Kategorie: Kultur

Kultur – was ist das eigentlich? So bunt wie der Begriff ist auch unsere Kategorie. Essen, Musik, Literatur oder Alltagserlebnisse, die kulturelle Unterschiede und vor allem auch Gemeinsamkeiten deutlich machen. All das findest du hier.

  • Julie Otsuka – Als der Kaiser ein Gott war

    Der 2002 erschienene Debütroman von Julie Otsuka behandelt ein Thema, das in Europa eher unbekannt und in ihrer amerikanischen Heimat, wenn bekannt, dann längst vergessen ist: die Internierung japanischstämmiger Menschen in den USA nach dem Angri auf Pearl Harbour.
    1942 Ende April, im fünften Kriegsmonat: Über Nacht erfuhren diese Menschen durch öentliche Bekanntmachungen – an Bäumen, Bushaltestellen, in Schaufenstern von Läden und Warenhäusern, an Telefonmasten, am Postamt – dass sie sich an Sammelpunkten einzufinden hätten für ihre Evakuierung. Jeder Mensch mit japanischen Wurzeln war der Feind an sich: die 5. Kolonne, er wird in Sippenhaft genommen und in Lager deportiert.

    Die Frau, namenlos wie ihre 2 Kinder, ein 10-jähriges Mädchen und ein siebenjähriger Knabe, packte und räumte das Haus leer.
    Ihr Mann war schon im Dezember verhaftet worden. Ab und zu erhielt sie Briefe. Am nächsten Morgen an der Sammelstelle erhielten alle eine Erkennungsmarke und wurden in Züge verfrachtet. Vorsichtig tun sich da Reminiszenzen auf …
    Ein alter langsamer Zug brachte sie nach Utah, in die Wüste. Am Zielort erwarteten sie Hunderte von Baracken aus Teerpappe, von Stacheldraht umhegt, von Wachttürmen mit Scheinwerfern aus beobachtet. Die brütende Sonne der Wüste. Aber keine Kinderbuchwüste mit Oasen, Palmen und Kamelen, es war eine staubige, trostlose Wüste.

    „Eine Mahnung: es könnte uns alle hier und jetzt und überall treen“

    Die Rückkehr nach Ende des Krieges, nach 3 Jahren und 5 Monaten: Die Frau holte den Schlüssel, den sie an einer langen silbernen Kette um den Hals trug und den sie jeden Abend berührte, als sei er ein Stück von ihr geworden, hervor. Und auch hier Reminiszenzen an andere Schlüsselgeschichten, aus der Neuzeit auf einem anderen Kontinent. „Wir waren jetzt wieder freie Menschen, konnten gehen, wohin wir wollten, keine Zäune, keine Wachen und keine Scheinwerfer mehr. Wir würden unser Leben dort leben, wo es aufgehört hatte. Keiner begrüßte uns herzlich, nicht einmal ein „Lange nicht gesehen, waren Sie verreist?“

    Und eines Tages im Dezember kam der Mann zurück. Es war nicht der, den sie kannten. Es war ein alter Mann, in Gedanken weit weg, er misstraute allen und alltägliche Kleinigkeiten heizten ihn zur Weißglut an.
    Das Ende ist ein überraschendes. Ein Clou, ein Gag wie in einem Hollywoodfilm oder eine Anklage? Eine Anklage an das amerikanische Volk und seine „Vollstrecker“? Das ganze Geschehen wird in einem fast emotionslosen Ton geschildert, wie in Aufzählungen, kurz und prägnant und an einen Schulaufsatz erinnernd. Dadurch verliert der Roman nicht an Fassungslosigkeit und Tragik, sondern gewinnt vielmehr eine überzeitliche Gültigkeit. Und vielleicht können sich manche Leser*innen mehr in das Geschehen einfühlen, als wenn es voller gefühlvoller Aufwallungen und entsprechender Dramatik beschrieben wird.

    Ein kleiner lesenswerter Roman, eine Mahnung: es könnte uns alle hier und jetzt und überall treen.
    Der Krieg zwischen den USA und Japan endete übrigens mit dem ersten Atombombenabwurf der bisherigen Geschichte.
  • Kinderbücher über Flucht und Migration

    Für Kinder, die zwischen verschiedenen Kulturen und Ländern aufwachsen, können Bücher eine große Hilfe sein, um die eigene Identität zu erkunden und sich in einer vielleicht neuen Umgebung zurechtzufinden. Bücher bieten nicht nur Unterhaltung, sondern auch die Möglichkeit, Themen anzusprechen und zu ermutigen, Zusammenhalt zu feiern. Du findest hier eine sorgfältig ausgewählte Sammlung von Kinderbüchern, die sich mit den Herausforderungen und Freuden befassen, die mit einer Migrationsgeschichte verbunden sind. Von der Suche nach Zugehörigkeit und Identität, über die Überwindung von Sprachbarrieren bis hin zur Bewältigung von Vorurteilen und kulturellen Unterschieden. Im Fokus steht immer ein zugänglicher Einblick in komplexe Themen, um Kindern zu zeigen, dass sie nicht allein sind, sowie auch in Stärke, Resilienz und Vielfalt von Gemeinschaften.

     

    Kinderbücher für Klein und Groß (jedes Alter) 

     

    Issa Watanabe: Flucht 

    „Flucht“ von Issa Watanabe ist ein Bilderbuch, welches man immer wieder von Neuem nehmen und betrachten möchte. Es ist zum Anschauen, zum Erzählen, zum Nachdenken, aber vielleicht auch zum Neu-Erzählen für die Kleinsten bis zu den Ältesten und erzählt Fluchtgeschichten, die von Mitgefühl und einem Miteinander geprägt sind.

    ISBN 978-3-446-26822-7

     

    Kinderbücher für die Kleinen (3–4 Jahre) 

     

    Biljana S. Crvenkovska: Zuhause, eine Geschichte über das Verlieren und Finden von Heimat 

    Es handelt sich hierbei um ein trauriges und gleichzeitig hoffnungsvolles Bilderbuch, welches mit den wunderschönen und eher ruhigen Bildern Zuversicht ausstrahlt. Es geht um beängstigende Unsicherheit, aber auch um Mut und Stärke.

    ISBN 978-3-7488-0231-0

     

     

     

     

    Danny Ramadan: Salma, die syrische Köchin 

    Mit wie vielen Hindernissen das Ankommen in einer fremden Gesellschaft behaftet ist, macht diese Geschichte deutlich. Das Buch ist geprägt von wunderschönen, bunten Zeichnungen, welche die sehr poetische und zu Herzen gehende Geschichte noch mehr unterstreichen.

    ISBN 978-3-944666-77-8

    Terry Farish: Josephs große Fahrt

    In diesem Kinderbuch geht es vor allem darum, wie wichtig es ist, Träume zu haben und zu versuchen, diese zu verwirklichen. Es ist ein schönes, fröhliches Vorlesebuch, welches dazu ermuntert, mit fremden Menschen in einer neuen Umgebung zielstrebig und mutig zu sein!

    ISBN-13: 978-3-944666-83-9

    Moana Funke: Pupskraut & Erbsenmus – ein Buch, das Vielfalt feiert und zum Kochen anregt

    Was macht mich eigentlich zu einer ausgegrenzten Person, obwohl ich hier geboren wurde? Und wer entscheidet das eigentlich? Moana Funke stellt in diesem Buch Diversität als ein natürliches und selbstverständliches Merkmal unserer Gesellschaft dar. Als Kind hat ihr ein solches Buch gefehlt, das sie ermuntert hat, Vielfalt zu feiern.

    ISBN 9783910-482005

    Dayan Kodua: Wenn meine Haare sprechen könnten

    Besonders wichtig ist es Dayan Kodua in diesem Kinderbuch, Kinder auf ihre innere Stärke aufmerksam zu machen. In „Wenn meine Haare sprechen könnten“ geht es um die kleine Akoma, deren großes Herz an seine Grenzen stößt, wenn ihr fremde Leute ungefragt in die Haare fassen.

    ISBN 978-3982076843

    Kinderbücher für die etwas Größeren (5–7 Jahre) 

     

    Susana Gómez Redondo: Am Tag, als Saída zu uns kam

    Auch hierbei handelt es sich um ein Kinderbuch mit großartigen Bildern und Schriften, die es sich auf jeden Fall lohnt, gemeinsam anzuschauen. Es macht deutlich, wie wichtig eine gemeinsame Sprache ist, egal ob geschrieben, gehört, gemalt oder gesungen.

    ISBN 978-3-7795-0540-2

    Margriet Ruurs, Nizar Ali Badr: Ramas Flucht 

    „Ramas Flucht“ ist ein gefühlvolles Kinderbuch, in dem die kleine Rama ihr Leben vor, während und nach der Flucht beschreibt. Es geht also um Flucht, um Ankommen und um eine Zukunft mit neuen Hoffnungen und Träumen.

    ISBN 978-3-8369-5973-5

    Robert Munsch: Von weit her

    Dieses Kinderbuch ist ein sehr wichtiges, sensibel gestaltetes Buch über das Ankommen und Aufgenommen werden, über den Umgang mit Ängsten und die Bedeutung von Freundschaft und Fürsorge. Es schafft Verständnis und Empathie für andere, auch schon bei den Kleineren unter uns.

    ISBN 978-3-949545-04-7

     

    Cool Kids & Hoa Mai Trần: Wir Kinder aus dem Flüchtlingsheim 

    „Wir Kinder aus dem Flüchtlingsheim“ erzählt in 5 Geschichten vom Leben nach der Ankunft in Deutschland und vom Alltag in Geflüchtetenunterkünften. Das Buch ist in 5 Sprachen erhältlich, in Arabisch–Deutsch, Englisch–Deutsch, Farsi-Deutsch, Kurmanci-Deutsch und Tigrinya-Deutsch.

    Die Bücher sind auf der Website des Verlags als PDF zum Download kostenlos erhältlich.

    Dayan Kodua: Odo und der Beginn einer großen Reise

    Glücklich und zufrieden lebt Odo mit ihrer Mama in einem wunderschönen Dorf in der Nähe von Accra in Ghana. Doch dann erfährt Odo, dass ihre Mama mit ihr nach Deutschland auswandern will. Das Buch thematisiert die Überwindung von Angst, vor allem wenn man sich nicht vorstellen kann, seine Freund*innen zurückzulassen.

    ISBN-13: 978-3982076836

    Claire Grace, Christopher Corr: Wir feiern! Ein Jahr, viele bunte Feste – 100 witzige und wichtige Feste aus der ganzen Welt 

    Es handelt sich hierbei um ein fantasievolles Sachbuch, in dem die Ursprünge von Festen auf der ganzen Welt spielerisch erfahrbar werden. Das Feste feiern ist auf der ganzen Welt verbreitet. In diesem Buch werden sie vorgestellt und spannend erklärt.

    ISBN 978-3-86502-448-0

    Kinderbücher für die Größeren (8–10 Jahre) 

     

    Chrystyna Nazarkewytsch: Eine Jacke, die sich nach dem Winter sehnt 

    „Eine Jacke, die nach dem Winter sehnt“ ist ein sehr einfühlsames und auch bewegendes Kinderbuch. Es handelt sich um eine Kurzgeschichte, die den Lesenden das Gefühl von Heimat vermittelt. Besonders ist, dass die Geschichte in Deutsch und Ukrainisch nebeneinander gedruckt ist. Das Buch wurde ausgezeichnet vom Wettbewerb „Aktiv für Demokratie und Toleranz“.

    ​​​​​​ISBN 978-3-9825100-0-2

    Onjali Q. Raúf: Der Junge aus der letzten Reihe

    Auch in diesem Buch geht es um Freundschaft und Missionen, die man nur zusammen erreichen kann. Es ist ein sensibles Buch, welches die Charaktere authentisch und liebevoll einfängt.

    ISBN-13: 978-3-85535-630-0

    Eduard Altarriba: Was ist Migration? 

    Viele Kinder haben von Themen wie Krieg und Flucht gehört und stellen Fragen, die nicht immer leicht zu beantworten sind. Dieses Buch schafft es, diesen Fragen nachzuspüren und erklärt unter anderem, wie Grenzen funktionieren und warum sie nicht für alle passierbar sind.

    ISBN 978-3-407-75726-5

    Die vorgestellten Kinderbücher bieten nicht nur spannende und auch emotionale Geschichten, sondern sind auch geprägt von wunderschönen und zum Teil farbenfrohen Illustrationen, die die vielfältigen Erfahrungen in den Vordergrund stellen. Diese Bücher sind nicht nur Unterhaltung, sondern können als Spiegelbild der realen Welt betrachtet werden.

     

  • Bittere Sonne: Eine Familienaufstellung

    Lilia Hassaine schaffte es mit dem Roman „Bittere Sonne“ in die Vorauswahl des renommierten Prix Goncourt.  Sie gibt einen neuen Blick frei in die Parallelgesellschaft der eingewanderten Algerier und ihr Leben in den berüchtigten Banlieus. Der Roman besteht aus mannigfaltigen Zutaten wie dem Generationenkonflikt in der ursprünglich patriarchalischen Gesellschaft, der erhofften Aufstiegschancen und der Sehnsucht nach Anerkennung, der Ambivalenz nur „geduldet“ zu sein, der Einsicht des Scheiterns.  Er ist zudem ein gut ausgeleuchtetes Psychogramm einer algerischen Familie, die eine Besonderheit aufweist: die Präsenz des zweieiigen Zwillingspaars Amir und Daniel, die durch die Entscheidung des Vaters getrennt und in unterschiedlichen Welten aufwachsen.

    Der Vater Saíd lebt in einem typischen Banlieu-Milieu mit seiner Frau Nadscha und seinen drei Töchtern Maryama, Sonia und Nour. Seinen Bruder Kader hat es durch die Heirat mit der Französin Ève in ein ganz anderes Umfeld verschlagen: in ein eigenes Haus mit Garten, mit vielen Büchern und statt wie Saíd sich in einer Fabrik stumpf und kaputt zu arbeiten, ist er für seinen Schwiegervater in dessen Schokoladenfabrik tätig.

    Auch wenn Amir und Daniel die Hauptdarsteller in diesem kleinen Familiendrama sind, werden auch die Schicksale der Töchter angerissen: Maryama, die nach Algerien verheiratet wird, Sonia, die von ihrem „importierten“ algerischen Mann nach seiner Ankunft im „Gelobten Land“ verlassen wird und Nour, die Rebellische, die sich gegen ihr Frausein mit Brustbandagen und Hunger wehrt.  Die von ihrem Vater „Kleiner Mann“ genannt wird. Die mit 18 Jahren das Haus verlässt, um frei zu sein von der Verachtung dem Vater gegenüber, der sich immer duckt, um bloß nicht aufzufallen, frei von der Unterwürfigkeit der Mutter.

    Da Ève und Kader keine Kinder bekommen können, sollen sie das Baby, das Nadscha erwartet, adoptieren. Doch aus einem Baby werden zwei, nämlich Amir und Daniel.

    Amir bleibt bei den Eltern, während Daniel seine Lebensreise bei Ève und Kader antritt. Im Laufe des Romans zeigen sich nicht nur die unterschiedlichen Außenhüllen ihres Lebens, sondern auch die unterschiedlichen Charaktere der Zwillinge. Amir ist ein introvertiertes stilles Kind, das mit vier Jahren immer noch nicht spricht, Daniel ist ein forderndes Kind, aufrecht und stolz. Und doch sind sich die beiden Cousins, die nicht wissen, dass sie Brüder sind, tief und innig und unzertrennlich wie durch eine gemeinsame Nabelschnur verbunden.

    Lilia Hassaine gelingt es in „Bittere Sonne“ meisterlich, die Schicksalsfäden zu verbinden, zu verknoten, sodass man sich bei der Lektüre eingebunden fühlt und die Empfindungswelten aller Personen nachvollziehen kann. Das Ende ist tragisch. Und doch fast erwartbar.

    Mit dem Besuch Daniels und seiner kleinen Familie in Algerien (Orte sind Sprache der Erinnerung, auch wenn man nie dort war) schließt sich der Kreis und es gelingt ihm endlich, seinen Zorn und seine Schuldgefühle loszulassen.

    So lösen sich die Knoten der Schicksalsfäden. Und so ist das Schicksal dieser zwei Familien auch ein Pars pro toto: ein Gleichnis für die Zerrissenheit von Immigranten, nicht von hier und nicht von dort. Von Woanders. Aus einem Zwischenreich.

  • Rezensionen und Leseempfehlungen

               

    Atef Abu Saif. Frühstück mit der Drohne.

    Atef Abu Saif, ein Schriftsteller und Politologe, in Gaza geboren und lebend und seit April 2019 Kultusminister des palästinensischen Staates, beschreibt in seinem Buch nicht die üblichen wortgewaltigen, überdimensionalen Kriegserlebnisse aus Zeiten, als man noch Mann gegen Mann oder Heer gegen Armee kämpfte, sondern er schreibt in Tagebuchform seine Erlebnisse nieder, seine Ängste und seine trügerischen Hoffnungen.

    Er schreibt von seiner Familie, von Freunden und Nachbarn, von zerbombten Häusern, von brennenden Äckern, Olivenbäumen und Orangenhainen, von zerfetzten Leichen, von der Auslöschung ganzer Familien (vom Baby bis zum Großvater), von der psychischen Zersetzung der Menschen. Deren Traumata die Sockel einer künftigen Gesellschaft sein werden. Der Kriegstanz äußert sich so: „Unser Alltag wird vom Rhythmus Krieg-Feuerpause-Krieg-Feuerpause vorgeben, es ist wie ein Tanz, dem Du folgen musst. Der Krieg entscheidet, wann wir ins Bett gehen, wann wir aufstehen.“

    Das ist eine zusätzliche Zermürbungstaktik zu der Angst um das eigene Leben, der Angst um die Familie und um die Freunde, zu den Kalamitäten des Alltags: wann gibt es wieder Wasser? Wann gibt es wieder Strom? Wann können wir auf den Markt, um Essen einzukaufen? Und immer wieder die Frage: warum lebe ich noch? Wann sterbe ich? Wann trifft der Tod mich?

    Da fällt mir die arabische Anekdote ein: „Der Diener eines Händlers sieht auf dem Marktplatz von Bagdad den Tod. Der Tod winkt ihm bedrohlich zu, doch der Diener flieht zu Pferde nach Samarra. Der Händler macht dem Tod darauf Vorwürfe, er habe seinen Diener verschreckt, doch der Tod antwortet, er habe ihn nicht verschrecken wollen: Er sei lediglich überrascht gewesen, den Diener in Bagdad anzutreffen, denn er habe heute Abend eine Verabredung mit ihm in Samarra.“

    Die Notizen von Atef Abu Saif sind wie ein Mosaik, ein Mosaik des Krieges und des Todes, der Angst und der Verzweiflung, aber auch der kleinen Freuden des Alltags: einen Kaffee trinken, eine Shisha rauchen, eine Melone essen.

    Und der Hoffnung: Denn die Hoffnung stirbt zuletzt. Auch wenn die Zeilen eher trocken wirken, eher wie eine Reportage, klingt in ihnen tiefe Menschlichkeit und Empathie mit: die Toten und die Opfer bleiben nicht alle namenlos. Atef Abu Saif gibt ihnen ein Stück Leben zurück durch die Nennung ihrer Namen und ihres Alters.

    Das Sirren der Drohne, fast wie ein Perpetuum mobile, wie eine mutierte Riesenmücke, ist ständige Begleitung, gesteuert von einem anonymen Menschen, der „nur seine Pflicht tut“ (steht nicht in allen religiösen Geboten: Du sollst nicht töten?), der womöglich vor Langeweile gähnt und Kaugummi kaut, der womöglich Spaß an einer sirrenden Verfolgungsjagd hat oder Frust, weil seine Frau gestern Nacht nicht mit ihm schlafen wollte oder die Bank ihm den Kredit verweigert hat. Die Drohne ist das Symbol dieses Krieges und aller zukünftigen: ein Big Brother-Szenario, gegen das der einzelne Mensch machtlos ist und dem er ausgeliefert ist.

    Ich habe dieses Buch wie eine Hymne an das Leben und an die Hoffnung gelesen. Und bewundere seine Aussage, dass „Gaza wahrscheinlich der dreckigste, überbevölkerteste Platz auf der Welt ist, beherrscht von Fundamentalisten, aber es ist der Platz, wo ich zu Hause bin. Und meine Großmutter, die ihr Zuhause in Jaffa während der Nakba verließ, sah dies immer als den größten Fehler ihres Lebens an.“
    Vielleicht müsste die Geschichte des Nahen Ostens neu geschrieben werden wie ein Palimpsest mit einer neuen Vision für die Zukunft:
    für die Menschen und für das Land.

     

     We are not numbers. Junge Stimmen aus Gaza.                           

    Eingerahmt werden diese Texte, die keine literarischen Texte im klassischen Sinne sind, sondern Zustands-Skizzen der jungen Verfasser aus Gaza, von dem Prolog und dem Epilog der Ideengeberinnen des Projektes: Pam Bailey und Alice Rothschild. Und umrahmt von den wunderbaren, expressiven Bildern der Künstlerin Malak Mattar.

    Bewegende Texte, die bedrücken, beschämen und zutiefst berühren. Wir nehmen die Träume, Hoffnungen und die Wünsche der jungen Menschen in uns auf, es lesen sich Hoffnungslosigkeit und zugleich Hoffnung in den Zeilen, tröstlich und tröstend trotz aller machtvollen Willkür Isreals, trotz aller Ausweglosigkeit, trotz aller Gleichgültigkeit des Westens. Kämpfe und Drohnenangriffe werden überschattet von dem lähmenden Alltag durch Stromkürzungen, Wassermangel, Sanktionen aller Art, Reiseverboten.

    Jenseits aller politischen Polemik ist dieses wunderbare Buch ein Schrei nach Menschlichkeit und Aufmerksamkeit. Eine Aufforderung zum Nachdenken. Besonders für die westliche privilegierte Jugend, für die es selbstverständlich ist, für ein Praktikum oder für ein Semester um den halben Globus zu reisen.

    We are not numbers sollte Pflichtlektüre sein im Schulunterricht.  Bei mir zumindest hat es einen Ehrenplatz im Regal.

     

    Weitere Leseempfehlungen:

    Bettina Marx: Gaza. Berichte aus einem Land ohne Hoffnung. zweitausendeins Verlag, ISBN-13: 978-3-86150-761-1

    Amira Hass: Gaza: Tage und Nächte in einem besetzen Land. C.H. Beck Verlag, München 2003
    ISBN 9783406502033

    Joe Sacco: Gaza (Graphic Novel). Edition Moderne, ISBN 978-3-03731-080-9

    Izzeldin Abulaish: Ich werde nicht hassen. ISBN 978-3-7844-3652-4, Verlag Langen-Müller

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

  • Eid al-Fitr in Deutschland und Afghanistan

    Eines der bedeutendsten religiösen Feste im Islam ist Eid al-Fitr, das Fest des Fastenbrechens, das das Ende des heiligen Fastenmonats Ramadan markiert. Die grundlegenden Rituale und Traditionen der muslimischen Gemeinschaft sind weltweit ähnlich, aber die Feierlichkeiten unterscheiden sich erheblich je nach kulturellem Kontext und geografischer Lage. Deutschland und Afghanistan sind interessante Beispiele für muslimische Gemeinschaften, die in verschiedenen Umgebungen leben und Eid al-Fitr auf unterschiedliche Weise zelebrieren.

    Kleidung und Geschenke

    Der Kauf neuer Kleidung für Eid al-Fitr ist in Afghanistan eine weit verbreitete Tradition. Um das Fest zu feiern, kleiden sich die Menschen in ihre besten Gewänder, und Kinder bekommen häufig neue Kleidung als Geschenk. Ebenso ist es üblich, dass Kinder von Verwandten und älteren Familienmitgliedern Geschenke oder Geld erhalten.

    Der Kauf neuer Kleidung für Eid al-Fitr ist auch in Deutschland üblich, aber nicht so weit verbreitet wie in Afghanistan. Ähnliche Traditionen werden in der muslimischen Gemeinschaft Deutschlands häufig beobachtet, aber das Ausmaß kann je nach persönlichen Vorlieben und finanziellen Möglichkeiten variieren.

    Familienbesuche und Gemeinschaftsgebet

    Während des Eid al-Fitr in Afghanistan sind Familienbesuche unerlässlich. Jüngere Familienmitglieder besuchen ältere Verwandte wie Eltern und Großeltern, um ihnen Respekt zu erweisen und die Feierlichkeiten gemeinsam zu genießen. Das gemeinsame Gebet in der Moschee ist eine religiöse Pflicht, die die Gemeinschaft zusammenbringt, um die Gebete zu verrichten und die spirituelle Bedeutung des Festes zu würdigen.

    Familienbesuche während des Eid al-Fitr werden in Deutschland häufig schwieriger, insbesondere wenn das Fest in der Woche stattfindet und die meisten Menschen keine Ferien haben. Obwohl das gemeinsame Gebet in der Moschee eine bedeutende religiöse Praxis ist, können die Feierlichkeiten eher auf die unmittelbaren Familienmitglieder beschränkt sein, da es schwieriger ist, die erweiterte Familie zu erreichen.

    Gemeinschaftsgeist und Wohltätigkeit

    Die Gemeinschaftsgefühle während Eid al-Fitr sind in Afghanistan sehr ausgeprägt. Menschen schmücken die Straßen mit Lichterketten, geben Bedürftigen Essen und teilen ihre Freude mit Freunden und Nachbarn. Die Wohltätigkeitstradition ist tief verwurzelt, und die Menschen sind bestrebt, anderen zu helfen und das Fest zu feiern.

    Der Geist der Gemeinschaft während Eid al-Fitr in Deutschland kann je nach Nachbarschaft und persönlichen Ansichten variieren. In nicht-muslimischen Umgebungen sind Feierlichkeiten oft weniger sichtbar und beschränkt auf die unmittelbare Familie, aber in muslimischen Gemeinschaften können ähnliche Praktiken der Wohltätigkeit und des Teilens von Essen beobachtet werden.

    Kulturelle Einflüsse und Duft des Festes

    Eid al-Fitr ist in Afghanistan buchstäblich in der Luft zu spüren. Der Geruch von traditionellen Gerichten erfüllt die Straßen, und die Musik von Menschen, die zusammen feiern, erfüllt die Luft. Das Fest wird von kulturellen Traditionen und Bräuchen geprägt, die eine einzigartige Atmosphäre der Freude und des Zusammenhalts schaffen.

    Eid al-Fitr mag in Deutschland weniger duftend sein, insbesondere in nicht-muslimischen Gebieten. Obwohl die muslimische Gemeinschaft ihre eigenen Traditionen pflegt und die Freude am Fest teilt, können kulturelle Unterschiede und individuelle Lebensstile dazu führen, dass die Feierlichkeiten weniger einheitlich sind.

    Eid al-Fitr wird sowohl in Afghanistan als auch in Deutschland als ein bedeutendes religiöses Fest gefeiert, jedoch mit unterschiedlichen Traditionen und Feierlichkeiten. In Afghanistan sind Gemeinschaftsgefühle und kulturelle Bindungen während der Feierlichkeiten stark ausgeprägt, während in Deutschland individuelle Lebensstile und kulturelle Vielfalt die Feierlichkeiten beeinflussen können. Eid al-Fitr bleibt jedoch eine Zeit des Gebets, der Freude und des Teilens, die die muslimische Gemeinschaft weltweit vereint, unabhängig von geografischen oder kulturellen Unterschieden.

     

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  • Weiße Rentierflechte: Herrin des Feuers

    Anna Nerkagi, Autorin des Romans „Weiße Rentierflechte“, gehört dem sibirischen Volk der Nenzen an, das auch heute noch größtenteils in der arktischen Tundra nomadisch von Rentierzucht lebt. Dieser kleine Roman ist ein Juwel unter den Schriften der Minderheiten-Autoren. Er verbindet gekonnt Einsichten in das traditionelle Leben dieses Volkes mit den Einbrüchen der Moderne, Naturverbundenheit und schamanistisches Denken. Für mich ist neben den alten Männern Petko, Wanu und Chawassa und dem jungen Aljoschka das Feuer das zentrale Element.

    Die Frauen, bis auf Petkos verstorbene Ehefrau und seine Tochter Ilne, die irgendwo weit fort in einer Ortschaft lebt, bleiben namenlos. Wie Aljoschkas Mutter und seine ihm frisch angetraute Ehefrau, die Frauen der beiden anderen Alten und die stumme Tochter Chawassas. Die Frau ist in der nenzischen Welt Dienerin des Mannes, aber auch die Hüterin des Feuers. Sie ist dem Mann untertan, sein Wort ist Gesetz, ihr Platz ist auf den Bodenbrettern, sie näht und flickt die Felle, sie bereitet den Tee und das Fleisch im Kessel zu, aber: Sie ist die Hüterin und Bewahrerin der heiligen Flamme.

    Die Geschichte beginnt mit Aljoschkas Hochzeit, die ganz ohne die üblichen Gäste (je mehr, desto besser) gefeiert wird. Seine Mutter hatte die Braut ausgesucht, sie wollte entlastet werden, Enkelkinder haben und den Sohn versorgt wissen, der sich nur widerstrebend ihren Plänen
    ergeben hat. Sein Herz gehörte noch immer seiner Jugendliebe Ilne, auf deren Rückkehr er seit sieben Jahren wartete. Aber sie war nicht einmal zur Beerdigung der Mutter erschienen. Aljoschkas romantische Liebe: die es in der nenzischen Welt mit seinen harten Lebensbedingungen nicht gab.

    Spinnen und Grashüpfer

    Erst die sehr späte Einsicht, dass sein Warten vergebens war, dass Ilne nicht zurückkommen würde, ihn vergessen hatte, ließ ihn sein Schicksal akzeptieren. Wie seine Mutter ihm gepredigt hatte: ja, du kannst die Braut zu ihrer Familie unberührt zurückbringen, aber wer wird für Feuer, Wasser, Tee und Fleisch sorgen? Wer deine Kinder zur Welt bringen, wer wird dann im Alter einsam wie ein Hund sein? Für das Leben braucht man keine Liebe.

    Aljoschka sah sich metaphorisch als Grashüpfer, die für die Nenzen das Symbol für ein parasitäres Leben sind: leben auf Kosten anderer, sie aber lieben die Spinnen, die eifrig webenden, die von ihrer Arbeit leben. Als Mann in der Blüte seiner Jahre betrat er, wie seinerzeit sein Vater dreimal hüstelnd, den Tschum. Fast demütig sein Schicksal annehmend. Man strauchelt oder kriecht, aber man muss vorwärtskommen, dem „Schlitten der Zeit“ folgen.

    Das Alltagsleben, das schamanistische Denken, aber auch die Brüche durch die neue Zeit, die moderne Welt werden in klaren Worten lebendig, ganz wunderbar und poetisch auch in den Naturbeschreibungen. Anna Nergaki tariert glasklar den Gegensatz von Gemeinschaft und individuellem Glück aus. Ein Leben, ein Überleben in einer so menschenfeindlichen Natur kann nur in der Gemeinschaft Erfüllung bringen.

    In manchen mag dieser Roman feministische Empörung hervorrufen. Denn die Nenzen-Frau ist nicht gleichberechtigt, sieht den Mann als Gebieter und sich doch als mächtig, denn ohne sie wäre der Mann nichts. Sie sieht sich nicht als Opfer, sondern als die andere Hälfte, (vielleicht die bessere?) des Mannes. Denn sie huldigt durch das Feuer dem Altar des Lebens.

    Egal, zu welcher Ideologie die Leser*innen tendieren: Es ist ergreifend, in diese fremde Welt einzutauchen, mit ihrer zarten und doch realistischen Poetik. Ein Geschenk aus einer fremden, fernen, eiskalten und doch „feurigen“ Welt.

    Hilf- und lehrreich der Anhang mit den spezifisch nenzischen Begriffen.

     

    „Weiße Rentierflechte“ Unionsverlag ISBN 978-3-293-20999-2

  • HAJUSOM – Ein Theater der Zukunft 

    Alles beginnt mit einem Performance-Workshop am Hamburger Stadtrand. Dort, in einer sogenannten Erstversorgungseinrichtung für minderjährige, unbegleitete Geflüchtete, stehen im Jahre 1999 Ella Huck und Dorothea Reinicke vor dreißig jungen Menschen, um mit ihnen einen Theaterworkshop durchzuführen. Aus drei Monaten ist ein Vierteljahrhundert geworden.

    „Wir hatten total Feuer gefangen“

    Der Name HAJUSOM erinnert an die ersten drei Jugendlichen, die mit HAJUSOM und vielen anderen Geflüchteten auf der Bühne standen oder in der ersten Gruppe aktiv waren: HA für Hatice aus Kurdistan, JUS für Jusef aus Afghanistan und OM für Omid aus dem Iran.

    „Die Jugendlichen wollten, dass die Arbeit weitergeht und auch wir hatten total Feuer gefangen – die gemeinsame Arbeit machte Spaß und hat auch unseren Wunsch, uns als Performancekünstlerinnen politisch und sozial zu engagieren, voll entsprochen“, erklärt Ella Huck. Ella Huck ist Mitbegründerin von HAJUSOM und bringt als gelernte Tischlerin und Schauspielerin bei Jacques Lecoq an der Ecole internationale de Thèâtre in Paris den handwerklichen Griff für die Kunst und Performance.

    Ella Huck und ihrer Kollegin Dorothea Reinicke war damals klar: Sie wollen mit den jungen Erwachsenen Kunst schaffen. Gemeinsam mit den Jugendlichen stellen sie einen ersten Antrag auf Kulturförderung bei der Stadt Hamburg. Das Ziel: Eine professionelle Produktion ermöglichen. Die erste Premiere fand in einer kleinen Konzerthalle in St. Pauli statt, einem ehemaligen Schlachthof.

    „So etwas gab es zu dieser Zeit noch nicht und viele Zuschauer*innen waren glücklich, sich durch das Geschehene repräsentiert und gesehen zu fühlen“, erzählt Ella Huck. Für die Jugendlichen, die ihre Performance selbst kreiert, Texte geschrieben und ihre Tanzbewegungen erfunden hatten, war das ein Moment voller Stolz und Freude.

    „Kunst kann Schutzräume schaffen“

    Orte wie HAJUSOM braucht es immer mehr. Gerade geflüchtete Menschen sind oftmals vulnerabler. Menschen, die mit der Geschwindigkeit der Gesellschaft nicht mitkommen, brauchen geschützte Räume, um sich entfalten zu können.

    „Kunst kann Schutzräume schaffen. Räume, um zu sich emanzipieren und Selbstvertrauen zu entwickeln. Um sich wieder sicherer zu fühlen. Um selbst andere zu unterstützen und ein selbstbewusster Teil der Gesellschaft zu werden. Auch geflüchtete Menschen haben ein Mitspracherecht und dürfen Gesellschaft mitgestalten und verändern“, pointiert Ella Huck. „HAJUSOM ist eine Welt, in der Menschen, die etwas verloren haben, es wiederfinden können.“

    Denn HAJUSOM wirkt wie der Entwurf einer selbstgewählten Familie, Menschen aus der ganzen Welt, die in Deutschland als Minderheit gelten. Dabei wirft das Familienkonstrukt alle zuvor geltenden Regeln über Bord und schafft Störung und Verzerrung in bekannten Konstrukten. Das entspricht auch den Produktionen von HAJUSOM, denn selten gibt es eine durchgängige Story. Viel eher folgt die Dramaturgie einer Aneinanderreihung von Geschichten und Schicksalen als ein bewusst konstruierter Fantasieraum voller Lügen und Wahrheiten.

    „Wir respektieren und schätzen die Lebenserfahrungen aller Menschen“

    Zu Gründungszeiten bestand HAJUSOM vor allem aus Kriegsgeflüchteten und ehemaligen Kindersoldat*innen. Die Jugendlichen sind ohne Eltern nach Hamburg gekommen und mussten um ihren Aufenthalt kämpfen. „Oft war während einer Produktion nicht das gemeinsame Kunstschaffen im Fokus, sondern die Organisation des Alltags“, verrät Ella Huck.

    Sie führt aus: „Durch die Performance-Theater versuchen wir einen künstlerischen Ausdruck für unsere Anliegen zu finden, auch durch neue experimentelle Wege. Um die Ideen der anderen zu verstehen, braucht es Zeit und Gespräche“. Vertrauen ist die Basis. „Wir respektieren und schätzen die Lebenserfahrungen und -realitäten aller Menschen.“

    Mit viel Herz und einem analytischen Blick auf die gesellschaftlichen Zusammenhänge und politischen Zustände, leistet HAJUSOM einen Beitrag zu aktuellen Diskursen, in denen es um die Positionierung von Theater und Kunst in der Gesellschaft geht. „Wir versuchen in den aktuellen gesellschaftlichen Diskurs von Migrationspolitik eine wichtige Perspektive einzubringen, nämlich von den Menschen selbst, über die so viel gesprochen wird, aber viel zu selten mit ihnen“, betont Ella Huck.

    Dafür hat sich HAJUSOM immer wieder mit anderen transnationalen und lokalen Künstler*innen verbunden. HAJUSOM lebt vom Austausch, gegenseitiger Bereicherung und davon, den Horizont immer weiter zu öffnen.

    „Es ging uns gleichzeitig um den ganzen Menschen“

    Dabei stellt HAJUSOM den Performer*innen zeitgenössische Kunstformen und Materialien zur Verfügung, aus denen sie autonom etwas bauen können. Das Ziel ist, eine Performance-Produktion zu schaffen, die öffentliche Räume neu gestaltet und Platz im Diskurs einnimmt. HAJUSOM ist ein Ensemble, das eine eigene künstlerische Position in den Kontext von Performance-Kunst einbringt. Mittlerweile sind mehr als 25 Produktionen mit dem Koproduktionspartner Kampnagel entstanden.

    „Bisher war das wichtigste Ziel für uns als künstlerisches Team des Ensembles, für jede einzelne Person, die zu HAJUSOM kommt, Zeit und Raum zu haben. Die Brücke war immer die künstlerische Arbeit, aber es ging uns gleichzeitig um den ganzen Menschen“, sagt Ella Huck. Die politische Arbeit für Geflüchtete und bei Bedarf juristischer Beistand sind für HAJUSOM bis heute allgegenwärtig und prägen die Arbeit weiterhin.

    „Es ist eine neue Generation von HAJUSOM entstanden“

    Heute ist HAJUSOM ein anerkannter Ort für transnationale Performance-Kunst. Mehr als hundert Menschen unterschiedlicher Herkunft und Geschichte haben diesen Ort geformt. Nach rund 25 Jahren hat sich auch intern bei HAJUSOM einiges getan.

    „Es ist eine neue Generation von HAJUSOM entstanden. Ehemalige Performer*innen haben heute ihre Familien und geben das Gefühl von HAJUSOM weiter. Viele ehemalige Mitglieder, die wir beispielsweise als 14-Jährige kennengelernt haben, besuchen uns heute in den Proben und bringen Geflüchtete mit, die ihre Geschichte erzählen möchten, unsicher sind oder irgendeine Form des Ballast mit sich tragen“, erzählt Ella Huck. Dadurch entsteht ein Kosmos mit Menschen, die ähnliche Erfahrungen teilen und sich auf Basis dessen auf einer ganz besonderen Ebene treffen.

    Für HAJUSOM wünscht sich Ella Huck vor allem eines: Dass die nächste Generation den Geist von HAJUSOM erhält und weiter in die Welt trägt. Ihr ist bewusst, dass sie als weiße cis-Frau jahrelang eine durchaus machtvolle Position innehatte. Doch manchmal braucht es genau das: Verbündete, die die Steine aus dem Weg räumen, damit in Zukunft neue Generationen die Plätze einnehmen können und die Chance bekommen, alt bewährte Strukturen aufzubrechen.

    • HAJUSOM steht für HAtice, JUSef und Omid
    • Ella Huck hält die Auszeichnung THE POWER OF THE ARTS 2019 in den Händen. Die Jury urteilt: „HAJUSOM wagt den Schritt in die Zukunft, bringt unterschiedliche Bevölkerungsgruppen neu zusammen, macht dabei nicht Diskriminierung sichtbar, sondern hält vor allem der Gesamtgesellschaft den Spiegel vor.“

    Mehr zum Thema Räume – in Kultur, in der Stadt und sonst im Leben – findest du in unserer Printausgabe #10

  • Interkulturellle Öffnung im TV Fischbek

    Die Vereinslandschaft in Deutschland ist ein Ort der gelebten Demokratie und gilt dadurch auch als Stütze und Spiegel unserer Gesellschaft. Viele Sportvereine haben es sich deshalb zur Aufgabe gemacht, den migrantischen Bevölkerungsanteil in unserem Land auch in der Vereinslandschaft abzubilden. „Interkulturelle Öffnung“ lautet das Geheimrezept. Dabei reicht es allerdings nicht nur, die Türen für Menschen mit Migrations- und Fluchtgeschichte zu öffnen. Vielmehr geht es darum, eine Umgebung zu schaffen, in der sich migrantische Menschen wohl und sicher fühlen. Es geht darum, Menschen mit diverser Herkunft in Entscheidungsprozesse mit einzubeziehen und sie nicht mit dem Etikett „Integration erfolgreich“ abzustempeln.

    Integration sollte in diesem Kontext ein zweispuriges Konstrukt darstellen, das alle Beteiligten gleichermaßen bereichert. Doch dafür braucht es mehr als nur gute Vorsätze, um den Punkt von der To-do-Liste zu streichen. Bei interkultureller Öffnung bedarf es einer Menge Selbstreflexion und des kontinuierlichen Anspruchs, einen internen Entwicklungsprozess voranzutreiben.

    Der TV Fischbek gilt, was Integrationsarbeit anbelangt, als Urgestein und agiert seit 2001 als Stützpunktverein des Bundesprogramms „Integration und Sport“. Ich habe mit Angelika Czaplinski, der Integrationsbeauftragten des Traditionsvereins, gesprochen, um zu erfahren, wie interkulturelle Öffnung funktioniert, welche Maßnahmen bereits ergriffen werden und welche Stellen ausbaufähig sind.

     

    „Interkulturelle Öffnung hat einen sehr hohen Stellenwert bei uns.“

     

    Wie lange bist du schon im TV Fischbek beschäftigt und was ist deine Hauptaufgabe? 

    Ich bin schon als Kind durch das Kinderturnen im TV Fischbek eingetreten, habe Handball gespielt und war lange im Wettkampfsport als Trainerin aktiv. Ich bin dann irgendwann ehrenamtliche Jugendleiterin geworden und mittlerweile bin ich Übungsleiterin und Integrationsbeauftragte. Im Jahr 2001 haben mich zwei Mitarbeiter besucht und mir das Bundesprogramm „Integration durch Sport“, das vom Hamburger Sportbund (HSB) initiiert wurde, vorgestellt. Seit 2002 sind wir Stützpunktverein des Programms und versuchen, integrative Gruppen zu gründen, die über den Sport hinausgehen.

     

    Welchen Stellenwert hat die interkulturelle Öffnung für den TV Fischbek? 

    Interkulturelle Öffnung hat einen sehr hohen Stellenwert bei uns. Nicht nur intern im Verein, sondern auch im Stadtteil werden wir für unseren Einsatz sehr geschätzt. Wir haben gemerkt, wie gut die interkulturelle Öffnung bei uns funktioniert, als 2015 viele Geflüchtete zu uns gekommen sind. Wir haben dann mit den Menschen Sport gemacht und sie bei organisatorischen Aufgaben unterstützt. Somit haben wir den ersten Grundstein gesetzt, die Geflüchteten in unsere Gemeinschaft aufzunehmen.

     

    „Einmal im Monat gibt es auch ein Freundschaftsspiel“

     

    Gibt es weitere Maßnahmen, die der TV Fischbek unternimmt, um sich interkulturell zu öffnen? 

    Wir haben das Programm „Integration durch Sport und Sprechen“ und dabei gibt es mehrere Bausteine. Einmal eine wöchentliche Gruppe, und zwar „mit Büchern und Bewegung die Stadt entdecken“. Dabei versuchen wir, mit migrantischen Kindern aus der Nachbarschaft, viel draußen zu sein und die Stadt zu entdecken. Bei schlechtem Wetter sind wir in einem Bewegungsraum, wo wir gemeinsam lesen, Musik hören und Spiele spielen.

    Mit diesem Projekt haben wir uns auch für den Nachbarschaftspreis beworben. Einmal im Monat gibt es auch ein Freundschaftsspiel, das als Familiensport konzipiert ist, bei dem wir mit einem gemeinsamen Frühstück starten. Dabei entsteht ein munterer Austausch zum gesunden und günstigen Kochen und Einkaufen. Zusätzlich organisieren wir auch interkulturelle Familienfreizeiten über ein verlängertes Wochenende oder in den Ferien.

     

    Unterstützt ihr mit euren Maßnahmen eher größere Gruppen oder auch einzelne Menschen? 

    Wir unterstützen auch jeden Einzelnen. Letztes Jahr hatten wir zum Beispiel ein Programm namens „sei dabei“, bei dem wir migrantischen Menschen ein dreimonatiges Praktikum angeboten haben. Nach erfolgreichem Abschluss haben die Praktikanten eine Bescheinigung bekommen und das Angebot, bei uns im Verein mit einem kleinen Job tätig zu sein. Ursprünglich haben wir das gemacht, um Menschen mit Migrations- und Fluchtgeschichte als Übungsleiter zu gewinnen, allerdings konnten viele dadurch Selbstbewusstsein aufbauen und haben dadurch oftmals einen anderen Job gefunden.

     

    Wie viele Menschen mit Migrations- und Fluchtgeschichte sind derzeit im Ehrenamt oder als Übungsleiter*innen tätig? 

    Viele, und zwar nicht nur als Übungsleiter. Mittlerweile konnten wir nämlich auch migrantische Menschen als Abteilungsleiter für unseren Verein gewinnen. Mir fällt auch direkt eine migrantische Trainerin ein, die über das Mentoren- und Mentee-Programm von „Integration durch Sport“ Abteilungsleiterin geworden ist.

    „Seit dem Programm sind wir sensibler geworden.“

     

    Wie sieht es in eurer Führungsebene aus?

    In unserer Führungsebene im Vorstand selbst gibt es derzeit noch niemanden mit Migrations- oder Fluchtgeschichte. Das liegt daran, dass wir einfach noch niemanden hatten, den wir ganz lange begleitet haben. Ich arbeite derzeit daran, eine migrantische Frau und ein längeres Vereinsmitglied als meine Nachfolgerin aufzustellen. Allerdings ist das auch ein Prozess, sie mit den Vereinsstrukturen bekannt zu machen. Ich habe mittlerweile ein großes Netzwerk aufgebaut, was einfach Zeit braucht. Mein Ziel ist, dass die nächste Integrationsbeauftragte mit Migrations- oder Fluchtgeschichte eng mit dem Vorstand zusammenarbeitet.

     

    Was hat sich im TV Fischbek durch das Bundesprogramm „Integration durch Sport“ verändert? 

    Wir sind viel mehr aus unserer Komfortzone herausgekommen. Wir hatten auch früher schon starke Abteilungen und einen guten Zusammenhalt, aber ich glaube, wir haben es vielen Leuten von außen sehr schwer gemacht, zu uns zu kommen. Seit dem Programm sind wir sensibler geworden. Wir mussten auch intern einiges tun und konnten uns langsam immer mehr und erfolgreicher öffnen.

    Da wir als Verein schließlich eine soziale Verpflichtung haben, uns interkulturell zu öffnen, sind wir mit voller Kraft dabei, immer mehr dafür zu tun. Ziel ist es, den migrantischen Bevölkerungsanteil prozentual auch bei uns im Verein abzubilden. Wichtig zu verstehen ist, dass Integration keine Aufgabe einer Abteilung ist, sondern eine Querschnittsaufgabe des gesamten Vereins. Mittlerweile können wir auf unsere Erfolge sehr stolz sein.

    „Persönlicher Kontakt ist das A und O.“

     

    Hast du Tipps für andere Vereine, wie man eine ganzheitliche interkulturelle Öffnung schafft?

    Vereine müssen bei dem Vorhaben ganz klar auf Kontinuität setzen. Das klappt nicht von Anfang an, es ist ganz klar ein Prozess. Übungsleiter müssen auf jeden Fall auch viel Geduld und Toleranz mitbringen. Es kommt oft vor, dass Geflüchtete andere Prioritäten entwickeln, was man respektieren muss. Wir hatten eine migrantische Läufer-Gruppe, die über das Laufen den Stadtteil erobert hat. Das Deutsch der Läufer ist immer besser geworden und irgendwann konnten sie sich einen Job suchen.

    Es ist auch wichtig zu verstehen, dass der Sport, der ihnen geholfen hat, nicht zwangsläufig immer an erster Stelle steht. Wenn man mit Menschen mit Fluchtgeschichte arbeitet, braucht man eine gewisse Hartnäckigkeit Behörden, Verbänden und Unterkünften gegenüber. Persönlicher Kontakt ist dabei das A und O.

     

     

    Übergeordnetes Ziel der kulturellen Öffnung ist es, migrantische Menschen auch in der Führungsebene zu positionieren, was dem TV Fischbek bislang nicht gelungen ist. Dennoch lässt sich an den vielen Maßnahmen erkennen, dass der Traditionsverein einen Wandel durchlebt und interkulturelle Öffnung und Diversität als interne Herzensaufgabe begreift. Wenn du mehr darüber erfahren möchtest und dich das Thema Sportvereine und Diversität interessiert, abonniere gerne unseren Newsletter „Hamburg in Bewegung“.

  • Der verlorene Vater

    Die Handlung des Romans „Der verlorene Vater“ spielt in New York und auf Haiti, einer krisengeschüttelten Insel in der Karibik. Armut und Naturkatastrophen und wechselnde autokratische, korrupte Regierungen bestimmen den Alltag der Menschen. Dabei war die Insel, damals noch die französische Kolonie Saint-Domingue, durch den Sklavenaufstand Ende des 18. Jahrhunderts, ein Hoffnungsschimmer: Er führte zur Gründung des ersten freien Staates in Lateinamerika. Damals kämpfte man gegen die fremden Kolonialisten, alle späteren Kämpfe waren gegen die eigenen Bürger.

    Die diktatorischen Zeiten des „Papa Doc“ Francois Duvalier und seines Sohnes Jean Claude, genannt „Baby Doc“ in den 1950ern waren ideale Voraussetzungen für die gefürchteten Milizen und Todesschwadronen der Tontons Macoutes, die den Vodoo-Glauben der Bevölkerung in ihr Machtgefüge einbauten. Schon ihr Aussehen und Auftreten war martialisch.

    Der liebevolle Vater, der Folterer

    Die haitianische Autorin Edwige Danticat kombiniert geschickt das Schock-Erlebnis der Icherzählerin Ka, dass ihr Vater ein Folterer war, mit den Erinnerungen anderer Menschen aus der haitianischen Diaspora in New York, wie dem Nachtredner, der Brautkleidschneiderin und der Begräbnissängerin. Anfangs jedoch sind diese erzählerischen Stränge befremdend, weil sie sich erst später zu einem erzählerischen Muster zusammenfinden.

    Die Geschichte von Kas Vater zeigt auf, dass ein Mensch aus vielen Facetten bestehen, viele Gesichter haben kann. Er war ein liebevoller Vater, der sie regelmäßig mit in die ägyptische Abteilung des Brooklyn Museums nahm. Er las ihr oft aus dem Totenbuch vor, nannte sie Ka, nach dem Begleiter des Körpers im Dies- und Jenseits. Ka war Bildhauerin, ihr immer gleiches Modell: der Vater.

    Sie hatte sich zwar immer gewundert, wieso ihre Eltern keine Freunde hatten, nie Besuch bekamen, nie von Haiti erzählten und die Mutter übermäßig fromm war. Aber sie lebten ein ruhiges Leben, er hatte einen Friseur-, sie einen Kosmetiksalon. Seine Narbe, die sich über die rechte Wange bis zum Mundwinkel zog, sei ein Relikt aus seiner Zeit als Gefangener.

    Aber er war kein Gefangener, sondern ein Gefängnisaufseher, ein Folterer. Doch niemand würde ihn mit seinem alten Ich in Verbindung bringen können: Er wog 40 kg weniger als der schwammig-fette Mann, der er einst gewesen, mit seinem jetzigen Namen, einem erdachten Geburtsort hätte ihn niemand mit seinem alten Ich in Verbindung gebracht. Für die Tochter brach eine Welt zusammen. Wie geht man mit solchem Wissen um? Erlischt die Liebe zu den Eltern von heute auf morgen? Konnte sie jemals wieder Vertrauen fassen? Jemals wieder arbeiten? Denn nun hatte sie kein Motiv, kein Modell mehr.

    Aber auch die eingeweihte Mutter – wie hatte sie mit einem solchen Wissen leben können, eine gute Mutter sein können? Hoffnung auf Erlösung durch den Gott der Kirche?

    Was macht Macht mit dem Menschen?

    Das Buch bietet neben Einblicken in die Gesellschaft und Landschaft der Insel vor allem auch Einblicke in das Menschsein. Ist ein Mensch gut oder nur etwas weniger schlecht? Schlummert in jedem die Möglichkeit des Bösen? Wie wird man zum Folterer? Sadistischer Genuss? Lockt die Gelegenheit, die eigenen Ohnmachtsgefühle gegen die Uniform der Macht zu tauschen? Die kleinen biographischen Kapitel ergeben zum Schluss einen Zusammenhang. Der Kreis schließt sich.

    Vergebung? Reue? Sühne? Offene Fragen dieses einprägsamen, fast lakonisch geschriebenen kleinen Romans, der abermals aufzeigt, was Macht bewirken kann. Und Ohnmacht. Ein frommer Wunsch: Auf dass wir nie mächtig und auch nie ohnmächtig sein werden. Denn wer wären wir, wenn …

    „Kein Mensch besitzt so viel Festigkeit, dass man ihm die absolute Macht zubilligen könnte“ – Albert Camus.

  • HAMILTON: Wahrheit und Utopie zugleich

    Ich habe nie ernsthaft darüber nachgedacht, ein Musical zu besuchen, bis ich 36 Jahre alt war. Facebook zeigte mir in der Timeline immer wieder den Trailer des Musicals HAMILTON. Ich hatte zwar keine Ahnung, worum es in diesem Musical ging, aber rappende BIPoC auf der Bühne zu sehen, weckte mein Interesse.

    Jetzt weiß ich, wer Alexander Hamilton ist, denn ich habe mir das Musical mittlerweile zweimal angesehen. Er ist einer der sieben Gründerväter der Vereinigten Staaten von Amerika und war unter George Washington der erste Finanzminister. Sein Porträt ist auf der 10-Dollar-Banknote zu sehen. Außerdem verfasste Hamilton maßgeblich die Federalists Papers, um die junge Verfassung der Vereinigten Staaten zu verteidigen.

    Dass Alexander Hamilton bis zur Staatsspitze aufsteigen sollte, hätte er in seiner Kindheit wahrscheinlich selbst nicht gedacht: Aaron Burr, unter Thomas Jefferson der dritte Vizepräsident der Vereinigten Staaten, einstiger Freund und späterer Mörder Hamiltons, singt im Musical über ihn:

    Wie wird so ’n Bastardbalg, der bloß aus dem Schoß einer Dirne kroch

    Aus ’nem gottverdammten verlor’nen Loch in der Karibik

    Ohne Titel, ohne Mittel, ohne Werte

    Am Ende doch ein Held und ein Gelehrter?

    Alexander Hamilton war ein uneheliches Kind und wuchs auf der Karibikinsel Nevis in ärmlichen Verhältnissen auf. Mit 14 Jahren ist er mithilfe eines Stipendiums in die heutigen Vereinigten Staaten von Amerika eingewandert. Er studierte in Princeton, machte Karriere als Kriegsherr, anschließend zog es ihn in die Politik. Ökonomisch stieg Hamilton ebenfalls auf, indem er Elizabeth Schuyler heiratete, die Tochter eines wohlhabenden Generals.

    Hamiltons verarmte Kindheit motivierte ihn, zeit seines Lebens, einen gesellschaftlichen Aufstieg hinzulegen. So rappt er im Musical:

    Mann, ich hab‘ nur diesen einen Schuss

    Bin wie mein Land voll am Starten

    Bin jung, scharf und geladen

    Und ich hab‘ nur diesen einen Schuss

    Hamiltons Einstellung ist typisch für Einwanderer*innen, die häufig hoch motiviert sind. Ein prominentes Beispiel ist der damalige US-Präsidenten Barack Obama, dessen Vater mithilfe eines Stipendiums als erster afrikanischer Student in den USA studiert hat, erst an der University of Hawaiʻi und dann an der Harvard University. Barack Obamas Eltern trennten sich und er wuchs bei seiner Mutter auf. Barack Obama lebte mit seiner Mutter und ihrem neuen Partner für einige Jahre in Indonesien, kehrte anschließend nach Hawaii zurück und studierte in den USA. Trotz seines Erfolgs blieb er von Rassismus nicht verschont.

    Rassismus spielt im Musical auch eine wichtige Rolle, denn Hamilton gilt als Gegner der Sklaverei und so wird er auch präsentiert. Sein Ruf ist jedoch umstritten, denn Hamiltons Ehefrau, Elizabeth Schuyler, war Mitglied einer prominenten New Yorker Sklavenhalterfamilie. Diese historische Kontroverse kommt im Musical überhaupt nicht vor.

    Der amerikanische Unabhängigkeitskrieg gegen die damalige britische Kolonialmacht und die Verabschiedung der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika sind die zentralen politischen Fäden im Stück. Das klingt ziemlich trocken, aber die Umsetzung ist erfrischend unterhaltsam.

    Leere Hörsäle gehörten der Vergangenheit an, wenn HAMILTON Einzug in das Politikwissenschaftsstudium fände. Das ist und bleibt wahrscheinlich in den meisten Fällen eine Utopie, so wie die steile Karriere von Hamilton für die meisten Einwanderer*innen eine Utopie bleibt, denn wirtschaftlicher Aufstieg war und ist immer noch sehr stark von Bildung, Wohlstand und der Einwanderungsgeschichte abhängig.

    So verhält es sich auch mit dem Besuch eines Musicals, denn Menschen mit niedrigem Einkommen fehlt häufig das Geld und der kulturelle Bezug zu Musicals. Es ist kein Zufall, dass ich mit 36 Jahren zum ersten Mal ein Musical besucht habe. Doch nicht Facebook sollte mich durch den Algorithmus auf ein Musical aufmerksam machen, sondern vor allem Schulen sind in der Verantwortung, benachteiligten Personengruppen diese Perspektive zu eröffnen.

    Nicht nur vor der Bühne, sondern auch auf der Bühne sind BIPoC-Darsteller*innen häufig unterrepräsentiert oder spielen klischeehafte Rollen. Nicht im Falle von HAMILTON. Fast alle Rollen wurden mit BIPoC besetzt, obwohl die historischen Personen vor allem Weiß waren. HAMILTON ist eine Art Selbstermächtigung, denn weiße Menschen haben zwar die Historie geschrieben, aber nicht-weiße Menschen verkörpern diese nun auf der Bühne.

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