegen dieses Narrativ zu kämpfen, sollten wir unser eigenes Narrativ entwickeln“, schlägt Grasa Guevara vor. “Ich glaube, es gibt viele nicht-politisierte Menschen, die in Deutschland leben”, sagt sie. Mit denen möchte Grasa Guevara als erstes reden. 

    „Weltweit ist das argentinische Gesetz zur Geschlechtsidentität das beste“ 

     Lohnarbeiten geht Grasa Guevara im Bildungszentrum Lohana Berkins in Berlin. Die 2016 verstorbene Lohana Berkins war eine der Leitfiguren der queeren Bewegung in Argentinien und ist Grasa Guevaras großes Vorbild. Sie kämpfte gegen patriarchale Strukturen und setzte sich selbst als Betroffene vor allem für die Rechte von trans* Personen ein. 2012 verabschiedete Argentinien als erstes Land weltweit das Selbstbestimmungsgesetz für trans* und nicht-binäre Personen. In Deutschland gibt es erst seit April 2024 ein Gesetz zur geschlechtlichen Selbstbestimmung, das aber noch nicht annähernd so fortschrittlich wie das in Argentinien ist. “Weltweit ist es das beste Gesetz zur Geschlechtsidentität”, findet Grasa Guevara, sichtlich stolz, dass gerade ihr Land einmal die Vorreiterrolle eingenommen hat. 

    Am 1., 2. und 3. November kann man Grasa Guevara als Evita Perón im Theater X in Berlin sehen. Vielleicht kommt sie mit ihrem Programm auch mal nach Hamburg. Fehlt nur noch die passende Bühne. 

  • Olga Grjasnowa: „Nicht die mutigsten Texte werden gelesen, gekauft, rezipiert“

    Was man besonders an Olga Grjasnowa schätzt – und was ihr auch in diesem neuen Roman „Juli, August, September“ wieder gelingt – ist ihr bitterer Humor, der keine Grenzen kennt. Sie schafft es, tragische Geschichten mit einem Humor zu erzählen, der den Leser*innen zwischen Lachen und Nachdenklichkeit hin- und herreißt. Man ertappt sich dabei, über hochkomplexe und tief ernste Themen zu lachen, denn Olga Grjasnowa setzt sie sich auch diesmal intensiv mit der Frage der Identität auseinander.

     

    Bereits seit der Veröffentlichung deines Debütromans giltst du eine der wichtigsten Stimmen der jungen deutschen Literatur. Behzad Karim Khani sagte zuvor, dem deutschen Literaturbetrieb fehle Schub von der Straße. Daran anknüpfend sagte Shida Bazyar, die unkonventionellen und mutigen Texte gelten eher als Ausnahmen, sozusagen als „Gäste“ in der deutschen Literaturlandschaft. Was sagst du? Spiegelt die gegenwärtige deutsche Literaturlandschaft aus deiner Sicht die Vielfalt der Gesellschaft?

    Ich bin mir nicht sicher, ob es die Literatur – egal in welcher Gesellschaft – es je tut. Ich würde auch gerne festhalten, dass Literatur nicht die Realität ist, sondern die konstruierte und manchmal vereinfachte Abbildung oder auch Vermeidung oder eine Annahme dieser ist. Es gab mehr als genug Versuche, dies in der Literatur zu erreichen, wie etwa in der Sowjetunion, aber es ist nicht sehr gut ausgegangen. Zumindest künstlerisch. Ich glaube auch nicht an die Glorifizierung der Straße, dafür kenne ich zu viele Menschen, die da gelandet sind. Aber, auch, weil ich literarisches Schreiben unterrichte, es wird immer vom Jahrgang zum Jahrgang diverser!

    Ehrlich gesagt, ist es auch nicht die „Schuld“ der Schreibenden, sondern auch die der „Lesenden“ – welche Texte werden am liebsten gelesen, gekauft, rezipiert? Es sind nicht die mutigsten und unkonventionellen. Nur auch da müssen wir zwischen Genre und Biografie unterscheiden, die bedingen sich nicht.

     

    In deinem neuen Roman „Juli, August, September“ erzählst du eine schmerzhafte Familiengeschichte auf eine witzige Weise. Die Geschichte ist extrem bitter, jedoch sehr unterhaltsam. Inwiefern hängt die Art von Erzählen mit deiner eigenen Familiengeschichte und Biografie zusammen?

    In diesem Buch ist es ein Spiel damit, eine Art was wäre wenn. Aber das ist vielleicht auch mein eigener Zugang zum Schreiben, ausgehend von mir alles zu potenzieren. Aber die Geschichte aus „Juli, August, September“ basiert auf den Erzählungen meiner Großmutter, nur Maya ist erfunden.

     

    Entfremdung und Identität sind Fragen, die du in all deinen Werken thematisiert hast. Woher liegt diese Auseinandersetzung mit der Identitätsfrage?

    Eigentlich fand ich immer, ich setzte mich nicht damit auseinander. Nur in den letzten beiden Romanen. Und das sind tatsächlich Fragen, die sich aus meiner Biografie heraus stellten.

     

    Du hast auch ein Sachbuch zur Mehrsprachigkeit veröffentlicht und bist auch selbst mehrsprachig aufgewachsen. Wie prägt die Mehrsprachigkeit dein Schreiben?

    Ich bin eigentlich nur mit Russisch aufgewachsen und habe mit elf Jahren Deutsch gelernt, aber ich war immer in mehrsprachigen Umgebungen. Mein Traum war immer, mehrere Sprachen fließend sprechen zu können, aber ich habe es nur bei Deutsch und Englisch geschafft, was ziemlich traurig ist.

    Eigentlich ist mein Schreiben ausschließlich monolingual deutsch. Bei der Recherche konsumiere ich allerdings alles, auch vieles, was auf Englisch oder Russisch geschrieben wurde.

     

    Könntest du uns zwei oder drei literarische oder non-fiction Werke nennen, die dein Schreiben und deinen Werdegang als Autorin geprägt haben?

    Oh ja! Ich verehre Sigrid Nunez und Percival Everett. „Half of a Yellow Sun“ von Chimamanda Ngozi Adichie hat mich viel über Form gelehrt, und Zadie Smith mich als 19-Jährige darüber, dass Literatur Spaß machen und divers sein kann.

  • Ali Qasemi über das Basteln und den Kampf gegen Depressionen

    Mit Papier basteln – das ist die große Leidenschaft von Ali Qasemi. Der gelernte Edelsteinschleifer aus der afghanischen Stadt Kandahar leidet unter schweren Depressionen und die Arbeit mit Papier, Schere und dem Geodreieck hilft ihm, ein paar Lichtblicke im sonst eher düsteren Alltag zu sehen. „Wenn ich bastel, dann bin ich wie in einer anderen Welt, es lenkt mich von meinen schweren Gedanken ab, gibt mir ein gutes Gefühl und es tut mir gut, mich darauf zu konzentrieren“, beginnt Ali zu erzählen.

    Traumatische Erfahrungen

    Ali hat in seiner Heimat Afghanistan viel Schlechtes, viel Traumatisches erlebt, musste mit ansehen, wie sein Onkel und ein älterer Bruder von den Taliban ermordet wurden, hat unmittelbare Gewalt erfahren. Es sind Bilder, die ihn nicht mehr loslassen, die sich immer wieder in sein Gedächtnis drängen, die jeden Tag präsent sind.

    Im Oktober 2008 flieht Ali zunächst nach Norwegen, wo er fünf Jahre in einer Asylantenunterkunft lebt. Doch er kann dort auf Dauer nicht bleiben, sein Asylantrag wird schlussendlich abgelehnt und Ali wird weiter nach Deutschland geschickt. Die ständige Ungewissheit, wie es zukünftig für ihn weitergehen soll, wird für Ali bald unerträglich.

    In der Psychiatrie 

    Er hat permanent Angst, dass die Behörden ihn zurück nach Afghanistan schicken, schläft schlecht, hat Alpträume, ist unruhig, gestresst und die Depressionen werden immer stärker. „Diese Unsicherheit war für mich nur sehr schwer zu ertragen und war sehr besorgt, dass ich wieder zurück in mein Heimatland muss, wo Krieg herrscht, wo ich nicht sicher bin“, ergänzt Ali.

    In Deutschland wird Ali zunächst in einem Asylantenheim in Ludwigslust untergebracht, wo er sich mit anderen Geflüchteten ein Zimmer teilt – das ist im Mai 2014. Im August desselben Jahres sind seine Depressionen so stark, dass Ali versucht, sich das Leben zu nehmen. Doch er hat Glück, seine Mitbewohner finden ihn gerade noch rechtzeitig und alarmieren den Rettungswagen. Ali wird in die geschlossene Psychiatrie eingeliefert, wo er ganze vier Wochen bleibt.

    Ali berichtet: „Die Zeit dort war komisch, da waren viele andere, psychisch kranke Menschen, viele ziemlich zugedröhnt mit Tabletten, einige waren wie ich depressiv und suizidal, andere hatten beispielsweise Schizophrenie oder eine Borderline-Störung. Aber ich bin dort erstmal zur Ruhe gekommen, wurde medikamentös neu eingestellt.“ Nach einem Monat wurde Ali dann auf die offene Station verlegt, wo er bis zum November 2014 blieb, an Gruppen- und Einzeltherapien teilnahm und sich langsam erholte. Besonders gut gefiel ihm die Ergotherapie, wo er das Basteln mit Papier wieder für sich entdeckte.

    Erinnerungen an die Kindheit 

    „Die Ergotherapie war in dieser Zeit für mich immer ein Lichtblick, es hat wirklich Spaß gemacht, aus Papier filigrane Schachteln, Gebäude oder auch bunte Geschenkverpackungen herzustellen. Das Basteln beruhigt mich, gibt mir ein gutes Gefühl und vor allem lenkt es mich von meinen Depressionen ab. Und es erinnert mich an meine Kindheit“, ergänzt Ali.

    Und Ali hat noch einmal Glück: Die Schelfgemeinde in Schwerin bot ihm von November 2014 bis Juli 2015 Kirchenasyl. In der Schelfgemeinde lernte Ali Annemarie Steinat und Edgar sowie Sabine Hummelsheim kennen. Die drei unterstützen den Afghanen bis heute bei bürokratischen Angelegenheiten, wie beispielsweise bei Arzt- und Anwaltsbesuchen. Und sie haben ihm geholfen, eine eigene Wohnung und eine berufliche Tätigkeit zu finden. Mittlerweile arbeitet Ali in Teilzeit bei einem Malerbetrieb der Dreescher Werkstätten, einer Einrichtung für Menschen mit Beeinträchtigungen.

    Einsamkeit belastet 

    „Ich bin den Dreien wirklich dankbar für ihre Hilfe. In meiner Wohnung ist es nun wesentlich besser, als im Asylantenheim oder im Kirchenasyl, und es ist ein weiterer Schritt in Richtung Selbstständigkeit. Aber ich fühle mich oft einsam und ich vermisse meine Familie. Meine Mutter und meine Geschwister habe ich zuletzt 2008 gesehen, sie fehlen mir sehr“, ergänzt Ali.

    Mit Annemarie Steinat und der Familie Hummelsheim trifft sich Ali auch heute noch regelmäßig. Sie trinken Kaffee zusammen oder kochen gemeinsam, unterhalten sich, tauschen sich aus. „Für die Zukunft wünsche ich mir einfach nur, dass meine Depressionen verschwinden, wobei ich weiß, dass dies wohl niemals der Fall sein wird. Und trotzdem versuche ich, das Beste aus meiner Situation zu machen“, findet Ali abschließende Worte.

     

    Solche filigranen Schachteln bastelt Ali aus Papier.
    Hilfe und Unterstützung bekommt Ali von Annemarie Steinat (links) und dem Ehepaar Hummelsheim.
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