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  • „Wir wollen eine Brücke zwischen Syrien und Deutschland sein“ – wie der Verein Syrische Gemeinde Deutschland verbindet

    Im Herzen Frankfurts stellte sich am vergangenen Samstag die neu gegründete Syrische Gemeinde Deutschland vor. Was zunächst wie eine weitere Diaspora-Initiative wirkt, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als ambitioniertes Projekt mit humanitärer, gesellschaftlicher und politischer Tragweite – initiiert von einer Generation mit zwei Heimaten.

    „Wir wollten keine Parallelstruktur, sondern eine Brücke – zwischen dem Mutterland Syrien und dem Vaterland Deutschland, zwischen Herkunft und Ankunft, zwischen Schmerz und Hoffnung“, sagt Mitgründer Dr. Abdulhamid Al Jasem. Der Psychiater lebt seit 35 Jahren in Hessen und sieht die Gründung als Antwort auf ein wachsendes Bedürfnis: der größten syrischen Diaspora Europas eine koordinierte, strukturierte Stimme zu geben.

    Seit der offiziellen Gründung im Januar engagieren sich Dutzende Akademiker*innen, Handwerker*innen, Studierende und Mediziner*innen syrischer Herkunft. Ihr Ziel: verbinden statt spalten, vermitteln statt polarisieren. „Wir machen keine Politik – wir bringen Menschen, Kulturen und Länder zusammen“, so Al Jasem.

    Dass ihr Engagement Gehör findet, zeigt sich auch politisch: In den vergangenen Monaten kam es zu mehreren Gesprächen mit dem Auswärtigen Amt – sogar mit Bundesaußenministerin Annalena Baerbock. Im Fokus: die humanitären Folgen der EU-Sanktionen gegen Syrien. Al Jasem kritisiert: „Diese Sanktionen beruhen auf überholten Grundlagen – und dürfen nicht länger stillschweigend hingenommen werden.“

    Der Psychiater und Mitgründer Dr. Abdulhamid Al Jasem spricht in der Konferenz über die Zukunft Syriens.

    Initiative „Shifa“ – eine helfende Hand für Kranke

    Besonders eindrucksvoll ist das medizinische Engagement des Vereins. Die Kampagne „Shifa“ (auf Deutsch: Heilung) mobilisierte mehr als 100 Ärzte*innen aus Deutschland, die sich ehrenamtlich für eine kostenlose medizinische Versorgung in Syrien engagierten – trotz logistischer und rechtlicher Hürden.

    Möglich wurde das Projekt durch die enge Zusammenarbeit mit der deutschen Hilfsorganisation Malteser International, mit der syrischen Organisationen in Deutschland sowie mit lokalen Strukturen des syrischen Gesundheitswesens. Trotz massiver Hürden durch Sanktionen – etwa beim Kauf von Ausrüstung oder der Überweisung von Geldern – konnten Tausende Menschen versorgt werden, vor allem in ländlichen Regionen.

    „Wir haben komplexe Operationen durchgeführt, darunter die Entfernung von Hirntumoren“, berichtet Al Jasem. Die größte Herausforderung: Stromausfälle während der Operationen. Ein Problem, das der Verein auch deutschen Politiker*innen geschildert hat – denn Sanktionen gegen den syrischen Energiesektor behindern solche lebensrettenden Einsätze massiv.

    Projekte für den Wiederaufbau

    Neben humanitärer Hilfe plant der Verein wirtschaftliche Kooperationen – etwa im Energiesektor in Zusammenarbeit mit Unternehmen wie Siemens. Sie wollen nachhaltige Investitionen möglich machen. „Wir suchen nicht nach politischer Partnerschaft zwischen Syrien und Deutschland, sondern nach Inverstoren mit Verantwortung und nach Mehrwert für beide Seiten“, erklärt Al Jasem.

    Ein besonders zukunftsweisendes Projekt widmet sich dem Thema Recht und Gerechtigkeit. Gemeinsam mit deutschen und syrischen Jurist*innen sowie Menschenrechtsorganisationen entwickelt die syrische Gemeinschaft Ideen für eine funktionierende Übergangsjustiz. Die Vision: Aus den Erfahrungen Europas lernen, um einen gerechten Weg für Aufarbeitung und Versöhnung in Syrien zu gestalten.

    Parallel dazu entsteht derzeit eine digitale Datenbank syrischer Fachkräfte in Deutschland mit dem Ziel, ihr Wissen gezielt in den Wiederaufbau Syriens einzubringen: in Medizin, Bildung, Technik und Verwaltung.

    Zum Abschluss richtet Dr. Al Jasem zwei Appelle an die Regierungen beider Länder. An Damaskus: „Wir reichen die Hand, die Möglichkeiten und alles, was wir haben. Wir haben das Wissen und die Energie, um Syrien zu helfen. Nutzt die Kräfte in Deutschland für den Wiederaufbau“.

    Und an Berlin: „Seht die Syrer*innen nicht als Opfer. Wir sind Partner. Investitiert in Syrien und investiert in Stabilität und eine gemeinsame Zukunft“.

  • „Bin ich hier noch sicher?“ – Geflüchtete aus der Ukraine über ihre Zukunft in Deutschland

    „Ich habe versucht herauszufinden, wohin ich als nächstes gehen könnte, wenn es für mich nicht mehr möglich wäre, in Deutschland zu bleiben.“ Mariia, 40 Jahre alt, beschreibt einen Moment wachsender Unsicherheit: Nach dem Wahlergebnis der AfD bei der Bundestagswahl 2025 fragt sie sich, ob Deutschland dauerhaft ein sicherer Ort für sie und ihre Familie bleiben kann. Nach Russlands Angriff auf die Ukraine floh Mariia aus Kiew, inzwischen arbeitet sie als Buchhalterin und engagiert sich ehrenamtlich. Doch was, wenn sich die politische Stimmung hier weiter verschiebt? Bin ich hier noch richtig? Und wenn nicht hier – wo dann?

    Auch die 21-jährige Anastasiia kam vor drei Jahren aus der Ukraine über Polen nach Deutschland. Sie besucht einen C1-Kurs und möchte bald studieren. Derzeit fühlt sie sich in Deutschland sicher. Doch sie spürt, wie sich das gesellschaftliche Klima verändert. Für sie ist klar, dass es längst nicht mehr nur um die Ukraine geht, sondern um die Frage, wie wehrhaft Europa gegenüber autoritären Bedrohungen bleibt. Sie wünscht sich, „dass Deutschland rechtzeitig erkennt, wie ernst die Lage ist – für andere und für sich selbst.“

     

    Wenn Ankommen nicht genügt

    Für Menschen aus der Ukraine war Deutschland zunächst ein fester Boden unter den Füßen. Doch spätestens die Wahlergebnisse haben bei vielen die Frage aufgeworfen, wie dauerhaft diese Zuflucht wirklich ist. Politische Kräfte mit russlandfreundlichen Positionen gewinnen an Einfluss. Die einst eindeutige Solidarität weicht einer wachsenden Ungewissheit.

    Für Anastasiia und Mariia ist dabei klar, was auf dem Spiel steht, für sie persönlich und auch politisch. Beide sehen in Russlands Krieg eine bewusste Strategie zur Vernichtung ukrainischer Staatlichkeit. „Es ist rechtswidrig, Menschen innerhalb eines Landes mit geschlossenen Grenzen und ohne Zugang zu Waffen einem bewaffneten, stärkeren Staat schutzlos gegenüberzustellen“, sagt Anastasiia. Dass diese Haltung zunehmend relativiert wird, erleben beide als beunruhigend. Sie spüren: Die Deutungshoheit beginnt zu kippen.

     

    Globale Brüche, persönliche Folgen

    Viele Ukrainer*innen erleben den Krieg längst nicht mehr nur als Angriff auf ihr Land, sondern als Teil eines umfassenderen geopolitischen Umbruchs. Die Wahl Trumps, das Erstarken autoritärer Kräfte in Europa – all das deute für sie auf eine Erosion demokratischer Strukturen hin. Die AfD sitzt als zweitstärkste Kraft im Bundestag, übernimmt russische Narrative, lehnt Waffenlieferungen ab – und spricht der Ukraine eine Mitschuld am Krieg zu. Als Selenskyj im Juni 2024 im Bundestag sprach, boykottierte neben dem BSW fast die gesamte AfD-Fraktion die Rede.

    Laut einer CEMAS-Erhebung von Ende 2023 gaben ungefähr 20 Prozent der Deutschen an, der Angriffskrieg Russlands sei eine unvermeidbare Reaktion auf westliche Provokationen gewesen. Weitere 19 Prozent stimmten teilweise zu. Auch die Verschwörungserzählung, Putin kämpfe gegen eine „versteckt agierende globalistische Elite“, findet Zustimmung – besonders im Osten.

    Anastasiia kritisiert diese Haltung deutlich: „Viele Deutsche glauben, Russland sei gezwungen gewesen zu reagieren. Russland wurde nicht provoziert, es reagiert auf alles mit Gewalt, was sein imperialistisches Regime bedroht: Meinungsfreiheit, Demokratie, Menschenrechte.“

    Alltag der Verunsicherung

    Entfremdung entsteht nicht nur durch politische Entscheidungen, sondern auch im Alltag – wenn russlandfreundliche Haltungen das direkte Umfeld durchdringen. Anastasiia erzählt von einem Gespräch am Arbeitsplatz: „Es wurde angezweifelt, ob es überhaupt schlecht sei, unter russischer Flagge zu leben.“ Für sie war das eine erschreckende Erkenntnis: „Menschen mit einer solchen Haltung ist vollkommen gleichgültig, ob wir als Nation weiter existieren.“

    Auch Mariia erinnert sich an eine Veranstaltung, bei der mehrere Personen versuchten, ihr einzureden, die Ukraine sei selbst schuld am Krieg – und sie sollten Putin dankbar sein, nun in Deutschland leben zu dürfen. Auch Drohungen von Menschen aus Russland habe sie bereits erlebt: „Deshalb versuche ich, Situationen zu vermeiden, in denen große Gruppen von Fremden erkennen können, dass ich Ukrainerin bin.“

    Verständnis für russische Kriegsrhetorik nimmt zu – nicht immer offen aggressiv, sondern in Form von scheinbar harmlosem Infragestellen: Hat die Ukraine nicht auch Fehler gemacht? Ist ein Gebietsverzicht nicht der Weg zum Frieden? Diese Äußerungen treffen Menschen, die genau vor diesem Denken geflohen sind – und es nun, in veränderter Form, erneut erleben. „Oft äußern die Deutschen eher propagandistische Thesen als ihre eigenen Gedanken“, vermutet Anastasiia.

     

    Zweifel an der eigenen Geschichte

    Solche Haltungen erschüttern zunehmend die Legitimität der Flucht – und lassen Zweifel an der eigenen Geschichte wachsen. Mariia spürt diese Verschiebung deutlich und bekommt zunehmend den Eindruck, „dass Deutschland keine Ukrainer haben möchte.“ Sie hofft auf Sicherheit – auch in Bezug auf ihren Aufenthaltsstatus und ihre berufliche Perspektive.

    Auch Anastasiia erlebt, wie anfängliche Solidarität in leise Skepsis kippt – mit subtilen, verletzenden Botschaften. „Vielleicht bist du ja gar nicht das Opfer, für das wir dich hielten“, formuliert sie die unausgesprochene Haltung, die ihr in Gesprächen begegnet. Mariia ergänzt: „Es ist traurig, dass die Menschen immer noch glauben, Putin sei nur eine Geisel der Umstände und nicht der eigentliche Verursacher dieses Krieges.“ Es sind keine offenen Anfeindungen – sondern kleine Verschiebungen im Ton, im Blick, im Subtext: Wenn das eigene Ankommen infrage steht, obwohl man längst da ist.

     

    Erschöpfung, Entsolidarisierung – und der Preis des Friedens

    Diese schleichende Aberkennung der eigenen Geschichte steht im Zusammenhang mit einer wachsenden Erschöpfung innerhalb der deutschen Gesellschaft – politisch, emotional und wirtschaftlich.

    Anastasiia beobachtet diese Entwicklung mit Sorge: Immer öfter höre sie pro-russische Positionen – nicht aus Überzeugung, sondern aus Überforderung, aus dem Wunsch nach einfachen Lösungen, genährt von wirtschaftlichen Sorgen und medialer Polarisierung. In dieser Atmosphäre verhallen differenzierte Argumente oft ungehört.

    Was Anastasiia und Mariia teilen, ist das Gefühl, dass die Vorstellung eines notwendigen „Friedens“ – koste es, was es wolle – an Boden gewinnt. Dass der Wunsch nach Entspannung auf deutscher Seite wächst, während auf ukrainischer Seite noch immer ein täglicher Überlebenskampf geführt wird. Gleichzeitig trifft Russland weiter gezielt Zivilist*innen – wie zuletzt bei einem tödlichen Raketenangriff auf Sumy. Für Anastasiia ist klar: „Den Krieg kann nicht beenden, wer ihn nicht begonnen hat.“

     

    Dankbarkeit ohne Illusion

    Ihr Vertrauen mag Risse bekommen haben – doch Anastasiia und Mariia sehen in Deutschland keinen feindlichen Ort. Sie betonen die Unterstützung und die Chancen, die ihnen hier ermöglicht wurden. „Ich fühle ausreichend Unterstützung seitens der Gesellschaft“, sagt Anastasiia. Auch Mariia findet klare Worte: „Ich danke Deutschland für die Unterstützung, das Verständnis und die Möglichkeit für uns und unsere Kinder, unser Leben im Glauben an eine bessere Zukunft zu leben.“ Doch diese Dankbarkeit bedeutet nicht, dass ihre Sorgen kleiner werden. Sie existiert neben ihnen – nicht als naive Hoffnung, sondern als bewusste Entscheidung, das Gute zu sehen, ohne das Schwierige auszublenden.

    Mariia fragt sich, wohin sie als Nächstes gehen könnte. Denn eine Rückkehr in die Ukraine erscheint kaum als sichere Perspektive – selbst ein möglicher Frieden würde die Bedrohung durch Russland nicht aus der Welt schaffen. Während die Ukraine zur Verhandlungsmasse wird, zeigt sich auch in Deutschland, wie schnell Schutz relativiert und Solidarität brüchig werden kann. Anastasiia erinnert daran, dass es längst nicht mehr nur um ihr Land geht. Es geht darum, ob sich eine Gesellschaft autoritären Bedrohungen entschieden entgegenstellt – oder ihnen Stück für Stück Raum gibt.

     

  • Singen für die mentale Gesundheit: Der Dopamin-Chor Hamburg

    An einem Samstagnachmittag im April trifft sich der Dopamin-Chor in Altona – ihr regulärer Proberaum im Schorsch-Center ist wegen der Osterfeiertage nicht verfügbar. Doch schnell wird deutlich: Der Ort spielt keine Rolle. Entscheidend sind die Menschen. Rund 20 Sänger:innen sind anwesend, es wird gelacht, musiziert, erzählt. Die Atmosphäre erinnert an eine Familienfeier.

    Zwischen den Proben erzählt Fidaa, die Gründerin des Chors, wie alles begann: Als psychosoziale Beraterin will sie geflüchteten Menschen nicht nur Gespräche anbieten, sondern auch Räume für Selbstwirksamkeit und Freude schaffen: „Viele Menschen, die zu uns kommen, sind einsam. Sie haben Schlimmes erlebt. Hier im Chor geht es nicht um schöne Stimmen, es geht um die Stimmung“, sagt sie. Fida ist vor 25 Jahren aus Syrien nach Deutschland gekommen.

    Rund 30 Menschen aus zwölf arabischen Ländern kommen regelmäßig im Dopamin-Chor zusammen. Die Lieder erzählen von Frieden, Liebe und Lebensfreude; politische oder religiöse Inhalte bleiben bewusst außen vor. Gesungen wird ausschließlich auf Arabisch – und doch ist die Botschaft für alle verständlich. „Musik ist eine Sprache, die jeder versteht“, so Chorleiterin Fidaa.

     

    Das Glück in der Gemeinschaft: Der Verein Dopamin Hamburg e.V.

    Der Chor ist Teil des gemeinnützigen Vereins Dopamin Hamburg e.V., der sich für psychosoziale Gesundheit, Empowerment und Teilhabe von Menschen mit Migrations- und Fluchterfahrung einsetzt. Der Name ist dabei Programm: Dopamin – das Glückshormon – steht sinnbildlich für die positive Energie, die aus Gemeinschaft, Kreativität und zwischenmenschlicher Verbindung erwächst. 

    Neben dem Chor bietet der Verein auch weitere Projekte an, um Personen mit Fluchterfahrung zu helfen. Zu den Angeboten zählen Ohr-Akupunktur und traumasensibles Yoga. Der Chor ist eines von mehreren Projekten des Vereins und ein besonders klangvolles Beispiel dafür, wie kulturelle Teilhabe gelebt wird.

     

    Stimmen aus dem Chor

    Frau Bara, wie sich die Tunesierin selbst nennt, ist seit sieben Monaten dabei. Sie habe, bevor sie Teil des Chors wurde, nicht gesungen und erst dort herausgefunden, wie sehr ihr das Singen Spaß mache und wie viel es ihr gebe. Für sie ist der Chor „wie eine Therapie“. Und zwar nicht nur für sie selbst: „Das macht Spaß für alle – wie eine Therapie für alle.“ Im Chor habe sie Freundschaften geschlossen, kulturelle Vielfalt erlebt und neue Kraft geschöpft. „Wir sind wie eine Familie“, sagt sie mit einem strahlenden Lächeln.

    Für Mohammad, einen Musiklehrer aus Syrien, ist Musik mehr als ein Hobby – sie ist sein Anker. „Wenn ich Musik mache, dann bin ich ruhig und mein Kopf ist gesund“, sagt er. Musik helfe, Traumata zu verarbeiten: „Musik ist gut für die Seele, sie macht den ganzen Stress weg.“ Auch für ihn bedeutet der Chor Gemeinschaft, Heilung und Lebensfreude. In seinen Worten spiegelt sich wider, was viele der Teilnehmenden empfinden: „Wir syrischen Menschen haben unsere Familie verloren, hier haben wir eine neue Familie dazugewonnen.“

    Der Chor tritt regelmäßig auf – beim Weltfrauentag, bei den Arabischen Kulturwochen oder dem Bergedorfer Chorfest. Damit schlagen sie eine musikalische Brücke zwischen Kulturen – mal leise, mal laut, aber immer mit Gefühl. Am Ende erklingen nicht nur Lieder, vielmehr werden Geschichten erzählt und Lebensfreude geteilt.

  • Die humanitäre Krise in Syrien spitzt sich zu

    Eine Woche nach der groß angelegten Offensive oppositioneller Rebellen gegen Assad in Aleppo berichtet die syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte von rund 600 Todesopfern, darunter etwa 100 Zivilist*innen. Darüber hinaus haben die heftigen Kämpfe und Luftangriffe mehr als 30.000 Menschen zur Flucht gezwungen. Viele von ihnen suchen nun Schutz in überfüllten Geflüchtetenlagern, wo die humanitäre Lage weiter dramatisch ist.

    Gezielte Angriffe auf Zivilist*innen

    Die Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung sind verheerend. Am Montag, den 02.12., trafen Luftangriffe der Regierung ein Geflüchtetenlager im Norden von Idlib, wobei sieben Menschen ums Leben kamen – darunter fünf Kinder und zwei Frauen. Gleichzeitig wurden Wohngebiete und Infrastruktur bombardiert. In den betroffenen Regionen suchen die Weißhelme, die freiwillige Zivilschutzorganisation, weiterhin nach Überlebenden unter den Trümmern.

    „Rund 400 Menschen waren im Lager, als die Bomben fielen“, erzählt Ahmad aus Idlib. Doch die Zerstörung beschränkt sich nicht auf Lager und Wohnhäuser. Krankenhäuser, Kirchen und weitere zivile Einrichtungen werden laut Angaben der Weißhelme ebenfalls gezielt angegriffen.

    Raed Al-Saleh, Direktor der Organisation Weißhelme, verurteilte die wiederholten Angriffe auf Helfer*innen und kritisierte die strategische Eskalation des syrischen Regimes. „Unsere Einsatzkräfte werden gezielt ins Visier genommen, während sie Zivilist*innen retten. Solche Angriffe stellen eine eklatante Verletzung der humanitären Prinzipien dar“, erklärte er.


    Überlastete humanitäre Hilfe

    Die Hilfsorganisationen stehen vor nahezu unlösbaren Herausforderungen. Unter extremen Bedingungen versuchen sie, Verletzte zu behandeln und die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln sicherzustellen. Doch die begrenzten Ressourcen reichen bei weitem nicht aus, um die wachsende Zahl der Betroffenen zu unterstützen.

    Besonders die Situation in den Flüchtlingslagern ist alarmierend. Die UN berichtet, dass fast 50.000 Menschen seit Beginn der Eskalation ihre Heimat verlassen mussten. In den Lagern fehlt es an sauberem Wasser, Nahrungsmitteln und medizinischer Versorgung. Besonders Kinder sind gefährdet: Krankheiten und Unterernährung breiten sich rapide aus.

    „Ohne schnelle internationale Unterstützung wird die Lage noch katastrophaler“, warnte Al-Saleh. Die Organisationen vor Ort stoßen an ihre Grenzen, und die fortwährenden Angriffe erschweren ihre Arbeit zusätzlich.

     

    Politische Blockaden und Appelle an die internationale Gemeinschaft

    Während einer Sitzung des UN-Sicherheitsrats betonte der Sondergesandte für Syrien, Geir Pedersen, die Dringlichkeit einer politischen Lösung. Er warnte eindringlich vor den möglichen Konsequenzen: „Ohne Deeskalation und ernsthafte Verhandlungen drohen Syrien weitere Spaltung, Zerstörung und ein noch gravierenderer humanitärer Kollaps.“

    Dennoch herrscht politische Stagnation. Ein Streit entfachte über die Teilnahme von Raed Al-Saleh an der Sitzung. Der russische UN-Botschafter Wassili Nebensja protestierte gegen seine Einladung und zeigte damit die tiefen Haltungsverschiedenheiten zwischen den internationalen Akteuren auf.

     

    Der Ruf nach globaler Verantwortung

    Zu Beginn seiner Rede an den UN-Sicherheitsrats hat Raed Al-Saleh, der Leiter der Weißhelme, die internationale Gemeinschaft erneut zu entschlossenem Handeln aufgerufen, um die fortwährenden Verbrechen gegen die syrische Zivilbevölkerung zu beenden.

    In der eindringlichen Rede vor den Vereinten Nationen erneuerte Al-Saleh seine Forderungen nach einem sofortigen Stopp der brutalen Angriffe auf Zivilist*innen und lebenswichtige Infrastruktur in Syrien. „Ich bin heute am gleichen Ort und trage die gleichen Forderungen, um Sie erneut aufzurufen, diese Verbrechen zu beenden und Frieden zu erreichen“, erklärte er, während er die anhaltende Gewalt und die zunehmend katastrophale humanitäre Lage anprangerte.

    Al-Saleh wies darauf hin, dass die Angriffe auf syrische Zivilist*innen durch das syrische Regime, Russland und grenzüberschreitende iranische Milizen in den letzten Monaten zugenommen hätten. Diese Angriffe würden gezielt Zivilist*innen sowie kritische Infrastrukturen wie Schulen, Krankenhäuser und Zeltlager für Vertriebene treffen. „Diese Angriffe zielten absichtlich auf Zivilisten und lebenswichtige Infrastruktur wie Schulen, Krankenhäuser und Zeltlager für Vertriebene“, sagte Al-Saleh und verdeutlichte damit das Ausmaß der anhaltenden Kriegsverbrechen.

    Besonders Russland geriet in den Fokus seiner Kritik. Al-Saleh forderte die russische Regierung auf, ihre Unterstützung für das syrische Regime einzustellen und so den Weg für Gerechtigkeit und Rechenschaftspflicht freizumachen. „Es muss mit allen lokalen und regionalen Parteien zusammengearbeitet werden, um sicherzustellen, dass alle Konfliktparteien das internationale humanitäre Recht einhalten“, betonte er.

    Auch erinnerte der Leiter der Weißhelme an die schrecklichen Bilder von Zivilisten, die durch diese Angriffe ihr Leben verloren. „Ich werde die Gesichter der Kinder und ihre Blicke nicht vergessen, nachdem syrische Kampfjets ihre Zelte in einem Lager bei Idlib angegriffen haben“, sagte er und sprach damit von einer der vielen Tragödien, die täglich in Syrien stattfinden.

    Ein weiterer besorgniserregender Aspekt, den Al-Saleh ansprach, war die Möglichkeit eines erneuten Einsatzes von Chemiewaffen durch das syrische Regime. „Es besteht die Möglichkeit, dass das syrische Regime wieder chemische Waffen einsetzt“, sagte er und erinnerte an die verheerenden Chemiewaffenangriffe von 2018 in Douma. Diese Bedrohung, so Al-Saleh, stelle eine zusätzliche Gefahr für die Zivilbevölkerung dar, die ohnehin schon unter extremen Bedingungen leide.

    Die humanitäre Situation in Syrien sei weiterhin dramatisch, so Al-Saleh. „Die Bedürfnisse der Menschen vor Ort steigen täglich“, so der Weißhelme-Chef, der auf die unzureichende internationale Hilfe hinwies. Nur 30 Prozent der erforderlichen humanitären Hilfe seien bisher bereitgestellt worden, was die Notlage der Bevölkerung noch verschärfe. „Ohne ein schnelles Ende der Kämpfe und ein umfassendes internationales Engagement droht die Krise außer Kontrolle zu geraten“, warnte Al-Saleh.

    Abschließend appellierte er an die internationale Gemeinschaft, endlich die Verantwortung zu übernehmen, um die unvorstellbare Gewalt gegen die syrische Zivilbevölkerung zu stoppen und für Gerechtigkeit zu sorgen. „Die internationale Gemeinschaft hat im humanitären und politischen Bereich versagt“, sagte er und fügte hinzu, dass Syrien zu einem „Testfeld für Straffreiheit“ geworden sei. Die anhaltende Untätigkeit und das Versagen, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen, ermutigten andere Akteure, wie Russland, weiterhin Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu begehen.

    Al-Saleh schloss mit der dringenden Forderung nach einer politischen Lösung, die das Ende der Gewalt und den Beginn eines friedlichen Übergangs in Syrien ermöglichen soll. „Es braucht einen klaren Zeitplan für eine politische Lösung, die den Syrern Frieden und Gerechtigkeit bringt“, so seine abschließende Botschaft.

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