Kategorie: Kolumne

Mal nachdenklich, mal witzig, mal herausfordernd – in regelmäßigen Abständen berichten unsere Kolumnisten von unterschiedlichen Themen, die sie gerade bewegen.

  • Ein Land jenseits von Integration

    In den letzten Monaten wurde unendlich viel über das Thema Integration gesprochen. Einerseits wegen der damals anstehenden Bundestagswahl, obwohl sich mittlerweile alle Debatten darüber wieder in Luft aufgelöst haben. Andererseits wegen der Situation in Afghanistan, wo die größte humanitäre, politische Krise der letzten Jahre auf die Frage „Wie viele Flüchtlinge kann oder soll Deutschland aufnehmen?“ reduziert wurde.

    Konzept Integration

    Es gibt mehrere Punkte, weshalb ich mittlerweile das Konzept „Integration“ problematisch finde. Beim ersten Grund geht es um die Menschen, die integriert werden sollen. Dazu stellt sich für mich die Frage: Wie werden sie dargestellt und wo bleibt deren Stimme in den ganzen Debatten? Der zweite Punkt ist etwas Persönliches: Es hat mit dem Anpassungsdruck zu tun, den ich als Migrantin erlebt habe. Und den Lehren, die ich aus diesem „Integrationsprozess“ gezogen habe. Der letzte und dritte Grund ist, wie dieses Konzept unsere Unterschiede mit etwas Negativem in Zusammenhang bringt und somit als etwas Abweichendes verfestig.

    Integration und das „größere Ganze“

    Im Duden findet man drei verschiedene Definitionen von Integration. Die erste bedeutet „Einbeziehung, Eingliederung in ein größeres Ganzes”. Diese finde ich am passendsten zu diesem Artikel. Allerdings wäre die dritte Definition, welche aus der Soziologie stammt, die plausiblere Wahl: „Verbindung einer Vielheit von einzelnen Personen oder Gruppen zu einer gesellschaftlichen und kulturellen Einheit”. Es gibt also eine wahrgenommene kulturelle Einheit, in welche viele integriert werden sollen. Aber die Bedeutung dieses Begriffs soll nicht die gleichberechtigte Verbindung einer Vielheit von Gruppen darstellen. Vielmehr soll sie die Anpassung anderer Gruppen zu einer dominanteren Mehrheit verdeutlichen.

    Was in mir jedoch noch größere Empörung auslöst, sind alle Situationen in denen Integration thematisiert wurde und wird. Als ginge es hier darum, einen namenlosen Teig zu formen. In medialen Auseinandersetzungen zum Thema Migration und Flucht moderieren oft Menschen, die selbst vom Druck der Integration nicht betroffen sind. Die Betroffenen selbst, ihre Erfahrungen und individuellen Wahrnehmungen werden übergangen. Stattdessen geht es oft um die Frage, wie gut sich dieser „fremde Teig“ nicht nur an unsere Sprache, aber auch an unserer Lebensform und Werte anpassen kann. Wessen „Lebensform und Werte“ diese sind, wird nicht definiert, aber angedeutet. Denn das größere Ganze ist ein omnipräsentes Konzept von „wahrer deutscher Leitkultur“. Dennoch, so selbstverständlich wie es zunächst klingt, steckt auch ein sehr abstraktes Konzept dahinter.

    Ein unerfülltes Versprechen

    In der ersten Definition blieb das „größere Ganze“ unklar und passt somit perfekt in diese Debatte. Denn im Fall von gesellschaftlicher Integration bleibt ebenfalls das größere Ganze, ich möchte fast sagen der integrative Leitfaden, auch unheimlich vage. Soll es etwa „die deutsche Kultur“ sein? An welchen Standards wird diese Integration bemessen? Auf mich wirkt es wie ein Prozess, dessen Ziel die Eingliederung in die „deutsche“ Gesellschaft verspricht. Dieses Versprechen bleibt meistens unerfüllt, denn selbst die am besten integrierten Menschen erfahren Rassismus und Diskriminierung. Hierbei hilft selbst der deutsche Pass häufig nicht.

    Der Wert eines Menschen

    Das Erlernen der deutschen Sprache ist nach wie vor eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine deutsche Staatsbürgerschaft und eines der höchsten Ziele von staatlichen Integrationsprojekten. Es ist aber zeitgleich auch eine der größten Hürden mit der Migrant*innen aller Generationen und Geflüchtete konfrontiert sind. Die Erwartungshaltung geht über das Bedürfnis hinaus, ein Grundverständnis zwischen den Menschen dieses Landes zu etablieren. Der Wert eines Menschen wird an seiner Fähigkeit gemessen, sich diesen Anforderungen anzupassen.

    Je nachdem in welchen Kreisen man sich bewegt, ist ein akzentfreies Deutsch und eine möglichst fehlerfreie Schreibweise überlebenswichtig – von Stellenausschreibungen mal ganz abgesehen. Was, wenn meine Arbeitgeber*innen merken, dass ich nicht gut auf Deutsch schreiben kann? Ich lerne Deutsch schon seit 15 Jahren und muss trotzdem immer wieder meine E-Mails von meinen Kolleg*innen korrigieren lassen. Ich bin dankbar, wenn selbst die kürzesten Nachrichten durchgelesen werden.

    Warum muss ich mich schämen?

    Ich lernte schnell, stolz zu sein über Momente, in denen es mir gelang, einen fehlerfreien Text ohne Unterstützung zu verfassen oder meinen Akzent vollständig zu verstecken. In solchen Momenten fühlte ich mich zugehörig, als wäre ich endlich kurz vor dem Ziel, als offiziell „deutsch“ zu gelten. Meist war diese Freude aber von kurzer Dauer. Denn immer folgte auf Lob für mein akzentfreies Deutsch direkt im Anschluss die Frage nach meiner Herkunft. Ich schwankte zwischen dem Versuch, meiner Geschichte als Ecuadorianerin treu zu bleiben, und meinem Bedürfnis, mich anpassen zu wollen, was häufig in Frustration endete. Warum muss ich so viele Teile meiner Identität leugnen, als wären sie etwas Schlechtes, etwas wofür ich mich schämen müsste?

    Unterschiede akzeptieren und feiern

    In meiner Wut fand ich oft Trost in den Arbeiten von BIPoC-Autorinnen wie Audre Lorde. In ihren Texten fand ich die Sprache, die mir fehlte, um meine Empörung in Worte zu fassen. Mein Lieblingsessay ist „Die Werkzeuge des Herrn werden niemals das Haus des Herrn niederreißen“. Darin schreibt sie unter anderem über die Notwendigkeit der Anerkennung von Unterschieden als essenziell für die feministische Bewegung. Sie erklärt, dass unsere Differenzen keine Bedrohung darstellen. Die Akzeptanz dessen ist sogar der Grundstein eines solidarischen Miteinanders zwischen Frauen*. Ihrer Meinung nach darf Gemeinschaft nicht bedeuten, dass wir unsere Unterschiede aufgeben, aber wir dürfen nicht so tun, als würden diese Unterschiede nicht existieren.

    Differenzen wirken nicht selten bedrohlich. Der Drang nach einer Vereinheitlichung durch eine Integration „in das größere Ganze“ verdeutlicht diese Angst vor Veränderung und die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Geschichten und Lebensweisen. Ich zweifle, dass rund 80 Mio. Einwohner*innen Deutschlands sich jemals auf eine einzige Definition einigen können, was das „Deutschsein“ bedeutet. Dennoch hängen so viele an dieser Idee einer einheitlichen Kultur. Die Wirklichkeit sieht aber ganz anders aus. Vor allem gehört der Einfluss migrantischer Communities unweigerlich zur Konstruktion dieser deutschen „Einheit“. Trotzdem wird ihre geleistete Arbeit in verschiedenen Bereichen, wie Kultur und Politik, außer Acht gelassen. Ihre Errungenschaften werden nur abgesondert erwähnt. Dadurch gehen unsere gesellschaftlichen Beiträge verloren und Menschen, die neu ankommen, müssen von ganz vorne anfangen, gefangen zwischen hohen Erwartungen und Intoleranz. Dabei sind wir auch ein Teil der deutschen Geschichte und gehören mit allen Ecken und Kanten dazu. Wie Audre Lorde sehr zu Recht sagte:

    „Es sind nicht unsere Unterschiede, die uns trennen. Es ist unsere Unfähigkeit, diese Unterschiede anzuerkennen, zu akzeptieren und zu feiern.“

    Goodbye Integration

    Wenn ich nicht ändern kann, was Integration bedeutet und wie darüber gesprochen wird, dann möchte ich mich wenigstens von diesem Schamgefühl befreien, das mich so lange begleitet hat. Ich möchte lernen, auf andere Sachen stolz zu sein als eine fehlerfreie Aussprache. Ich will stolz auf meinen Akzent und die Kasus-Fehler sein, die sich immer wieder in meine Texte einschleichen. Darauf, dass ich immer wieder unabsichtlich neue Wortkombinationen erfinde, die keiner kennt. Ich möchte mich nicht länger anpassen müssen, um dazugehören zu dürfen. Unsere Unterschiede gehören zu Deutschland wie wir, es ist das, was uns verbindet. Sie sollen gefeiert und nicht dämonisiert werden.

    Hier kannst du mehr über unsere Autorin erfahren

  • Es geht nicht nur um eine Identität

    „Identitätspolitik“ ─ das erste Mal habe ich diesen Begriff in einem Artikel über eine meiner Lieblingspolitikerinnen gelesen: Alexandra Ocasio Cortez. Die Abgeordnete und Kongressabgeordnete der Demokratischen Partei in den USA,  „AOC“ genannt, ist die Frau, die ich sein möchte, wenn ich groß bin. Ja, in meinen Tagträumen sehe ich mich als Kind, das noch Zeit hat, irgendwann in der Zukunft erwachsen zu werden. Auch wenn ich schon 32 Jahre alt bin.

    Viele Aspekte der politischen Werte von Ocasio Cortez entsprechen meinen Überzeugungen und all dem, wovon ich in der Welt der Politik träume. Sie ist eine New Yorkerin aus der Arbeiterklasse – stark, mutig und entschlossen tritt sie auf. Eine Aktivistin, die Themen anpackt, die sie aus erster Hand kennt. Sie hat einen puertoricanischen Hintergrund. Sie spricht Spanisch und wuchs in der Bronx auf, einem Bezirk, der hauptsächlich aus migrantischen Gemeinschaften besteht. Ihre politische Arbeit basiert auf einer progressiven Plattform. Diese zielt darauf ab, ein für alle zugängliches Gesundheitssystem zu schaffen und Arbeitsgesetze sowie den Zugang zu höherer Bildung zu verbessern. AOC kritisiert furchtlos die Kriminalisierung von Migranten und fordert die Abschaffung der US-Einwanderungs- und Zollbehörden. Sie ist dafür bekannt, sich für die Rechte der LGBTIQ-Gemeinschaft einzusetzen und hat einen „New Green Deal“ entworfen, um auf die Klimakrise aufmerksam zu machen.

    Differenzierter sprechen lernen

    In besagtem Artikel wurde Ocasio Cortez vorgeworfen, Identitätspolitik zu ihrem Vorteil zu nutzen. Der*die Autor*in, der*die unter dem Namen „revolutionäre Ideen“[1] veröffentlichte, behauptete, sie nutze ihre Identität und Herkunft, um die Unterstützung von Latinx[2]-Wähler*innen zu gewinnen. Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, woher diese Annahme kommt. Das Konzept der Identitätspolitik wird in vielen Diskussionen ungenau verwendet. Der Definition wird nie so viel Bedeutung beigemessen wie der Frage nach dem Warum der Verwendung.

    Anhänger*innen der Rechten und sogar Menschen des linken politischen Spektrums argumentieren oft, dass Identitätspolitik eine „egoistische“ und gespaltene Gesellschaft schaffe, in der jede*r nur auf seine*ihre Interessen achten würde. Für Leser*innen, die zum ersten Mal mit dem Konzept der Identitätspolitik in Berührung kommen, mag dies eine berechtigte Sorge sein. Wenn jede*r eine*n Kandidat*in wählt, dessen Identität der eigenen am ähnlichsten ist, bedeutet das dann, dass dies auf lange Sicht eine polarisierende Wirkung auf die Politik des Landes haben wird? Nein, nicht wirklich – wir müssen aber differenzierter über dieses Konzept sprechen.

    Identitätspolitik (neu) definieren

    Laut dem Cambridge Dictionary kann Identitätspolitik definiert werden als „politische Überzeugungen und Systeme, die der Gruppe, der sich die Menschen zugehörig fühlen, große Bedeutung beimessen, insbesondere in Bezug auf ihre Rasse, ihr Geschlecht oder ihre sexuelle Orientierung“. Es ist nicht einfach, eine genaue und objektive Beschreibung des Konzepts zu finden. Je nach Kontext wird Identitätspolitik oft so interpretiert, dass eine Gruppe sich selbst gegenüber einer anderen bevorzugt. Rechtsgerichtete Parteien nutzen diese Interpretation im Allgemeinen, um Politiker*innen anzuprangern, die eine bessere Vertretung der Gruppen anstreben, denen sie angehören. Rechte Parteien, wie die AfD, haben jedoch eine Zielgruppe, die sie öffentlich gegenüber anderen bevorzugen. Sie profitieren von einer Version der „deutschen Identität“, die ihre Wähler*innenschaft anspricht.

    Man braucht nur an einem AfD-Plakat vorbeizugehen, um sich zu erinnern, an wen sich ihre Werbung richtet. Während ich mich vielleicht nicht zugehörig (oder gar diskriminiert) fühle, kann ich mir die Emotionen vorstellen, die sie bei den durchschnittlichen weißen konservativen Wähler*innen mittleren Alters auslösen. Bei den Menschen also, die an die auf ihren Plakaten dargestellte „deutsche Identität“ glauben. Identitätspolitik wurde von rechten und konservativen Parteien bereits ausgiebig genutzt, lange bevor das Konzept zu einem viel diskutierten Thema wurde. Doch wenn marginalisierte Gemeinschaften politischen Einfluss suchen, indem sie für Kandidat*innen stimmen, mit denen sie sich identifizieren, wird ihnen vorgeworfen, die Einheit zu gefährden.

    Vielfalt und Verschiedenheit der Interessen gleichermaßen vertreten

    Während meiner Recherche stieß ich auf ein Interview mit der politischen Aktivistin und Gründerin des Center for International Justice (CIJ) in Berlin, Dr. Emilia Roig, die sich gegen Diskriminierung und Rassismus einsetzt. In ihrem Interview mit dem BR Puzzle Kulturmagazin erklärt sie, dass es bei Identitätspolitik darum geht, „die Vielfalt und Verschiedenheit der Interessen gleichermaßen zu vertreten“[3]. Laut Roig steht das Konzept für den Kampf um ein politisches System, in dem die Bedürfnisse und Anliegen der Menschen, die in den Hintergrund gedrängt wurden, sichtbar werden. Infolgedessen kann es marginalisierte Gemeinschaften in mehrfacher Hinsicht begünstigen.

    Menschen aus diesen Gemeinschaften, die politische Ämter bekleiden, haben mit größerer Wahrscheinlichkeit persönliche Erfahrungen mit Ungleichheit und Diskriminierung. Ihre Erfahrungen mit diesen Themen können dazu beitragen, den Weg für eine Politik zu ebnen, die sich nicht nur an eine privilegierte Gruppe von Menschen wendet. Ein weiterer Vorteil ist die Repräsentation. Vertreter*innen in öffentlichen Ämtern zu haben, ist für das kollektive Selbstwertgefühl einer Gruppe wesentlich und für die politische Ermächtigung unerlässlich. Die Definition von Roig zeigt also, warum Identitätspolitik auch als etwas Positives und sogar Notwendiges im Kampf für Gleichberechtigung interpretiert werden kann.

    Jede Definition kritisch betrachten

    Es ist von entscheidender Bedeutung, jede Definition dieses Konzepts kritisch zu betrachten. Ganz gleich, ob wir sie in einem Artikel lesen oder in einer politischen Debatte hören. Vor allem, wenn sie dazu verwendet wird, die Stimmen von Menschen zu untergraben, die sich für ein vielfältigeres politisches System einsetzen.

    Roigs Definition brachte mich zurück zu Ocasio Cortez und den Gründen, warum ich ihren politischen Weg bewundere. Menschen, die Identitätspolitik in Frage stellen, könnten sagen, dass der Teil ihrer politischen Persönlichkeit, der mich am meisten inspiriert, die Gemeinsamkeiten sind, die wir teilen. Und dass dies der Grund ist, warum ich ihre politische Haltung unterstütze. Damit haben sie vielleicht nicht ganz unrecht.

    „Ich möchte mehr Schwarze, Indigene und People of Color im deutschen Kabinett“

    Ohne zu viele Aspekte ihres persönlichen Lebens zu kennen, gebe ich zu, dass ich mich von ihrer persönlichen Geschichte angezogen fühle. Ich kann mich mit ihrem Kampf identifizieren und verstehe die Hindernisse, die sie überwinden musste, um ihre Ziele zu erreichen. Aber zu behaupten, dies sei der einzige Grund, warum ich eine*n Kandidat*innen unterstützen würde, ist reduktiv. Und auch ein wenig herablassend. Nicht jede*r Kandidat*in einer marginalisierten Gruppe kann alle Facetten der Gemeinschaft repräsentieren, aus der er*sie kommt. Auch stimmen die Werte von Ocasio Cortez nicht mit denen aller Menschen der Latinx-Gemeinschaft überein.

    In ihrem Wahlkampfvideo fassen ihre Worte zusammen, worum es meiner Meinung nach bei der Identitätspolitik geht: „Es ist ein Unterschied, ob jemand sagt: ‚Wählt mich, ich bin Latina‘ oder ob er*sie sagt: ‚Latinos verdienen eine gleichberechtigte Vertretung und einen Platz am Tisch‘“[4].

    Es geht nicht nur um eine Gruppe oder eine Identität

    Gerade vor dem Hintergrund der Bundestagswahl wünsche ich mir eine Kandidat*in wie AOC. Ich möchte mehr Schwarze, Indigene und People of Color im deutschen Kabinett sehen, die die spezifischen Probleme von Migrant*innen in diesem Land verstehen. Wir brauchen einen potenzielle*n Kanzler*in, der*die sich mit den Themen Asyl und Integration beschäftigt. Und der*die aus erster Hand weiß, was es heißt, diskriminiert und übergangen zu werden.

    Darüber hinaus erwarte ich von politischen Vertreter*innen, die gleiche Empathie und Bereitschaft für die Interessen der LGBTIQ-Gemeinschaft, von Menschen mit Behinderungen, Sexarbeiter*innen und einer langen Liste von entrechteten Gruppen, denen ich nicht direkt angehöre. Es geht nicht nur um eine Person, eine Gruppe oder eine Identität. Wir alle brauchen und verdienen mehr Vertretung, mehr Sitze am Tisch. Ich hoffe, dieser Traum wird eher früher als später wahr.

     

    Übersetzt aus dem Englischen von Luisa Stühlmeyer

     

    Quellen:

    [1] Alexandria Ocasio-Cortez: Fetishizing “Identity Politics” can pay big, at times, Revolutionary Ideas, Medium. Stand: 27.06.2018

    [2] Latinx ist ein genderneutraler Begriff, der auf Menschen aus Lateinamerika oder. Das “x” ersetzt das “o/a” amm Ende der gegenderten Form Latina und Latino.

    [3] Über Privilegien und Identität, mit Politologin Dr. Emilia Roig, von Andreas Krieger

    Stand: 17.05.2021br.de

    [4] Alexandria Ocasio-Cortez Could Be The First Latina to Represent Her District in Congress

    Stand: Jun 19, 2018, youtube.com

     

    Diesen Artikel wurde am 9.9 auf Englisch veröffentlicht / nach der Bundestagswahl lektoriert und minimal überarbeitet von Susanne Brandt.

    https://kohero-magazin.com/ocasio-cortez-a-candidate-like-me/

     

  • Sprachweh

    Als ich Ende 2015 in Deutschland angekommen bin, habe ich mich entschieden, dass ich hier in die Gesellschaft integriert, und auch ein engagiertes Mitglied sein möchte. Mein erster Schritt war, mit Unterstützer:innen zusammen das kohero Magazin (damals noch Flüchtling Magazin) zu gründen. Ende 2017 erlebte ich aber einen Schockmoment. Ich habe zum ersten Mal eine unschöne Seite der deutschen Gesellschaft (wie ich sie damals kannte) gesehen. Zum ersten Mal seit meiner Ankunft fühlte ich mich unsicher in Hamburg. 

    Zu dem Zeitpunkt hatte ich nur wenig Kontakt mit anderen Syrer:innen oder arabischsprachigen Menschen, was vielleicht einige überraschen mag. Es wird ja oft über Geflüchtete und Migrant:innen gesagt, sie „bleiben unter sich“ in Deutschland, als ob das automatisch etwas Schlechtes ist. Ich war zu der Zeit sehr mit dem Aufbau meines Magazins beschäftigt und arbeitete 99% der Zeit mit Deutschen und deutschsprachigen Kolleg:innen. Es kam alles so zusammen, dass ich plötzlich ein tiefes Fremdgefühl spürte und meine Muttersprache, Arabisch, sehr vermisste. 

    Sprache ist zum Beschreiben, zum Träumen, zum Nachdenken, zum Austauschen, zum Erinnern und und und…

    Ich habe mich damals mit diesem Gefühl beschäftigt, weil es auch für mich neu war. 2014 musste ich aus meinem Heimatland Syrien flüchten, warum also fühlte ich drei Jahre später diesen Wunsch nach meiner Muttersprache? Ich habe auch versucht, ein Wort auf Deutsch zu finden, was mein Gefühl beschreibt. Weil ich viel an Heimweh gedacht habe, kam ich dann auf Sprachweh. Ich hatte Sprachweh. 

    Ich verstehe Heimweh so, dass ein Mensch die eigene Heimat so stark vermisst, dass es zu einer Sehnsucht wird. Sprachweh bedeutet für mich, wenn ich viel an meine Muttersprache denken muss und sie so sehr vermisse, weil es keinen Ort hier für mich gibt, die Sprache zu erleben. Ich brauche Sprache, um Worte auszudrücken, aber ich brauche sie auch noch für viel mehr: Sprache ist zum Beschreiben, zum Träumen, zum Nachdenken, zum Austauschen, zum Erinnern und und und… 

    Meiner Meinung nach kann auch ein Gefühl der Zugehörigkeit nicht ohne Sprache funktionieren. Freundschaften funktionieren selten ohne Sprache. Sich zu verlieben und eine Beziehung zu führen, braucht eine gemeinsame Sprache. Die jüdische, deutsche Denkerin Hannah Arendt, die 1933 aus Deutschland flüchten musste, schrieb kurz nach ihrer Ankunft in New York: „Wir haben unsere Sprache verloren und mit ihr die Natürlichkeit unserer Reaktionen, die Einfachheit unserer Gebärden und den ungezwungenen Ausdruck unserer Gefühle.“ Ich weiß nicht, ob Menschen mit einer Muttersprache und einer Heimat sich vorstellen können, wie es ist, mehrsprachig durch den Alltag zu gehen. Du kannst keine schnellen Witze mehr erzählen, da muss erst jedes Wort vorsichtig im Kopf übersetzt werden. Zwei Verliebte können das gleiche Lied hören, aber nur eine:r versteht die Bedeutung. 

     

    View this post on Instagram

     

    A post shared by Huossam Al Zaher (@al_zaher_h)

     

    Um mein Sprachweh auszudrücken, habe ich 2019 angefangen, auf meinem Instagram ein paar meiner syrisch-arabischen Lieblingsworte zu übersetzen. Ich veröffentliche die Worte mit dem Versuch, ähnliche Worte auf Deutsch zu finden und damit meinen deutschen Freund:innen, Kolleg:innen, Bekannten und meiner zukünftigen Schwiegerfamilie auch mehr von meiner Muttersprache zeigen zu können. Gleichzeitig konnte ich mich auch wieder mit meiner Muttersprache beschäftigen.

    „Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt.“ 

    Mit der Zeit konnte ich viel Vertrauen in die deutsche Gesellschaft zurückgewinnen und fühlte mich weniger fremd als damals, vor drei Jahren. Ich denke, ich kann heute ein größeres Bild sehen und erkennen, dass die deutsche Gesellschaft (und ihre Sprache) aus Menschen besteht, die Geflüchtete willkommen heißen und ihnen damals und heute sehr viel helfen. Und es gibt auch Menschen, die sich laut und aggressiv gegen Geflüchtete (und Migration allgemein) stellen. Dann gibt es noch sehr, sehr viele Menschen, die irgendwo in der Mitte stehen und nicht die Zeit oder das Interesse haben, sich mit Flucht und Migration zu beschäftigen.  

    Dazu kommt auch, dass ich mir selbst neue Wege gesucht habe, mit meiner Muttersprache in Kontakt zu bleiben. Ich höre viele arabischsprachige Podcasts und ich habe meine Social Media Communities heute mehr gemischt. Ob das mein Sprachweh wirklich stillen kann, kann ich noch nicht sagen. Aber es zeigt mir, dass ich es schaffen kann, in zwei Sprachwelten zu leben. Ich möchte mit einem Zitat von Ludwig Wittgenstein enden: „Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt.“

     

     

    View this post on Instagram

     

    A post shared by Huossam Al Zaher (@al_zaher_h)

  • Warum ich auf Solidarität in der Corona-Zeit hoffe

    Corona hat die meisten von uns Menschen überrascht und in den letzten eineinhalb Jahren manche verunsichert. Viele leben mit neuer Angst, Sorge, Krankheit oder auch Armut. Angst und Sorgen kreisen um uns selbst, aber auch um unsere Familien, unsere Freund:innen und um die ganze Gesellschaft. 

    Ich habe in meinem Artikel „Einen Fuß in der Tür“ für die taz nord einige besonderen Erlebnisse von geflüchteten Menschen während der langen Coronazeit beschrieben. Hier kommen nun weitere Eindrücke hinzu. Vielleicht haben das schon mehrere Menschen so oder ähnlich erlebt. Es geht (leider) mal wieder um die Corona-Pandemie, um Menschen, die sich nicht impfen lassen wollen und um Angst. 

    Wer die aktuellen Nachrichten liest, der:die weiß, dass viele Informationen über das Virus SARS-COV2 veröffentlicht wurden, und der:die weiß auch, wie viele Menschen jetzt gerade auf einer Intensivstation behandelt werden müssen. Was wir nicht genau wissen können ist, wie viele Menschen mit Langzeitfolgen leben müssen. Andere Sachen lassen sich nicht so leicht in eine Statistik übersetzten, zum Beispiel wie viele Ärzte, Ärztinnen, Pfleger:innen und Gesundheitsschaffende gekämpft haben, um jede Seele vor einer schweren Krankheit zu retten. 

    Überzeugungsgespräche zu Corona sind selten erfolgreich

    Was sich auch nicht leicht in Zahlen sagen lässt, ist wie Menschen in unserem Umfeld und Bekanntenkreisen mit diesen Informationen über das Virus umgehen. Was macht Angst vor einer bisher unbekannten Krankheit mit einem Menschen? Wer wird unsicher, wer aggressiv, wer demütig? 

    Ich kenne einige Menschen, die sagen: Das ist alles nicht so schlimm. Ich kann nicht genau sagen, woher diese Meinung kommt. Manchmal sprechen sie über die Pharmaunternehmen, die mit Medikamenten sehr viel Geld verdienen. Oder sie sprechen über die Kraft der Natur und von „natürlichen“ Abwehrkräften der Menschen. Oder die Menschen haben einfach noch niemanden in ihrem engen Kreis, der:die unter Corona leiden musste und kann deswegen keine Gefahr erkennen. Es gibt viele weitere Gründe. Alle, die schon mal versucht haben, eine Person von den Coronaproblemen zu überzeugen, kennen diese und andere Argumente vermutlich.

    Nach meiner Erfahrung war noch kein Überzeugungsgespräch erfolgreich. Jedenfalls ist das mein Gefühl nach solchen Gesprächen. Es ist möglich, dass sich einige von uns nach so einem Gespräch sagen: „Ich hoffe, dass mein:e Freund:in kein Corona bekommt, damit er oder sie nicht selbst sehen muss, wie schlimm eine Infektion sein kann!“ 

    Hoffentlich muss er oder sie die Krankheit nicht erst selbst erleben – oder vielleicht doch?

    Ich finde es falsch, so zu denken. Denn wer sollte jemandem eine Krankheit wünschen? Und gleichzeitig finde ich es interessant, die Gründe dahinter anzugucken. Versuche ich, die andere Person zu meiner Überzeugung zu zwingen, weil ich besser informiert bin? Oder denken wir, die überzeugen wollen, dass die andere Person uns braucht?  

    Und was wäre wenn, diese:r Freund:in, der wir vielleicht heimlich eine Infektion gewünscht haben, dann einen vergleichbar leichten Verlauf hat, mit nur ein bisschen Kopfschmerzen? Ärgern wir uns dann auch darüber, weil das Schicksal ihre:seine Falschinformation bestätigt hat? 

    Obwohl wir als Gesellschaft seit Februar 2020 lernen mussten, wie wir uns als Menschen vor dem Covid-19 schützen können, können wir diese Fragen nur schwer beantworten. Denn am Ende des Tages wollen wir uns ja alle schützen, nur auf unterschiedlichen Wege.

    Barmherzigkeit meint Mitgefühl füreinander

    Ich habe mir selber viele von diesen Fragen gestellt, auch wenn ich mit anderen Syrer:innen spreche. Ich versuche dann, die verschiedenen Statistiken zu sehen, die auch viele Genesene aufzeigen. Diese Menschen haben Covid-19 überlebt und müssen (hoffentlich) nicht mehr leiden. Aber trotzdem denke ich, dass die Menschen, die daran glauben dass, sie zu dieser Gruppe gehören werden, zu egoistisch denken. Was ist mit den 92.000 Menschen, die mit Covid-19 gestorben sind? Haben sie und ihre Angehörigen nicht mehr Solidarität verdient? 

    Als gläubiger Mann kann ich mich neben den Zahlen auch an meine Religion wenden. Der islamische Prophet Mohammed (Gott segne ihn und schenke ihm Heil) soll gesagt haben: „Die Gläubigen sind in ihrer Zuneigung, Barmherzigkeit und ihrem Mitleid zueinander einem Körper gleich: Wenn ein Teil davon leidet, reagiert der ganze Körper mit Schlaflosigkeit und Fieber!“ Mit diesem Bild im Kopf versuche ich auf unsere Gesellschaft zu gucken und auf ein Ende der Corona-Pandemie zu hoffen. 

     

  • Bundestagswahl: Was sagen die Ergebnisse über Deutschland?

    Für mich war neben den Ergebnissen auch die Wahlbeteiligung 2021 sehr wichtig, die bei 76,6 % in ganz Deutschland lag. Diese Zahl zeigt mir, dass die Teilhabe an der Demokratie tief in der Gesellschaft verwurzelt ist. Sie ist im europäischen Vergleich zwar nicht die höchste, auch nicht die schlechteste – aber ich finde, es ist ein wichtiges Zeichen für das Vertrauen in die Demokratie vieler Millionen Menschen. 

     

    Zu den vorläufigen Ergebnissen habe ich einige Gedanken und Fragen. Einerseits sehe ich, dass es keine Volksparteien mehr gibt – jedenfalls nicht gemessen an den Wähler:innenstimmen. Oder sind 25% bis 26% genug, um diesen Titel zu behalten? Ich frage mich immer was es bedeutet, eine Volkspartei in einer vielfältigen, demokratischen Gesellschaft zu sein? Auch wenn diese Partei in einem Wahljahr viele Stimmen bekommt, irgendwann kann sie diese wieder verlieren. Denn auch “das Volk” verändert sich. Und das ist genau, was mit CDU und SDU passiert ist. Aber auch die Grünen, mit dem wichtigen Thema Umweltschutz und dem Kampf gegen den Klimawandel, werden nicht zur neuen Volkspartei. Vielleicht braucht die deutsche Gesellschaft keine Volksparteien mehr? 

     

    Gleichzeitig ist eine Mehrheit der Wähler:innen noch an der Mitte des politischen Spektrums interessiert. Extreme Kandidat:innen wie z.B. der ehemalige Chef des Verfassungsschutzes ​​Hans-Georg Maaßen bekamen weniger Zuspruch als 2017. Der Versuch der Thüringer CDU, gleichzeitig in der Mitte und am rechten Rand zu stehen, ist gescheitert.

    Das Wahlergebnis ist eine klare Nachricht der Wähler:innen an die CDU/CSU: Die deutsche Gesellschaft hat sich verändert.

     

    Eine große Frage ist, ob Armin Laschet die Verantwortung für den historischen Verlust der CDU/CSU trägt? Es wird schon viel diskutiert. Ich persönlich glaube, dass die CDU/CSU im Jahr 2021 nicht mehr wie die ‘Mutter’ oder der ‘Vater’ von allen Wähler:innen auftreten kann, besonders nicht ohne Angela Merkel. Was Deutschland nach 16 Jahren von Merkels Stabilität braucht, sind neue Ideen und neue Gesichter. Ich glaube, dass auch deswegen viele der GroKo-CDU-Kandidat:innen (z.B. Peter Altmeier, Julia Klöckner oder AKK) ihre Direktmandate verloren haben.

    Die Zeit ist gekommen, dass die CDU/CSU in die Opposition geht. Dadurch bekommt sie die Chance, sich neu zu organisieren, sich neu zu orientieren und auch viele Fehler der letzten Jahre (Stichworte: Maskenaffäre oder Maut) reflektiert. Gleichzeitig ist das Wahlergebnis eine klare Nachricht der Wähler:innen an die CDU/CSU: Die deutsche Gesellschaft hat sich verändert, viele sind zu anderen Parteien gewechselt, weil sie neue Antworten suchen.

    Die Grünen haben die Veränderungen in der Gesellschaft schon länger gesehen. Vielleicht aber haben sie den Wunsch nach Veränderung in der Politik überschätzt. Oder wie ist ihr Wahlergebnis von unter 15% zu bewerten? Auf der einen Seite ist es 7,5% mehr als 2017, auf der anderen Seite gab es vor ein paar Monaten noch die Hoffnung auf 20, 22 oder 25%. Ich habe bei dem grünen Wahlkampf etwas Wichtiges über Fehlerkultur gelernt: Die Menschen sind sehr sensibel, was die Fehler von Annalena Baerbock angeht. Als neue Politikerin ohne Regierungserfahrung haben viele Wähler:innen das Vertrauen in sie schnell wieder verloren. Viele Menschen konnten ihr nicht verzeihen und wollten Baerbock keine zweite Chance geben, obwohl es in der deutschen Politik genug Beispiele für Fehler und Verzeihen (oder Vergessen) gibt. Die Frage, ob die Grünen nun gewonnen (im Vergleich zu 2017) oder verloren (im Vergleich zu den Erwartungen oder Chancen) haben, beantwortet jede:r Wähler:in unterschiedlich. Vielleicht haben sie auch verloren, obwohl sie gewonnen haben. 

     

    Migration, Flucht und Asyl sind nicht mehr die großen Streitthemen in Deutschland.

     

    Für mich war es eine große Erleichterung, dass die SPD nicht von ihren Kolleg:innen in Dänemark beeinflusst wurde. Sie hat nicht versucht, mit einer harten, migrationskritischen und Anti-Geflüchteten-Politik Wähler:innen zu gewinnen. Das kann auch daran liegen, dass Migration, Flucht und Asyl nicht mehr die großen Streitthemen in Deutschland sind, wie sie es 2017 waren. Die SPD hat mit ihrem (überraschenden) Erfolg jetzt die Möglichkeit, ihre eigene sozialdemokratische Politik zu machen, ohne dass diese von der CDU und Frau Merkel verschluckt wird. Die Frage ist, was wird das Ergebnis? In der Koalition zwischen SPD und Grüne 2002 wurde das Konzept für Hartz IV geboren. Hartz IV ist, wie viele Dinge in Deutschland, ein sehr altes Model und braucht dringend eine Modernisierung. 

    Für mich als Geflüchteter, Syrer, Mensch mit Migrationshintergrund und/oder nicht wahlberechtigter Hamburger ist diese Wahl auch besonders interessant, weil viele Menschen die ich kenne, eine große Bewunderung für Bundeskanzlerin Merkel haben. Von Syrer:innen wird sie Mama Merkel genannt. Die Gesetze ihrer Partei waren in den letzten sechs Jahren nicht wirklich vorteilhaft für Geflüchtete und Migrant:innen. Trotzdessen verbinden viele Geflüchtete mit ihr eine Willkommenskultur und die Chance auf ein neues Leben in Sicherheit und Freiheit. 

     

    2021 wurden Menschen mit den unterschiedlichsten Geschichten und Lebenswegen gewählt.

     

    Vielleicht sollten wir auf die vielen Abgeordneten gucken, die neu in den Bundestagswahl gewählt (oder wieder gewählt) wurden, die aus eigener Erfahrung wissen, wie es ist, als Mensch mit Flucht- oder Migrationsgeschichte in Deutschland zu leben. 2017 wurden von den 709 Abgeordneten auch 58 mit dem sogenannten “Migrationshintergrund” gewählt, so der Mediendienst Integration. 2021 hat sich diese Zahl nochmals vergrößert und es wurden Menschen mit den unterschiedlichsten Geschichten und Lebenswegen gewählt.

    Die beiden erfolgreichsten Direktkandidat:innen der Grünen heißen Cem Özdemir und Canan Bayram. Frankfurt am Main hat zum ersten Mal zwei Direktkandidaten mit Migrationsgeschichte in den Bundestag gewählt: Omid Nouripour (Grüne) und Armand Zorn (SPD). In Schwerin hat Reem Alabali-Radovan zum ersten Mal ein Direktmandat für eine Abgeordnete mit Migrationsgeschichte geholt (für die SPD). Sie sagte der dpa dazu: “Das hat für mich eine besondere Bedeutung, da ich zum einen ein modernes Bild von Mecklenburg-Vorpommern im Bundestag repräsentieren kann”. Viele Syrer:innen freuen sich mit ihr und auch mit Lamya Kaddor (Grüne) aus Duisburg. Der 28-jährige Kassem Taher Saleh kann für die Grünen in Sachsen die Perspektive von geflüchteten Menschen vertreten, er ist selbst im Alter von zehn Jahren mit seiner Familie aus dem Irak nach Deutschland geflüchtet. In seiner Bewerbungsrede als Landesvorstandssprecher der Grünen 2018 sagte er: “​​Politische Erfahrung bedeutet für mich, zu wissen, wie es sich anfühlt im Asylheim zu wohnen und trotz der Barrieren Teil unserer städtischen Gesellschaft zu werden”. 

     

    Abgeordnete mit Flucht- oder Migrationserfahrung sind in einer schwierigen Position.

     

    Dabei ist es mir auch wichtig zu sagen, dass unsere Gesellschaft sehr vielfältig ist. Außerdem bedeutet politische Repräsentation, dass wir mit der Zeit diese Vielfalt auch im Bundestag sehen werden. Aber ein Mensch, ob aus dem Irak geflüchtet oder mit Großeltern aus der Türkei, kann unmöglich alle Menschen “mit Migrationshintergrund” repräsentieren. Es gibt keine einheitliche Gruppe “die Flüchtlinge” oder “die Syrer:innen”, sondern sehr viele unterschiedlichen Communities und Meinungen.

    Und ich finde auch, dass die Abgeordneten mit Flucht- oder Migrationserfahrung in einer schwierigen Position sind. Auf der einen Seite ist die Erwartungshaltung, dass sich Politiker:innen für alle Wähler:innen und Bürger:innen einsetzen. Auf der anderen Seite gibt es hohe Erwartungen aus ihren Communities, dass sie sich für ihre Themen einsetzen. Neue deutsche Politiker:innen stehen besonders im Fokus und jedes ihrer Worte wird analysiert und unter dem Titel “Identität” doppelt untersucht. Die neuen Abgeordneten mit ihrer vielfältigen, internationalen Geschichten können aber auch Brückenbauer:innen zwischen der Mehr- und der Minderheit werden. Die Frage ist, ist es fair, diese hohen Erwartungen nur ihnen gegenüber zu haben?

    Der Chefredakteur von MIGAZIN hat auf Twitter gefragt: “Wenn heute Millionen nicht wahlberechtigte Ausländer mitwählen dürften, würde #noAfD die meisten Stimmanteile verlieren. Dieses Potenzial wurde auch bei dieser #btw21 nicht abgerufen. Warum?” 

    Ich finde, wir können das nicht so genau sagen. Auch Menschen ohne die deutsche Staatsbürgerschaft können konservativ oder rechts denken und wählen. Aber das Ergebnis einer symbolischen Wahl für Nicht-Wahlberechtigte, veranstaltet von dem Netzwerk WIR WÄHLEN in 14 Städten, zeigt, dass die AfD mit 0,7% der Stimmen doch sehr unbeliebt ist. 2021 waren 9,5 Millionen Menschen, die in Deutschland leben aber keine deutsche Staatsbürgerschaft haben, nicht wahlberechtigt. Das sind laut WIR WÄHLEN ungefähr 14% der volljährigen Bürger:innen in Deutschland. 

     

    Jede neue Stimme in einer demokratischen Gesellschaft ist wichtig und bringt neue Gedanken und vielleicht neue Lösungen.

     

    Auch ich darf nicht wählen, weil ich keinen deutschen Pass habe. Obwohl ich seit sechs Jahren in Deutschland lebe, arbeite und (wie ich finde) mich gut in diese Gesellschaft integriert habe. Trotzdem darf ich die Zukunft dieses Landes nicht mitbestimmen. Noch nicht einmal die Zukunft meiner Stadt oder meines Viertels. Obwohl immer gesagt wird, dass wir keine Parallelgesellschaft haben möchten, werden Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft ausgegrenzt. Ich finde es schwer, mich zu 100% zugehörig zu fühlen, wenn ich hier nicht wählen darf. Mit dem Wahlrecht wäre ich ein noch aktiveres und engagierteres Mitglied der deutschen Gesellschaft. Jede neue Stimme in einer demokratischen Gesellschaft ist wichtig und bringt neue Gedanken und vielleicht neue Lösungen. 

    Seit zwei Jahren habe ich die Volt Partei und ihre Ideen verfolgt und ich habe mir gewünscht, dass sie es bei dieser Wahl doch in den Bundestag schaffen. Sie sind eine sehr junge Partei und soweit ich das erkennen kann, haben sie viel mehr Politiker:innen ohne Migrationsgeschichte … aber ich finde die Basis ihrer Ideen sehr interessant, besonderes für uns Menschen mit Flucht- oder Migrationsgeschichte. Wenn wir Politik auf der europäischen Ebene sehen, könnten wir vielleicht weniger über das Deutschsein oder die deutschen Leitkultur sprechen. Unsere Zugehörigkeitsempfinden wird stärker, wenn wir uns nicht nur auf die deutsche Identität konzentrieren. 

    Heute, zwei Tage nach der Bundestagswahl, freue ich mich auf jede nächste Wahl in Deutschland. Die Ergebnisse bringen uns nicht nur Zahlen und Fakten. Sie sind auch ein Zeichen dafür, wie die Gesellschaft sich verändert, welche Probleme es gibt und welche Lösungen sich die Wähler:innen wünschen. Die Mehrheit in diesem Wahjahr für die SPD und die vielen Stimmen für Grüne und FDP bedeutet für mich, dass es eine Mehrheit für neue und kreative Ideen gibt, für Digitalisierung, für Veränderung ohne Angst vor der neuen Zeit. 

  • Wählen – meine einmalige Erfahrung

    In meinem Leben durfte ich erst einmal wählen. Ich bin 34 Jahre alt. Die Parlaments- und Provinzratswahlen in Afghanistan 2005 waren meine erste und bisher einzige Erfahrung mit dem Wählen. Sie fanden im Spetember 2005 statt. Die Bekanntgabe der Ergebnisse wurden wegen des Vorwurfs des Wahlbetrugs verzögert und erst im Noveber bekannt gegeben.

    Wenn ich mich recht erinnere, bestand das Wahlverfahren darin, dass sich jeder Bürger mit seinem Personalausweis registrieren lassen musste, um eine Wahlkarte zu erhalten, mit der man am Wahltag wählen konnte. Die Registrierung dauerte einen Monat.

    Nachdem die Registrierung abgeschlossen war, kam der Wahltag und wir durften wählen. Wenn man am Wahltag seine Stimme abgegeben hatte, wurde der Indexfinger gefärbt , damit sichtbar war, dass man bereits gewählt hatte und in keinem anderen Wahllokal mehr wählen durfte.

    Das Wählen ist das Schöne an der Demokratie, aber gleichzeitig ein grundlegendes Recht für die Bürger*innen eines Landes. Es ist der wichtigste Bestandteil eines demokratischen Systems. Verwehrt man den Bürger*innen die Möglichkeit, an der politischen Gesellschaft teilzunehmen, verwehrt man ihnen ihre Grundrechte.

    Die Bürgerrechte garantieren gleiche soziale Chancen und gleichen Schutz vor dem Gesetz, unabhängig von Rasse, Religion oder anderen persönlichen Merkmalen. Die Staatsgewalt muss diese gewähren und sicherstellen.

     

    Morgen wird in Deutschland gewählt!

     

    In Deutschland ist morgen die Bundestagswahl. Alle deutschen Staatsbürger über 18 Jahren sind wahlberechtigt (Art. 38, Abs. 2 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland). Das ist in den meisten Ländern so und Afghanistan ist dabei keine Ausnahme.

    Obwohl sich die Gesamtsituation in Afghanistan in den letzten 20 Jahren etwas verbessert hatte, gab es Korruption und viele Probleme bei den Wahlen. Ich würde aber sagen, dass es trotz der Probleme, Streitigkeiten und Korruption immer noch gut war, dass das Volk seine Stimme abgeben und seinen eigenen Führer wählen konnte.

    Im Jahr 2004 sollten in Afghanistan Präsidential- und Parlamentswahlen abgehalten werden, um die Übergangsregierung zu ersetzen. Dabei erhielt Hamid Karzai 55,4 % der Stimmen und wurde Präsident. Er erhielt dreimal so viele Stimmen wie jeder andere Kandidat. Dieses eindeutige – und nicht überraschende – Ergebnis zeigte, dass viele Menschen Karzai in der damaligen politischen Situation als ihren Präsidenten für die nächsten Jahre haben wollten.

     

    Diese Wahlen fanden in Afghanistan auch noch statt:

    Die Präsidential- und Provinzialratswahl 2009, die jedoch von mangelnder Sicherheit, Gewalt, geringer Wahlbeteiligung, Wahlmanipulation, Einschüchterung und anderen Wahlfälschungen geprägt waren.

    Bei den Parlamentswahlen 2010 schüchterten die Taliban die Dorfbewohner*innen in bestimmten Gebieten ein, damit sie nicht wählen gehen. Sie warnten sie, dass sie jeder Person die Finger abschneiden würden, die wählen ginge.

    2014 war Hamid Karzai bei den Präsidentschaftswahlen aufgrund der Amtszeitbeschränkung nicht wählbar und Ghani wurde zum Wahlsieger und Präsidenten erklärt.

    Die Parlamentswahlen 2018 sollten eigentlich schon 2016 stattfinden, wurden aber verschoben. Grund dafür waren Debatten über eine Reform der Wahlgesetze in Afghanistan. Das Parlament trat allerdings erst im April 2019 in Kraft.

     

    Inzwischen lebe ich in Deutschland. Ich warte sehnsüchtig darauf, in Zukunft wieder wählen zu dürfen, um die politische Zukunft mitbestimmen zu können.

  • Der Kampf um das Wahlrecht

    Wahlprogramme, Werbekampagnen, Plagiate auf einer Seite und Gelächter über die Trümmer der Flutkatastrophe auf der anderen Seite sorgen für viele Diskussionen unter den Menschen und lassen sie eine wichtige Frage stellen, wen sie bei den nächsten Wahlen wählen werden.

    Bei den Wahlen nur als Zuschauer!

    2017 lud mich eine Freundin ein, das Wahlerlebnis im Hagener Rathaus zu erleben. Dort sah ich zu, wie die Parteivertreter*innen und Bürger*innen der Stadt die Wahlergebnisse abwarten. Nach der Veröffentlichung der Ergebnisse schwankten die Reaktionen zwischen glücklich und enttäuscht, trotzdem wünschten alle den anderen viel Glück. Dies war das erste Mal, dass ich einen solchen Prozess hautnah miterlebte. Obwohl ich damals bei diesen Wahlen nicht wählen konnte, habe ich zumindest einen Tag lang den Fortschritt des Politisch-Demokratischen miterlebt.

    Für mich wird der kommende 26. September noch ein normaler Tag sein, an dem ich mit meiner Familie bzw. meinen Freund*innen was unpolitisch unternehmen werde. Der Grund ist, wir dürfen nicht über die neue Zukunft des Landes mitentscheiden, obwohl wir hier seit mehr als sechs Jahren leben.

    Das ist mir nicht neu, ich persönlich hatte aufgrund meiner politischen Situation nie das Wahlrecht für eine bestimmte Partei, weder in meinem früheren Wohnsitzland Syrien noch in meinem Heimatland Palästina. In Syrien gelten wir (Palästinenser*innen) und ihre Nachkommen als Flüchtlinge. Da wir die syrische Staatsbürgerschaft nicht erhalten dürfen, haben wir kein Recht, Abgeordnete oder gar den Staatspräsidenten zu wählen. Außerdem darf ich als Flüchtling bei den Parlamentswahlen sowie den Kommunalwahlen in Palästina nicht wählen, wenn sie stattfinden. Denn laut des palästinensischen Wahlgesetzes haben nur Palästinenser*innen, die im Westjordanland, Jerusalem und Gaza geboren wurden, das Wahlrecht. Und damit gelte ich als ein in Syrien geborener Flüchtling weder als Syrer noch als Palästinenser und deswegen darf ich nicht an den Wahlen teilnehmen.

    Aber warum?

    Artikel 21 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte besagt, dass Jeder das Recht hat, direkt oder durch frei gewählte Vertreter an der Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten seines Landes teilzunehmen. Allerdings sind palästinensische Flüchtlinge davon ausgenommen, weil sie keine anerkannte Staatsbürgerschaft besitzen.

    Meine politische Situation spielt eine wichtige Rolle in der Politik vieler Länder wie Libanon, Syrien, Palästina und sogar Israel. Jedoch hatte ich nie eine Rolle bei der Festlegung dieser Politik und ich durfte nicht die Politiker*innen auswählen, die mich vertreten, um über meine Situation zu sprechen. Daher ist mir „nicht wählen zu dürfen“, als wäre man jemand, dessen Stimme nicht gehört oder respektiert wird und somit hat man keinen Einfluss auf die Politik seines Landes. Und so kann man sich an der Zukunft seines Landes nicht beteiligen und seinen Willen nicht frei äußern.

    Jedes Mal, wenn ich über Wahlen in irgendeinem Land lese, frage ich mich, wann ich als Bürger meine Vertreter*innen in irgendeiner Regierung auswählen kann. Für mich ist das schwer zu ertragen, denn ich engagiere mich seit langer Zeit für Politik und würde gerne eines Tages über politischen Themen mitentscheiden können. Währenddessen weigern sich viele junge Menschen wählen zu gehen, obwohl sie in einer Gesellschaft leben, in der sie für sich die passende Partei mit ihrem Programm aussuchen können. Laut des Bundeswahlleiters nahmen 2017 mehr als 23% der Wahlberechtigten in Deutschland ihr Wahlrecht nicht in Anspruch. Warum? Interessieren sie sich nicht für Politik? Oder haben sie davor Angst, ihre Stimme in die falsche Richtung zu richten?

    Wahlrecht ist ein Privileg

    Meiner Meinung nach ist das Wahlrecht für Menschen in der EU oder in den USA ein Privileg, für das Generationen gekämpft haben. Mittlerweile kämpfen andere Menschen in dieser Welt immer noch für dieses Recht, ganz egal, ob sie staatenlos sind oder unter einem Diktator leben. Ich bin einer von ihnen und ich werde weiterkämpfen, bis ich eines Tages wählen gehen kann.

  • Auseinanderdriftende Welten

    Während ich mir unbequem mein Handy vors Gesicht hielt, schaute ich meine Großmutter an, die auf ihrer Veranda auf der anderen Seite des Planeten saß. Sie trug einen Hut und die Farben ihrer geblümten Bluse wirkten blass unter der Sonne. Ihre opulente Sonnenbrille bedeckte ihre Augen, und das Lächeln, das ich aus Millionen von Skype-Gesprächen kannte, fühlte sich falsch an. Es war Muttertag, und meine Mutter verbrachte ihren in Bonn bei meinem Stiefvater – weit weg von meiner Großmutter, die in Quito (Ecuador) lebt.

    Gespräch mit der Großmutter

    Meine Großmutter fragte mich, wie es mir gehe. Ich muss schrecklich ausgesehen haben, denn eine Stunde nach unserem Gespräch schrieb sie, voller Sorge um meine psychische Gesundheit, mit meiner Mutter. Sie erinnerte sich an eine fröhlichere Version ihrer Enkelin. Aber anstatt ihre Bedenken während unseres Gesprächs zu äußern, lobte sie meinen neuen Haarschnitt. In letzter Zeit ist es schwierig, die Kommunikation am Leben zu halten. Noch schwieriger ist es, ehrlich zu bleiben. Die Technologien, die unsere Beziehungen am Leben erhalten sollten, ließen uns im Stich. Als ich einen Blick auf meinen Großvater, meine Tante, meinen Onkel und meine Cousine erhaschte, die an diesem sonnigen Tag an unserer Skype-Sitzung teilnahmen, sehnte ich mich nach ihrer Anwesenheit und der Vertrautheit, die einmal zwischen uns herrschte.

    Unausgesprochene Wahrheiten

    Seit Covid-19 zur globalen Pandemie erklärt wurde, driftet unsere Familie auseinander. Am Anfang haben wir versucht, das Beste aus der Situation zu machen. Mein Bruder und ich nahmen in den ersten Monaten an mehreren Skype- und Zoom-Sitzungen teil und organisierten Treffen mit unserer in Ecuador lebenden Verwandtschaft. Damit wollten wir uns zumindest moralisch gegenseitig unterstützen. Doch die Disparität zwischen unseren Realitäten wurde immer größer. Es blieben zu viele Dinge unausgesprochen.

    Die wirtschaftliche Lage in beiden Ländern hat sich verschlechtert, doch wir haben nie darüber gesprochen. Ich erfuhr nicht, ob jemand seinen Job verlor oder finanzielle Probleme hatte. Bis heute ist es mir ein Rätsel, was genau für Schwierigkeiten meine Familie in Quito durchmacht. Das liegt nicht nur daran, dass das Reden über Finanzen in unserer Familie so ein Tabuthema ist, sondern auch, dass ich zu viel Angst hatte, nachzufragen. In den ersten Monaten war ich zu sehr damit beschäftigt, mich selbst über Wasser zu halten. Ich schaffte es nicht, die Kraft aufzubringen, mich mit dem Leben, meiner Familie zu beschäftigen – so wie ich es eigentlich gerne getan hätte.

    Dieses Gefühl stieß in meinem sozialen Netzwerk auf große Resonanz. Besonders Freunde und Arbeitskollegen mit im Ausland lebenden Familienmitgliedern konnten meine Verzweiflung nachvollziehen. Ein wachsendes Gefühl der emotionalen Entfernung, die schlichtweg notwendig ist, um die eigenen Kräfte zu bewahren und im Hier und Jetzt funktionieren zu können.

    Vor allem das gute Verhältnis, das ich zur Familie meiner Mutter pflegte, begann langsam an zu bröckeln.

    Das Virus wurde zum Hauptthema

    Unsere Gespräche konzentrierten sich stark auf das Thema Corona. Wir diskutierten über das, was wir wussten, was wir spekulierten und, was wir darüber dachten. Es dauerte nicht lange, bis diese Gespräche einen düsteren und feindlichen Ton annahmen. Aus Gründen, die ich bis heute nicht verstehe, ist mein Onkel auf die Seite der Corona-Leugner gewandert und ist seitdem nicht mehr zurückgekommen. Ich hätte mehr Fragen stellen sollen; ich wusste, dass er Schwierigkeiten bei der Arbeit hatte. Stattdessen diskutierten wir endlos über die Informationen, die wir im Internet fanden und, ob sie sich impfen lassen würden oder nicht. Das Schwierigste war zu sehen, wie dieser Onkel, den ich früher bewunderte und liebte, sich in eine Person verwandelte, die ich nicht mehr wiedererkennen konnte.

    Als wir an diesem Muttertag sprachen, fühlten sie sich alle so weit weg an. Mein Onkel, der ebenfalls eine Sonnenbrille trug, begrüßte mich mit seinem üblichen „que fue?“ (Alles klar?) und für eine Sekunde war alles wieder gut. Der Klang seiner Stimme brachte so viele gute Erinnerungen zurück. Meine träumerische Blase platzte, als er sich beeilte, das Telefon an meine Tante zu reichen, ohne auf meine Antwort zu warten. Er war weg bevor ich ohne Überzeugung „Mir geht es gut…“ antworten konnte. In diesem Moment fragte ich mich, ob unsere Beziehung jemals wieder so sein würde, wie sie einmal war. Ob wir wohl jemals Gespräche über etwas anderes als die Meinungen, die uns voneinander trennen, führen würden?

    Zeit, Abschied zu nehmen

    Nachdem das Telefon die obligatorische Runde um alle Anwesenden gemacht hatte, kam meine Großmutter, um sich ein letztes Mal zu verabschieden. „Meine Kleine, wir müssen gehen. Das Essen ist fertig. Dein Onkel hat Paella gemacht! Ich bin so froh, dass er hier ist. Das ist so ein wundervoller Tag!“ So sehr ich ihr auch glauben wollte, ich konnte die dunklen Wolken am Himmel hinter meiner Oma aufziehen sehen.

    Ich fragte mich, was mit meinen Großeltern los ist, ob mein Großvater noch krankenversichert ist, oder ob meine Tante noch arbeitet. Wie würde meine Cousine ihr erstes Semester an der Universität finanzieren? Statt dieser kurzlebigen Illusion eines glücklichen Skype-Moments, sehnte ich mich nach mehr Zeit. Nach Stunden und Stunden, um ihren Problemen, dem Schmerz und den unbequemen Wahrheiten zuzuhören, über die wir nie sprechen. Aber es war Zeit, Abschied zu nehmen. Ich winkte in die Kamera und lächelte voller Bedauern.

    Ehrlichkeit ist nicht einfach, aber notwendig

    Wenn ich auf die Gefühle zurückblicke, die mich nach diesem Gespräch überwältigten, komme ich zu dem Schluss, dass jede Unterstützung, die ich geben kann, nur dann ankommt, wenn alle Beteiligten bereit sind, verletzlich zu sein und ihre Sorgen zu teilen. Um Gespräche zu führen, die über oberflächliche Höflichkeit hinausgehen, muss ich mich anstrengen und mir die Zeit nehmen. Ehrlichkeit erfordert, dass auch ich offen erzähle, wie es mir geht, anstatt zu sagen, was meiner Familie meiner Meinung nach hören möchte. Ich muss darauf vertrauen, dass es auf der anderen Seite des Gesprächs Menschen gibt, die mich lieben. Vielleicht sind sie bereit sich verletzlich zu zeigen, haben aber auch damit Schwierigkeiten. Zum heutigen Zeitpunkt, hoffe ich nicht nur auf einen Impfstoff, um die Pandemie zu beenden. Ich hoffe auf einen Weg zurück zu meiner Familie und dass wir uns wieder näher sind. Ob persönlich oder per Skype.

     

    Diese Text wird mit unterstützung von  Anna Hollandt in Projekt  Schreibtandem geschrieben und wurde erster auf Englisch veröffentlicht.

    https://kohero-magazin.com/worlds-growing-apart/

     

  • Gescheiterte Politik in Afghanistan: Ein Kommentar

    Es ist so schwer, nach 20 Jahren harter Arbeit und Kampf, die die internationale Gemeinschaft und die Menschen geleistet haben, dem Zusammenbruch Afghanistans beizuwohnen. Trotz der Probleme, die es in den vergangenen Jahren in Afghanistan gab, waren die Menschen froh, dass sie keine wilden Menschen (hier meine ich die Taliban = ungebildete, unzivilisierte und wilde Menschen) im Land haben. Solche, die alles und jeden Kampf der Bürger zerstören würden, die das Land von Grund auf aufgebaut haben.

    Abzug internationaler Truppen

    Mit dem Abzug der deutschen und italienischen Truppen aus Afghanistan und dem anschließenden Abzug der US-Truppen ist die Lage in Afghanistan instabil.

    Das deutsche Militär hat seinen Abzug aus Afghanistan nach zwei Jahrzehnten abgeschlossen. Nach den USA stellte Deutschland mit rund 150.000 Soldaten die zweitgrößte Truppenstärke in Afghanistan dar. Die meisten von ihnen haben mehr als einen Einsatz in dem Land absolviert.

    Das gilt auch für Italien. Dies gab der Verteidigungminister Lorenzo Guerini bekannt, nachdem italienische Truppen aus der westafghanischen Stadt Herat nahe der iranischen Grenze auf dem internationalen Flughafen von Pisa gelandet waren.

    Rückzug bis zum 11.September

    US-Präsident Joe Biden und die NATO haben angekündigt, dass sie die 10.000 ausländischen Truppen, die sich noch in Afghanistan befinden, bis zum 11. September 2021 abziehen werden. Dies ist der Jahrestag der Anschläge auf das World Trade Center in New York, mit denen der Einsatz begann.

    Am 6. Juli 2021 schrieb die New York Times, dass die USA ihren Rückzug aus Afghanistan abmildern werden. Der US-Militärstützpunkt Bagram in der Provinz Parwan nördlich von Kabul hat die US-Operationen effektiv beendet, obwohl ein Kontingent von US-Militärs zur Bewachung der US-Botschaft zurückbleibt. Mit diesen Maßnahmen sollte Zeit gewonnen werden, um den psychologischen Schock für die Afghanen abzufedern. Sie sollten mindestens bis August andauern. Aber der psychologische Schock führte auch zu vielen weiteren Verbrechen der Taliban.

    Provinzen unter Kontrolle der Taliban

    Jeden Tag geraten Provinzen und Bezirke unter die Kontrolle der Taliban. Unschuldige Zivilisten werden getötet, Frauen und Mädchen werden vergewaltigt oder die Taliban verschleppen sie als Sklaven. Sie bombardieren und zerstören Krankenhäuser, Schulen, Brücken, und Straßen und plündern die Häuser der Menschen. Das hat dazu geführt, dass mehr als tausend Menschen vertrieben werden und in eine sicherere Provinz oder sogar aus Afghanistan in die Nachbarländer auswandern.

    Nach den Nachrichten, die ich gelesen und von meinen Freunden und Familienmitgliedern erhalten habe, warten Tausende von Menschen darauf, ihre Ausweise und Pässe zu erhalten.  Und darauf, ein Visum für ein Nachbarland zu bekommen, um ihr Leben zu retten.

    Dringender Appell

    Die Menschen sind des Krieges überdrüssig und wollen Frieden. Aber bis jetzt sind die Friedensverhandlungen (peace talks ) zu keinem Ergebnis gekommen. Wo sind der UN-Sicherheitsrat, die Menschenrechtsorganisationen und die internationale Gemeinschaft, die diesem unmenschlichen Verbrechen Einhalt gebieten?

    Bitte verhindern Sie den Zusammenbruch des Landes. Die Menschen wollen nicht in die Steinzeit von vor 20 Jahren zurückkehren.

    Die USA haben versprochen, rund 2000 Journalisten, Sozialaktivisten und Personen, die mit der US-Armee und Projekten zusammengearbeitet haben, ein Visum zu erteilen. Ebenso wie Deutschland, das sich bereit erklärt hat, Personen, die mit der deutschen Armee zusammengearbeitet haben, ein Visum zu erteilen. Aber was wird mit den anderen Bürgern geschehen? Sind sie keine menschlichen Wesen?

    Bitte machen Sie unser Land sicher und bringen Sie uns nicht an einen sicheren Ort oder ein sicheres Land. – Das ist es, was die Bürger wollen und in den Medien zum Ausdruck bringen.

     

     

    Notiz der Redaktion: Dieser Artikel wurde am 10.8. geschrieben, seitdem hat sich die Situation in Afghanistan weiter verändert. Weitere Artikel und Kommentare werden folgen. 

  • Worlds growing apart

    As I held my phone uncomfortably in front of my face, I looked at my grandmother sitting on her porch on the other side of the planet. She was wearing a hat and the colors of her flowered blouse seemed pale under the sun. Her sumptuous sunglasses covered her eyes. And the smile I have memorized during the million times we have skyped felt fake. It was Mother’s Day, and my mother was spending hers in Bonn with my stepfather, far away from my grandmother, who lives in Quito (Ecuador).

    My grandmother asked me how I was doing. And I must have looked awful because an hour after our conversation, she was writing with my mother full of worry about my mental health. She remembered a more cheerful person behind her phone screen, but instead of voicing her concerns during our conversation, she complimented my new haircut. It has been hard keeping the communication open these days. Even harder to keep it honest. The technologies that were supposed to keep our relationships alive are failing us. As I caught a glimpse of my grandfather, aunt, uncle, and cousin who joined our skype session on that sunny day, I yearned for their presence and the closeness we used to share.

    There were too many things left unsaid

    Since Covid-19 was declared a global pandemic, the family has been growing apart. In the beginning, we tried to make the best of it. My brother and I attended several skype and zoom sessions during those first months and organized meetings with the rest of the extended family to support each other, at least morally. However, the disparity of our realities kept growing. There were too many things left unsaid.

    The economic situation in both countries worsened, but we never talked about it. If someone lost their job or was struggling financially, I did not find out. Until now, I do not know what hardships my family in Ecuador is going through. It is not only because speaking about finances is such a taboo topic in our family, but also because I have been too afraid to ask. Those first months I was too busy keeping myself afloat, so I could not muster the strength to be as engaged in my family’s life as I would have liked.

    This feeling resonated with my social network. Especially friends and co-workers with family members living abroad could relate to my feelings of despair. A growing sense of dis-attachment was born out of the need to keep one’s sanity and strength so one could keep functioning in the here and now. Especially the connection I have always had with my mother’s family kept eroding as the months passed.

    Our conversations began focusing heavily on the virus

    We discussed what we knew, speculated, and thought about it. It did not take long until those conversations turned dark and conflictive. For reasons I have never bothered to understand, my uncle wandered over to the side of corona-non-believers, and he has not come back since. I should have asked more questions; I knew he was struggling at work. Instead, we fought about the information we found on the internet and whether they would get vaccinated or not. The hardest part was watching how this uncle we used to admire and love kept on turning into a person I did no longer recognize.

    As we talked on that Mother’s Day, they all felt so far away. My uncle, who was also wearing sunglasses, greeted me with his usual „que fue?“ (what is up?) and for a second everything was good again. The sound of his voice brought back so many good memories. My bubble burst as he hurried to pass the phone over to my aunt, without waiting to hear me answer insincerely, „I am fine.“ At that moment, I wondered if our relationship would ever be the way it used to be and if we would ever have conversations about something else but the opinions that keep us apart.

    It was time to say goodbye

    Once the phone had done the obligatory lap around everyone present at the gathering, my grandmother came to say a last goodbye. „My love, we have to go because the food is ready, your uncle made Paella! I am so glad he is here. We are having a wonderful day!“ As much as I wanted to believe her, I could see the dark clouds gathering in the sky behind my grandma. I wondered what was happening with my grandparents, whether my grandfather still had his health insurance, or whether my aunt was still working.

    How would my cousin finance her first semester at university? Instead of a short-lived illusion of that happy skype moment, I yearned for more time. Hours and hours to listen to their troubles, the pain, and the uncomfortable truths we never talk about. But it was time to say goodbye. I waved into the camera, smiling with regret.

    I have to trust that there is love on the other side of the conversation

    When I look back at the feelings that overwhelmed me after that conversation, I realize that any support I could give could only arrive if all parties involved would be willing to be vulnerable and share their worries and struggles. In order to have conversations that go beyond superficial politeness, I also have to find the time and put in the effort. Honesty requires me to be open about how I am doing instead of opting for telling what I think my family wants to hear.

    I have to trust that there is love on the other side of the conversation – people who care about me. Maybe they are willing to put their vulnerability on the line and are just having difficulties doing so. As of today, I do not only hope for a vaccine to end the pandemic. I hope for a path back to my family and for us to be closer again. Whether in person or through skype.

    This text was written with the support of  Anna Hollandt as part of the Schreibtandem project.

    This article was also published in German.

    https://kohero-magazin.com/auseinanderdriftende-welten/

kohero-magazin.com