Kategorie: Kultur

Kultur – was ist das eigentlich? So bunt wie der Begriff ist auch unsere Kategorie. Essen, Musik, Literatur oder Alltagserlebnisse, die kulturelle Unterschiede und vor allem auch Gemeinsamkeiten deutlich machen. All das findest du hier.

  • Ein Stück Heimat in der Ferne: Das migrantische Leben in Dortmund

    Geschäftiges Treiben, das von unterschiedlichen Düften, lebhaften Gesprächen und bunten Märkten geprägt ist. Eine Atmosphäre, die an die belebten Straßen von Damaskus, Marrakesch und Beirut erinnert. Dortmund ist ein faszinierendes Beispiel für multikulturelles Leben in Deutschland. Besonders in der Nordstadt, wo sich Münsterstraße und Mallinckordtstraße kreuzen, bei Vielen als die „Straße der Araber“ bekannt.

    Traditionelles Brot aus dem Herzen Kurdistans

    Schon am frühen Morgen strömt der verführerische Duft von frisch gebackenem Fladenbrot durch die Straßen und zieht Passanten an. Die Bäckerei „Ahmad“ ist ein echter Schatz für die, die traditionelles Brothandwerk suchen. Hier wird das Brot frisch und traditionell in einem Lehmofen gebacken. Die Kunden können nicht nur beobachten, wie die Teiglinge kunstvoll geformt werden, sondern auch die einzigartige Atmosphäre genießen, die die kurdische Gastfreundschaft widerspiegelt. Die Vielfalt an Brotsorten macht die Bäckerei „Ahmad“ zu einem unverzichtbaren Teil des kulinarischen Lebens der Stadt.

    Im nahegelegenen Lebensmittelladen „Khair al-Sham“ tummeln sich Menschen, um frisches Brot, Gemüse und Gewürze zu kaufen. Die Aromen von Kardamom und Minze wecken Erinnerungen an die Heimatländer der arabischen Kund*innen und Verkäufer*innen und schaffen ein belebtes Ambiente, das an die Märkte im Nahen Osten erinnert.

    Marokkanische Begegnungsstätten

    Ein beliebter Treffpunkt für die marokkanische Gemeinschaft ist das Café „Al Riff“. Hier wird traditionell zubereiteter Minztee mit süßem marokkanischem Gebäck serviert. Für Osman, einen 21-jährigen Wirtschaftsinformatik-Studenten aus Marokko, ist der Besuch des Cafés ein Rückzugsort: „Hier vergesse ich den Stress des Studiums und fühle mich, als wäre ich zurück in den Straßen meiner Heimat.“

    Im Café „Al-Firdous“, einem weiteren beliebten Ort, tauschen junge Menschen Geschichten über ihr Leben in Deutschland aus und feiern ihre Traditionen. Reda, ein 22-jähriger BWL-Student, beschreibt die Cafés als „Stücke von Marokko in Dortmund“, wo man sich mit anderen verbindet.

    Ägyptische Köstlichkeiten in Dortmund

    Neben syrischen und marokkanischen Einflüssen hat auch die ägyptische Küche in Dortmund ihren Platz gefunden. Im Restaurant „Beim Ägypter“ können Gäste das traditionelle Gericht Koshari genießen, eine herzhaft-pikante Mischung aus Linsen, Reis, Nudeln und Tomatensauce. Dieses Gericht bringt die Aromen Ägyptens nach Dortmund und ergänzt die kulinarische Vielfalt der Stadt.

    Kulinarische Höhepunkte: Ein Geschmack von Heimat

    Die arabische Küche ist ein zentraler Bestandteil des Lebens in Dortmunds Nordstadt. Im Restaurant „Golden Grill“ können Gäste ein herzhaftes Frühstück genießen, das Gerichte wie Falafel, Foul, Hummus und Fatteh umfasst – alles Speisen, die viele Syrer*innen und Libanes*innen an ihre Kindheit erinnern. Die Restaurants in diesem Viertel bieten nicht nur kulinarische Erlebnisse, sondern auch einen Ort, an dem sich die Besucher*innen ihrer Heimat nahe fühlen können.

    Darüber hinaus haben die Restaurants „Shami Chicken“ und „Bethlehem“ in der Stadt an Popularität gewonnen. Besonders die Shawarma der beiden Etablissements zieht täglich Gäste aus verschiedenen Kulturen an. Im Geschäft „Der König“ finden sich auch orientalische Süßwaren wie Kunafa, Galaktoboureko und Baklava, die die Atmosphäre eines traditionellen Basars nach Dortmund bringen.

    Orte der Begegnung und Integration

    Die Münsterstraße bietet nicht nur kulinarische Highlights, sondern auch praktische Dienstleistungen, die auf die arabische Gemeinschaft zugeschnitten sind. Apotheken, Arztpraxen und Gesundheitszentren bieten Beratung auf Arabisch, Türkisch und anderen Sprachen an. Das hilft Neuankömmlingen, sich in ihrem neuen Zuhause schnell zurechtzufinden. Die Stadt Dortmund fördert diese Integration, indem sie öffentliche Informationen in mehreren Sprachen bereitstellt. Die Vielfalt in der Stadt wird hier eindrücklich sichtbar.

    Gemeinschaft und Sport: Begegnungen über alle Kulturen hinweg

    Ein wichtiger Ort für die arabische und internationale Gemeinschaft ist der Max-Michallek-Platz, wo Kinder und Jugendliche aus aller Welt im neuen Fußballkäfig spielen. Dieser Platz symbolisiert den Zusammenhalt und die Freude am Sport. Im Café „Barcelona“ verfolgen Fußballfans gemeinsam spannende Spiele auf großen Bildschirmen, was das Gemeinschaftsgefühl stärkt.

    Dortmund: Ein attraktives Zuhause für viele

    Für die migrantische Community ist Dortmund mehr als nur eine Stadt – es ist ein Ort, an dem sie ihre Kultur leben und gleichzeitig Teil der deutschen Gesellschaft sein können. Die Kombination aus Cafés, Märkten und Restaurants schafft eine Atmosphäre, in der die Menschen ein Stück ihrer Heimat in der Ferne finden.

    Durch die Begegnung verschiedener kultureller Einflüsse zeigt sich, wie Kulturen gemeinsam eine Stadt bereichern können. Dortmund, insbesondere die Münsterstraße, ist ein lebendiges Beispiel dafür, wie Vielfalt und Integration Hand in Hand gehen – und wie diese Vielfalt das Stadtbild prägt.

  • Ein Abend voller Umarmungen – “Ahmadjan und der Wiedehopf”

    Ein altes Fabrikgebäude mit hohen Decken und guter Akustik im Hamburger Stadtteil Ottensen. Etwa 150 Menschen haben sich im Hauptsitz des Carlsen Verlags versammelt, um gemeinsam die Veröffentlichung des Buches „Ahmadjan und der Wiedehopf“ zu feiern. Neben ersten Einblicken in das Buch erwarten sie afghanische Musik mit Sitar, einem Saiteninstrument, und Gesang. Gegen den Hunger gibt es verschiedene afghanische Kleinigkeiten – und Butterkuchen. Matthias Heller vom NDR moderiert.

    Die Graphic Novel handelt vom Leben des Vaters Ahmadjan, geboren im Pandschir-Tal in Afghanistan, dem Tal der fünf Löwen. Zuerst geht der junge Ahmadjan nach Kabul an ein Internat. In den 70ern, mit gerade einmal 19 Jahren, reiste er von Afghanistan nach Deutschland, um Künstler zu werden. „Ich brauchte damals kein Visum“, sagt der fast 70-Jährige und blickt in viele überraschte Gesichter im Publikum. „Das muss man sich mal vorstellen“, sagt er.

    Die Machtübernahme der Taliban im August 2021 trifft die Familie Amini schwer. Der Vater verarbeitet es künstlerisch, will mit einem Auto und einem Videoprojektor durch ganz Hamburg fahren und allen Menschen zeigen, was in seinem Land passiert. Maren stoppt ihn. „Ich wollte eigentlich nur, dass du aufhörst, diese Videos zu gucken“, beschreibt sie die Situation vor drei Jahren mit schwerer Stimme.

     

    Wie das Buch entstand

    Das ist der Auftakt für ihre gemeinsame Arbeit am Buch. Das Vater-Tochter-Duo will den Leser*innen das Land näher bringen, das viele Deutsche nur aus den Nachrichten kennen. Doch nicht nur das: „Mit dem Buch zeigen wir unsere Solidarität mit den Künstlern aus Afghanistan, die ihre Kunst nicht zeigen können“, fügt Maren hinzu. Diese Freiheit wurde den Menschen vor Ort genommen. Maren selbst war noch nie in Afghanistan. Ein Flugticket habe sie vor vielen Jahren storniert, weil sie ein „Angsthase“ sei. Ob sie nochmal die Chance bekommen wird, das Land ihres Vaters kennenzulernen, ist heute ungewiss.

    Die Arbeit am Buch beginnt damit, dass Maren sich an alte Anekdoten ihres Vaters erinnert und Fragen stellt. „Komm, ich erzähl´ dir alles“, habe Ahmadjan daraufhin gesagt. Als sich Vater und Tochter das erste Mal zusammensetzen, treffen sie sich um neun Uhr morgens. Bis Ahmadjan seine Erzählung beendet, ist es 18 Uhr. Zeit und Raum um sich herum hätten sie völlig vergessen, auch nicht zu Mittag gegessen. Die Zusammenarbeit sei sehr harmonisch gewesen. „Wir haben nicht gestritten“, sagt Maren. Einmal die Woche treffen sich die beiden, um entstandenes Material zu besprechen und Neues zu planen.

    Ihre Zeichnungen hält Maren bewusst reduziert, damit Leser*innen sich darin wiedererkennen können. „Mit dem Buch will ich die innere Welt zeigen“, sagt sie. Die Gemeinsamkeiten der Gefühlswelten aller Menschen sollen dadurch sichtbar gemacht werden. Das gelingt ihr, findet auch Moderator Matthias Heller.

    Welche Zeichnungen im Buch nun von Maren sind, welche von Ahmadjan, ist auf den ersten Blick nicht ersichtlich. Vielleicht ist es nicht von Bedeutung. Vielleicht ist es auch nicht klar zu trennen. Das Titelbild, beschreibt Maren, haben sie in Zusammenarbeit entwickelt. Aus einer unter Ahmadjans Arm eingeklemmten Kunstmappe sprießen unzählige Farbstreifen, die meterhoch über ihn hinausragen und an deren Ende sich kleine Vogelköpfe bilden. Auch der Wiedehopf ist erkennbar, wenn man ganz genau hinsieht.

    Ahmadjan und der Wiedehopf
    Carlsen Verlag

     

    Früher schenkte Maren den Bildern ihres Vaters nicht viel Aufmerksamkeit. Sie hingen eben im Hintergrund. Als sie älter wurde, entwickelte sie Interesse an der Herkunft des Vaters, ihren eigenen Wurzeln. Maren fing an, Farsi zu lernen. Als erstes Projekt übersetzten ihr Vater und sie das Lied „Dile Aadam“ auf Deutsch. „Das Herz des Menschen“ ist ein Gedicht des afghanischen Poeten Sakhi Rahi.

    Das Symbol des Vogels

    Einen roten Faden durch das Buch ziehen Maren und Ahmadjan anhand der „Konferenz der Vögel“, einer persischen Gedichtesammlung aus dem 12. Jahrhundert von Fariduddin Attar. Zeitlos findet Maren die Erzählung. In der „Konferenz der Vögel“ suchen die Vögel über sieben Täler hinweg nach ihrem König Simurgh, der sie aus dem Elend herausführen soll. Die Welt der Vögel ist erfüllt von Kriegen, Unruhen, Naturkatastrophen, Armut.

    Ahmadjans Lebensweg wird parallel dazu über sieben Täler hinweg beschrieben. Im Buch begegnen dem Vater verschiedene Vögel, die ihn begleiten. Durchgehend an seiner Seite ist der Wiedehopf. Dieser sei ein „Symbol für ein Sehnsuchtsgefühl“, erklärt Maren. Und: „Der Wiedehopf treibt meinen Vater an, motiviert ihn, weiterzumachen, weiterzugehen.“ Die Idee, das Buch anhand der „Konferenz der Vögel“ auszurichten, kam Maren durch die aktuellen Arbeiten des Vaters, die mit den eröffnenden Worten im Buch beschrieben werden: „Papa hat 1000 Vögel gemalt, denn die Welt gerät aus den Fugen.“

     

    Credits: Carlsen Verlag

     

    „Papa“, so nennt Maren ihren Vater über den Abend hinweg, wenn sie ihn anspricht. Ihre Stimme ist warm.

    Was der Höhepunkt der Arbeit am gemeinsamen Buch gewesen sei, fragt eine Person aus dem Publikum. „Die Kommunikation mit meiner Tochter“, sagt Ahmadjan. „Der heutige Abend“, ergänzt Maren. Damit unterstreichen beide eine Herzlichkeit, die man schon beim Ankommen im Raum spüren konnte. Genauso wie in den vielen Umarmungen der Anwesenden und in Marens Antworten. Diese sind oft einsilbig, fast gedankenverloren. Nur bei den Dankesbekundungen fallen ihr immer noch mehr Menschen ein, die erwähnenswert sind. Dann sagt sie: „Wenn ihr wollt, singe ich für euch.“ Und bevor eine Rückmeldung aus dem Publikum kommen kann, ertönt die erste Silbe von „Dile Aadam“, a cappella, mit klarer Stimme und ohne einen Funken von Nervosität vorgetragen. Mit geschlossenen Augen meint man, das Tal der fünf Löwen sehen zu können.

  • Die 4. Muslimische Kulturwoche in Berlin: Vielfalt, Sichtbarkeit & Community

    Arabische Kalligraphie, indonesische Kulinarik, eine islamische Interpretation von Kant und Volksmärchen vom Balkan all das erlebten Besucher*innen der 4. Muslimischen Kulturwoche in Berlin. Vom 28. September bis zum 6. Oktober besuchten Interessierte unter dem Motto „Näher kommen & Frieden schaffen“ verschiedene Workshops, Konzerte, Ausstellungen und vieles mehr: Über die Stadt verteilt boten über 30 Organisationen Angebote an. Der Regisseur Mirza Odabasi führte etwa in die Kunst des Filmemachens ein und es fand ein muslimischer Poesie-Abend statt. Bei einem interreligiösen Stammtisch konnte man sich über „Die Kunst des Zusammenlebens“ austauschen und für Kinder spielte zum Beispiel ein türkischsprachiges Schattentheater.

    Am Montag, dem 30. September, wurde die Muslimische Kulturwoche mit der Veranstaltung „Rhythmen der Welt“ eröffnet. In einem Konzert präsentierten verschiedene Künstler*innen  Musik aus verschiedenen muslimischen Kulturen. Das Zusammenspiel beschreiben Zuschauer*innen später als sehr harmonisch, obwohl sich die meisten der Musikschaffenden vor der Veranstaltung nicht kannten. Berlins Kultursenator Joe Chialo hielt ein Grußwort und die Festrede kam von dem Religionsphilosophen Prof. Dr. Milad Karimi.

     

    Die Kulturwoche als Ort der Begegnung

    Im Laufe der Woche zeigen sich ganz unterschiedliche Gesprächsbedarfe bei den Besucher*innen. An einem Abend in der St. Jacobi Kirche offenbarten sich diese sehr eindrücklich. Dr. Bettina Gräf und Julia Tieke stellten das Buch „111 Orte in Berlin, die vom Islam erzählen“ vor. In dem anschließenden Gespräch begegneten sich verschiedene Positionen in offener Atmosphäre, die sich abseits der Muslimischen Kulturwoche so wohl nicht getroffen hätten: Während sich die einen Teilnehmenden Sorgen um wachsende Diskriminierung auch aus der Politik heraus machten, kämpften die anderen mit Misstrauen zwischen Gruppen oder damit, die eigenen Vorurteile zu überwinden. Eine Mini-Buchmesse im Altarraum der Kirche zeigte anschließend Bücher zum Thema Islam und Koranübersetzungen, auch eine Kunstausstellung befand sich dort.

    Die Kulturwoche solle einen Zugang zu muslimischer Kultur ermöglichen und in diesem Raum Austausch innerhalb der muslimischen Community und über diese hinaus schaffen, erklärt Levent Kılıçoğlu vom Forum Dialog e.V. und Leiter der Muslimischen Kulturwoche. „Der große Andrang freut uns sehr für die Sichtbarkeit von muslimischen Communities in Berlin“, meint Kılıçoğlu. Bei der Repräsentation von Muslim*innen solle vor allem ihre Vielfalt betont werden. Die Woche stelle daher einen kulturell definierten Islam dar, im Gegensatz zu einem politisch oder theologisch definierten. Daher sei es toll, dass in jedem Jahr mehr Organisationen an der Muslimischen Kulturwoche teilnehmen, die verschiedene Länder und Glaubenspraxen repräsentieren.

    Entstanden sei das Projekt durch die Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt, auf Anstoß von Hartmut Rhein, dem Beauftragten für Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften. Forum Dialog e.V. und I-ISIN e.V. sind Träger und Organisatoren der Woche. Die Förderung der Veranstaltung erfolgt weiterhin durch die Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt. Vor allem jedoch lebe die Muslimische Kulturwoche von der „unermüdlichen Unterstützung unserer Ehrenamtlichen, die den reibungslosen Ablauf der Woche erst möglich gemacht haben“, so Kılıçoğlu. Es freue ihn überaus, jedes Jahr neue Gesichter zu sehen, die das Projekt tatkräftig unterstützten. Wer Lust habe, sich zu engagieren, könne sich einfach melden.

     

    „Ein voller Erfolg“

    Alle Veranstaltungen sind kostenlos, jedoch müsse man sich aus organisatorischen Gründen anmelden, berichtet Rümeysa Yılmaz, ebenfalls von Forum Dialog e.V. Obwohl die Räumlichkeiten oft nicht sehr groß seien, werde in der Regel niemand abgewiesen. Und wenn doch zu einem Programmpunkt sehr viele Menschen auftauchen? „Dann wird’s kuschelig“, lacht Yılmaz. Zu einem indonesischen Abend seien diese Woche statt der angemeldeten 30 an die 100 Gäste gekommen.

    Die Zahl der teilnehmenden Organisationen ist von zehn im letzten Jahr auf 30 in diesem Jahr stark angewachsen. Auch die Zahl der Veranstaltungen hat sich von circa 20 im letzten Jahr zu über 40 gut besuchten Programmpunkten in der diesjährigen Muslimischen Kulturwoche sehr gesteigert. Abschließend resümiert Kılıçoğlu: „Die diesjährige Muslimische Kulturwoche war ein großer Erfolg. Wir hatten gut besuchte Veranstaltungen und ein vielfältiges Teilnehmerprofil. Außerdem haben wir neue Formate, wie den Malwettbewerb, den Podcast und die Mini-Buchmesse, ins Programm aufgenommen. Mit diesen Erfahrungen werden wir bestimmt im nächsten Jahr wieder ein Stück wachsen und vielleicht neue Formate aufnehmen.“

     

    Gemeinsame Gebete von Muslim*innen, Jüd*innen und Christ*innen

    Den Abschluss fand die Woche am Sonntag, dem 6. Oktober, mit einem interreligiösen Friedensgebet in der Wilmersdorfer Moschee. An diesem historischen Ort, der ältesten erhaltenen Moschee Deutschlands, kamen an diesem Tag Rabbiner Andreas Nachama, Pfarrerin Marion Gardei und Imam Kadir Sanci von dem Projekt „House of One“, sowie Imam Amir Aziz von der Wilmersdorfer Moschee zusammen. Das Thema war „Gemeinsam gegen Gewalt – für Frieden in der Welt“.

    Der helle, freundliche Raum war gut gefüllt, trotz aufgestellter Stühle saß die Mehrzahl der Leute auf dem Teppich, mehrere Kameras nahmen auf. Alle vier Geistlichen bezogen sich angesichts des Datums auf den Überfall der Hamas vom 7. Oktober 2023 und den Krieg in Palästina, Israel und Libanon. Imam Amir Aziz eröffnete die Veranstaltung mit einem Gebet „von Herzen für Frieden, Liebe und Harmonie für die ganze Welt.“ Es folgten verschiedene Gebete und Suren auf Arabisch, Bittgebete auf Hebräisch und deren Übersetzungen sowie Zitate aus der Bibel.

    Imam Kadir Sanci sprach unter anderem die Sure 49, Vers 10 bis 13 und sagte, dass Unterschiede zwischen den Menschen von Gott gewollt seien, denn er habe sie so geschaffen, und hoffte auf ein „Leuchtfeuer der Hoffnung“, das von dem heutigen gemeinsamen Gebet ausgehen solle. Rabbiner Andreas Nachama erklärte die hebräische Bedeutung von Frieden, die immer auch Frieden jenseits der Grenzen einschließe und erinnerte an den Auszug der Israeliten aus Ägypten. Gott habe die Verfolger zwar im Meer ertrinken lassen, habe allerdings den Engeln verboten, fröhlich zu sein, da der Tod irgendeines seiner Geschöpfe immer Anlass zur Trauer sei. Pfarrerin Marion Gardei zitierte die Bergpredigt und mahnte Zivilcourage an. Zum Schluss reichten sich alle Geistlichen der verschiedenen Religionen die Hände in einer Geste der Verbundenheit.

    Am Abend folgte die Abschlussveranstaltung, ein Konzert des Ensembles Al Firdaus in der Universität der Künste. Wiederum war der Saal gut besetzt und die Mischung aus andalusischer Musik und Sufi-Klängen und Gesang erinnerte an die Verschränkung der Traditionen verschiedener Kulturen und Religionen. Die 2012 von Ali Keeler in Granada gegründete Gruppe umfasst sieben Personen aus Marokko, Spanien und England und ziehe ihre Inspiration aus dem Nicht-Wahrnehmbaren, so Keeler in seiner Moderation des Konzerts. Der hohe Joseph-Joachim-Saal der Universität der Künste war erfüllt von spirituellen Klängen und vielleicht spürte der eine oder die andere den Frieden und die Verbundenheit, die diese vierte Muslimische Kulturwoche vermitteln wollte.

  • „Ganz unten im System“: Sichern Arbeitsmigrant*innen „uns“ den Wohlstand?

    Fabiu und Adrian, Eugen und Petre, Samim und Imud – sie sind Bauarbeiter, Arbeiter in Schlachthöfen und LKW-Fahrer. In „Ganz unten im System. Wie uns Arbeitsmigrant*innen den Wohlstand sichern“ (Hirzel Verlag, 2024) erzählt Sascha Lübbe ihre Geschichten. Er versteht das Buch als eine „Reise zu ihnen, zu den Menschen in Deutschland, die auf der untersten Stufe der Pyramide und sonst nicht im Fokus stehen“. 

    Statt von außen auf ein verstricktes und unübersichtliches System zu blicken, kommt Sascha Lübbe mit den Menschen ins Gespräch, die täglich unter prekären Bedingungen in diesem arbeiten. Er spricht sie vor den Fabriken an, besucht sie in ihren Unterkünften, spricht mit denen, die sich gegen ihre Chef*innen zur Wehr gesetzt haben oder sich aus Angst vor einer Kündigung dagegen entschieden. Nur weibliche Perspektiven fehlen dem Buch, die vielfältigere Einblicke gegeben hätten.  

    Die Geschichte von Fabiu

    Da ist zum Beispiel Fabiu, den er in einer Unterkunft trifft, in der mehrere Bauarbeitende zusammenleben. Fabiu ist aus Rumänien nach Deutschland gekommen, um für seine Familie zuhause Geld zu verdienen. Er arbeitet seit neuen Jahren als Maurer auf Baustellen, musste immer wieder das Unternehmen wechseln. Er arbeitet sechs Tage die Woche, ungefähr zehn Stunden am Tag, seinen Lohn bekommt er nur zum Teil offiziell ausgezahlt, den Rest schwarz. Dadurch wird ihm weniger für die Rente angerechnet, bei Krankenversicherungen wird er auch nicht von allen Chefs angemeldet. Urlaub hatte Fabiu noch nie. 

    Um all diese Erfahrungen auch einzuordnen, zieht Sascha Lübbe in journalistischer Manier Wissenschaftler*innen, Berater*innen von NGOs und Unternehmer*innen für die Recherche heran. Er erklärt, wie das System Arbeitsmarkt kontrolliert wird (ausbaufähig), welche Rolle Politik, Lobbyismus und Gesellschaft spielen (egoistisch und ignorant), warum Geld wichtiger ist als die Arbeiter*innen (Kapitalismus) und wer die Menschen sind, die unterstützen und Widerstand leisten (wichtig, aber wenige). 

    Es sind keine Einzelfälle, die das Buch erzählt

    Dabei wird deutlich: Ob Bau, Fleischproduktion, Transport – diese Industrien basieren auf einem Netz von Illegalität, Ausbeutung von Arbeitnehmer*innen und mangelnder Kontrollen. Und das Buch lässt erahnen, dass viele Branchen so funktionieren. Spätestens im Kapitel „Die Gesellschaft, die Politik“ wird man dann ertappt, hat man sich bis dato auf der Frage „Was sollen wir dagegen tun?“ ausgeruht. Das Buch benennt all jene Akteur*innen, die Antworten auf diese Frage finden sollten und spart auch unsere Gesellschaft dabei nicht aus. 

    Nur angedeutet wird aber, was mit den Menschen passiert, würde das System abgeschafft. Nicht zu arbeiten, ist für viele Migrant*innen in ihren Lebensrealitäten fataler, als unter schlechten Bedingungen zu arbeiten. Sascha Lübbe begleitet den Zoll bei einem Einsatz zur Überprüfung einer Baustelle, auf der sie illegal angestellte Arbeiter*innen vermuten. Auffällig ist in diesem Kapitel, dass die Menschen nicht mehr beim Namen genannt werden, es geht etwa um „den Mazedonier“, der keinen gültigen Aufenthaltstitel und dadurch keine Arbeitserlaubnis hatte. Für den Zoll zählen keine Einzelschicksale, sondern die Gesetzgebung. Was mit dem Mann aus Mazedonien passiert, nachdem er auf diesem Weg kein Geld mehr bekommen kann, bleibt offen. 

    Was nun?

    Das Buch schafft durch das Personifizieren der Probleme im Niedriglohnsektor einen einfachen Zugang in die komplexen Zusammenhänge der Industrien. Auch einige Wochen nach dem Lesen des Buches sind es insbesondere sie persönlichen Geschichten einzelner Menschen in dem Buch, die im Kopf bleiben. Man wird jedoch nicht mit einem bedrückenden Gefühl von Hoffnungslosigkeit aus dem Buch entlassen. „Was nun?“, fragt Sascha Lübbe am Ende des Buches und zeigt Fälle auf, die zu positiven Veränderungen führen können. Beim Erzählen bleibt er konstruktiv, zeichnet keine falschen Bilder von Happy Ends und einem grundsätzlichen Systemwandel, der sich anbahnt.

    Die Leser*innen bekommen das Gefühl, dabei zu sein, während Sascha Lübbe das kapitalistische Konstrukt aufdeckt. Arbeitnehmer*innen sprechen über ihre Existenzängste und Schicksale, dazwischen weist Sascha Lübbe geschickt auf Zusammenhänge hin, wo sie zum Verständnis notwendig sind und geht mit Expert*innen in die Tiefe, wenn das Ausmaß der Problematiken erkennbar werden soll. „Ganz unten im System. Wie uns Arbeitsmigrant*innen den Wohlstand sichern“ richtet sich dabei an die Menschen, die sich als Teil des „uns“ verstehen und mehr über jene erfahren wollen, die im System Arbeitsmarkt bisher unsichtbar geblieben sind. 

     

    Auch in der kohero-Redaktion haben wir uns für unsere 7. Printausgabe mit den Erfahrungen von Menschen mit Flucht- und Migrationsgeschichte im deutschen Arbeitsmarkt auseinandergesetzt. Hier kannst du die Ausgabe bestellen.

  • Samar Yazbek – Wo der Wind wohnt

    Samar Yazbek ist eine syrische Schriftstellerin, die 2011 nach Europa emigrierte. Sie stammt aus einer großbürgerlichen alawitischen Familie. In ihrer Heimat hatte sie sich für Bürger- und Frauenrechte engagiert. Sie trennte sich von ihrem Ehemann, den sie mit 16 Jahren geheiratet hatte, und baute sich ein eigenes Leben auf. Ali, der Erzähler des Romans „Wo der Wind wohnt“, schwebt durch seine eigene Geschichte. Im kleinen: die eines Jungen eines abgelegenen Dorfes, im größeren Rahmen die seiner Heimat Syrien.

    Der Roman ist poetisch, von fast lyrischer Schönheit und legt sich wie eine schützende Hülle um das Geschehen. Er strahlt eine beschauliche Stille aus, trotz der gesellschaftlichen und politischen Hinter- und Abgründe.

    Ali ist verwundet und liegt unter Laub in der Einöde eines Berggipfels. Er versucht sich zu erinnern:  an eine untergegangene Welt, die Welt vor dem Krieg in einem kleinen abgelegenen Bergdorf. Wichtige Bezugsperson seines kurzen Lebens war Humairuna, eine Frau, die anders war als die anderen des Dorfes. Sie hatte ihm bei seiner Geburt das Leben gerettet, da er sich weigerte zu atmen.

    Er träumte von Licht

    Sie legte ihn unter den Baum des Heiligengrabes, so wurde er zum „Sohn des Baumes“. Er lernte, mit und in den Bäumen zu leben, zwischen den Ästen hin und her hüpfend, sich wie eine Fledermaus an einen Ast zu hängen. Und er baute sich ein Baumhaus, tagelang sammelte er Zweige und Äste, fügte sie ineinander und verband sie mit Seilen aus Hanf: ein dreiwändiges Haus, sodass er einen Ausblick ins gesamte Universum hatte. Seine Mutter fertigte ihm eine Decke, die zu einem wärmenden Kleinod wurde.

    Er träumte von Licht und von einer Baumherde, die Richtung Himmel stieg. Er lernte osmotisch das Alter der Bäume und ihre Geschichte. Aber er war auch ein Wolkenmaler. Die Wolken waren wie Freunde und sein Spielzeug. Und der Wind bildete mit ihnen eine Art Triumvirat, das Dreigestirn seines kleinen Lebens.

    Immer wieder schimmert durch diese poetischen Erinnerungen die Realität auf. Die hart arbeitende Mutter Nahla, der sie schlagende Vater, die Schwester, die sich von einem Abhang stürzte im Glauben an Flügel. Der Tod des jüngeren Bruders, der Stolz seiner Eltern, als Märtyrer fürs Vaterland. Ein alter weiser Scheich, der Ali in die Religion einführte, ihn Lesen und Schreiben lehrte, ihm von sozialer und spiritueller Macht erzählte.

    Zwischen Tag und Traum

    Und die neuen Zeiten mit neuen Scheichs. Der Präsident ist tot. Es lebe der Präsident! Checkpoints wurden eingerichtet, junge Männer eingezogen. Und die Kämpfe um die Macht begannen.

    Ali wusste nicht, wofür oder gegen wen wer kämpfte. An einem Checkpoint nahmen sie ihn mit. Jetzt lag er da, unter Laub, weit weg vom Leben, nicht wissend, ob er überhaupt am Leben war oder nur sein Leben träumte.

    Da waren er und „der Andere“. War es sein Alter Ego? Sein Astralleib?

    Und Ali fliegt. Wo kommt er an? Wir wissen es nicht. Quo vadis?

    Samar Yazbek gelingt es, die Leserinnen und Leser mit ihren Worten zu verzaubern: ein kleines Meisterwerk zwischen Tag und Traum.

  • Ein Leben für den Frieden – Sumaya Farhat-Naser

    Dieses 2017 erschienene Buch mit der Taschenbuchausgabe von 2022 hat nichts von seiner Aktualität eingebüßt, sondern ist heute dringlicher denn je: ein Aufruf zum Frieden. Die Autorin, Professorin für Ökologie und Botanik an der Universität Bir Zeit, ist eine palästinensische christliche Friedens-„Arbeiterin“. Manche mag es überraschen, dass es in Palästina Christ*innen gibt, auch wenn sie nur eine Minderheit sind. Ihre Familie lebt seit Jahrhunderten im Land. Sumaya Farhat-Naser beschreibt in Ich-Form den Alltag der Palästinenser, beginnend mit den 70er-Jahren und 2012 endend.

    Eindringlich und lebendig schreibt sie über die palästinensische Landschaft

    Die Autorin wurde 1948, als Israel gegründet wurde, geboren und hatte das Glück an die deutsche Schule Talitha Kumi gehen, von wo sie durch Vermittlung deutscher Lehrkräfte nach Hamburg zum Studium ausreisen durfte. Sie war das erste Mädchen ihres Dorfes, das im Ausland studierte und zudem mit erfolgreichem Staatsexamen für das höhere Lehramt abschloss.  Sie heiratete Munîr, der in Amsterdam studiert hatte und Dozent für Biochemie am Bir Zeit College war. Beide arbeiten an der Universität von Bir Zeit, die von einer Tante Munîrs gegründet worden war. Alle Dozenten hatten im Ausland studiert und waren voller Tatendrang und mit Ideen, ihre Erfahrungen umzusetzen, zurückgekehrt.

    Eindringlich und lebendig schreibt sie über die palästinensische Landschaft, den Duft von Thymian, Oregano, Pfefferminz, Salbei und Zitronen und das kulturelle Symbol der Olivenbäume, das harte Leben der Frauen, aber auch das Zusammengehörigkeitsgefühl, welches wiederum durch geschickt von den Israelis angeworbene Kollaborateure untergraben werden soll.

    Demütigungen durch die Besatzungsmacht Israel sind alltäglich: langwierige Verfahren für eine Einreise/Ausreise-Genehmigung mit ihrer kafkaesken Bürokratie an den Checkpoints, die Razzien und Zerstörungen von Häusern und Land. Diese Demütigungen breitet sie wie einen Fächer aus, der jedoch keine kühlende Luft mit sich bringt, sondern den Verlust an Würde, Angst und Gefühl der Erniedrigung und des Ausgeliefertseins aufzeigt.

    Was kann man tun, wenn die Staatsmacht das eigene Land konfisziert, Jahrhunderte alte Olivenbäume entwurzelt und zerstört, den Zugang zu den Quellen kontrolliert, denn seit 1967 hat Israel die direkte Kontrolle über die Nutzung und Verteilung des Wassers – ein Großteil für die Israelis, die kümmerlichen Resttropfen für die Palästinenser und ihr Ackerland. Wenn das Land in drei Zonen aufgeteilt wie einen Flickenteppich, fast 80 % vom Militär kontrolliert bzw. verwaltet wird.

    Wenn man zur Ausreise nicht den Flughafen von Tel Aviv benutzen darf, sondern mühsam und zeitaufwendig über Jordanien reisen muss. Wenn das sogenannte Niederlassungsrecht das Recht nimmt, auf eigenem Grund und Boden zu leben, wenn man z. B. durch Arbeit oder Studium nicht durchgehend sieben Jahre lang dort lebte. Wenn selbst Kranke an den Checkpoints oft abgewiesen werden.

    Wenn es getrennte Straßen für die Siedler und die Einheimischen gibt, die, um von A nach B zu kommen, oft stundenlange Umwege einplanen oder über Stock und Stein holpern müssen, weil wieder mal ein fliegender Checkpoint die Durchfahrt verhindert.

    Wenn die israelische Sperrmauer den Ort teilt, sodass einige Familien eingeschlossen sind und das Tor nur stundenweise geöffnet wird. Wenn Kinder oft stundenlang warten müssen, um zur Schule zu kommen und viele Kinder deshalb nicht mehr zur Schule gehen. Wenn Siedler einen vom Land vertreiben …

    Sie beschreibt eine fast komische Anekdote: Sie selbst musste zu einer wichtigen Verabredung nach Jerusalem, alle entsprechenden Papiere lagen vor, aber der Körperdetektor meldete Alarm wegen ihres künstlichen Kniegelenks. Sie durfte nicht passieren, denn ihr Knie bräuchte eine eigene Identitätskarte und eine spezielle Erlaubnis für Jerusalem. Schildbürger in Aktion?

    Was ist Frieden?

    Farhat-Naser setzt ihre Kraft ein, in Seminaren und Workshops Jugendlichen, Studierenden und Frauen den Umgang mit Provokation, Wut, Angst und Ohnmacht sowie der Selbsterziehung zum eigenen Schutz zu vermitteln. Seit 1988 erstes informelles Treffen von sechs palästinensischen und sechs israelischen Frauen, 1994 Gründung von zwei Frauenzentren in Ost- und West-Jerusalem. Immer wieder die Erfahrung, wie schwierig es ist, die Mauer von Angst und Misstrauen abzubauen. Es sind zwei traumatisierte Völker: Das eine Volk fand eine Heimstatt, das andere verlor sie.

    Was ist Frieden? Die Akzeptanz von Unterdrückung und Besatzung?

    Die Aufzeichnungen sind sehr persönlich, es ist eben kein Sachbuch aus wissenschaftlicher Distanz. Und immer wieder hoffnungsdurchsetzt, denn die Hoffnung stirbt zuletzt. Es geht ihr darum, die Mauern einzureißen, auch die des Täter-Opfer-Mythos.

    Vielleicht sollten sich die Leserinnen und Leser auch den Film „No other land“, der auf der Berlinale den Dokumentarfilmpreis erhielt, ansehen. Da erlebt der Zuschauer die alltägliche Zerstörungskraft auf palästinensischem Land, wie die Bulldozer Häuser einreißen und Olivenhaine zertrümmern.

    Sumaya Farhat-Nasers Botschaft geht unter in den marktschreierischen Topics, ist nur ein zartes Flüstern und lässt doch hoffen. Denn sie ist nicht allein, denn es gibt viele Initiativen für den Frieden und das Miteinander im Heiligen Land.

     

  • Das Schweigen

    Das Schweigen

    zu schweigen
    In einer Sprache, die ich nicht spreche
    Die ich nicht beherrsche
    Sche, che, sche, che
    Unter einem Himmel mit Wolken und Feucht die für mich fremd sind

    Ich schweige
    Kenne mich mit manche Wörter gut aus
    Und als ich fange an zu schreiben die kommen einfach vor
    Europawahl ohne Ausländer
    Damit ich gemeint bin
    Grenze, Visum, Warten
    Wolken
    Wärme
    Feucht

    Der Man/Mensch/Maschine versucht mich zu jagen
    Heimat ist hier und so ist meine Angst keine Heimat mehr zu besitzen
    Diese Sprache beherrsche ich nicht
    Blut ist aber überall Blut, und Haut und Fleisch… sch, ch, sch, ch
    ermordet zu werden ist überall dasselbe
    Holy or unholy, one’s land is one’s land
    Ich spreche diese Sprache nicht und die Sprache die ich beherrsche ist nicht nachvollziehbar
    Eine Fremdsprache die ich und der Man/Mensch/Maschine teilen, eine in dem er mich bedroht, ermordet

  • Emotionale Reife

    Emotionen sind das, was unser Leben besonders, magisch und lebenswert macht.

    Es gibt sogar die beliebte Theorie des „Seelenvertrags“, die besagt, dass unsere Seele unser Leben im Vorhinein ausgesucht hat, damit wir das Spektrum menschlicher Gefühle erfahren, unsere Taten reflektieren und daran wachsen können.

    Das heißt: Emotionen, egal ob „schlecht“ oder „gut“, sind das Gewürz unseres Lebens. Ohne sie hätten wir keine Motivation zu leben und dabei Fehler zu machen, um wiederum von diesen Fehlern zu lernen und uns zu verbessern.

    Zugleich können Emotionen hinderlich sein, wenn wir die Urängste, die in uns als entwickelte Säugetiere verankert sind, nicht verstehen und unsere Regulierungsfähigkeiten nicht weiterentwickeln.

    Schlüsselwort für diese Entwicklung ist emotionale Reife.

    Ein beliebter Fehler ist die Annahme, dass man mit dem Alter und mit dem Wachstum des Gehirns emotional auch reifer wird, was sehr deutlich nicht wahr ist, ansonsten hätten wir nicht so viele Erwachsene rundherum, die sich wie Dreijährige benehmen.

    Da es eine sehr dünne Linie gibt, zwischen Verständnis für unsere eigenen Emotionen, Fehler und Trigger zu haben, und einen Anspruch auf die Opfer-Rolle zu entwickeln, sollen wir das Unbewusste bewusst machen, um das letzte zu vermeiden.

    Damit ein Mensch zu Selbstreflexion überhaupt fähig ist, muss man seine Emotionen regulieren, seine Gefühle von innen und außen beobachten und mit negativen Emotionen umgehen können.

    Also, wie entwickelt sich emotionale Reife?

     

    „Reife wird erreicht, wenn eine Person zugunsten langanhaltender Werte auf unmittelbares Vergnügen verzichtet.“

    Joshua L. Liebman

     

    Also: Emotionale Reife ist fast eine Entscheidung. Ein Ziel, das man erreichen kann, egal in welchem Alter. Vielleicht stammt das berühmte Zitat „Glücklich sein ist keine bestimmte Sache. Es ist eine Entscheidung, die wir jeden Tag treffen müssen“ daher.

     

    Man hat also die Qual der Wahl, entweder verbittert fürs Leben zu bleiben und dabei die Illusion von Kontrolle und Berechtigung zu behalten, oder Fehler und negative Emotionen als ein Teil des Lebens zu erkennen, sie zu akzeptieren und loszulassen.

     

     

  • Das Geständnis der Löwin – Mia Couto

    Mia Couto ist hierzulande nicht sehr bekannt. Das ist bedauerlich, schreibt er doch als weißer Portugiese über das hauptsächlich Schwarze Mozambik, sein Geburtsland. Er wuchs also in zwei Kulturkreisen auf. Er ist Schriftsteller und Biologe und bewegt sich in zwei verschiedenen Milieus. Couto lehrt als Professor an der Uni Biologie, bei seinen Feldforschungen schließt er die Geschichten der Bewohner mit ihren Mythen ein, sie sind Grundlage seiner Romane.

    Der Roman „Das Geständnis der Löwin“ beginn mit den Worten „Gott war mal eine Frau, der Himmel war noch nicht endgültig fest, Frauen weben seit Jahrtausenden an diesem grenzenlosen Schleier. Wenn eine Frau schwanger ist, kommt ein Stück Himmel dazu, bei Verlust eines Kindes schrumpft das Gewebe.“

    Diese Aussage beinhaltet eines der Themen des Romans, fast feministisch, denn er beschreibt die Situation der Frauen im abgelegenen Dorf Kulumani: Sie sind unterdrückt und wertlos, taugen nur zur Arbeit, zum Kinderkriegen und für die Gelüste des Mannes. Sie leben, als ob sie begraben wären.

    Archaische Elemente, die Magie der Geister, Traum und Realität, das Diesseits und das Jenseits vermischen sich mit modernen Gegebenheiten: die Ankunft des Jägers in Begleitung eines Schriftstellers. Tradition und Moderne treffen aufeinander, das Hier und Jetzt vermischt sich mit der Macht der Mythen und der Geister aus ewiger Vorzeit.

    Auch hier benutzt Mia Couto wieder alternierende Kapitel: das Tagebuch des Jägers Arcanjo Baleiro und die Versionen von Mariamar.

    Einzelschicksale und das große Ganze

    Tragische Einzelschicksale verbinden sich mit der Welt des großen Ganzen. Und die Löwenjagd ist ein Beispiel. Couto war im Jahre 2008 bei der Jagd im Norden dabei, als Jäger Löwen erlegten, die 28 Menschenleben auf dem Gewissen hatten. Für die Dörfler aber waren es die Geister, die töteten. Aber „Solange die Löwen nicht ihre eigenen Geschichten schreiben, werden die Jäger immer die Helden sein. Denn Geschichtsschreibung ist immer die Geschichte der Sieger“. Die Jagd ist auch ein Symbol der Macht: Wer Waffen besitzt, ist mächtig.

    Für Leser*innen, die tiefer in die afrikanische mythische Welt eindringen wollen, ist der Roman ein guter Einstieg. Dazu muss man sich aber mit dem doch etwas verwirrenden Wechsel der Erzählungen von Arcanjo und Mariamar anfreunden.

    Warum fallen Löwen Menschen an und fressen sie? Sie gehören ja nicht zu ihrem originären Beuteschema. Ein interessantes Detail entdeckte ich bei entsprechender Recherche, abgesehen von Nahrungsknappheit: Sie hatten meistens ein desolates Gebiss, sodass sie  „ihr normales Wild“ gar nicht mehr richtig reißen konnten.

     

    Und warum sollten sie eigentlich keine Menschen töten? Die Menschen töten sie ja auch …

  • Der Kartograf des Vergessens

    Mia Couto, Autor von „Der Kartograf des Vergessens“, ist hierzulande nicht sehr bekannt. Das ist bedauerlich, schreibt er doch als weißer Portugiese über das hauptsächlich Schwarze Mosambik, sein Geburtsland. Das Land ist seit 1975 unabhängig, es herrschte ein 16 Jahre andauernder Bürgerkrieg, noch immer gibt es dort eine hohe Analphabetenrate und außerdem war und ist AIDS ein Problem. Es werden über vierzig Sprachen gesprochen.  Couto wuchs also in zwei sehr unterschiedlichen Kulturkreisen auf. Er ist Schriftsteller und Biologe und bewegt sich in zwei verschiedenen Milieus.

    Couto lehrt als Professor an der Uni Biologie, bei seinen Feldforschungen schließt er die Geschichten der Bewohner*innen mit ihren Mythen ein, sie sind Grundlage seiner Romane.

    „Der Kartograf des Vergessens“ beschreibt abwechselnd Verwirrendes in verworrenen Zeiten in einem verworrenen Land in den Jahren 1973 und 2019. Der Dichter Diogo Santiago kehrt auf Anraten seines Arztes in seine Geburtsstadt zurück, um seine Depressionen zu heilen.

    Durch eine Lesung lernt er die Moderatorin Liana Campos kennen, die ihm Dokumente der portugiesischen Geheimpolizei übergibt. Diese helfen ihm und ihr bei der Entwirrung ihrer Erinnerungen und ihrer Leben, denn ihr Großvater war der Inspektor der portugiesischen Geheimpolizei, der seinen Vater verhaftete.

    Sittengemälde der Kolonialzeit

    Dies wird zu einer Reise durch das Dickicht Schwarz-weißer Verknüpfungen familiärer, emotionaler, gesellschaftlicher und politischer Art. Die Einzelschicksale, die alle möglichen Varianten präsentieren – von Liebe und Leidenschaft, von Untreue und Verrat, von Selbstmord und Mord – sind geschickt miteinander verwoben und bilden so ein Sittengemälde der kolonialen Zeit.

    Diese Zeit mit ihren Machthierarchien und Massakern ist immer präsent, direkt oder indirekt, denn sie formte die Menschen: die weißen wie die Schwarzen.

    Couto gelingt es meisterhaft, diese verschiedenen Ebenen darzustellen, sodass man sowohl ein Bild der weißen Gesellschaft damals und heute bekommt als auch eintaucht in die afrikanische Welt mit ihren mythischen Bündnissen. Und doch hätte ich mir mehr Stringenz gewünscht, um den Lesegenuss zu steigern. Die eingefügten, trocken-bürokratischen Dokumente sind zwar aufschlussreich und ein adäquates Hilfsmittel für „das Erinnern und das Vergessen“, aber sie verwirren auch, weil man zu oft zurückblättern muss, um den Schicksalsfäden der Menschen folgen zu können.

    Eine wichtige Lektüre, die zum Nachdenken über den Kolonialismus und seine Auswirkungen bis heute anregt und eben auch über das westliche Konstrukt „Afrika“.

     

     

    „Das Leben kann nur in der Schau nach rückwärts verstanden, aber nur in der Schau nach vorwärts gelebt werden.“ Søren Kierkegaard

     

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