Kategorie: Persönliche Geschichten

Hier erzählen Menschen mit Flucht- und Migrationsgeschichte vom Ankommen und Leben in Deutschland, von ihren Problemen, Träumen und Erfolgen. Denn Vielfalt braucht echte Geschichten.

  • Belal Kaisar und Abgad – Mit einem Kostüm gegen Rassismus

    Belal Kaisar ist Syrer mit deutschen Wurzeln. Im Jahr 2015 floh er vor dem Krieg aus Syrien nach Deutschland. Zuvor arbeitete er als Vermarkter von syrischen Serien und Filmen und von einen der bekanntesten Kinderkanäle der arabischen Welt „Spacetoon“. Schon vor dem Krieg war Belal mehrfach als Tourist in Europa – auch in Deutschland. Damals erlebte er noch keinen Rassismus: „Als Tourist erfährt man nichts vom Alltagsrassismus in Deutschland“, sagt er heute.

    Nach seiner Ankunft in Deutschland ließ sich Belal in der Stadt Marl nieder, wo er auch heute mit seiner Familie lebt – allen voran mit seinem kleinen Sohn Walid. Dieser wurde schließlich zur treibenden Kraft hinter Belals Engagement. Eines Tages hatte Walid einen Streit mit einem deutschen Kind. Es kam zu einer Auseinandersetzung zwischen den beiden Familien – eine Erfahrung, die Belal zutiefst erschütterte. Er wollte sein Kind verteidigen, für ihn sprechen, doch die Sprache fehlte ihm. Er fühlte sich machtlos. Doch anstatt aufzugeben, entstand aus diesem Moment der Ohnmacht eine Vision.

     

    Die Geburt von Abgad

    Belal hatte eine Idee: Ein Projekt gegen Rassismus, das ohne viele Worte auskommen sollte – dafür mit Symbolkraft. Obwohl er weder Fördermittel noch Unterstützung hatte, bestellte er ein Kostüm: Es stellte ein arabisches Kind dar und trug den Namen Abgad, angelehnt an das arabische Alphabet. Auf dem Rucksack des Kostüms steht in großen Buchstaben: „Arabisches Kind“. Anfangs namm Abgad bei Veranstaltungen der arabischen Community teil – in Restaurants, Moscheen und bei Familienfesten. Doch dann wurde er an eine deutsche Grundschule eingeladen. Die Schulleiterin war überrascht, dass Abgad bisher nur innerhalb der arabischen Community aktiv war. Sie sah das große Potenzial: „Abgad könne Brücken bauen – zwischen Kulturen, Religionen und Sprachen“, erzählt Belal. Außerdem hätten Arabische Kinder ein Recht darauf, dass auch ihre Kultur in der Schule sichtbar sei. So nahm Abgad fortan an Schulfesten, Stadtfesten und interkulturellen Veranstaltungen teil.

    Die Resonanz war überwältigend. Als die Corona-Pandemie öffentliche Auftritte unmöglich machte, wich Belal ins Digitale aus und gründete einen YouTube-Kanal, auf dem Abgad Videos für Kinder veröffentlichte. In den Videos ist zu sehen, wie Abgad und Dana Kinder an unterschiedlichen Orten besuchen, beispielsweise Schulen, Restaurants oder Stadtfeste.

     

    Ein neues Gesicht: Dana aus der Ukraine

    „Mit dem Ausbruch des Ukraine-Krieges und als Zeichen der Solidarität mit seiner ukrainischen Mitarbeiterin entwickelte ich eine zweite Figur, die Dana heißt“, berichtet Belal. Dana ist ein ukrainisches Mädchen mit christlichem Hintergrund. Dana und Abgad besuchen gemeinsam Kirchen und Moscheen, um Toleranz und Zusammenhalt zwischen Religionen und Kulturen zu zeigen – zwei Kinder aus zwei Kriegsgebieten, die gemeinsam Hoffnung vermitteln. Sie sprechen zwar keine Sprache, vermitteln aber durch ihr Aussehen, Lächeln und Herkunft viele Freude bei den Kindern und ihre Eltern.

    Heute treten Abgad und Dana regelmäßig bei Stadtfesten, Schulprojekten gegen Rassismus, Mobbingprävention in Kitas, Inklusionsveranstaltungen, Weihnachtsfeiern, Karnevalsumzügen, Buchmessen, Einkaufszentren, Hochzeiten und vielen weiteren Events auf – quer durch NRW, in Herne, Bochum, Krefeld und anderen Städten bis nach Bayern. Immer wieder bilden sich Menschentrauben um sie, Menschen machen Fotos, lachen, stellen Fragen. „Alle freuen sich, egal welcher Herkunft sie sind“, erzählt Belal.


    Gesellschaftlicher Wandel durch eine Idee

    Das Projekt hat Belals Leben verändert. Er erfährt weniger Rassismus, sagt er, er wird respektiert, gemocht – und unterstützt. Ein Mann habe einmal zu ihm gesagt: „Dein Projekt ist besser als alle Integrationsprojekte des Staates.“ Heute wird Belals Arbeit von Stiftungen, Agenturen und Vereinen gefördert. Er steht auch im Austausch mit einem Politiker in NRW und sogar mit der europäischen Union. Und das alles, obwohl Belal kaum Deutsch spricht. „Dank Abgad habe ich mein Ziel erreicht – ohne die Sprache, aber mit einer starken Botschaft.“

    Belal will weitermachen: für sein Kind, für alle Kinder – und für eine offene, demokratische Gesellschaft. Er sagt: „Ich werde nicht aufhören, bis wir alle gemeinsam mehr für die Demokratie und den Zusammenhalt tun.“

  • „Erwachsene setzen das, was wir wollen, nicht um“ – Meltem Söbütay über politisches Engagement

    Demokratiepolitisches Engagement und Einsatz für Vielfalt gehören in der Gesellschaft oft zusammen. Vor allem wenn man als Angehöriger mit Flucht- und Migrationsgeschichte – sei es man selbst oder über Generationen hinweg – betroffen ist. Umso wichtiger ist es, Personen mit einem solchen Hintergrund, die sich politisch engagieren, zu Wort kommen zu lassen. 

    Die 17-jährige Meltem Söbütay ist Mitglied im Jungen Rat der Stadt Kiel – einem Gremium, das seit 2015 die Stimmen von Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren vereint. Die Amtszeit der Mitglieder beträgt jeweils zwei Jahre, die Sitzungen sind öffentlich und stehen allen jungen Menschen in Kiel offen. Meltem engagiert sich dort bereits in ihrer zweiten Amtszeit.

     

    Meltem, warum spielt politisches Engagement eine wichtige Rolle in deinem Leben?

    Ich bin Schülerin so wie die meisten Jugendlichen. Gleichzeitig, bin ich aber auch politisch aktiv und habe mit der Zeit gemerkt, was es ausmacht und wie mich das stark geprägt hat. Besonders habe ich registriert, dass jeder Mensch eine starke Stimme hat und ich möchte meine Stimme nutzen, um meine Anliegen in der Gesellschaft zu vertreten. 

     

    Gab es eine bestimmte Person oder ein konkretes Erlebnis in deinem Leben, das dich dazu motiviert hat, dich politisch zu engagieren? 

    Mein Bruder war für mich tatsächlich die größte Inspiration. Er hat mir gezeigt, dass Menschen etwas verändern können – unabhängig von Alter, Geschlecht oder Herkunft. Und für so ein Menschenbild hat er sich eingesetzt und das werde ich ebenfalls tun. 

     

    Viele junge Menschen erleben, dass sie aufgrund ihres Alters nicht ernst genommen werden – gerade wenn sie sich politisch engagieren wollen. Hast du das auch erlebt? 

    Das Alter ist für mich eine Motivation, mich zum Beispiel im Jungen Rat, also im Jugendparlament in Kiel, zu engagieren. Genauer gesagt, hat das Alter für mich zwei Bedeutungen: Es stellt zum einen die Stimme der Jugend dar, deren gesellschaftlichen Einsatz man als gute Sache ansieht. Genauso zeigt es aber auch: Jugendliche können sich engagieren, sind gut auf dieses Engagement vorbereitet und bringen frischen Wind rein. Auf der anderen Seite schwingt aber auch immer wieder der Eindruck mit: „Sie sind zu unerfahren, sie wissen doch gar nichts – können sie politisches Handeln und die damit verbundenen Aspekte überhaupt beurteilen?“ Für mich stimmt aber eben dies nicht, weil ich denke, dass erwachsene Menschen Jugendlichen einfach die Möglichkeit geben müssen, das Demokratie, Politik und Werte zu erfahren, zu lernen und sich eben diese Erfahrungen anzueignen. Man muss nicht den Anspruch haben, alles gleich zu können. Was Jugendliche ja eben täglich machen, ist sich dieses Wissen anzueignen. Viel wichtiger ist für mich, dass junge Menschen Ahnung von gesellschaftlichen Themen und politischer Theorie haben. 

     

    Du hast dich zwei Amtszeiten lang im jungen Rat engagiert. Was sind die Hürden und Probleme, die man dort als junger Mensch, insbesondere bei der Zusammenarbeit mit politischen Entscheidungsträgern, erlebt? 

    Der junge Rat wurde vor zehn Jahren in Kiel gegründet. Am Anfang war es tatsächlich eher eine schwierige Zeit. Viele, die Mitglieder im jungen Rat waren, haben mir berichtet, dass es schwer war, überhaupt ernst genommen zu werden. Was vor allem den Aspekt betrifft, von Älteren nicht gesehen zu werden. Aber das wir trotzdem gehört werden, liegt auch daran, dass wir Antrags- und Rederecht in der Ratsversammlung haben. Genauer gesagt können wir dort direkt Anträge stellen und  auch zu Themen Reden halten. Vor allem nutzen wir dafür unseren Jahresrückblick, um Anträge mündlich genauer zu begründen. Dabei stellen sich für uns auch Fragen, ob und wie wir direkt in der Kommunalpolitik verankert sind. Dies geschieht folgendermaßen: Wir stellen Anträge an die Ratsversammlung die dann angenommen werden müssen und durch Ausschüsse wie für Schule und Sport müssen. Meist wird aber vorher ein Prüfauftrag an die Verwaltung gestellt, um zu schauen wie durchsetzungsfähig die Forderungen sind. Und dann geschieht dasselbe auch bei einer anderen Stelle. Und so wird mit uns Pingpong gespielt. Das ist leider sehr nervig.

     

    Teilweise heißt es ja auch, junge Erwachsene würden sich nicht für Politik interessieren. Spielte das bei der Gründung des jungen Rats eine Rolle?

    Durch die Existenz des jungen Rates merken Menschen schon, dass ein Interesse da ist. Daher sehen die Erwachsenen, dass ein Interesse besteht. Für mich ist es einfach so, dass Erwachsene das, was wir fordern, oft nicht umsetzen. Junge Menschen wissen dadurch nicht recht, was ihre Rechte und Möglichkeiten sind, da sie dies nicht erfahren. Deswegen sagen viele Erwachsene, dass junge Menschen Politik nicht interessiere. 

     

    Würdest du sagen, das politische Erfahrung wichtig ist?

    Nein, auf gar keinen Fall. Wir haben im jungen Rat teilweise in zwei Monaten mehr erreicht als in einem Jahr. Es ist ein komplett unabhängiges Ding von Zeit. Es ist situationsabhängig, welche Menschen sich zusammenfinden und welche Themen sie finden und wie abschließend dann der ganze Prozess funktioniert. Manchmal funktioniert es und manchmal brauchen wir ein Jahr für einen ganzen Antrag. Wir wissen aber oft, wie wir mit der Politik zusammenarbeiten müssen und an welche Stellen wir uns wenden müssen. 

     

    Wie denkst du: Wie sollte man mit rechten Parteien umgehen? 

    Ich habe erlebt, wie rechte Parteien auf Demos versuchen, Menschen mit Migrationshintergrund zu entmenschlichen. Ihre Botschaften richten sich gegen unsere Existenz und Lebensrealität Auch online bekommt man solche Anfeindungen mit. Solche Erlebnisse motivieren mich aber dagegen vorzugehen und für Gleichberechtigung einzutreten.

     

    Du hast erzählt, dass du eine Migrationsgeschichte hast. Hast du dadurch bestimmte Erfahrungen gemacht, bei denen du das Gefühl hattest, dich ständig anpassen zu müssen? Und war das ein Anstoß für dich, dich politisch zu engagieren? 

    Man steht häufig unter dem Druck, sich anpassen zu müssen. Menschen in einer Kultur wollen, dass man sich ihnen anpasst, aber sie selbst wollen sich nicht ändern. Die Leute machen es einem dabei schwerer, weil sie einen nicht verstehen wollen. Bei dieser Thematik kommt aber auch der Begriff „Integration“ ins Spiel. Für mich als Person mit Migrationsgeschichte ist das aber etwas anderes als für die Gesellschaft. Für uns müssen wir uns nicht selbst verändern, sondern die Gesellschaft muss sich verändern – indem diese kompromissbereiter und offener wird. Konservative Forderungen sind dabei oft nicht mehrdeutig im progressiven Sinne, weil sie nur ihre jeweils eigene Deutung des Begriffes „Integration“ zulassen. 

     

    Kannst du mir etwas über die Migrationsgeschichte deiner Familie erzählen? 

    Meine Oma und mein Opa sind als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen. Ich sehe das als eine große Chance. Diese Menschen sind hierhergekommen, um ein völlig neues Leben zu beginnen – mit der Hoffnung auf ein besseres Leben, auf eine Zukunft für sich und ihre Kinder. Und genau das ist ihnen gelungen, auch wenn es mit vielen Schwierigkeiten verbunden war. Ich bin jetzt die dritte Generation und man merkt ja, dass ich als dritte Generation schon so viel erreichen kann, obwohl sie mit Hürden zu kämpfen hatten. 

     

    Du hast erzählt, dass Menschen mit türkischem Hintergrund häufig Diskriminierung erleben – auch du. Was wünschst du dir von der Gesellschaft im Umgang mit solchen Erfahrungen?

    Ja, türkischstämmige Menschen haben Diskriminierungserfahrungen gemacht. Es muss aufgearbeitet werden, dass Diskriminierung stattgefunden hat und die andere Seite nicht darüber spricht. 

     

    Was braucht es deiner Meinung nach, damit die Gesellschaft die Geschichte der Gastarbeitergeneration stärker anerkennt und aufarbeitet?

    Muss man darüber nachdenken, in welchem Sinne man das jetzt gerade noch verändern kann. Es ist ja nicht so, dass zu dieser Zeit noch viele Gastarbeiter*innen herkommen. Diese Generationen bilden sich einfach weiter und ich habe mich auch viel damit beschäftigt und es gibt auch viele Filme, Dokumentation und Serien dazu, die ich geschaut habe, um nachzuvollziehen, womit die Menschen zu kämpfen hatten. 

     

    Wie sollte deiner Meinung nach heute über die Erfahrungen von Gastarbeiter*innen gesprochen oder berichtet werden? 

    Diskriminierung ist ein wichtiger Teil im Bewusstsein vieler Gastarbeiter*innen, da es sie selbst betrifft. Ich bin dafür, dass weitere Filme und Serien zur Aufklärung über sie und ihre Thematik produziert werden, um zu vermitteln welche Problematiken sie erfahren haben. Aber es sollten nicht nur die negativen Aspekte der Erfahrungen von Gastarbeiter*innen gezeigt werden, sondern auch die positiven Aspekte. Viele haben gekämpft und sich im Laufe der Zeit etwas aufgebaut. Man sollte diese Menschen daher nicht als Opfer darstellen. 

     

    Wie hast du die Vorstellung von “Deutsch sein” erlebt – gerade im Hinblick auf Aussehen, Sprache oder Herkunft? 

    Ich habe oft erlebt, dass Deutsch sein mit einem bestimmten Aussehen, der Sprache oder allgemein einer Tradition verbunden ist. Aber für Menschen, die anders aussehen, bedeutet das, dass sie sich immer beweisen müssen, egal wie lange sie schon hier sind. Dass sie dazu gehören und dass sie vielleicht auch hier geboren sind. Ich bin davon aber nicht so sehr betroffen, weil ich diesem Klischee von einem „Ausländer“ nicht entspreche: Ich habe helle Haare, ich habe grüne Augen – auf den ersten Blick sieht man es mir nicht an. Wenn mich Leute fragen, ob ich Deutsch bin, ist meine Antwort: Ja, ich bin Deutsch. Ich bin hier geboren, ich habe einen deutschen Pass, aber meine Wurzeln sind trotzdem türkisch. 

  • Yazan will promovieren, stattdessen droht ihm die Abschiebung

    Als der junge Syrer Yazan Hajikanama vor acht Monaten in Deutschland ankam, trug er nur wenig Gepäck bei sich – dafür aber viel Hoffnung. Hoffnung auf einen Neuanfang, Frieden – darauf, das fortzusetzen, was in seiner Heimat durch Krieg und politische Unsicherheit unmöglich wurde: eine akademische Laufbahn einschlagen.

    Nach einen Studium der Wirtschaftsinformatik zog es ihn für seinen Master in „Technology and Public Policy“ nach Turin. Dahinter stand der Traum: mitzuprägen, wie Politik und Technologie ineinandergreifen – besonders in Konfliktländern und wo Menschen übersehen werden.

    In Deutschland will Yazan promovieren. Er schrieb Professor*innen, stellte Forschungsprojekte vor, erhielt erste interessierte Rückmeldungen. Gleichzeitig begann er, Deutsch zu lernen, besuchte Integrationskurse, baute Kontakte auf. Er will nicht nur Schutz suchen, sondern Teil dieses Landes sein. Doch dann kam der Brief. Ein weißer Umschlag, amtlich: der Abschiebungsbescheid. „Ich war wie gelähmt“, erinnert sich Yazan. „In dem Moment dachte ich: Vielleicht darf ich doch nicht bleiben. Vielleicht spielt es keine Rolle, was ich kann“.

    Ein Leben zwischen Hoffnung und Angst

    Seitdem lebt Yazan in einem Zustand, der schwer auszuhalten ist: Zwischen dem Wunsch, eine Zukunft aufzubauen – und der Angst, sie jederzeit zu verlieren. Sein Asylantrag wurde in der ersten Instanz abgelehnt. Gemeinsam mit seinem Anwalt wehrt er sich juristisch gegen die Abschiebung – es ist ein Wettlauf gegen die Zeit und gegen das Gefühl, nicht gesehen zu werden. Er fühlt sich missverstanden: „Ich bin nicht hier, um zu nehmen. Ich bin hier, weil ich etwas anbieten will. Ich habe Ideen, Energie und eine Vision. Alles, was ich brauche, ist die Chance, sie einzubringen“, sagt Yazan.

    Yazan erzählt ruhig, aber seine Worte tragen Gewicht. Er will niemandem etwas beweisen – nur zeigen, dass sein Leben mehr als ein Dossier in einer Akte ist. „Integration bedeutet für mich nicht nur, die Sprache zu lernen. Es bedeutet, Verantwortung zu übernehmen. Für sich selbst, für die Gesellschaft“, so Yazan.

    In wenigen Monaten hat er mehr geschafft als viele in Jahren: Deutsch lernen, Netzwerke knüpfen, akademisch Fuß fassen, juristisch kämpfen. Doch all das scheint oft nicht genug. Warum?

    Yazans Appell: „Geben Sie mir eine Chance“

    Yazans Geschichte ist kein Einzelfall – aber sie zeigt, wie sehr geflüchtete Menschen an Grenzen stoßen. Selbst dann, wenn sie alles richtig machen. Mit einem großen Traum kam der junge Syrer nach Deutschland: Die digitale Zukunft gerecht gestalten – besonders für jene, die am Rand der Gesellschaft stehen.

    Was bleibt, ist sein Appell – an Behörden, an die Gesellschaft, an alle, die zuhören wollen; „Ich bin bereit zu arbeiten, zu forschen und mich einzubringen. Ich brauche nur die Möglichkeit, zu bleiben. Geben Sie mir die Chance. Ich will zeigen, dass meine Geschichte nicht nur Fluchtgeschichte ist, sondern Strebsamkeit-Geschichte“, so der Akademiker Yazan Hajikanama.

     

  • „Wir sind Übersetzerinnen, Beschützerinnen, Therapeutinnen, Restaurant, Bank, Halt und Anker“ – Zwei Töchter über Care-Arbeit 

    Das Thema der aktuellen kohero Ausgabe „Who Cares?“, die sich mit migrantischen Perspektiven auf Care-Arbeit auseinandersetzt, lässt mich nicht los. Als älteste Tochter einer migrantisierten Familie und Enkeltochter von sogenannten Gastarbeiter*innen, die unter unmenschlichen Bedingungen ihre Körper kaputtgearbeitet haben, ist Sorge- und Pflegearbeit in meinem Leben immer präsent gewesen. Um der unsichtbaren und vor allem unbezahlten Sorgearbeit mehr Aufmerksamkeit zu schenken, habe ich mit zwei Töchtern über ihre Erfahrungen gesprochen. 

     

    Wie wäre es mit: „Schön, dass du dich sorgst!“ – Sogol

    Sogol

    Mit zunehmendem Alter übernehme ich mehr Verantwortung für meine Familie. Ich bin die älteste Tochter, beziehungsweise habe ich eine Zwillingsschwester und einen jüngeren Bruder. Meine Mama lebt seit sieben Jahren in den USA und meine Eltern haben sich scheiden lassen. Sie haben einen etwas größeren Altersunterschied und mein Vater geht nun auf die 78 zu. Aber nicht nur für meine Eltern, sondern auch für meine Geschwister übernehme ich viel Verantwortung. Ich bin nicht nur die Person, die immer regelmäßig nach meinem Papa schaut, sondern ich bin auch diejenige, die meiner Zwillingsschwester unter die Arme greift. Sie hat zwei Kinder und ist verheiratet, ich unterstütze sie zum Beispiel bei der Organisation von Kindergeburtstagen. 

    Ich bin Restaurant, Bank, Therapeutin und Seelsorge gleichzeitig für meine Familie. Ich höre mir immer die Sorgen von allen an und muss mithelfen, sei es bei finanziellen Problemen oder wenn jemand Termine hat und irgendwo hingefahren werden muss. Das ist tagtäglich extrem viel Sorgearbeit.

    In unserer Gesellschaft, vor allem in Deutschland, habe ich das Gefühl, dass es negativ verbunden wird, wenn man sich um seine eigene Familie kümmert. Ich kriege manchmal diskriminierende Sachen zu hören, wie zum Beispiel dass es ja normal wäre, dass bei “Ausländern” die Kinder die Pflege übernehmen. Ich mache diese Arbeit ja, weil ich meine Eltern lieb habe und will, dass es ihnen gut geht. Aber es macht schon etwas mit einem, solche Aussagen zu hören. Ich würde mir wünschen, dass es normaler wird, dass es Kinder in unserer Gesellschaft gibt, die irgendwann anfangen, die Verantwortung und Sorge für ihre Eltern zu übernehmen – schließlich haben sie sich auch Jahre lang um uns gekümmert. Irgendwann wendet sich eben das Blatt. 

    Mein Papa und ich haben ein enges Verhältnis zueinander. Jetzt werde ich nach Berlin ziehen. Und die große Frage ist nun: Was passiert jetzt? Wohin geht dann Papa? Ich habe mit ihm darüber gesprochen und er meinte: „Wenn du gehst, würde ich schon gerne mitkommen.“ Mein Papa ist jederzeit bei mir willkommen und er kann natürlich mitziehen. 

    Es wäre schön, wenn das Thema Sorgearbeit nicht mit Negativem verbunden wäre, sondern vielleicht mit einem „Hey cool, dass du das machst“ oder „Schön, dass du dich darum sorgst“. 

     

    „Wir leben in einer Gesellschaft, wo wir die kranken Menschen unsichtbar machen, damit das kapitalistische System weiterhin funktionieren kann“ – Shari

    Ich bin zwar in Deutschland geboren, aber ich bin die Tochter einer aus dem Iran geflüchteten Familie. Ich bin mit vielen Erwartungen und Hoffnungen aufgewachsen, die mir viele Superkräfte, aber auch viele Defizite eingebracht haben.

    Das Übernehmen von Verantwortung wurde für mich besonders prägend, nachdem mein Vater an Lungenkrebs verstarb. So wurde mir Care-Verantwortung auferlegt, ohne dass ich danach gefragt wurde. Das ist das Schicksal vieler Migra-Kinder: Sie mussten immer in die Verantwortung gehen, weil Integration zwar eine Anforderung des Staates war, die Umsetzung aber bei den einzelnen Familien selbst lag. Das bedeutete: Wir Kinder waren immer Übersetzer*innen, Beschützer*innen, vielleicht auch Halt und Anker – in einem sehr dunklen Nachkriegsdeutschland, in dem Rassismus zwar nicht benannt, aber überall erlebbar und spürbar war. 

    Als wir nach Deutschland flohen, waren wir nicht willkommen. Nein, auf keinen Fall. Wir waren nur geduldet. Und genau das hieß es ja auch: Aufenthaltsstatus „geduldet“. Bitte bleib nicht zu lange. Bitte geh. Ich bin die Jüngste in der Familie, meine Geschwister hatten noch viel mehr Aufgaben, die sie stillschweigend angenommen haben. Es gab keine andere Wahl. Wer die Flucht überstanden hatte, war froh, überhaupt überlebt zu haben. 

    Ich war noch sehr jung, als mein Vater zunächst einen Herzinfarkt hatte. Ein oder zwei Jahre später erkrankte meine Mutter an einer sehr seltenen Autoimmunerkrankung (Pemphigus vulgaris). Meine Schwester pflegt meine Mutter hauptsächlich und ich unterstütze sie dabei so gut ich kann – sowohl in der Pflege als auch finanziell. Denn wer in dieser Gesellschaft finanziell nicht auf das Kranksein vorbereitet ist, leidet sehr stark.

    Wir befinden uns zwar in Deutschland und sind damit privilegiert, aber viele Dinge werden nur minimal bezuschusst. Dazu kommt ein wahnsinnig bürokratischer Aufwand, den eine betroffene Person, die jeden Tag ums Überleben kämpft, gar nicht allein bewältigen könnte. Auch wenn ich mich in einer extrem belastenden Situation für Psyche und Körper befinde, bin ich gleichzeitig dankbar, dass ich da sein und helfen kann. Denn die Alternative wäre, dass niemand da ist. Und das bedeutet in Pflegefällen den Tod. 

    Die Betreuung und Pflege durch Familienangehörige hat eine ganz andere Qualität: Wir pflegen mit Liebe. Wir sind emotional viel stärker involviert und können dadurch ganz anders unterstützen. Wir achten eben auf die kleinsten Details.

    Wir leben in einer Gesellschaft, in der kranke Menschen unsichtbar gemacht werden, damit das kapitalistische System, das von gesunden Menschen lebt, weiterhin funktionieren kann. Die Menschen, die ihre Eltern, Großeltern oder Geschwister pflegen, sind mehrheitlich Frauen, die dafür nicht bezahlt werden. Würde es diese Frauen nicht geben, dann würde das ganze System am ersten Tag kollabieren. 

    Die Menschen, die jeden Tag helfen und pflegen, werden nicht gesehen. Sie werden nicht gehört. Sie sind einfach unsichtbar. 

    Abgesehen von der großen gesamtgesellschaftlichen Veränderung wünsche ich mir mehr emotionalen Halt. Wenn jede Person in ihrem Umfeld kurz darauf achtet: Wer ist hilfebedürftig? Wer hilft sogar in der Pflege? – und diesen Personen ein bisschen Raum gibt … Das wäre ein Anfang. Ein einfaches „Wie geht es dir?“, „Wie machst du das?“ oder „Ich bin für dich da“ kann so viel bewirken. Genauso wie du mit Worten jemanden verletzen kannst, kannst du auch mit Worten Menschen aufbauen, ihnen Zuversicht und Mut geben. 

  • „Bin ich hier noch sicher?“ – Geflüchtete aus der Ukraine über ihre Zukunft in Deutschland

    „Ich habe versucht herauszufinden, wohin ich als nächstes gehen könnte, wenn es für mich nicht mehr möglich wäre, in Deutschland zu bleiben.“ Mariia, 40 Jahre alt, beschreibt einen Moment wachsender Unsicherheit: Nach dem Wahlergebnis der AfD bei der Bundestagswahl 2025 fragt sie sich, ob Deutschland dauerhaft ein sicherer Ort für sie und ihre Familie bleiben kann. Nach Russlands Angriff auf die Ukraine floh Mariia aus Kiew, inzwischen arbeitet sie als Buchhalterin und engagiert sich ehrenamtlich. Doch was, wenn sich die politische Stimmung hier weiter verschiebt? Bin ich hier noch richtig? Und wenn nicht hier – wo dann?

    Auch die 21-jährige Anastasiia kam vor drei Jahren aus der Ukraine über Polen nach Deutschland. Sie besucht einen C1-Kurs und möchte bald studieren. Derzeit fühlt sie sich in Deutschland sicher. Doch sie spürt, wie sich das gesellschaftliche Klima verändert. Für sie ist klar, dass es längst nicht mehr nur um die Ukraine geht, sondern um die Frage, wie wehrhaft Europa gegenüber autoritären Bedrohungen bleibt. Sie wünscht sich, „dass Deutschland rechtzeitig erkennt, wie ernst die Lage ist – für andere und für sich selbst.“

     

    Wenn Ankommen nicht genügt

    Für Menschen aus der Ukraine war Deutschland zunächst ein fester Boden unter den Füßen. Doch spätestens die Wahlergebnisse haben bei vielen die Frage aufgeworfen, wie dauerhaft diese Zuflucht wirklich ist. Politische Kräfte mit russlandfreundlichen Positionen gewinnen an Einfluss. Die einst eindeutige Solidarität weicht einer wachsenden Ungewissheit.

    Für Anastasiia und Mariia ist dabei klar, was auf dem Spiel steht, für sie persönlich und auch politisch. Beide sehen in Russlands Krieg eine bewusste Strategie zur Vernichtung ukrainischer Staatlichkeit. „Es ist rechtswidrig, Menschen innerhalb eines Landes mit geschlossenen Grenzen und ohne Zugang zu Waffen einem bewaffneten, stärkeren Staat schutzlos gegenüberzustellen“, sagt Anastasiia. Dass diese Haltung zunehmend relativiert wird, erleben beide als beunruhigend. Sie spüren: Die Deutungshoheit beginnt zu kippen.

     

    Globale Brüche, persönliche Folgen

    Viele Ukrainer*innen erleben den Krieg längst nicht mehr nur als Angriff auf ihr Land, sondern als Teil eines umfassenderen geopolitischen Umbruchs. Die Wahl Trumps, das Erstarken autoritärer Kräfte in Europa – all das deute für sie auf eine Erosion demokratischer Strukturen hin. Die AfD sitzt als zweitstärkste Kraft im Bundestag, übernimmt russische Narrative, lehnt Waffenlieferungen ab – und spricht der Ukraine eine Mitschuld am Krieg zu. Als Selenskyj im Juni 2024 im Bundestag sprach, boykottierte neben dem BSW fast die gesamte AfD-Fraktion die Rede.

    Laut einer CEMAS-Erhebung von Ende 2023 gaben ungefähr 20 Prozent der Deutschen an, der Angriffskrieg Russlands sei eine unvermeidbare Reaktion auf westliche Provokationen gewesen. Weitere 19 Prozent stimmten teilweise zu. Auch die Verschwörungserzählung, Putin kämpfe gegen eine „versteckt agierende globalistische Elite“, findet Zustimmung – besonders im Osten.

    Anastasiia kritisiert diese Haltung deutlich: „Viele Deutsche glauben, Russland sei gezwungen gewesen zu reagieren. Russland wurde nicht provoziert, es reagiert auf alles mit Gewalt, was sein imperialistisches Regime bedroht: Meinungsfreiheit, Demokratie, Menschenrechte.“

    Alltag der Verunsicherung

    Entfremdung entsteht nicht nur durch politische Entscheidungen, sondern auch im Alltag – wenn russlandfreundliche Haltungen das direkte Umfeld durchdringen. Anastasiia erzählt von einem Gespräch am Arbeitsplatz: „Es wurde angezweifelt, ob es überhaupt schlecht sei, unter russischer Flagge zu leben.“ Für sie war das eine erschreckende Erkenntnis: „Menschen mit einer solchen Haltung ist vollkommen gleichgültig, ob wir als Nation weiter existieren.“

    Auch Mariia erinnert sich an eine Veranstaltung, bei der mehrere Personen versuchten, ihr einzureden, die Ukraine sei selbst schuld am Krieg – und sie sollten Putin dankbar sein, nun in Deutschland leben zu dürfen. Auch Drohungen von Menschen aus Russland habe sie bereits erlebt: „Deshalb versuche ich, Situationen zu vermeiden, in denen große Gruppen von Fremden erkennen können, dass ich Ukrainerin bin.“

    Verständnis für russische Kriegsrhetorik nimmt zu – nicht immer offen aggressiv, sondern in Form von scheinbar harmlosem Infragestellen: Hat die Ukraine nicht auch Fehler gemacht? Ist ein Gebietsverzicht nicht der Weg zum Frieden? Diese Äußerungen treffen Menschen, die genau vor diesem Denken geflohen sind – und es nun, in veränderter Form, erneut erleben. „Oft äußern die Deutschen eher propagandistische Thesen als ihre eigenen Gedanken“, vermutet Anastasiia.

     

    Zweifel an der eigenen Geschichte

    Solche Haltungen erschüttern zunehmend die Legitimität der Flucht – und lassen Zweifel an der eigenen Geschichte wachsen. Mariia spürt diese Verschiebung deutlich und bekommt zunehmend den Eindruck, „dass Deutschland keine Ukrainer haben möchte.“ Sie hofft auf Sicherheit – auch in Bezug auf ihren Aufenthaltsstatus und ihre berufliche Perspektive.

    Auch Anastasiia erlebt, wie anfängliche Solidarität in leise Skepsis kippt – mit subtilen, verletzenden Botschaften. „Vielleicht bist du ja gar nicht das Opfer, für das wir dich hielten“, formuliert sie die unausgesprochene Haltung, die ihr in Gesprächen begegnet. Mariia ergänzt: „Es ist traurig, dass die Menschen immer noch glauben, Putin sei nur eine Geisel der Umstände und nicht der eigentliche Verursacher dieses Krieges.“ Es sind keine offenen Anfeindungen – sondern kleine Verschiebungen im Ton, im Blick, im Subtext: Wenn das eigene Ankommen infrage steht, obwohl man längst da ist.

     

    Erschöpfung, Entsolidarisierung – und der Preis des Friedens

    Diese schleichende Aberkennung der eigenen Geschichte steht im Zusammenhang mit einer wachsenden Erschöpfung innerhalb der deutschen Gesellschaft – politisch, emotional und wirtschaftlich.

    Anastasiia beobachtet diese Entwicklung mit Sorge: Immer öfter höre sie pro-russische Positionen – nicht aus Überzeugung, sondern aus Überforderung, aus dem Wunsch nach einfachen Lösungen, genährt von wirtschaftlichen Sorgen und medialer Polarisierung. In dieser Atmosphäre verhallen differenzierte Argumente oft ungehört.

    Was Anastasiia und Mariia teilen, ist das Gefühl, dass die Vorstellung eines notwendigen „Friedens“ – koste es, was es wolle – an Boden gewinnt. Dass der Wunsch nach Entspannung auf deutscher Seite wächst, während auf ukrainischer Seite noch immer ein täglicher Überlebenskampf geführt wird. Gleichzeitig trifft Russland weiter gezielt Zivilist*innen – wie zuletzt bei einem tödlichen Raketenangriff auf Sumy. Für Anastasiia ist klar: „Den Krieg kann nicht beenden, wer ihn nicht begonnen hat.“

     

    Dankbarkeit ohne Illusion

    Ihr Vertrauen mag Risse bekommen haben – doch Anastasiia und Mariia sehen in Deutschland keinen feindlichen Ort. Sie betonen die Unterstützung und die Chancen, die ihnen hier ermöglicht wurden. „Ich fühle ausreichend Unterstützung seitens der Gesellschaft“, sagt Anastasiia. Auch Mariia findet klare Worte: „Ich danke Deutschland für die Unterstützung, das Verständnis und die Möglichkeit für uns und unsere Kinder, unser Leben im Glauben an eine bessere Zukunft zu leben.“ Doch diese Dankbarkeit bedeutet nicht, dass ihre Sorgen kleiner werden. Sie existiert neben ihnen – nicht als naive Hoffnung, sondern als bewusste Entscheidung, das Gute zu sehen, ohne das Schwierige auszublenden.

    Mariia fragt sich, wohin sie als Nächstes gehen könnte. Denn eine Rückkehr in die Ukraine erscheint kaum als sichere Perspektive – selbst ein möglicher Frieden würde die Bedrohung durch Russland nicht aus der Welt schaffen. Während die Ukraine zur Verhandlungsmasse wird, zeigt sich auch in Deutschland, wie schnell Schutz relativiert und Solidarität brüchig werden kann. Anastasiia erinnert daran, dass es längst nicht mehr nur um ihr Land geht. Es geht darum, ob sich eine Gesellschaft autoritären Bedrohungen entschieden entgegenstellt – oder ihnen Stück für Stück Raum gibt.

     

  • Bitcoin als neues Zahlungsmittel in Syrien? – Shady Zitoun im Interview

    Shady, erzähle uns etwas über dich, was machst du?

    Ich bin Shady Zitoun, 36 Jahre alt, komme aus Damaskus und bin 2014 nach Deutschland geflohen. Derzeit lebe ich in Bad Homburg. Seit 2016 arbeite ich im Technologie- und Automatisierungsbereich. Im Oktober letzten Jahres habe ich meine eigene Firma „BitKnz“ gegründet.


    Wie war es für dich, nach Deutschland zu kommen?

    Zuerst floh ich in die Türkei wegen Visumproblemen. Dort fand ich aber keine Perspektive und entschloss, nach Europa zu gehen. Nach mehreren Versuchen, mit Schleppern und gefälschter ID, sowohl über Land als auch See, gelang es mir schließlich, nach Deutschland zu kommen. Im Juli 2014 kam ich in einem Asylbewerberheim in Eisenhüttenstadt in Brandenburg unter, wo ich die darauffolgenden Monate verbrachte.


    Und wie war es für dich in Deutschland anzukommen?

    Zuerst kam ich in Prenzlau an, einer kleinen Stadt, etwa 110 km von Berlin entfernt. Obwohl es dort keine Sprachschule oder Arbeitsmöglichkeiten für Geflüchtete gab, hatte ich großes Glück, viele Menschen kennenzulernen. Ich nutzte die Zeit, um Deutsch zu lernen und legte nach etwa sieben Monaten ein B1-Zertifikat ab – noch bevor ich meine Aufenthaltsgenehmigung erhielt. Die Zeit in Prenzlau war sehr hilfreich, um die deutsche Gesellschaft besser zu verstehen.


    Was war der nächste Schritt für dich?

    Im Mai 2015 erhielt ich meine Aufenthaltsgenehmigung und begann wenig später ehrenamtlich beim Deutschen Roten Kreuz zu arbeiten, was zu einer Festanstellung führte. Da meine Brüder in der Zwischenzeit als Minderjährige bei einer Familie in Hessen untergebracht wurden, suchte ich gezielt dort nach Arbeit und fand im März 2016 glücklicherweise eine Stelle bei Finastra, einem Finanztechnologieunternehmen in Frankfurt. Ich arbeitete bis 2023 bei Finastra und danach in Barcelona bei Big Panda, bevor ich 2024 nach Deutschland zurückkehrte, um meine Firma BitKnz im Bereich Finanz-IT zu gründen.


    Warum hast du nicht direkt gegründet?

    Eine Festanstellung gab mir Sicherheit und Erfahrung. Für die Selbstständigkeit fehlten mir anfangs Netzwerk und Know-how. In Syrien gründete ich bereits meine erste eigene Firma im dritten Jahr meines Studiums, spezialisiert auf Websiteentwicklung. Das Geschäft lief gut für etwa zwei Jahre, bis der Krieg begann, der uns leider daran hinderte, weiterhin zu wachsen. Seitdem hatte ich immer den Wunsch, wieder eine eigene Firma zu gründen, doch ich musste auf den richtigen Zeitpunkt warten, um nicht zu viel zu riskieren.


    Woran arbeitest du gerade?

    In Deutschland arbeiten wir an Projekten zur Automatisierung und KI-Integration, vor allem für kleine und mittelständische Unternehmen im Softwarebereich. Für Syrien haben wir ein besonderes Finanztechnologie-Projekt gestartet. Wie du weißt, war es lange Zeit kaum möglich, legal Geld ins Land zu überweisen – viele Syrer:innen im Ausland mussten auf inoffizielle Wege zurückgreifen. Das bremste die wirtschaftliche Entwicklung stark. Seit kurzem sind wieder kleinere Überweisungen erlaubt, aber nur mit vielen Einschränkungen. Deshalb wollten wir mithilfe von Blockchain und Bitcoin eine neue, offene Lösung schaffen, die sichere und effiziente digitale Transaktionen ermöglicht.


    Mit Western Union ist es möglich Geld nach Syrien zu überweisen, aber die Gebühren sind sehr hoch – oft zwischen 20 und 30 % des Betrags. Das ist eines der größten Probleme für viele Syrer*innen im Exil. Warum ist Bitcoin in diesem Zusammenhang interessant?

    Western Union hat lange Zeit gar keine oder nur stark eingeschränkte Überweisungen nach Syrien erlaubt. Bitcoin bietet uns eine neue Möglichkeit, Geld grenzüberschreitend zu transferieren. Früher waren solche Transaktionen nur über Banken möglich. Bitcoin ermöglicht es, kleinere Beträge schnell, anonym und mit deutlich geringeren Gebühren zu überweisen – oft in wenigen Minuten. Mit neuen Technologien wie dem Lightning-Netzwerk sind sogar Transaktionen in Sekunden möglich. Im Vergleich zu mehreren Tagen bei Banken oder Gebühren von bis zu 20 % bei klassischen Anbietern ist das ein revolutionärer Ansatz. Gerade für Syrien, dessen Bankensystem veraltet und durch Sanktionen eingeschränkt ist, bietet Bitcoin eine praktikable Lösung für globale Finanztransaktionen.


    Was unterscheidet euch von Western Union?

    Unsere Gebühren sind deutlich niedriger – maximal 4 %. Und das Geld liegt direkt im Wallet der Nutzer:innen, nicht bei uns.


    Diese Lösung birgt gewisse Risiken und setzt Strom sowie Internet voraus. Zudem müssten Empfänger*innen in Syrien ihr Geld in einem Büro abholen, da viele auf Bargeld in syrischen Lira angewiesen sind. Wie wollt ihr dieses Problem lösen?

    Natürlich sind die Menschen daran gewöhnt, in Bargeld zu zahlen – das habe ich bei meinen letzten beiden Besuchen in Syrien selbst erlebt. Trotzdem glauben wir, dass die syrische Bevölkerung, die schon immer ein Vorreiter in Sachen Technik war, auch das Potenzial von Bitcoin erkennen wird. In Ländern wie El Salvador sehen wir bereits, wie durch Bitcoin wirtschaftliche Entwicklungen und effizientere Finanztransaktionen möglich wurden. Sobald die nötigen Voraussetzungen gegeben sind, wird auch die syrische Bevölkerung diese Technologie nutzen. Natürlich bringt Bitcoin – wie jedes Finanzprodukt – auch gewisse Risiken mit sich.


    Das bedeutet, ich eröffne ein Konto bei euch und kaufe Bitcoin. Anschließend überweise ich den Betrag an meine Verwandten in Syrien, die ebenfalls ein Konto in eurer App haben und den Bitcoin auf ihrem Account empfangen. Wie wird dieses Geld dann in Bargeld umgewandelt?

    Wir haben zwei Lösungen entwickelt und arbeiten mit einem großen Partner innerhalb Syriens zusammen. Wir sind momentan in Gesprächen mit verschiedenen Banken, die auch diese Technologie implementieren wollen. Über diese Banken könnten wir das Geld, das in syrischer Lira ausgezahlt werden soll, direkt auf ein Bankkonto oder an ein nahegelegenes Überweisungsbüro transferieren. Da schätzungsweise 80 % der Nutzer*innen in Syrien kein Bankkonto haben, sind solche Bargeldlösungen über lokale Partner besonders in der Anfangsphase sehr hilfreich.


    Wenn ich einen Bitcoin  kaufe und der Kurs fällt – verliere ich dann Geld?

    Nein, nicht wenn das Geld in unserem Wallet nur für Überweisungen genutzt wird – dann garantieren wir den ursprünglichen Wert. Das Risiko übernehmen wir. Wer mit Bitcoin spekulieren möchte, kann das tun – aber dann trägt er das Kursrisiko selbst.


    Warum bietet ihr diese Absicherung?

    Wir wollen den Umgang mit Bitcoin erleichtern. Außerdem zeigen die letzten Jahre, dass Bitcoin langfristig wächst – das Risiko nehmen wir bewusst in Kauf.


    Können Nutzer:innen mit eurer App auch Bitcoin kaufen?

    Noch nicht. Der Kauf muss über lizenzierte Plattformen außerhalb Syriens erfolgen, aber man kann Bitcoin an unser Wallet übertragen.


    Welche Lösung habt ihr für den Schwarzmarkt, auf dem der Dollar deutlich teurer ist als der offizielle Wechselkurs der Zentralbank?

    Wir arbeiten mit der Zentralbank zusammen, um die syrische Lira als Auszahlungsmöglichkeit anzubieten. Der Unterschied zwischen dem Schwarzmarkt und dem offiziellen Kurs liegt leider außerhalb unserer Kontrolle, aber wir warten auf eine Rückmeldung der Zentralbank, um eine Lösung zu finden. Wir hoffen, dass sich der Markt bald beruhigt und die Schwarzmarktpreise sich wieder an den offiziellen Kurs anpassen. Die derzeitige Situation ist unnatürlich und kann nicht lange so bleiben.


    Wie kommuniziert ihr das mit der Zentralbank? Gibt es Gesetze in Syrien, die solche Transaktionen erlauben?

    In Syrien gibt es noch keine klaren Regelungen für Krypto und Bitcoin, aber wir arbeiten eng mit der Zentralbank zusammen. Wir haben unsere Pläne bereits vorgestellt und hoffen, in den kommenden Wochen eine Lizenz zu erhalten.


    Habt ihr auch der neuen Regierung eure Pläne präsentiert? Wie steht sie zu Bitcoin?

    Ja, wir haben mit verschiedenen Unternehmen und führenden Persönlichkeiten gesprochen, die Bitcoin als zweite Währung in Syrien einführen wollen. Die Zentralbank ist offen für neue Technologien, aber aufgrund des veralteten Bankensystems wird die Umsetzung noch fünf bis zehn Jahre dauern. Die Bank möchte selbstverständlich gewährleisten, dass alles korrekt umgesetzt wird, was auch gut ist. Allerdings bedeutet das auch, dass wir mehr Zeit benötigen, um unsere Lizenzen zu erhalten und unser Produkt zu finalisieren.


    Wird man irgendwann auch Dollar oder Euro in Syrien erhalten?

    Noch ist das schwierig. Unser Ziel ist es, langfristig Bitcoin als digitales Zahlungsmittel im Land zu etablieren, um weniger auf Bargeld angewiesen zu sein.


    Wie wollt ihr das Vertrauen der Menschen gewinnen?

    Vertrauen entsteht durch Taten und die Einhaltung von Versprechen. Wir bieten unseren Kunden in Syrien eine sichere, neue Art von Überweisungen mit Bitcoin und setzen auf Transparenz, um ihnen zu zeigen, wie diese Technologie funktioniert. Dafür haben wir ein Aufklärungsmodul in unserer App integriert, das eine einfache und klare Nutzung ermöglicht.


    Was wünschst du dir für die Zukunft?

    Wir suchen Unterstützer*innen sowohl innerhalb als auch außerhalb Syriens, um diese revolutionäre Überweisungsmethode weiter zu verbreiten und die Menschen darüber zu informieren. Wir hoffen, dass uns die Regierung in den kommenden Wochen die Zulassung erteilt, damit wir unsere Dienstleistungen so schnell wie möglich in Syrien anbieten können – ohne Probleme und ohne Sanktionen. Wir hoffen, dass sich die Situation schnell ändert, denn das syrische Volk hat sehr gelitten, und es ist an der Zeit, dass die Syrer*innen ihr Land wieder aufbauen.

  • Mohamad Nour Aldghim – Engagement für Syrien

    Von der Revolution in Syrien zur politischen Bildungsarbeit in Schwerin: Mohamad Nour Aldghim floh 2015 aus Syrien, er verlor viel, aber schuf auch Hoffnung und Neues. Heute ist er eine wichtige Stimme für die syrische Gemeinschaft in Deutschland und engagiert sich mit seiner Initiative „Wiederaufbaukanäle Syriens e.V.“ für konkrete Hilfe und langfristige Perspektiven.

    „Was man von außen sieht, ist ein Mohamad. Aber im Inneren sind es zwei.“ Dieser Satz beschreibt nicht nur die psychologische Erfahrung eines Geflüchteten, er ist auch ein Schlüssel zum Verständnis dessen, wie Mohamad Nour Aldghim die Welt sieht und wie er sie zu verändern versucht. Geboren in Dscharjanaz (Jarjanaz), einer Stadt in der syrischen Provinz Idlib, erlebte er die Revolution 2011 als Student. Von Beginn an war er Teil der Protestbewegung gegen das Assad-Regime, organisierte Demonstrationen und beteiligte sich an zivilgesellschaftlicher Koordination. 2012 wurde er verhaftet und drei Monate lang in syrischen Gefängnissen gefoltert.

    „Nach meiner Freilassung wog ich nur noch 43 Kilogramm Haut und Knochen.“ Diese Erfahrung habe ihn nachhaltig geprägt. Als sich die Sicherheitslage in seiner Heimatstadt 2015 dramatisch verschlechterte und der IS immer näher rückte, blieb ihm keine Wahl: Er floh. „Es war die bitterste Entscheidung meines Lebens“, reflektiert er heute.

     

    Neuanfang in Schwerin

    In Schwerin begann für Mohamad ein neues Kapitel. Doch das Ankommen war nicht einfach: ein Spagat zwischen Integration und Identitätsbewahrung, zwischen Trauma und Tatendrang. Er war in der Sozialarbeit tätig, beriet Betroffene rechter Gewalt, engagierte sich für politische Bildung und wurde zu einem wichtigen Ansprechpartner für viele Geflüchtete. Gleichzeitig begann sein Engagement in der Lokalpolitik. Ohne Parteibindung, aber mit klarem Kompass.

    Sein politisches Denken sei dabei von der Erfahrung, ausgeschlossen zu sein, geprägt. Er kritisiert etwa die langsamen Anerkennungsverfahren für ausländische Berufsabschlüsse: „Ich kenne über 300 pädagogische Fachkräfte, die aufgegeben haben, weil sie jahrelang auf die Anerkennung ihrer Abschlüsse gewartet haben. Das ist ein Verlust für uns alle.“ Mohamad äußert auch Kritik an der Art, wie in Deutschland und Europa über Syrien gesprochen wird: „Kaum war das Regime gestürzt, wurde hier über Abschiebungen diskutiert. Statt zu fragen: „Wie können wir helfen, Stabilität aufzubauen?“ Er fordert mehr Differenzierung, mehr Verständnis für die komplexe Lage vor Ort und mehr Anerkennung für das Engagement syrischer Menschen in Europa.

     

    Gezielte Hilfen für Syrien

    Mohammed Nour Aldghim gründete den Verein “Wiederaufbaukanäle Syriens e.V.” mit, der aus einer kleinen Gruppe entstanden ist und heute rund 3.600 Menschen vernetzt.  Viele von ihnen haben einen syrischen Hintergrund und Fachkenntnisse in Medizin, Bildung oder Technik. Ziel des Vereins ist es, die Hilfe für Syrien zu bündeln und gezielter zu organisieren – gemeinsam statt einzeln. Ein Schwerpunkt ist die Medizin. Mit Unterstützung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) und Partnerorganisationen sollen medizinische Fachkräfte regelmäßig in syrische Krankenhäuser reisen. Außerdem werden Geräte repariert und neue Hausarztpraxen aufgebaut. Weitere Projekte betreffen psychologische Beratung, Bildung für Kinder und Jugendliche sowie nachhaltige Energieversorgung. Der Verein arbeitet mit verschiedenen Akteuren vor Ort zusammen, darunter auch staatlichen Institutionen. Laut Mohamad sei das notwendig, weil viele Nichtregierungsorganisationen in Syrien überlastet seien oder keine genauen Daten zu den Bedarfen liefern könnten.

    Trotz aller Schwierigkeiten glaubt Mohamad an die Zukunft Syriens. Er berichtet von Gesprächen mit Menschen vor Ort, die nicht auf Rache aus sind, sondern auf Sicherheit, Teilhabe und eine Rückkehr in Würde. „Die Hoffnung ist da, weil die Menschen sie geschaffen haben.“

    Sein Ziel: Eine Gesellschaft, die aus den Fehlern der Vergangenheit lernt. Eine Zivilgesellschaft, die aus den Trümmern der Diktatur eine Demokratie aufbaut. Und eine internationale Gemeinschaft, die diesen Weg solidarisch begleitet. Mohamad Nour Aldghims Geschichte erinnert daran, dass Engagement nicht an Grenzen endet.

  • Wenn die Identität zum Verbrechen wird: afghanische Perspektiven nach der Tat in Aschaffenburg

    Als ich die Nachrichten über den Angriff eines afghanischen Asylbewerbers hörte, fühlte ich, wie etwas in mir zerbrach. Von diesem Moment an wusste ich, dass diese Nachricht unser Leben verändern würde. Der Nachrichtensprecher berichtete über die jüngste Entscheidung des deutschen Parlaments und erwähnte dabei, dass diese Entscheidung im Zusammenhang mit dem Angriff eines afghanischen Asylbewerbers auf Kinder in der Stadt Aschaffenburg stehe. Da ich meinen Sohn Kaihan kenne, weiß ich, dass er bald mit einer Reihe von Fragen auf mich zukommen wird. In Gedanken gehe ich die möglichen Fragen der nächsten Tage durch und überlege, wie ich die Last, die die Gesellschaft ihm für ein Verbrechen, das er nie begangen hat, aufbürden wird, verringern kann. Aber ich weiß, dass es fast unmöglich sein wird. Die Gesellschaft ist daran gewöhnt, in solchen Fällen zu verallgemeinern und die Grenze zwischen „uns“ und „den anderen“ deutlich zu ziehen.

    Am nächsten Tag sieht mich Kaihan mit entschlossenem Gesicht und zusammengezogenen Augenbrauen an und sagt mit einer Stimme, die von Sorgen durchzogen ist: „Papa, wann gehen wir nach Afghanistan zurück?“ Ich weiß, dass ihn diese Frage die ganze Nacht beschäftigt hat und dass diese Worte das Ergebnis all seiner Analysen sind. Seine Frage besteht aus nur sechs Worten, ist aber direkt und präzise. Doch in meinem Kopf spielt sich ein ganzes Buch ab, und als ich antworten will, finde ich keine Worte.

    Kurz darauf zeigt mit ein Freund eine Nacheicht auf seinem Handy. „Sieh mal“, sagte er und seufzt, „das ist die Nachricht, die ich gestern Abend bekommen habe. Er hat geschrieben, dass er nicht mehr zu uns nach Hause kommen kann.“ Seine Hände waren fest ineinander verschränkt, und ich konnte nichts dazu sagen. Der Freund hatte geschrieben: „Wenn wir uns noch einmal treffen, dann sicher nicht mehr in deinem Haus, sondern draußen.“

    Am nächsten Tag sprach meine Frau mit ihrer syrischen Freundin, die sagte, dass sie früher jeden Abend spazieren ging, aber jetzt aus Angst vor den Reaktionen von Extremisten nicht mehr den Mut dazu hat, das Haus zu verlassen. Wenn du jetzt auf die Straße gehst, sind die Blicke schwerer als je zuvor. Jeder Schritt, den ich mache, fühlt sich an, als würden unsichtbare Steine auf mich geworfen. Manchmal ändere ich meinen Weg und nehme längere, aber ruhigere Strecken. Es ist, als hätte ich selbst akzeptiert, ein Verbrecher zu sein, der sich von der Öffentlichkeit fernhalten muss.

    Ich denke an Politiker*innen, die anstatt die realen Probleme zu lösen, lieber die Schuld auf uns schieben. Politiker*innen, die anstatt die Wirtschaft zu reformieren und die Energiekrise zu bewältigen, Migrant*innen als Sündenböcke benutzen. Sie erinnern mich an die afghanischen Politiker*innen!

    Der Tod eines Menschen ist vielleicht das Bitterste, was der Menschheit widerfahren kann, und es gibt kaum Worte, die die Schrecken und das Leid ausdrücken können, wenn jemand ein Kind tötet. Meine Gedanken wandern zurück zu den tragischen Momenten in Aschaffenburg. Plötzlich hallten wieder Schüsse in meinem Kopf, und ich erinnerte mich an das Weinen der Mütter, das das Lächeln der Neugeborenen ersetzt hatte, Mütter, die selbst im Blut lagen. Es war im Jahr 2020, als Terroristen in eine Entbindungsstation in Kabul eindrangen und 24 neugeborene Babys und schwangere Frauen töteten sowie 16 weitere Menschen verletzten. Die Gesellschaft war schockiert, aber unsere Kinder waren zum Sterben verurteilt, weil wir angeblich für demokratische Werte kämpften – etwas, das für die Extremisten als Ketzerei galt und dessen Auslöschung ihnen den Weg zum Paradies ebnen sollte.

    Kabul liegt vielleicht Tausende von Kilometern entfernt, aber Angst und Hass kennen keine Grenzen. Jetzt, hier in Deutschland, fließt dieselbe Angst durch meinen Geist.

    Menschen, unabhängig von ihrer Hautfarbe oder Nationalität, können überall auf der Welt Opfer von Gewalt werden. Ich denke mir: Vielleicht sind die Eltern dieses ermordeten marokkanischen Kindes ebenfalls vor solchen Gräueltaten geflohen, um in Deutschland eine sichere Zukunft aufzubauen. Doch nun ist dieses unschuldige Kind nicht mehr unter uns. Laut Polizei war der Täter kein Terrorist, sondern eine psychisch kranke Person, die aufgrund von Mängeln oder Versagen im Gesundheitssystem unbeaufsichtigt blieb. Das soll die individuelle Verantwortung des Täters nicht mindern, aber es stellt die Frage: Hätte diese Tragödie verhindert werden können, wenn der Täter rechtzeitig die notwendige Behandlung erhalten hätte?

    Da ich Sozialwissenschaften studiere, setze ich meine soziologische Brille auf und frage mich: Ist dies die „moralische Panik“, die ich an der Universität lerne? Aber wenn du selbst im Zentrum davon stehst, ist es mehr als nur ein wissenschaftlicher Begriff – du spürst die Bitterkeit in jedem Blick, jedem Flüstern und jeder Schlagzeile.

    Für mich ist es jedoch die populistische Politik der Politiker*innen, die alles dem Machtstreben opfert, die unerwartet bitter ist. Dies ist nicht das, was ich in Deutschland erwartet hatte. Die Politiker*innen kennen die andere Seite der Medaille. Sie wissen, dass Verbrechen individuell sind und die Unschuldigen nicht darunter leiden sollten.

    Doch trotzdem predigen sie Hass. Sie wissen genau, dass ihre Worte und die Erwähnung der Nationalität eines Verbrechers Unschuldige gefährden können, und dennoch wählen sie die einfache, gefährliche Rhetorik.

    Ich frage mich: Wird mein Kind irgendwann glauben, dass es allein wegen seiner afghanischen Herkunft schuldig ist? Solche verinnerlichten Schuldgefühle könnten dazu führen, dass sich die nächste Generation ebenfalls nicht integrieren kann.

    Die Geschichte hat uns wiederholt gezeigt, dass populistische Politiker*innen Krisen nutzen, um Feindbilder zu schaffen. Von den Jüd*innen im Deutschland der 30er bis zu den heutigen Migrant*innen – das Opfern von Minderheiten wird als einfache Lösung präsentiert. Wie lange müssen wir noch die Last einer Schuld tragen, die wir nie auf uns geladen haben? Vielleicht wird eines Tages Kaihan selbstbewusst auf der Straße spazieren gehen, ohne sich vor den schweren Blicken fürchten zu müssen.

    Aber dieser Tag erfordert Veränderung – eine Veränderung, die heute beginnen muss und von Menschen getragen wird, die nicht auf die populistischen rechten Politiker*innen hereinfallen und an die menschlichen Werte glauben.

     

  • Es ist hart, zurück zu sein

    Der kalte Winter hat mein Herz wie Eis gemacht. Zuhause in Venezuela zu sein, war wie eine Zeitreise. Es war, als ob dort die Zeit stehen geblieben ist. Alles war gleich. Die Bäckerei an der Ecke war die gleiche, die Kirche war die gleiche, meine Familie war die gleiche, meine Freundinnen waren die gleichen.

    Alles war gleich, aber ich war eine andere.

    Ich bin als 22-jähriges Au-Pair-Mädchen nach Deutschland gekommen. Ich habe davon geträumt, schnell Deutsch zu lernen und eine Ausbildung in Marketing und Kommunikation zu machen. Ich dachte, ich könnte schnell einen Ausbildungsplatz bekommen. Aber es war nicht so einfach.

    Die Realität war: Ich musste nehmen, was ich bekommen konnte und nicht, was ich wollte. Ich habe über einhundert Bewerbungen geschrieben, in allen Bundesländern. Sie wollten mir nicht helfen, den Papierkram zu erledigen, ein Arbeitsvisum zu beantragen und mich bei der Wohnungssuche zu unterstützen. „Das wird schwer für dich“ war die Antwort, „bleib lieber in Berlin.“ Darauf war ich nicht vorbereitet. Es war alles außerhalb meiner Kontrolle. Schließlich fand ich in Berlin einen Ausbildungsplatz zur Kauffrau für Dialogmarketing.

    Ich war stark in Deutschland, ich musste durchhalten. Ich habe weiter Deutsch gelernt, alle Arbeiten in der Berufsschule geschafft und nebenbei als Kellnerin gejobbt, um überleben zu können. Und ich habe in Berlin ein neues Zimmer gefunden.

    Nach eineinhalb Jahren bin ich zum ersten Mal wieder nach Hause geflogen. Es war, wie in einer alten Welt zu leben, in der ich in der alten Version von mir nicht mehr existiere. Die alte Version hatte Träume, die neue Version ist immer nur fleißig, arbeitet hart und versucht, sich ein Leben in Deutschland aufzubauen. Sie ist stolz, aber nicht froh.

    Aber auch diese neue Version von mir wollte nicht nach Deutschland zurückkehren. In der Sonne zu liegen, mit meiner Familie und meinen Freundinnen zu sein, hat mich spüren lassen, wie allein ich in Deutschland bin. Ja, ich weiß, es war meine Entscheidung, allein hierherzukommen. Im ersten Jahr und den folgenden fünf Monaten fühlte ich mich nicht traurig und allein. Ich dachte, ich schaffe alles in Deutschland. Aber dort zu Hause dachte ich „Wow, wie allein ich in Deutschland bin.’“

    Ich finde kaum Menschen, die meine Lage verstehen. Ich habe in Deutschland Freunde, aber alle sind genauso wie ich: Arbeit, Studium, Lernen und so weiter. Ich muss immer weitermachen und spüre eine innere Leere, obwohl ich immer etwas zu tun habe.

    Manchmal überlege ich, ob das Leben so ist, dass man Arbeit und Studium hat, aber keine Gefühle.

     

    Dieser Text ist im Schreibtandem entstanden. Hier kannst du mehr darüber erfahren

  • Brahim Foryou: Comedy mit Happiness

    Für Ibrahim war klar: Nach dem Abitur geht es direkt auf die Stand-Up-Bühne. Dafür kreirte er seinen Künstlernamen Brahim Foryou – eine Kombination aus der (improvisierten) Zuwendung an sein Publikum (“for you“) und internationaler Nuance. Der Name sei außerdem im Zeitalter von Social-Media als Hashtag oder als Marke für zukünftiges Merchandising gut geeignet (4u), erklärt er.

    Seine ersten Comedy-Erfahrungen machte er durch ein Gewinnspiel von „RebellComedy“-Mitbegründer Ususmango auf Instagram. Die Aufgabe war es, ein Comedy-Set von Ususmango nachzuerzählen, um Tickets für dessen Show zu gewinnen. Von ca. 120 Videos gehörte Brahims Nachinszenierung zu den drei Gewinner*innen, wodurch er das erste Mal live eine Comedy-Show besuchen konnte: „Das hat mich motiviert, mehr Videos auf Instagram zu posten und direkt nach der Schulzeit hatte ich meinen ersten Auftritt“, schildert er seine Anfänge in der Szene. „RebellComedy“ hätte zu mehr Repräsentation in der Comedy-Szene beigetragen, erinnert sich Brahim: „Ich hatte das erste Mal das Gefühl, dass ich mit ihren Sets relaten konnte und Menschen auf der Bühne standen, die meine Lebensrealität teilten“.

    Comedy als gemeinsamer „Happiness-Raum“

    Brahim möchte bei seinen Auftritten vor allem eins: „Ich möchte einen Raum schaffen, in dem ich glücklich bin. Die Kirsche auf der Torte ist, dass ich andere zum Lachen bringe und meine Happiness teilen kann“, sagt er. Seine „Happiness“ teilt er insbesondere durch Publikumsinteraktion, die darauf abzielt „immer größere Räume zu einem Wohnzimmer zu machen“.

    Eine wichtige Erkenntnis habe er durch die Auftritte von Kevin Hart gewonnen, der trotz oder wegen seiner hyperaktiven Art sehr erfolgreich ist. Diese Eigenschaft bestärkt Brahim in seiner Natürlichkeit bei seinen Auftritten: „Die Art, die ich schon in mir habe, muss ich nicht verstecken.“ Authentizität ist sein Antrieb und eins von seinen zentralen Erkennungszeichen auf der Bühne. Insbesondere bei Herausforderungen – ob in Situationen der Stille oder wenn sich das Publikum unangemessen verhält – Brahim reagiert darauf spontan: „Ich sage einfach, was für ein Gedanke auftaucht, nichts Erzwungenes. Und wenn es sie nicht zum Lachen bringt, dann war es ein interessantes Gespräch“, kommentiert er gelassen.

    In solchen Momenten habe er erst durch die Resonanzen des Publikums festgestellt, wie wichtig es ihm sei, Geschichten zu teilen, mit denen das Publikum nicht nur lachen, sondern zu denen es auch einen persönlichen Bezug herstellen kann: „Es gibt viele Comedians, die eine lustige Art haben, aber es ist etwas anderes, wenn man zu den Sets und Geschichten relaten kann“. Das Gespräch beendet er mit der Verabschiedungsformel „Keep-Smiling“. Damit möchte er, so sagt er es, jede*n für einen Moment die Alltagssorgen vergessen lassen und daran erinnern, die schönen gegenwärtigen Augenblicke zu schätzen.

    Für 2025 sind bereits viele neue Projekte von Brahim Foryou geplant, zum Beispiel ein Podcast und eine Solo-Tour. Mehr Infos gitb es auf Instagram unter @brahim.4u.

    In diesem Sinne: Keep Smiling!

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